Talberg 2022 - Max Korn - E-Book
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Talberg 2022 E-Book

Max Korn

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Beschreibung

Ist der Ort verflucht? Oder sind es die, die hier leben?

Ein schweres Unwetter legt die Überreste eines Toten frei. Handelt es sich bei der Leiche um die Knochen des Hirscher-Buben, der vor fast hundert Jahren spurlos aus dem Ort verschwand? Oder handelt es sich um das Opfer eines Mörders, der heute noch in Talberg lebt? Die Ermittlungen führen den Dorfpolizisten Adam Wegbauer tief in die eigene Familiengeschichte.

Talberg ist ein kleiner abgelegener Ort am äußersten Rand der deutschen Provinz. Fernab der großen Zentren und im Schatten eines gewaltigen Berges gelegen, scheint sich hier über die Jahrzehnte hinweg das Böse immer wieder zu sammeln. Drei Romane spielen zu unterschiedlichen Zeiten in diesem Ort. Vier ortsansässige Familien bestimmen das Geschehen – wechselweise sind sie mal Opfer, mal Täter, mal Ermittler. Und natürlich sind alle Fälle miteinander verbunden …

  • Talberg. Ein finsterer Ort im Niemandsland. Ein Jahrhundert. Drei Verbrechen.
  • Eine Leiche, jahrzehntelang verschüttet, führt den Ort zurück in seine finstersten Tage.
  • Die Talberg-Reihe erreicht die Gegenwart - das packende Finale

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Seitenzahl: 377

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Das Buch

Ein schweres Unwetter legt die Überreste eines Toten frei. Handelt es sich bei der Leiche um die Knochen des Hirscher-Buben, der vor fast hundert Jahren spurlos aus dem Ort verschwand? Oder handelt es sich um das Opfer eines Mörders, der heute noch in Talberg lebt? Die Ermittlungen führen den Dorfpolizisten Adam Wegebauer tief in die eigene Familiengeschichte.

Der Autor

Max Korn ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Seine Romane stehen regelmäßig in den Top 20 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Einen Teil seiner Jugend verbrachte Korn in dem kleinen Ort Thalberg im Bayerischen Wald, dessen Geschichte und Legenden ihn zu seiner großen neuen Spannungstrilogie inspirierten.

Lieferbare Titel

Talberg 1933

Talberg 1977

MAX KORN

TALBERG

2022

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der diskriminierende Begriff »Zigeuner« soll in diesem Roman nicht verharmlost werden, sondern wird lediglich im Kontext der Erzählung wiedergegeben.

Originalausgabe 05/2022

Copyright © 2022 by Max Korn

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Redaktion: Joscha Faralisch

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (Ondra Vacek, sergio34, Jamie Farrant, ilolab, JungleOutThere)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-26500-7V001

www.heyne.de

BUCH ADAM

1

ADAM

Adam Wegebauer hatte Angst.

Alle um ihn herum hatten sie Angst. Die Männer schrien, aber der Wind raubte ihnen die Worte, bevor man sie verstehen konnte. Der Wind kannte kein Einsehen. Genauso wenig wie der Regen. Die Natur machte ihm deutlich, wie nichtig er war. Wäre er doch daheimgeblieben. Unter der alten, fusseligen Wolldecke, die nach nassem Hund roch. Darin eingewickelt und vielleicht sogar unter dem Esstisch kauernd, das Unwetter aussitzend.

Es ist die Urangst.

So ein Unwetter hatte er noch nicht erlebt. Nicht in all seinen vierundvierzig Jahren. Keiner von ihnen hatte das. Er sah es in ihren regennassen Gesichtern. In den Augen, dort, wo die Furcht ein Fenster hatte, um herauszuschauen. Und trotzdem hatten sie sich hinausgewagt, stemmten sich mit all ihrer Kraft gegen die Orkanböen.

Du musst kommen, hatte der Steiner Martin in sein Telefon gebrüllt. Du musst kommen, bevor das Loch vollläuft und alles wegschwemmt. Kreuzteufel, Wegebauer, komm auf der Stelle! Und er hatte sich nicht mit der Wolldecke um die Schultern unterm Esstisch verkrochen, sondern war gekommen. Trotz der Angst, trotz des Sturms und obwohl er zitterte, nicht allein der Kälte wegen. Er war widerwillig in seine wetterfeste Jacke geschlüpft und in die schweren Stiefel, die sich innerhalb weniger Minuten mit Wasser gefüllt hatten.

Mit dem Dienstwagen hatte er es bis kurz hinters Wirtshaus geschafft. Weiter ging es nicht, denn unmittelbar hinter dem Ortsschild lag der erste Baum über der Straße. Der Regen hatte dröhnend laut auf das Dach getrommelt. Die Scheibenwischer waren selbst im Stand kaum in der Lage gewesen, der Wassermassen Herr zu werden. Das Gebläse hatte es auch auf der höchsten Stufe nicht mehr geschafft, die von innen beschlagenen Scheiben zu trocknen. Er hatte eingesehen, dass er zu Fuß weitermusste, also war er ausgestiegen und von einer ungekannten Wucht zu Boden gerissen worden. Als ihm klar geworden war, dass er noch lebte, war er ein Stück auf allen vieren in Richtung der gut einhundert Meter entfernten Blaulichter gekrochen. Die wetterfeste Jacke durchweichte, und der kalte Regen drang bis auf seine Haut vor – und noch tiefer. Die gespenstisch kreiselnden Lichter waren das Einzige, das er hatte wahrnehmen können in dieser nasskalten Finsternis, die spätnachmittags über den Ort gekommen war, als hätten sie schon dunkelste Nacht.

Er wusste vom Steiner, wo die Feuerwehr ihren Kampf gegen die Aussichtslosigkeit begonnen hatte. Irgendwie war er dort hingelangt, anfangs auf allen vieren, dann aufrecht, aber dennoch geduckt, um nicht erneut umgeblasen zu werden. Auch wenn es höchstens eine Viertelstunde her sein konnte, seit der Steiner ihn angerufen hatte, kam es ihm vor, als sei er schon sein halbes Leben dieser Naturgewalt ausgeliefert, die ihm binnen kürzester Zeit jegliche Kraft geraubt hatte.

Mit klammen Fingern krallte er sich an den Baum, damit es ihn nicht erneut von den Beinen riss und er den steilen Hang wieder hinabstürzte, den er eben erst mit bebendem Herzen hinaufgekraxelt war. Willst nicht besser eine Sicherung?, hatte der Steiner ihm unten noch ins Ohr gebrüllt, woraufhin er leichtfertig den Kopf geschüttelt hatte. Denn welchem der Bäume, die dem über sie hinwegziehenden Orkan noch trotzten, konnte man noch genug trauen, um ein Sicherungsseil darum zu schlingen?

