Wolfsgier - Max Korn - E-Book

Wolfsgier E-Book

Max Korn

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Beschreibung

Wandern, den Kopf frei bekommen. Eine raue, noch unberührte Landschaft auf sich wirken lassen. Nicht groß vorausplanen. Abenteuer fühlen. All das schwebte Simon und Maggie vor, als sie zu zweit mit dem Wohnmobil Richtung Bayerischer Wald aufbrachen. Doch als die beiden auf einer einsamen Straße durch den Tann ein Tier anfahren, nimmt ihr Urlaub plötzlich eine unheilvolle Wendung. Simon und Maggie melden den Unfall in der nächsten Ortschaft. Von den Bewohnern des Dorfes werden sie misstrauisch beäugt. Eine Bedrohung liegt in der Luft, die schon bald darauf greifbar wird. Denn als Simon in Begleitung von zwei örtlichen Polizisten an die Unfallstelle zurückkehrt, erwartet ihn eine böse Überraschung. Alles deutet daraufhin, dass er diesen Ort so schnell nicht wieder verlassen wird. Und dann verschwindet auch noch Maggie spurlos ...

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Seitenzahl: 316

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Das Buch

Wandern, den Kopf frei bekommen. Eine raue, noch unberührte Landschaft auf sich wirken lassen. Nicht groß vorausplanen. Abenteuer fühlen. All das schwebte Simon und Maggie vor, als sie zu zweit mit dem Wohnmobil Richtung Bayerischer Wald aufbrachen. Doch als die beiden auf einer einsamen Straße durch den Tann ein Tier anfahren, nimmt ihr Urlaub plötzlich eine unheilvolle Wendung. Simon und Maggie melden den Unfall in der nächsten Ortschaft, einem Hundertseelenkaff namens Heindlsäge. Von den Bewohnern des Dorfes werden sie misstrauisch beäugt. Eine Bedrohung liegt in der Luft, die schon bald darauf greifbar wird. Denn als Simon in Begleitung von zwei örtlichen Polizisten an die Unfallstelle zurückkehrt, erwartet ihn eine böse Überraschung. Alles deutet darauf hin, dass er diesen Ort so schnell nicht wieder verlassen wird. Und dann verschwindet auch noch Maggie spurlos …

Die Autorin

Max Korn ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Seine Romane stehen regelmäßig in den Top 20 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Einen Teil seiner Jugend verbrachte Korn in dem kleinen Ort Thalberg im Bayerischen Wald, dessen Geschichte und Legenden ihn zu einer Reihe von Spannungsromanen inspirierten.

Max Korn

Wolfsgier

Thriller

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlichgeschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 03/2024

Copyright © 2024 by Oliver Kern

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Joscha Faralisch

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München, unter Verwendung von Motiven von © Trevillion Images (Natasza Fiedotjew), Shutterstock.com (PixDeluxe)

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-30287-0V001

www.heyne.de

Teil 1 Du hast das Auge

1

Der Schlag war dumpf. Simon riss unwillkürlich das Steuer herum. Das Wohnmobil geriet ins Schlingern, so schnell konnte er gar nicht denken. Er trat auf die Bremse, viel zu stark. Während er wild am Lenkrad kurbelte, kreischte Maggie neben ihm in einer Tonlage, die er in den fünf Jahren, die er sie nun kannte, noch nie von ihr gehört hatte. Er selbst war damit beschäftigt, das träge reagierende Gefährt auf der immer schmaler werdenden Straße zu halten, während sein Verstand zu begreifen versuchte, dass er gerade etwas überfahren hatte. Etwas, das aus dem Nichts gekommen war. Schnell und unsichtbar. Ein grauer Schatten, der aus dem Unterholz herausgeschossen kam, bis zuletzt verborgen durch dichtes Strauchwerk.

Endlich bekam er das Wohnmobil zum Stehen. Maggie verstummte. Nur das Radio dudelte unberührt weiter einen ihm unbekannten Popsong. Simon empfand tiefe Erleichterung. Nicht wegen der Musik, sondern wegen der plötzlichen Stille drumherum. Und natürlich, weil sie nicht im Graben gelandet waren oder in der Kühlerhaube eines entgegenkommenden Verkehrsteilnehmers. Wobei Letzteres ohnehin unwahrscheinlich gewesen wäre, da seit einer gefühlten Ewigkeit niemand mehr an ihnen vorbeigefahren war. Weder in die eine noch in die andere Richtung.