Adam befand sich nun zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Meter oberhalb der Straße, sofern er das wegen der peitschenden Regenschleier überhaupt abschätzen konnte. Wie schlimm es grundsätzlich um sie stand, war im Moment unmöglich auszumachen. Aber offenbar war der halbe Wald bis runter auf die St2130 gerutscht, die sich kurvenreich hinab nach Gollnerberg und weiter bis Breitenberg schlängelte. Unzählige Bäume hatte der Erdrutsch mit sich gerissen, und das gebrochene und entwurzelte Holz, vermischt mit Tonnen von Geröll und Gestein, hatte sich zu einem haushohen Wall übereinandergeschichtet, der sich weiter hinab in die Senke schob. Dem halben Dutzend Feuerwehrleuten, die augenblicklich ihr Leben riskierten, ging es nicht darum, die Fahrbahn wieder freizulegen. Damit musste man warten, bis das verteufelte Unwetter endlich vorübergezogen war. Jetzt und hier ging es nur darum, Menschenleben zu retten. Mein Leben für dein Leben.

Unterhalb der Straße, die von der gelösten Bergflanke mit all seinem Bewuchs und den Granitfindlingen überspült wurde, erstreckte sich das Neubaugebiet, dessen Bewohnern jetzt alle Sorge galt. Auf dem halben Hektar, der sich nordöstlich vom Hirscherhof befand, standen sieben Einfamilienhäuser, die weitgehend von den Kindern und Kindeskindern der Bauern aus den umliegenden Höfen bewohnt wurden. Von denjenigen, die nicht den elterlichen Hof geerbt hatten, denen es aber auch nicht gelungen war, dem Dorf den Rücken zu kehren. Die freiwillig geblieben waren. Oder hier festgehalten wurden. Es mochte mit dem Teufel zugehen, aber Talberg ließ einen nicht so einfach los. Da war er selbst das beste Beispiel dafür.

Aus dem Neubaugebiet war der erste Hilferuf eingegangen. Ein Keller lief voll. Kurz darauf noch einer. Das Wasser schoss vom Hirschberg herab, über die Straße und dann auf die Häuser zu. Ein brauner Fluss, den es vorher nicht gab. Die Feuerwehr rückte aus, und anfangs ging es darum, den Strom umzulenken, damit nicht auch noch die restlichen Untergeschosse in Mitleidenschaft gezogen wurden. Doch die Wassermassen wurden immer gewaltiger, und bald schwemmte Erdreich herab, danach Strauchwerk und schließlich der erste Baum. Und damit waren es auf einmal nicht allein die Keller, um die man sich Sorgen machen musste. Sollten in den nächsten Minuten noch mehr Gehölz und Gestein heruntergespült werden, könnte sich die Schlammlawine über die vor zehn bis fünfzehn Jahren erbauten Eigenheime hinwegschieben. Was das bedeutete, wollte man sich vorerst nicht ausmalen, denn man pflegte hier in der Gegend nach wie vor inniges Gottvertrauen … Trotz dieser Zuversicht in den Herrn, riskierten die Feuerwehrleute gerade Kopf und Kragen. Dabei war längst klar, dass sie das Abrutschen des Hanges nicht mehr verhindern konnten. Das war unmöglich, selbst wenn sie besser ausgerüstet wären. Steiner und seine Mitstreiter kümmerte auch nicht mehr der Sturzbach, den sie ursprünglich hatten umlenken wollen. Plötzlich ging es nur noch darum, die Gefahrenlage abzuwägen. Was würde unter den Augen des Herrn noch auf sie zukommen? Sollte man die Anwohner nicht besser gleich evakuieren? Würde die Straße halten? Oder gab das Fundament der Fahrbahn demnächst nach? Um das zu beurteilen, hätte es eigentlich einen Sachverständigen mit einem Ingenieursdiplom im Tiefbau gebraucht. Stattdessen übernahm der Feuerwehrkommandant Steiner die Verantwortung, ein Landwirt, der sich auf die Bodenbeschaffenheit von Äckern verstand. So weit wird’s kommen, wenn’s nicht bald aufhört, hatte Steiner gesagt. Und aufhören wird’s nicht.

Laut Wettervorhersage war das Orkantief, das eine Schneise der Verwüstung durch den Hirschberger Wald gezogen hatte, nur die Vorhut. Der meteorologische Dienst warnte vor einer weiteren Superzelle, die in ihre Richtung unterwegs war. Ein zweiter, anhaltend rotierender Aufwind, der noch heftiger sein sollte als der Zyklon, den sie im Moment zu spüren bekamen. So weit wird’s kommen, dass wir evakuieren müssen … Und dass er sich beeilen solle mit dem Skelett, bevor es noch den ganzen Hang fortschwemmt.

2

Der Sigi hat es entdeckt. Durch Zufall, weil er sich an dem umgestürzten Baum entlanggehangelt hatte, um zu prüfen, ob er so liegen blieb oder demnächst mitgerissen wurde. Es war eine mächtige Buche, bestimmt weit über hundert Jahre alt. Das herausgerissene Wurzelwerk hatte einen Krater hinterlassen. Ein beeindruckendes Erdloch von bestimmt fünf Metern Durchmesser, das sich sofort mit Wasser zu füllen begann. In diesem Loch lag das Skelett.

Der Sigi hatte gebrüllt wie am Spieß, so laut, dass ihn der Kommandant, der nur ein paar Schritte von ihm entfernt am Sicherungsseil hing, über den Sturm hinweg hören konnte.

Du musst kommen!

Das hatte Martin Steiner daraufhin in sein Mobiltelefon geschrien, als Adam endlich abgenommen hatte.

Und er war gekommen.

Jetzt hangelte er sich an jenem Baumstamm entlang und um das bizarre Wurzelgebilde herum. Über ihm ragte der Kranz aus Wurzeln, Pflanzen, Erde und Steinen empor. Kraftvoll wie die lang gestreckten Finger eines gefallenen Riesen, bereit, jederzeit zuzupacken. Er blinzelte daran vorbei in die Sturzflut, die sich über ihn ergoss. Irgendwo dort im Osten lag der Hof, auf dem er aufgewachsen war. Man hätte ihn von hier aus sehen können, zumindest das bemooste Ziegeldach, wäre da nicht diese Wand aus Starkregen und Dunkelheit.

Ungelenk ließ Adam sich am Kraterrand nieder. Trotz der übergestülpten Kapuze lief ihm der Regen den Rücken hinab, aber er war ohnehin längst nass bis auf die Unterhose.

Bis unter die Haut.

Seine Stiefel baumelten über die Kante des Kraters. Der durchweichte Waldboden schmatze unter seinen Schenkeln. »Tu dich um, das Gröbste kommt noch!«, schrie der Steiner vor irgendwoher.

Tu dich um!

Ein zweite Sturmfront nahte, und dabei hat die erste schon so eine Verwüstung angerichtet. Wo sollte das enden? Er wusste es nicht mit Gewissheit, denn wie hätte er es überprüfen sollen, aber der gesunde Menschenverstand reichte aus, um zu erahnen, dass sie längst abgeschnitten waren. Alle drei Zufahrtsstraßen führten durch Wälder, und es war naheliegend, dass auch vom Westen her oder nach Wegscheid raus aus der Erde gerissene oder vom Orkan wie Korkenzieher gezwirbelte Stämme die Fahrbahnen blockierten. Der Steiner hatte recht mit seiner Befürchtung. Hoffentlich brauchen wir in den nächsten Stunden keinen Notarzt, hatte er mit sich überschlagender Stimme geschrien.

Tu dich um!

Adam stieß sich ab und glitt in die lehmige Grube. Das braune, vom Regen brodelnde Wasser reichte ihm übers Knie. Die Stiefel versanken bis über die Knöchel im Morast. Würde er in dieser Brühe überhaupt noch etwas finden? Und selbst wenn, würde der Schlick ihn je wieder freigeben? Wenn es ihn noch tiefer hinabsog und vom Berg her weitere Schlammmassen nachrutschten, würde er hier drin noch ersaufen. Den Tod so unmittelbar vor Augen zu haben fühlte sich mit einem Mal befreiend an. Die Kälte, das eisige Wasser, der schneidende Wind, der aus den Regentropfen beinharte Geschosse macht – all das verlor auf einmal seinen Schrecken. Er hatte davon gehört. Von diesem Phänomen, dass Menschen in Extremsituationen alles hinter sich lassen konnten. Ich bin jetzt jenseits der Angst. Konnte er diesem Gefühl trauen? Oder handelte es sich dabei um jene altbekannte Sehnsucht nach dem Tod, die ihn immer wieder unvorbereitet überkam? Was immer es auch war, es machte ihn hier und jetzt unempfindlich gegen die Naturgewalt. Und gegen seine Zweifel. Gegen meine inneren Dämonen.

Tu dich um!

Breitbeinig fand er einen sicheren Stand. In seiner Jackentasche wühlte er nach den Einweghandschuhen. An die hatte er gedacht. Umständlich streifte er sie über, streckte seine Arme in das vom Waldboden schwarz gefärbte Wasser und tastete den weichen Grund ab. Was genau hatte der Sigi gesehen? Und vor allem wo? Die Auskunft blieb vage. Unterm Baum. Mittlerweile war alles in dem Krater unterspült und durcheinandergewirbelt. Adam fühlte zerfaserte Wurzeln und mächtige Steinbrocken. Trotz der Handschuhe wurden seine Finger schnell taub. Außerdem reichte ihm der Pegel schon fast bis in den Schritt. Jener Adam, der lieber in die Wolldecke gehüllt unterm Esszimmertisch hocken würde, hätte unter diesen Umständen schon aufgegeben. Das Unterfangen als sinnlos abgetan und schleunigst geschaut, dass er aus diesem Loch herauskroch. Doch nun war der Idealist zurück, den er vage von früher her kannte und der es jetzt erst recht wissen wollte. Dieser Draufgänger, von dem er geglaubt hatte, dass er nicht mehr existierte. Und der tauchte noch tiefer hinein in die Schlammbrühe, wühlte wie ein Besessener darin herum … und wurde belohnt.

Da war was.

Mit dem bisschen Gefühl, das er noch in seinen aufgequollenen Fingerkuppen hatte, strich er über etwas, das nicht die scharfen Kanten des Granits aufwies und auch nicht über dessen raue Oberfläche verfügte. Etwas, das ihn anwiderte, genauso sehr, wie es ihn elektrisierte. Von einer Sekunde auf die andere wurde ihm von innen her heiß, ohne dass er von außen aufhörte zu frieren. Er legte seine Hand um die Rundung, packte so fest zu, wie er mit seinen steifen Fingern noch konnte, um dem zähen Morast zu entreißen, was dieser unbedingt festhalten wollte. Das Objekt gab schließlich nach, und der plötzliche Ruck ließ ihn nach hinten kippen. Seine Stiefel verloren im weichen Boden den Halt, und er fiel der Länge nach ins Wasser, das schwarz und endgültig über ihm zusammenschwappte. Wild ruderte Adam mit den Armen, paddelte orientierungslos mit der freien Hand. Versuchte, nach etwas zu greifen. Einer Wurzel, einem Ast, einem Stein. Glitt immer wieder ab, kaum dass er sich daran klammerte. Ließ gleichzeitig und egal, wie rasch die Verzweiflung anwuchs, nicht los, was er dem Erdreich entrissen hatte.

Ich ersaufe nicht, nicht ums Verrecken ersaufe ich, bevor ich nicht sehe, was …

Doch auch ohne hinzusehen wusste er, was er da in der rechten Hand hielt. Der Sigi hatte sich nicht getäuscht. Es war richtig, dass er hier hinaufgestiegen war.

Adam bekam den Kopf über Wasser, aber weil der Regen noch stärker geworden war, konnte er durch die Wassermassen erst hindurchatmen, als er wieder auf beiden Beinen stand. Er blinzelte, doch alles vor seinen Augen blieb verwaschen und trüb. Das Einzige, was er sah, waren diese zwei leeren Augenhöhlen, die den Sigi so zum Schreien gebracht hatten.

3

Knochen, hat’s geheißen. Ein Skelett. Kein ganzes, aber ja, Teile davon. Du musst kommen! Dir’s zumindest anschauen, bevor es wieder weg ist.

Der Unterkiefer fehlte, aber im Oberkiefer waren alle Zähne vorhanden. Der Schädel war alt. Und klein. Von einer Frau vielleicht. Aber eher von einem Kind. Ja, seine Erfahrung sagte ihm, dass er einem Kind gehört hatte. Einem Kind, das unter diesem Baum verscharrt worden war. Und zwar vor langer Zeit. Vor Jahren oder Jahrzehnten. Vielleicht auch noch länger. Je nach Beschaffenheit des Bodens. Doch egal, wann diese Bestattung erfolgt war, sie ist auf jeden Fall unrecht gewesen. Ein illegales Begräbnis. Angesichts dieser Erkenntnis wünschte er sich nun doch wieder zurück unter seine Wolldecke. Adams Nervenkostüm war für so etwas nicht mehr geschaffen. Darum war er doch nach Talberg zurückgekehrt. Damit ihm so etwas erspart blieb.

Während seiner Zeit in München hätte er das ausgehalten. So wie er alles Grausame dort ausgehalten hatte. So lange, bis er nichts mehr von alldem aushalten konnte. Adam starrte auf den Schädel, und die leeren Augen starrten zurück. Er konnte es nicht erklären, aber da passierte etwas zwischen ihm und dem, was da so eigentümlich schwer in seiner Hand lag. Diese zusammengewachsenen Knochenplatten und die Zähne, die im Oberkiefer steckten, schienen wesentlich mehr Gewicht zu haben, als es die Verbindung aus Kalzium und Mineralien physikalisch zuließ. Ein Gefühl überkam ihn. Unerwartet. Etwas Neues, das hinter die Angst getreten war und sie durchscheinend werden ließ. So fremd und gleichzeitig so nahe. Fast schmerzhaft nahe.

Rechts von ihm fuchtelte Steiner wie wild mit den Armen. »Wegebauer, zefix! Komm jetzt!«, schien er ihm zuzurufen, aber wegen des Sturms war er nicht zu verstehen. Adam sah, wie auch die anderen Rettungskräfte den Berg runterschlitterten.

Sie flüchten!

Panisch blickte er bergwärts, von wo aus das Wasser wild schäumend auf ihn zuschoss und dabei immer mehr Waldboden mit sich riss. Dadurch bildete sich noch mehr zähe Schlammmasse, die zwar an Geschwindigkeit einbüßte, einen aber nicht mehr loslassen würde, sobald man von ihr überspült und eingeschlossen wurde.

Tu dich um!