»Was war das?«, fragte er kraftlos.

»Ein Hund«, antwortete Maggie, obwohl sie in der Sekunde des Aufpralls ebenso wenig auf die Straße geschaut hatte wie er. In der Sekunde, als der Schatten von rechts aus dem Wald gebrochen war, hatte Maggie ihn angesehen und er sie. Er hatte in ihre zornigen Augen geblickt, die noch dunkler waren als sonst. In ihre Augen und nicht auf die Straße. Leck mich, war ihr dabei über die Lippen gekommen, und mit dem Ausrufezeichen hinter diesem Leck mich war der Schlag erfolgt. Vorne rechts hatte er das Tier erwischt.

»Ein Hund«, wiederholte er und spürte, wie sich die Kälte, die durch seinen Körper jagte, mit dem heißen Adrenalin mischte, das laut wummernd durch seine Adern pumpte.

Hätte ich auf die Straße gesehen, hätte ich ausweichen können. Allerdings lägen wir dann vielleicht tatsächlich im Straßengraben …

Simon sah es vor sich: Er selbst eingeklemmt zwischen Airbag, Lenkrad und Sitz, die gesplitterte, eingedrückte Windschutzscheibe unmittelbar vor seinem Gesicht. Dazu einen Ast, der nicht nur das Verbundglas, sondern auch seinen Brustkorb durchbohrt hatte. Und Blut überall …

Er biss sich auf die Zunge, blinzelte die Horrorszene aus seinem Schädel und schielte rüber zu Maggie, deren schlanke Finger sich immer noch um den Sicherheitsgurt krallten. Er beschloss, über ihre erneute Provokation hinwegzusehen. Stattdessen wollte er die Hand nach ihr ausstrecken, sie berühren. Ihr mit einer Geste signalisieren, dass alles gut war. Doch er tat es nicht. Nichts war gut. Er hatte eben ein Tier angefahren. Simon schaute in den Außenspiegel. Hinter ihnen war eine leere Landstraße zu erkennen. Und der Wald. Dichter undurchschaubarer Tann, der fast bis an das Asphaltband herangewachsen war. Zur Linken öffnete sich auf ihrer Höhe die dunkelgrüne Wand. Dort erstreckte sich eine Wiese den Hang hinab, bevor sich nach rund hundert Metern erneut Baum an Baum reihte. Nicht, dass er sich besonders gut mit Botanik auskannte, aber es sah auf die Entfernung alles nach Sumpf oder Moor aus. Was war noch mal der Unterschied?

Ein Stück weiter wurde der Wald wieder dicht und finster. Eng an eng wuchsen dort die Tannen. Oder waren das Fichten? Er hatte keine Ahnung. Jedenfalls stand fest, es gab weit und breit kein Gebäude, nirgendwo schimmerte ein rotes Ziegeldach durchs Geäst. Lediglich die rissige Teerdecke, die diese Wildnis teilte, ließ ihn weiterhin an eine Zivilisation glauben.

Er hatte den Motor abgewürgt. Auf dem Armaturenbrett leuchteten diverse Signallämpchen. Seine Hand zitterte, als er sie vom Lenkrad nahm und die Warnblinkanlage aktivierte. Im Radio spielten sie jetzt eine Nummer von a-ha. »Hunting High and Low«, wie passend.

Kraftlos zog Simon am Türöffner.

»Was machst du?«, fragte Maggie. Sie stand zweifelsohne noch mehr unter Schock als er.