Adam kämpfte sich aus seiner Starre. Hör auf nachzudenken und tu dich um! Aus einer seiner Jackentaschen nestelte er einen grauen Abfallsack. Hundertzwanzig Liter Volumen. Was anderes hatte er auf die Schnelle nicht gefunden. Unter normalen Umständen wäre das fahrlässig und aus Sicht der Spuren- und Beweissicherung auf keinen Fall konform. Doch er musste sicherstellen, was noch da war, bevor der Schlamm es für immer mit sich nahm.

Adam steckte den Schädel in den Abfallsack und wühlte weiter im Morast herum. Das Wasser reichte ihm schon über den Gürtel, als er einen Oberschenkelknochen zutage förderte. Und obwohl es längst Irrsinn war, machte er weiter. Jetzt, da er wusste, wohin er greifen musste, befreite er mit jedem Eintauchen etwas aus dem gierig an seinem Arm saugenden Untergrund. Den Beckenknochen, eine Rippe, dann mehrere davon, bis er beinah einen halben Brustkorb zusammenhatte. Dann mehrere Arm- oder Beinknochen. Schließlich sogar zwei Wirbel des Rückgrats, die er wie von Sinnen zu den anderen Indizien in den Plastiksack stopfte. Dabei schluckte er erdiges Wasser, keuchte, hustete, bekam Dreck in die Augen, den er nicht herauszuwischen vermochte, weshalb er nicht erkannte, wer ihn schließlich am Jackenkragen packte und infernalisch brüllend aus dem Wurzelkrater zerrte.

4

Er hätte sich bedanken sollen, dafür, dass der Steiner noch mal den Berg hinaufgekraxelt war, um ihn aus der Grube zu ziehen. Einen lebensmüden Trottel hatte er ihn gescholten, noch während sie, auf einer Schlammwelle reitend, den Hang hinabgespült worden waren. Er hätte sich bedanken sollen, als er im Spritzenwagen, lehmverschmiert von Kopf bis Fuß, zu den anderen auf die Bank rutschte. Spätestens da. Dass ein Steiner einmal einem Wegebauer half, ja sogar, wenn es auf Messers Schneide stand, das hätte es in Talberg früher nicht gegeben. Nicht, dass die Steiner und die Wegebauern verfeindet gewesen wären, so weit konnte man nicht gehen. Aber geholfen hätten die vom Waldbauern, wie man die Steiner-Sippschaft hier von jeher nannte, auch nicht. Zumindest nicht, ohne dafür die Hand aufzuhalten. Und ganz gewiss nicht unter Aufbringung des eigenen Lebens. Aber die Zeiten waren andere geworden, und mit den Zeiten waren auch die Leute andere geworden. Wenn auch nicht alle, doch wenigsten ein paar von ihnen.

Nach einem Gemeinderatsantrag war der Polizei im alten Schulhaus in den späten Siebzigerjahren eine Wache eingeräumt worden. Dem waren fragwürdige Ereignisse vorausgegangen, weshalb der dringliche Wunsch bestanden hatte, einen Vollzugsbeamten im Dorf zu haben. Wenigstens einen mit einer Dienstwaffe, der den Leuten im Ort das Gefühl von Sicherheit vermitteln sollte. So kam Talberg zu diesem Außenposten, auch weil die Landesregierung für so etwas damals noch Geld in die Hand genommen hatte.

Die Amtsstube, die früher einmal das Lehrerbüro und die Verwahrkammer für die Schulmittel war, lag nach hinten raus, mit Blick auf den Veichthiaslberg, von dem jetzt nichts zu sehen war. Man konnte sich fragen, ob überhaupt noch eine Welt jenseits des Sturms existierte. Doch solang die Möglichkeit bestand, wollte er weitermachen. Tun, was er in der jetzigen Situation tun konnte. Nass bis auf die Knochen, fror er wie ein junger Hund, der mitten auf dem zugigen Kirchplatz im Ostwind zitternd auf vier dürren Beinen stand.

Ein angeketteter … ein geprügelter Hund.

Adam zog eine wässrige Spur durch den kleinen Raum, bis hin zu dem alten Lehrerpult, das den nach Talberg abgeordneten Polizisten seit über vierzig Jahren als Schreibtisch diente. Dort stellte er den Plastiksack neben den Computerbildschirm. Mit einem schmatzenden Geräusch fiel er auf den Drehstuhl, der ihn mit dem vertrauten Knirschen empfing. Die Ausstattung im Außenposten Talberg entsprach in jeder Hinsicht dem Standard einer Polizeidienststelle vor der Jahrtausendwende. Abgesehen von dem Rechner, der zumindest so neu sein musste, dass die aktuelle Polizei-Software darauf lief. Der Rest war ausrangiertes Mobiliar aus Revieren, die bereits vor langer Zeit im Zuge der fortwährenden Polizeireform geschlossen worden waren. Es gab keine Erklärung dafür, warum das Ortsamt Talberg noch betrieben wurde, denn es war der Inspektion in Wegscheid angegliedert, welche selbst vor der Schließung stand. Keine Erklärung, aber dennoch einen Grund, dachte Adam. Und dieser Grund war er. Denn hier war er niemandem im Weg und konnte am wenigsten anrichten.

Sein müder Blick fiel auf den Kalender, der an der gegenüberliegenden Wand neben der Landkarte hing, auf der die Region Ostbayern und das Dreiländereck abgebildet waren. Der Kalender zeigte immer noch Juni. Er hatte vergessen, zwei Monate umzuschlagen, wobei sich nun auch der August schon in seiner letzten Woche befand. Wenn er also noch ein paar Tage aushielt, konnte er gleich bis zum September vorblättern. Zeit spielte in Talberg ohnehin keine große Rolle. Wir sind kein verschlafener Ort, wir sind ein Ort, der ausharrt. Worauf warteten die Leute aus Talberg? Und worauf warte ich? Darauf, dass es zu Ende geht? Nun, zumindest darauf, dass es aufhört.

Tropfgeräusche holten ihn aus seinen wirren Überlegungen. Adam sah zu Boden. Unter dem bei jeder Bewegung ächzenden Stuhl hatte sich eine Pfütze gebildet. Konnte er mit dem Aufwischen auf die Putzfrau warten, die alle vierzehn Tage kam? Verflucht, konzentrier dich! Er zog die oberste Schublade auf. Darin lag ein weiteres Paar unbenutzter Einweghandschuhe. Er musste lediglich die Wodkaflasche zur Seite rollen. Sich zu beherrschen und nicht unverzüglich daraus zu trinken kostete die letzte Energie, die noch in ihm steckte.

Es muss aufhören!