»Nachsehen«, murmelte er. Der Schreck über den Zusammenstoß hatte ihren Streit in den Hintergrund gerückt. Auch wenn er sich nach wie vor im Recht fühlte. Ihre Einstellung gegenüber dem Job, selbst wenn sie ihn nicht mochte, war einfach nicht richtig. Einfach krank zu machen, nur weil man keinen Bock mehr hatte, das ging gar nicht … Aber wieso hatte er seinen Unmut über ihre laxe Arbeitseinstellung ausgerechnet während ihres Urlaubs zur Sprache bringen müssen? Eigentlich hatte er sich vorgenommen, während der Reise nicht über ihre finanzielle Situation nachzudenken. Darüber, dass sie gerade ziemlich klamm waren, nachdem sie sich vor einem halben Jahr eine Eigentumswohnung geleistet hatten. Eine von Kreditgebern gestützte Investition, die seinen vorzeitigen Haarausfall förderte. Verflucht noch mal, was machte er sich eigentlich vor? Den Schuldenberg, den sie sich da aufgehalst hatten, würde er nie und nimmer vollständig aus dem Kopf bekommen. Dafür war er nicht der Typ. Viel zu uncool, wie Maggie meinte. Verdammt, sie hatte ja damit angefangen. Hatte irgendeine Bemerkung fallen lassen, wie spießig er sich hin und wieder benahm. Und dass er nicht von Work-Life-Balance faseln sollte, wenn er das Prinzip nicht verstand. Womit eins zum anderen geführt hatte.

She’s the sweetest love I could find, sang Morten Harket.

Simon rutschte vom Sitz. Er kletterte vom Bock, wie sie es scherzhaft nannten, seit sie mit dem Gefährt unterwegs waren. Mit weichen Knien ging er vorne herum. Kurz musste er sich an der Motorhaube abstützen. Wer steht hier unter Schock, Alter?

Maggie stieg ebenfalls aus und schlug die Beifahrertür zu. Es wäre ihm lieber gewesen, sie wäre im Wagen geblieben, bis er die Lage sondiert hatte.

She’s the sweetest love I could find.

Das Glas des rechten Scheinwerfers war gesplittert, die Stelle drumherum verformt, die Stoßstange wies einen Riss auf. Eine Blutschliere zog sich um die Rundung. Und da klebten Haare. Hundehaare? Simon rieb sich über das unrasierte Kinn. Maggie trat neben ihn. Er wartete auf einen Kommentar darüber, dass sie sich von Lars ein mächtiges Donnerwetter anhören müssten. Lars war Maggies Bruder und überaus pingelig mit allen seinen Dingen. Ihnen sein heiliges Wohnmobil zu leihen, hatte ihn immense Überwindung gekostet. Simon hatte keine Ahnung, wie Maggie ihn überredet hatte, es aus der Hand zu geben. Jedenfalls hatte sie tausendmal versprochen, dass sie aufpassen würden. Nicht einen Kratzer, weder innen noch außen. Mit Argusaugen würde sie darauf achtgeben … Simon war klar, wer das hier jetzt ausbaden und vor Lars zu Kreuze kriechen durfte.

Er sah sich um. Ertappte sich erneut dabei, nach einem Haus oder Gehöft Ausschau zu halten. Doch sie waren allein auf weiter Flur. Niemand kam angerannt, der mit dem Hund unterwegs gewesen war. Bisher war er irgendwie der Meinung, dass die Leute auf dem Land ihre Köter an der Kette oder in Zwingern hielten. Hatte er einen Streuner überfahren?

Simon suchte den Blick seiner Frau, die immer noch nichts zu sagen wusste. Sie war blass, hatte ihren Mund leicht geöffnet. Atmete auffällig laut. »Bist du okay?«

Maggie starrte ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Lars wird …«, setzte sie an.

»Lars ist mir gerade scheißegal«, zischte Simon und ließ sie stehen. Er ging am Wohnmobil entlang nach hinten. Seine Beine waren immer noch wie Gummi, weshalb er zweimal neben die Fahrbahnbefestigung trat und ungeschickt vorwärtsstolperte. Er war überzeugt, dass er zum Zeitpunkt der Kollision mit dem Hund nicht schneller als siebzig gefahren war. Trotzdem musste er ein halbes Fußballfeld hinter sich bringen, bis er die Stelle fand, an welcher das Tier im Straßengraben lag. Beim Anblick des Hundekörpers durchflutete ihn Bedauern. Gleichzeitig verspürte er Erleichterung darüber, dass sich dort unten im Graben nichts mehr rührte. Dass nichts jaulte, knurrte oder rasselnd röchelte. Dass ihn kein wässriger, vorwurfsvoller Blick traf. Schau, was du mir angetan hast! Stattdessen herrschte zwischen dem hohen Gras Stille. Totenstille. Die Schnauze war blutig, die Augen waren leer. Bereits getrübt, weil kein Leben mehr in dem Tierkörper steckte. Neben Simons Ohr klickte ein Handy. Er zuckte zusammen. Maggie, die ihm leise gefolgt sein musste, knipste ein weiteres Bild.

»Was machst du da?«, entfuhr es ihm.

»Dokumentieren«, sagte sie, ging in die Hocke und hielt aus der geänderten Perspektive die Handykamera auf den Kadaver gerichtet.

»Lass das!«, fauchte Simon.

»Das glaubt uns doch sonst keiner«, verteidigte sie sich. Sie klang aufgeregt, fast euphorisch, was ihn noch mehr verstörte.

»Ich hab nicht vor, damit anzugeben, einen Hund totgefahren zu haben.« Ungläubig sah er dabei zu, wie seine Frau zu dem Tier in den Graben stieg, um weitere Fotos zu machen.

»Das ist kein Hund«, erwiderte sie, ohne den Blick von dem reglosen Körper im Straßengraben zu wenden. »Du hast einen Wolf gekillt.«

2

Ein Wolf!

Das gab ihm den Rest. Als wäre es nicht schon schlimm genug, einen Hund zu überfahren. Aber einen Wolf? Das fühlte sich unverzeihlich an. Und unwirklich. Er zwang sich, genauer hinzusehen. Maggie könnte recht haben. Das graue Fell mit ein bisschen rotbraun und weiß dazwischen. Die Kopfform. Der buschige Schwanz. Gab es außerhalb des Nationalparks Wölfe im Bayerischen Wald? Frei lebende Wölfe? Berichte von Wolfssichtungen kursierten ab und an in den Medien, nur hatte er nie hingehört, wo genau das war. Niedersachsen vielleicht, aber das war weit weg. Er hatte nie etwas mit Raubtieren zu tun gehabt. Und jetzt hatte er eines totgefahren. Würden sie damit einfach so davonkommen? Er verstand nicht, wie Maggie so ruhig bleiben konnte. Hektisch blickte er sich um. Wie lange standen sie schon hier? Er schaute rüber zum Wohnmobil, das fast zwei Drittel der schmalen Straße blockierte. Sie waren etwa vor einer Viertelstunde darauf abgebogen, auf der Suche nach der Straße, die hoch zum Dreisessel führte. Plötzlich war er unsicher, ob sie überhaupt richtig waren. Die hohen, dicht stehenden Nadelbäume versperrten den Blick auf die Bergrücken, die im Osten eine bis zu tausendzweihundert Meter hohe Barriere nach Tschechien bildeten. Erneut folgte sein Blick dem Straßenverlauf, eine lang gezogene Biegung, die er nach beiden Seiten etwa hundert Meter einsehen konnte. Noch immer war kein Auto vorbeigekommen. Nicht einmal ein Traktor, auch wenn da vorhin kurz ein Geräusch war, das sich nach Landmaschine angehört hatte. Er versuchte abzuschätzen, wann sie die letzten paar Häuser passiert hatten. Wie viele Kilometer dies zurücklag. Und ein Stück voraus würde der nächste Ort kommen, das hatte er auf dem Navi gesehen. Doch dazwischen gab es nur Bäume. Er hatte gelesen, dass der Bayerische Wald und der Böhmerwald auf der tschechischen Seite das größte zusammenhängende Waldgebiet in Mitteleuropa waren. Und sie steckten mittendrin. Bis auf die sumpfige Wiese links vom Wohnmobil umgab sie dunkles Gehölz, das die Sommersonne zu verschlucken schien, obwohl diese hoch am Himmel stand. In Passau waren sie morgens zeitig losgekommen. Der Tag war noch jung, auch wenn er sich für Simon im Moment nicht so anfühlte. Es war seine Idee und vor allem sein Wunsch, in dieser Gegend Urlaub zu machen, aber im Moment war ihm ziemlich mulmig zumute. Wo genau sind wir?

»Sollen wir ihn mitnehmen?«, schlug Maggie vor und holte ihn damit aus seinen Gedanken.