Unnötig, sich etwas vorzumachen. Der Schluck aus der Flasche war nur aufgeschoben. Doch zuerst streifte er die Gummihandschuhe über seine feuchten Finger und verspürte dabei erneut Dienstbeflissenheit. Schon wieder? Kam er wieder aus der Versenkung gekrochen, der alte Wegebauer, der Münchner Kriminalkommissar, der er einmal war? Er beschloss, nüchtern zu bleiben, bis er erledigt hatte, was die Situation verlangte. Adam betrachtete seine von Latex umhüllten Hände. Sie zitterten nicht. Kein Grund, stolz zu sein. Immerhin war er nicht gedankenlos vorgegangen. Trotz des Unwetters. Das war gut. Fast so, wie in alten Zeiten. Ohne den Sturm hätte er lediglich den Fundort gesichert und alles Weitere den Kriminaltechnikern überlassen. Vermutlich hätten die Kollegen das Skelett vollständig bergen können. Vielleicht auch das, was von der Kleidung des Kindes noch übrig war. Textilfasern, die zusätzlich Aufschluss gegeben hätten, sofern das Opfer nicht nackt verscharrt wurde. Nein, ganz gewiss hätten da noch mehr forensische Spuren sichergestellt werden können. Vielleicht sogar DNS. Genetische Rückstände wurden heutzutage fast immer entdeckt, weshalb sich mittlerweile niemand, der vor drei, vier Jahrzehnten einen Mord begangen hatte, sicher sein konnte, nicht doch noch überführt zu werden. Aber was die Knochen unter der Buche anging, hatte es eben nicht sein sollen. Darum musste er ab jetzt sorgfältig sein. Keine Fehler mehr!

Adam desinfizierte die schartige Schreibtischplatte, so gut es ging, dann breitete er den Fund aus dem Wurzelkrater darauf aus. Mit jedem Knochen, den er aus dem Abfallsack unter das grelle Neonlicht über dem einstigen Lehrerpult beförderte, verstärkte sich das Verlangen nach dem Schnaps in der Schublade. Der Dämon feixte. Lachte ihn aus, weil er glaubte, sich zusammenreißen zu können. Aber noch war es stark, dieses Gefühl der Kontrolle, von dem er zuletzt vor einer Ewigkeit heimgesucht worden war. Eine Empfindung aus seiner Vergangenheit, damals, als er noch überzeugt davon war, ein guter Polizist zu sein. Einer, der für Recht und Ordnung sorgte und sich dazu in der Lage fühlte, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Woher kam sie, diese so lange verschollene Motivation, die ihn innerlich aufrichtete, aber gleichzeitig auch mit der altbekannten Angst befeuerte? Der Angst vor dem Scheitern, die wie eh und je scharfkantig in seinen Unterleib fuhr.

Adam ballte seine Fäuste, in der Absicht, dass die Fingernägel in seine Handflächen schnitten. Doch wegen der Latexhandschuhe verpuffte der erwartete Effekt. Der Schmerz, von dem er sich mehr Klarheit und Selbstbeherrschung erhofft hatte, blieb aus. Also musste er sich mit dem begnügen, was da war. Reiß dich zusammen, du weißt, wie’s geht!

Er legte ein Lineal neben die Knochen und machte Bilder mit dem Smartphone, das unerklärlicherweise noch funktionierte, als er es aus der Innentasche seiner wassertriefenden Jacke gezogen hatte. Dabei ging er strukturiert vor, so wie man es ihm vor fünfundzwanzig Jahren auf der Polizeischule beigebracht hatte. Aber auch zügig, weil er nicht wusste, wie lang er seinen wachen Zustand aufrechterhalten konnte. Nachdem er die Gebeine aus unterschiedlichen Blickwinkeln fotografiert hatte, ohne sie bewusst in Augenschein zu nehmen, schaltete er den Rechner an, lud die Bilder auf den zentralen Server und verfasste einen kurzen Bericht. Der Upload war noch nicht abgeschlossen, als der Strom ausfiel und sein unverhoffter Arbeitseifer damit einen jähen Dämpfer erfuhr.

Unterbewusst hatte er darauf gewartet, dass die Elektrizität versagte. Ärgerlich war nur, dass der Strom sich noch vor seinem neu erwachten Engagement verabschiedete. Das Dienstzimmer war jetzt dunkel. Grottennacht. Es brauchte eine Weile, bis sich seine Augen nach und nach daran gewöhnten und er zumindest wieder Umrisse erkennen konnte. Von dieser halb garen Finsternis umgeben, bemerkte er, dass das Unwetter lauter denn je vor seinem Fenster tobte. Der Wind jaulte um die Hausecke wie eine trockengelaufene Kurbelwelle und wurde dabei begleitet von einem vibrierenden Dröhnen, von dem er nicht sagen konnte, woher es rührte. Womöglich war der Strom nur der Anfang, und als Nächstes hockte er ohne Dach da. Nein, hier war er sicher. Das zweihundert Jahre alte Schulhaus aus Granitstein dürfte schon unzähligen Stürmen getrotzt haben. Aber was war mit den anderen Gebäuden? Und wie stand es um die Neubausiedlung? Sollte er nicht längst dort mit anpacken? Die Feuerwehrleute unterstützen, sofern die Anrainer zum Schutz von Leib und Leben ihre Häuser verlassen mussten? Verdammt, er drückte sich hier herum und kümmerte sich um alte Knochen, statt den Lebenden zu helfen. Was war er nur für ein beschissener Polizist? Er dachte an den Wodka in der Schublade. Doch der vorwurfsvolle Blick des Schädels lenkte ihn davon ab. Nicht zum ersten Mal. Es gelang ihm nicht, sich von den leeren Augenhöhlen abzuwenden. Der Schädel löste etwas in ihm aus, seit er ihn zum ersten Mal in der Hand gehalten und dabei zugesehen hatte, wie der Regen den Schlamm vom blanken Knochen wusch. Er spürte eine Vertrautheit. Als bestünde eine Verbindung zwischen ihm und diesem … diesem Kinderschädel!

Er wurde unruhig. Unterschwellig war er es bereits, seit er den Schädel aus dem Morast geborgen hatte. Jetzt begann er zu zittern, und sein Puls schnellte nach oben. Was zum Teufel?

Dieser Kinderschädel? Wie mein eigener …

Adam schüttelte den Kopf. Reiß dich zusammen!

Er atmete scharf ein. Das half. Er brauchte einen Arzt. Er wollte die Skelettreste untersuchen lassen, bevor er sie verpackte und in die Gerichtsmedizin nach Passau verfrachtete. Weil er wusste, dass er keine Einsicht mehr in diese Ermittlung haben würde, sobald er den Knochenfund aus der Hand gab. Und dazu konnte er es nicht kommen lassen. Auf keinen Fall!

Adam sah zum Fenster, unter dem nichts als ein paar vertrocknete Fliegen das Fensterbrett schmückten. Außen lief das Wasser die Scheibe runter, als steckte er mitsamt seinem Dienstzimmer in einer Waschanlage. Und es war nicht nur nass wie in einer Waschanlage, sondern auch mindestens so laut. Als würden übermannshohe Bürsten um die Außenmauer des Schulhauses rotieren und gleichzeitig schon das Gebläse für die abschließende Trocknung auf vollen Touren laufen. Seine Überlegungen waren ohnehin müßig. Zurzeit würde weder ein Arzt kommen können, noch bestand irgendeine Möglichkeit, den brisanten Fund in den nächsten Stunden in die Pathologie nach Passau zu transportieren. Und wenn entwurzelte Bäume die Bundes- und Kreisstraßen und vermutlich auch die Bewirtschaftungswege blockierten, wer konnte da sagen, wie lange es dauerte, bis irgendjemand diesen Ort verlassen konnte? Kein Strom mehr, keine Verbindung zur Außenwelt. Verhältnisse, die er noch von früher kannte. Da war das in Talberg beinahe jeden Winter passiert. Wenn der Ostwind den Schnee über die Bergrücken des Böhmerwalds trieb und den Ort unter einer Eisdecke begrub, gerade so, als lebten sie in Sibirien statt in Mitteleuropa. Dann waren sie eingeschneit, für ein paar Tage. Und hie und da kappte der Eisbruch auch die Stromleitung. Doch das lag Jahrzehnte zurück. Solche Winter gehörten der Vergangenheit an, sogar bei ihnen hier oben. Adam entsann sich der Starre, die ihnen diese rauen Winter von einst immerzu aufzwangen. An die Kälte, die sie lähmte, von außen wie auch innerlich. Und dass es dann keine Möglichkeit mehr zur Flucht gegeben hatte. Niemals sonst waren sie ihm mehr ausgeliefert gewesen als während dieser dunkelsten Wochen des Jahres. Dann, wenn Frost, Schnee und Verzweiflung sie gefangen hielten. Er merkte, dass seine Hand an der Schublade lag, und zog sie zurück, als hätte er auf eine heiße Herdplatte gelangt. Benommen von der Vergangenheit, betrachtete er seine Finger, die zwar keinerlei Brandblasen aufwiesen, dafür aber immer noch verschrumpelt waren. Wann hatte er die Einweghandschuhe abgestreift?

Keine Fehler mehr, verdammt!

Sein Blick landete wieder auf dem Schädel. Und der Schädel starrte auf anklagende Weise zu ihm zurück, so als wäre es seine Schuld, was mit diesem Kind vor weiß der Teufel wie vielen Jahren geschehen war. Adam konnte nichts dagegen tun, er fühlte sich schuldig. »Ich hätt’s verhindern müssen«, murmelte er, ohne zu wissen, warum. Was konnte er schon ausrichten? Ausgerechnet er? Am besten, er gab die Sache wie geplant weiter. Schaffte sie sich vom Tisch, wie er es sonst zu tun pflegte. Dafür brauchte er nicht einmal Strom. Mit nervösen Fingern schickte er die Fotos der Knochen per Handy an das Revier in Wegscheid. Sicherheitshalber, solange das Mobilfunknetz noch in Takt war. Zu seiner Erleichterung hielt die Verbindung, worauf hier im Grenzgebiet nur bedingt Verlass war. Zumindest, was die deutschen Anbieter betraf. Aber es gab ja auch das Österreicher-Netz, und gelegentlich wählte sich sein Handy sogar in das der Tschechen ein. Der Versand der Fotos funktionierte. Allerdings währte die Freude darüber nur kurz.

Ein Kinderschädel!

Nein, er fühlte sich nicht besser. Warum sollte er sich noch wehren? Also sah er dabei zu, wie seine Hand den Wodka aus der Schublade holte.

5

Sie hatten ihn auf den Namen Adam taufen lassen, obwohl er nicht der Erstgeborene war. 1978, während eines deutschen Jahrhundertwinters, war er als das dritte Kind von Lore Wegebauer und Franz Ihrlinger zur Welt gekommen. Wobei der Vater da schon den Namen der Mutter angenommen hatte und ebenfalls Wegebauer hieß. Kurz vor deren Vermählung war Mitte der Siebzigerjahre in der Bundesrepublik die Namensrechtsreform in Kraft getreten. In Talberg freilich hatte bis dahin nie jemand davon gehört, dass so etwas auch nur möglich war, geschweige denn es in Erwägung gezogen. Im Dorf konnte sich demnach keiner im Ansatz erklären, warum der Franz so wie seine Frau heißen wollte. Die meisten hielten es für eine Schande und fanden, dass der Ihrlinger, bei dem nach seiner Hochzeit Wegebauer im Personalausweis stand, ein rückgratloser Haderlump war. Einer, der unterm Pantoffel stand, auch wenn es nach außen hin nicht den Eindruck machte. Hinter vorgehaltener Hand herrschte danach allgemein die Überzeugung, dass man so eine gravierende Entscheidung nur traf, wenn man etwas zu verbergen hatte. Selbst als Adam alt genug war, um eingeschult zu werden, war dieser Affront noch nicht verziehen, weshalb die Wegebauer-Kinder deswegen gehänselt wurden, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot.

Ein Jahr vor Adam war seine Schwester Elke geboren. Erst später bekam er mit, dass es vor Elke noch einen Sohn gegeben hatte, der auf den Namen Gerhard hörte. Und dass der Gerhard seinen ersten Winter nicht überlebt hatte.

Es war Elke, die eines Tages nach der Schule nicht direkt heimging, sondern mit ihm einen Abstecher auf den Friedhof machte. »Da liegt der Gerhard«, sagte sie und zeigte auf das Grab, vor dem sie stehen geblieben waren. Ein unscheinbares Grab. Kein Stein, nur ein Holzkreuz. Zudem in einer ganz anderen Ecke als das Familiengrab. Adam starrte auf den Namen und das Sterbedatum, die vor rund neun Jahren in den von der Verwitterung schon arg mitgenommenen Querbalken geschnitzt worden waren, und las beides leise vor.

»Mama hat’s mir gezeigt«, verriet ihm Elke. »Erst letzte Woche.«

»Warum haben wir den Gerhard an Allerheiligen noch nie besucht?«, wollte Adam wissen. Die Neuigkeit brachte ihn durcheinander.

»Der Papa will’s nicht, sagt die Mama«, erklärte Elke. »Sie hat auch gesagt, dass ich nicht herkommen darf.«

»Warum?«

Darauf hatte Elke keine Antwort. In der Folge ignorierten sie das Grab ihres älteren Bruders Gerhard auch weiterhin an Allerheiligen, und irgendwann war das Holzkreuz durchgefault, umgefallen und schließlich ganz verschwunden. So, als hätte es nie einen Gerhard Wegebauer gegeben. Viel später noch hatte Adam herausgefunden, dass Gerhard ein außereheliches Kind gewesen war. Ein Kind also, das nicht dem Ihrlinger Franz zuzuschreiben war. Nicht auszumalen, was der Kleine deswegen hätte erleiden müssen, wenn Gott in seiner Gnade ihn nicht so früh zu sich gerufen hätte. Manchmal hörte er die Leute darüber reden, sonntags auf dem Kirchplatz vor dem Messgang, auf dem Schützenfest, beim Bäcker, im Krämerladen oder Wirtshaus. Da zogen sie nur zu gern und obwohl sie wussten, dass er zuhörte, über sie her. Darüber, dass die Lore den Franz hat nehmen müssen, weil sonst ohnehin keiner sie mit einem Kind im Bauch wollen hätte. Und das, obwohl sie die Hoferbin war.