»Mitnehmen? Spinnst du?«

Sie sah ihn verständnislos an. »Wir können nicht einfach weiterfahren.«

»Nein, natürlich nicht. Aber der …« Er schaffte es nicht, das Tier beim Namen zu nennen. »Angefahrenes Wild einzupacken, das geht gar nicht. Wir müssen die – wie heißt das? – die Forstverwaltung informieren. Einen Jäger oder zumindest die Polizei.«

Maggie sah auf ihr Handy, drehte sich einmal im Kreis und hielt es dann hoch über ihren Kopf. »Kein Netz«, sagte sie.

Er verstand nach wie vor nicht, wie sie so ruhig bleiben konnte. Oder warum ihn selbst die Situation so überforderte. Ein Wolf! Verdammt, ich habe einen Wolf getötet. Und jetzt gibt’s hier nicht mal Netz.

Simon rannte zum Wohnmobil zurück und fischte sein Telefon aus der Ablage über dem Schaltknüppel. Auch bei ihm stand da nur ein E in der Ecke rechts oben. Seit sie entlang der tschechischen Grenze fuhren, waren ihm immer mal wieder Funklöcher aufgefallen. Noch vor fünf Minuten hatte er diese ungewohnte Offline-Zeit irgendwie genossen. Sie waren im Urlaub und einfach nicht erreichbar. Das war ein gutes Gefühl gewesen. Bis zu dem Moment, als der Wolf aus dem Wald gesprungen war. Er wollte die mangelnde Netzabdeckung nicht wahrhaben und vollführte den gleichen Reigen, den Maggie auf der Suche nach einer Verbindung getanzt hatte.

Maggie stand immer noch an der Unfallstelle und starrte abwechselnd in den Graben und auf ihr Handy. Simon war sich plötzlich sicher, dass sie die Bilder des toten Wolfs auf Instagram gestellt hätte, wenn sie nicht im Funkloch stecken würden. Hashtag Wildnis, Hashtag Jagdausflug, Hashtag Mein-Mann-der-Wolfkiller. Simon schüttelte den Kopf. Nein, das hätte sie nicht gemacht. So war sie nicht. Nicht aufmerksamkeitssüchtig. Und auch nicht nachtragend, selbst wenn sie sich nicht immer einig waren. Ihm war bewusst, dass sie diesen Urlaub nur ihm zuliebe über sich ergehen ließ. Wandern, den Kopf freibekommen. Eine raue, noch unberührte Landschaft auf sich wirken lassen. Nicht groß vorausplanen. Abenteuer fühlen. Kraft tanken. So hatte er ihr den Urlaub im Bayerischen Wald im letzten halben Jahr immer wieder schmackhaft gemacht. Komm, das ist mal was anderes als immer nur am Strand liegen. Tagsüber Sonnenbrand und am Morgen Katerfrühstück nach einer durchzechten Klubnacht mit zu vielen Moscow Mules. Diesmal bitte nicht! Wir leihen uns lieber das Wohnmobil deines Bruders.

Das Wohnmobil, das jetzt einen kaputten Scheinwerfer hatte und an dem Fellreste und Wolfsblut klebten. Kaum war dieser Gedanke erneut zurück in seinen Kopf geschwappt, drang ein Heulen aus dem Wald. Er zuckte zusammen. Versuchte mit weit aufgerissenen Augen zu lokalisieren, woher das ausgedehnte Jaulen kam. Es hörte sich weit entfernt an und dennoch viel zu nahe. Nur der Wind, betete er, doch dann vernahm er ein Knacken im Unterholz. Diesmal sehr nahe. Sie leben im Rudel, dachte Simon. Im Rudel!O mein Gott, der Wolf war nicht allein unterwegs. Er dachte an eine ausgehungerte Meute, an gelbe Fänge und kalte Augen. Daran, wie die grauen, struppigen Jäger ihre Beute umzingelten, bis es keinen Ausweg mehr gab. Der Wald war zu dicht und dunkel, um etwaige Bewegungen darin erkennen zu können.

Maggie kam angerannt, mit einem panischen Ausdruck in ihren dunklen Augen. Erkannte sie endlich den Ernst der Lage? Simon unterdrückte den Fluchtreflex, beherrschte sich lang genug, bis seine Frau bei ihm war. Er öffnete ihr die Tür und wartete, bis sie auf ihrem Sitz saß, ehe er um die Front des Wohnmobils herumhetzte und sich gleichfalls darin in Sicherheit brachte. Keuchend hockten sie nebeneinander und starrten durch die Windschutzscheibe hinaus, dem Waldsaum entgegen.