Franz Wegebauer, der auch etliche Jahre nach seiner Heirat noch der Ihrlinger genannt wurde – rein aus Trotz könnte man meinen, um ihm deutlich zu machen, dass man zwar den Namen ändern konnte, aber nicht den Charakter –, war ein Tyrann. Ein Tyrann und ein Säufer, wobei das eine das andere bedingte. Ein Tyrann brauchte Schneid, um seine Tyrannei durchzusetzen, und Schneid bekam der Ihrlinger vor allem durch das Bier und den Schnaps. War er einigermaßen nüchtern, schrie er zwar auch gelegentlich herum, aber meist war er in sich gekehrt. Gefangen in einer Abwesenheit, für die er keine Erklärung hatte, sofern jemand wagte, ihn darauf anzusprechen. War er allerdings besoffen, machte diese Abwesenheit einer brutalen Zügellosigkeit Platz. Dann wurde er laut in der Öffentlichkeit, ausfällig, und war für jeden Streit zu haben. Auch wenn er es bei verbalen Auseinandersetzungen beließ, weil er sich mit seiner dürren Gestalt körperlich schnell im Nachteil sah. Weshalb man ihm trotz aller Aggressivität auch immer eine gewisse Feigheit nachsagte, egal wie besoffen er nun war. Daheim auf dem Hof, im familiären Umfeld, da schlug der Ihrlinger Franz allerdings nach allem, was in seine Reichweite gelangte. Da war seine schmächtige Statur kein Hindernis, um mit aller Härte Frau und Kinder zu verdreschen, ohne dass es dafür einen Grund brauchte. Ihm genügte bisweilen die alleinige Existenz seiner Familie, um ihn explodieren zu lassen.

Adam hasste seinen Vater. Je älter er wurde, desto mehr Schläge steckte er ein, was seinen Hass anfütterte, ihn regelrecht mästete, wie sie es droben beim Haslinger mit den Martinsgänsen taten. Das hilflose Federvieh bekam Mais mittels eines Haselnussstocks in den Kragen und er den Hass durch die Faust seines Erzeugers in die Seele gestopft. Adam lebte mit diesem Hass, und eine Zeit lang traf das Echo seiner Abscheu auch die Mutter, der fortweg Kraft und Wille fehlten, ihn vor dem Teufel in ihrem Haus zu behüten. Vor allem, weil er die Geschichten von den starken und unbeugsamen Frauen nur zu gut kannte, die der Wegebauer-Hof sonst hervorgebracht hatte. Schon sehr früh hatte er aufgeschnappt, was im Dorf über seine Großmutter, seine Urgroßmutter und deren Vorfahrinnen erzählt wurde. Von geheimen Mächten und einer innigen Verbindung zur Natur. Ja, die alten Leute sprachen mit Respekt, manchmal sogar mit Ehrfurcht über die Wegebauer-Weiber von einst. Respekt und Ehrfurcht, wie sie sonst nur dem Herrgott entgegengebracht wurden. Dem Herrgott oder dem Teufel.

Seine Mutter besaß nichts von diesem Mystizismus. Alles, was Lore Wegebauer konnte, war sich ducken, wenn ihr Gatte die Hand erhob.

Adams Mobiltelefon vibrierte auf dem Schreibtisch, und dieses Schnarren brachte ihn zurück in die Gegenwart. Zurück ins alte Schulhaus, in dem schon seit über dreißig Jahren kein Unterricht mehr abgehalten wurde. Seine Hand zitterte, als er nach dem Gerät griff. Das Display zeigte die Nummer des Reviers in Wegscheid. Er sah auf. Die Wodkaflasche stand neben dem Schädel. Für eine Sekunde erschrak er darüber, wie viel von der klaren Flüssigkeit fehlte. Wann hatte er das alles getrunken?

Wäre er in München geblieben, wäre er vielleicht bei irgendeinem Downer gelandet. Benzodiazepin oder einem anderen Tranquilizer, der unter der Hand zu bekommen war. Aber in Talberg kamen selten Dealer durch, also hatte er sich nach und nach mit Kartoffelschnaps angefreundet.

Endlich nahm er den Anruf entgegen.

»Wegebauer«, meldete er sich mit rauer Stimme.

»Was hast du uns da rübergeschickt?«, hörte er den Ascher fragen. Polizeihauptmeister Thomas Ascher war sein unmittelbarer Vorgesetzter. Eigentlich ein Rang, der unter dem seinen lag. Oder gelegen hatte, denn auch wenn es anders in seiner Akte stand, verfügte er über keinerlei Befehlsgewalt mehr. Ich bin nur noch ein Dorfpolizist. So gesehen konnte er dankbar sein, dass man ihm vorerst die Besoldungsstufe gelassen hatte. Aber das war auch schon alles.

»Musste ich sicherstellen, der Bericht folgt«, erklärte Adam.

»Sicherstellen, Herrschaft, Wegebauer, was heißt sicherstellen?«, raunzte Ascher ins Telefon.

Die Reaktion seines Vorgesetzten war nachvollziehbar, denn schließlich wusste der Mann nichts von dem Loch, das der umgestürzte Baum hinterlassen hatte und durch das die Kinderknochen erst ans Tageslicht gekommen waren.

»Wir haben gerade keinen Strom«, sagte Adam zusammenhangslos. Wie nahe war er bereits dran, genau wie der Ihrlinger Franz zu werden?

»Wegebauer, zefix! Gib mir endlich eine g’scheite Auskunft! Was ist da los bei euch?«

Bevor auch nur ein Wort über seine Lippen kam, vernahm er ein eigenwilliges Knacken. So wie früher, als man seine Botschaften noch ausschließlich durch im Boden verlegte Kupferkabel übermittelte. Danach war Ruhe. Der Ascher war verschwunden, mitsamt dem Rest der Welt.

6

Mein Schädel?

Ja, das könnt’ ich sein, dachte Adam. Vielleicht bin ich’s sogar. Vielleicht hat der Alte mich erschlagen, als ich klein war, und ich hab’s nur nicht gemerkt, weil ich wegen dem, was er mir all die Jahre davor angetan hatte, schon so abgestumpft war, dass ich meinen Tod nicht mehr gespürt habe.

Er raffte sich auf. Aus dem Sideboard, das sonst nur mit Aktenordnern gefüllt war, Überbleibsel seiner Vorgänger, in die er noch nie hineingesehen hatte, zog er den Festnetzapparat. Das Telefon hatte er bislang nie benutzt, weil ohnehin alle Anrufe auf seinem Handy eingingen oder darauf umgeleitet wurden. Jetzt stöpselte er das Gerät in die freie Buchse des Routers, der wie Elektroschrott in der Zimmerecke rechts vom Fenster verstaubt auf dem Boden lag. Da der Router aber nur mit Strom funktionierte, erreichte er auch mittels der alten Technik kein Amt. Auch den Stecker direkt in die Telefonbuchse in der Wand zu schieben brachte keinen Erfolg. Er wusste nicht weiter, denn er hatte sich nie sonderlich für Technik interessiert. Aber Ascher würde einen Weg finden, sich bei ihm zu melden, wenn er es für wichtig hielt. Er hatte ohnehin nicht die Absicht, auf irgendwelche Befehle zu warten.

Diesmal nicht!

Der Wodka war längst in seinem Gehirn, dennoch waren seine Gedanken so klar wie der Schnaps, mit denen er sie hatte vernebeln wollen.

Ich muss es wissen!

Sakrament, ja, er musste es wissen, und er konnte nicht warten. Nicht einmal, bis der Sturm vorüber war, der sich ohnehin nicht von der Stelle zu bewegen schien. Er hing fest wie ein Anker. Vielleicht hat er sich an unserem verfluchten Berg verhakt? Oder an den Hörnern des Teufels. Vermutlich war das bereits die zweite Superzelle, die laut den Meteorologen unmittelbar auf die erste folgen sollte. Eine Superzelle, geboren aus einem Cumulonimbus. Nicht, dass er sich für Meteorologie interessierte, aber wenn er auf eigenwillige Begriffe stieß, blieben sie ihm manchmal im Gedächtnis. So wie Cumulonimbus, eine massige, dichte Wolkenfront. Das hörte sich deutlich harmloser an, als es in Wirklichkeit war. Zumindest keinesfalls so, als könnte daraus ein apokalyptisches Tiefdruckgebiet entstehen. Oder besser gesagt, gleich zwei davon. Als wäre für die Talberger eine rotierende Gewitterfront nicht genug gewesen, um daran zu erinnern, wieder mehr Demut vor dem Herrn zu zeigen. Was hat der Steiner prognostiziert? Das Gröbste kommt noch! Kann es noch schlimmer werden? Noch mehr Wasser vom Himmel fallen? Der Wind noch höhere Geschwindigkeiten erreichen? Kommt alsbald der von den Bauern gefürchtete Hagel hinzu? Schwemmte es auch noch den Veichthiasl weg, und wurde damit der ganze verfluchte Ort von seinem Hausberg begraben? Er würde es nicht bedauern, wenn es so käme. Das, was ihn noch auf den Beinen hielt, waren nicht die Lebenden, sondern ein Kind, das vor langer Zeit unter einem Baum an der Ostflanke des Hirschberger Waldes verscharrt worden war.

»Das muss ich noch wissen«, murmelte er, griff nach dem Abfallsack und legte die Knochen wieder hinein. Da er ohnehin noch völlig durchnässt war, war es egal, ob er sich erneut hinaus in das Unwetter begab. Schon im Flur pfiff ihm der Wind entgegen. Die alte Eingangstür aus Eichenholz, durch die einst Generationen von Grund- und Volksschülern das Gebäude betreten hatten, war in sich verzogen und schloss daher nicht mehr dicht mit der Zarge ab. Regenwasser hatte sich in mehreren Pfützen auf dem unebenen Steinboden gesammelt. Adam umfasste den Knochensack noch fester, während er mit der freien Hand versuchte, die Tür zu öffnen, die den Vorschriften entsprechend nach außen aufging. Doch nichts passierte. Hatte er vorhin hinter sich abgeschlossen? Erst im nächsten Moment verstand er, dass es der Wind war, der den Widerstand verursachte. Also stemmte er sich mit der Schulter dagegen und schaffte es schließlich, sie einen Spaltbreit aufzudrücken und ins Freie zu schlüpfen. Für kurze Sekunden gewann er den Kampf gegen die Naturgewalt, die dafür umso heftiger zurückschlug, als er aus dem Windschatten des Schulhauses trat. Noch auf den Granitstufen, die runter zur Straße führten, zwang ihn die nächste Böe zu Boden, und er konnte froh sein, dass er im Blumenbeet und nicht auf den verwitterten Steinplatten landete, die zum Gebäude führten. Die unmittelbar im Eingangsbereich stehende Tanne, die dort schon vor Jahrzehnten über den Dachfirst des dreistöckigen Schulhauses hinausgewachsen war, wurde vom tobenden Sturm besorgniserregend gebeugt und peitschte gleichzeitig mit ihren nadelbewehrten Ästen in seine Richtung. Wie vorhergesagt, hatte der Wind an Kraft und Zorn zugelegt und verwandelte die Regentropfen in Nadelspitzen. Adam schirmte die Augen mit der freien Hand ab, was die Sicht allerdings nicht verbesserte. Am Haus entlang schoss reißendes Wasser die schmale Straße herab. Die Kirche, die sich eigentlich am anderen Ufer dieses neu entstandenen Wildbachs befand, schien verschwunden zu sein. Es gab nur noch eine schwarzgraue Wasserwand, die immer wieder von Sturmböen zerteilt wurde. Aber auch hinter diesen Fetzen lauerte nur undurchdringliche Finsternis. War er nun also doch gekommen, der so oft gepredigte Weltuntergang?

Doch selbst der Weltuntergang konnte ihn nicht von seinem Ansinnen abhalten. Ich muss es wissen!

Er tastete nach dem Etui an seinem Uniformgürtel, in dem die Taschenlampe steckte, doch das Lederfutteral war leer. Hatte er sie verloren, vorhin, während er die Knochen einsammelte? Unwahrscheinlich. Vermutlich lag sie irgendwo in seiner Wohnung herum. Auf der Kommode, wo er für gewöhnlich auch seine Dienstwaffe ablegte. Eine Unsitte, die man ihm als Fahrlässigkeit anrechnen würde, sofern jemand das überprüfte. Was niemals der Fall sein würde.

Jetzt musste es auch so gehen. Geduckt und mit vorgestreckter Hand bewegte er sich um die nach ihm peitschende Tanne herum bis zu der Stelle vor dem Schulhaus, an der normalerweise der Streifenwagen parkte. Das Polizeiauto fehlte. Mit dem nächsten kalten Guss fiel ihm wieder ein, dass der Wagen immer noch mitten auf der Landstraße stand. Ein knappes Stück hinterm Wirtshaus, wo ihn der quer liegende Baum am Weiterfahren gehindert hatte. Während er das Skelett sichergestellt hatte, waren noch ein paar geknickte Stämme und abgerissenes Astwerk dazugekommen. Das hatte nicht nur den Steiner und seine Leute dazu gezwungen, die Motorsägen auszupacken, um sich einen Weg zurück ins Dorf freizusägen. Der erneute Holzbruch war auch dafür verantwortlich, dass er sich vorhin zu Fuß bis zum Schulhaus hatte zurückkämpfen müssen.

So wie das Wetter im Moment tobte, hätte er den Streifenwagen ohnehin nicht benutzen können. Es brauchte keinen Propheten, um abzuschätzen, dass er auch diesmal nicht sonderlich weit damit gekommen wäre. Der unbefestigte Fahrstreifen hinauf zum Waldbauern hatte sich mit hoher Wahrscheinlich in einen noch reißenderen Wildbach verwandelt als der, der sich vor seiner Nase runter zur Hauptstraße ergoss. Es kostete schon Überwindung, den zu überqueren, aber Adam stapfte beherzt hinein in die schäumende Strömung, die ihm bis hoch zu den Schienbeinen schwappte. Der Sog war heftig, aber irgendwie gelangte er rüber bis zu der Mauer, die Kirche und Friedhof einfasste. Von dort tastete er sich, eng an die schmierig-nassen Steine gepresst, in östliche Richtung entlang, bis die Umfriedung nach Norden hin abknickte. Ab hier ging es schneller voran, denn er war einigermaßen vom Wind geschützt. Die Sicht war nicht besser geworden, aber seine Augen hatten sich angepasst. Als er das Kriegerdenkmal erreichte und von dort aus gebückt bis zum Feuerwehrgerätehaus rannte, fühlte es sich schon nicht mehr nach Blindflug an.