3

Wie hatten sie einen Wolf überfahren können? Noch dazu am helllichten Tag. Wie war so etwas möglich? Maggie fühlte sich seltsam. Elektrisiert. Und irgendwie neben sich. So als würde sie einen Film sehen, in der eine Maggie mitspielte, die Dinge tat, die sie selbst nicht tun würde. Das tote Tier war schon schlimm genug. Warum war sie so unberührt gewesen, als sie Bilder davon gemacht hat. Nein, nicht unberührt. Fasziniert. Sie könnte sich jetzt damit herausreden, dass sie genau das studiert hatte. Fotografie. Das, und nichts anderes wollte sie damals nach dem Abi machen. Und genau wie ihre Hochzeitspläne hatte sie auch ihr Studium gegen alle Widerstände ihrer Eltern durchgezogen. Worauf sie immer noch stolz war, auch wenn sie hinterher nicht viel damit anzufangen wusste. Womit die Prophezeiung ihres Vaters zutraf. Das entzweite sie noch mehr. Sie wollte ihm nicht zugestehen, dass er recht behalten hatte.

Nun, immerhin wusste sie jetzt, welche Blende sie zu verwenden hatte und wie man optimal belichtete. Vom künstlerischen Aspekt eines Motivs ganz abgesehen. Zu ihrem Leidwesen meinte heutzutage jeder, fotografieren zu können. Und es existierte eine Unzahl digitaler Hilfsmittel und Apps, mit denen man Fotos im Nachgang ansehnlich machen konnte. Zudem war der Bedarf an Profifotografen noch nie sonderlich hoch gewesen. Nicht einmal damals, als diese Berufssparte noch im analogen Zeitalter von Zelluloid, Dunkelkammer und Entwicklungsbädern steckte. Ein Handwerk, das sie sich ebenfalls noch angeeignet hatte. Aber egal, ob analoge oder digitale Fotografie, sie wusste von Anfang an, dass sie sich für einen Studiengang entschieden hatte, der ihr keine gesicherte Zukunft bot. Und wie vorhergesehen, war die Nachfrage, seit sie ihren Bachelor of Arts in der Tasche hatte, nicht gewachsen, eher im Gegenteil. Sie hatte davon geträumt, ihre Fotos im National Geographic zu sehen. Oder auf überdimensionalen Werbetafeln. Wie naiv sich das alles rückblickend anhörte. Als diese Traumblase endgültig platzte, brachte sie es auch nicht über sich, ihr hart anstudiertes Wissen für die bezahlte Dokumentation von Familienfeiern und Hochzeiten zur Verfügung zu stellen. Hochzeitsfotografen gab es wie Sand am Meer, und viele, die sich in diesem Metier tummelten, hatten nicht einmal eine richtige Ausbildung, womit diese Dienstleistung dermaßen verwässert wurde, dass man nur noch schmerzhaft lächerliche Honorare verlangen konnte. Von Simon bekam sie deswegen immer mal wieder Vorhaltungen zu hören. Dass sie nichts aus ihrer akademischen Ausbildung gemacht hatte. Du hast das Auge! Das war so ein Lieblingsspruch von ihm, der im ersten Moment ein Kompliment war. Nur dass er sie damit auch gerne darauf hinwies, dass sie ihr Talent, ihr Auge für Perspektive und besondere Motive, verschwendete und stattdessen für ein inakzeptables Gehalt in einem Fitnessstudio arbeitete. Dabei sollte er froh darüber sein. Immerhin hatten sie sich dort kennengelernt, als er einen Spinning-Kurs bei ihr belegte.

»Fahr endlich!«, hörte sie sich sagen. »Fahr endlich los, verdammt!«

Simon suchte ihren Blick. Wirkte hilflos. Womöglich sollte sie besser ans Lenkrad, solange ihre Hände noch nicht zitterten. Sie beobachtete ihn dabei, wie er auf den Startknopf drückte, ohne dass etwas passierte. Erst beim dritten Versuch kam er dahinter, dass er dabei auf die Bremse treten musste. Plötzlich befürchtete sie, dass der Motor nicht mehr ansprang … Dass sie aufgrund irgendeines unerklärbaren technischen Versagens dazu gezwungen wurden, zu Fuß weiterzugehen.

Zu ihrer Beruhigung kam es anders. Der Motor brummte in gewohnter Manier, so wie er es die zurückgelegten sechshundert Kilometer getan hatte, seit sie damit vor zwei Tagen aufgebrochen waren. Lars hielt das Gefährt immer tipptopp in Schuss, darauf war Verlass.

Es knirschte im Getriebe, weil Simon die Kupplung nicht ordentlich durchdrückte. Ihm schien jede Kraft in den Beinen zu fehlen. Wäre er mal besser Mitglied im Fitnessstudio geblieben statt zu kündigen, kaum dass er ihr Herz erobert hatte. Seit sie verheiratet waren, machte Simon überhaupt keinen Sport mehr. Nicht einmal zum wöchentlichen Kicken mit seinen Arbeitskollegen konnte er sich regelmäßig aufraffen.

Ruckelnd setzten sie sich in Bewegung. Gott sei Dank, sie fuhren endlich wieder. Maggie merkte, dass sie nicht mehr atmete, ohne sich erinnern zu können, wann sie damit aufgehört hatte. Gierig sog sie Luft in ihre Lungen, wie beim Durchstoßen der Wasseroberfläche im Schwimmbad, nachdem sie eine ganze Bahn getaucht war. Simon warf ihr einen besorgten Blick zu.

»Schau auf die Straße«, fauchte sie, ohne zu wissen, woher die erneute Wut kam. Zwischen ihnen lief es gerade nicht gut. Ihre immer noch junge Ehe entwickelte sich irgendwie in die falsche Richtung. Wäre sie erst mal in Fahrt gekommen, hätte Maggie sich sicher über so einiges ausgekotzt, während sie durch diesen elend langen einsamen Wald kutschierten. Doch dazu war es nicht mehr gekommen. Und jetzt war da nicht nur mehr der aufgestaute Zorn, über den sie sich hatte Luft machen wollen, der ihre Nerven vibrieren ließ. Jetzt rollte auch eine Panik heran, dunkelgrau und grollend wie ein Unwetter.

4

Die Abzweigung lag im Ausgang einer nicht einsehbaren Kurve. Heindlsäge, 3 Kilometer. Simon bog ab, ohne ihr Einverständnis einzuholen und ohne zu blinken. Falls dieses Heindlsäge nur aus einem halben Dutzend Häusern bestand, bedeutete das einen Umweg, aber sie sagte nichts. Ihr wäre es lieber gewesen, sie wären weitergefahren, bis nach Zwiesel oder Bodenmais oder wie die Städtchen hießen, die man irgendwann schon mal gehört hatte. Kleinstädte wohlgemerkt, bei denen man aber trotzdem davon ausgehen konnte, dass es dort eine Polizeistation gab. Oder irgendeine andere Anlaufstelle, bei der man einen Wildschaden melden konnte. Allerdings hörte sich Heindlsäge nicht so an, als würde man ihnen dort weiterhelfen.

Die Straße wurde schmaler und kurvenreicher. Der Wald rückte noch näher heran. Ab und an streifte ein Ast die Seitenwand, was sie jedes Mal zusammenzucken ließ. Keine Kratzer, Schwesterherz! Tut mir leid Lars!

Schlaglöcher und aufgerissene Stellen im Asphalt malträtierten das Fahrwerk. Sie sah Simon an, dass er auf einen Kommentar von ihr wartete. Darüber, dass er abgebogen war, ohne sich mit ihr zu beraten. Aber vor allem darüber, dass er für ihr Empfinden viel zu schnell fuhr. Als wollte er das Leben, das er unweigerlich ausgelöscht hatte, irgendwie doch noch retten. Womöglich hoffte er auch darauf, dass sie ihm Einhalt gebot. Ihn erneut anschrie und fragte, ob er jetzt auch sie umbringen wollte. Doch sie schwieg, klammerte sich nur noch fester an den Türgriff, immer wenn das Wohnmobil bedrohlich schlingerte. Wie lang konnten drei Kilometer sein?

Nach einer weiteren engen Kurve, in der sie ordentlich durchgerüttelt wurden, tauchte endlich das Ortsschild auf. Der Wald endete abrupt und gab den Blick auf Wiesen und Äcker frei. Mitten in die hügelige Landschaft war eine Siedlung eingebettet. Darüber erstreckte sich ein stahlblauer Himmel, durchzogen von einzelnen Schäfchenwolken. In nicht allzu weiter Ferne ragte sonnenüberstrahlt die Mittelgebirgskette auf. Bewaldete Gipfel in bläulichem Weichzeichnerdunst.

Das Ortsschild war gelb, nicht grün wie Maggie befürchtet hatte. Grüne Schilder dienten nur als Orientierungshilfe. Es war nicht einmal nötig, die Geschwindigkeit zu reduzieren, so als wären die Häuser an der Straße und die Leute, die darin wohnten, nicht weiter wichtig. Man brauchte keine Rücksicht auf sie zu nehmen. Aber gelb, gelb war prima. Hier waren Ge- und Verbote zu beachten, und das bedeutete nicht nur Ordnung, sondern verhalf ihr auch zu ein klein wenig mehr Zuversicht, dort tatsächlich Hilfe zu finden. Auch wenn es sich um ernüchternd wenig Häuser handelte, die sich entlang der Straße reihten. Nicht, dass sie mit einer Stadt gerechnet hatte, aber das, was sich vor ihnen erstreckte, konnte man kaum Dorf nennen. Maggie hielt nach einem Kirchturm Ausschau, der für sie sinnbildlich die Ortsmitte markierte, konnte aber keinen entdecken.

Simon trat plötzlich hart auf die Bremse, wodurch sie heftig nach vorne geworfen wurde. Der Sicherheitsgurt schnitt ihr schmerzhaft in die Seite.

Langsam rollten sie die Dorfstraße entlang. Es gab keine Gehwege, die Grundstücke grenzten direkt an die Fahrbahn. Wohnhäuser mit Vorgärten wechselten sich mit Bauernhöfen ab, deren Ummauerungen aus schweren Granitsteinen die Durchfahrt verengten. Dann passierten sie endlich auch ein öffentliches Gebäude. Ein Wirtshaus. Gasthaus Emerenz stand dort direkt auf die Fassade über dem Eingang gemalt, eingerahmt von zwei Lichtkästen, die das Logo einer Brauerei trugen. Jandelsbrunner Bräu. Das hatte sie noch nirgendwo sonst gelesen, aber sie war auch keine Biertrinkerin.

»Haben wir uns das Wolfsheulen nur eingebildet?«, fragte Simon unvermittelt.

Maggie suchte seinen Blick. Sie dachte nach. Konnte er recht haben? War es einfach nur der Wind gewesen, der über eine Felskante hinwegpfiff? »Aber so windig war es doch gar nicht«, wandte sie ein.

Simon nickte. »Außerdem war der Wolf ja echt«, murmelte er. Die Durchgangsstraße machte einen Knick, und sie fuhren direkt auf eine Autowerkstatt zu. Otto Schiermaier, Kfz-Reparaturen, alle Fabrikate war dort auf einem ausgeblichenen Schild zu lesen, das nicht ganz waagerecht über dem Werkstatttor angebracht war. Das Tor, von dem großflächig der graue Lack blätterte, war geschlossen, aber durch die verdreckte Scheibe schimmerte Licht. Simon lenkte das Wohnmobil auf die betonierte Zufahrt, die auf der rechten Seite durch mannshoch gestapelte Altreifen und einen rostigen, hochwandigen Container begrenzt war.

Simon stieg aus, Maggie folgte ihm. Obwohl die Sonne sie begleitete, seit sie morgens in Passau losgefahren waren, war die Luft hier in den Höhenlagen des Bayerischen Waldes empfindlich kühl für einen Frühsommertag. Simon war nah an den Altmetallcontainer gefahren, aber das Heck des Wohnmobils ragte trotzdem einen halben Meter in die Straße hinein. Sie hoffte, dass niemand zu schnell und eng um das Hauseck bretterte, sonst wäre die nächste Delle an Lars Heiligtum vorprogrammiert. Sie schaute sich um. Wer in Heindlsäge geraniengeschmückte Hausfassaden erwartete, wurde enttäuscht. Die umliegenden Gebäude waren alt, grau und trist. Das Dorf bot einen Anblick, den sie so bislang noch nicht gesehen hatte auf ihrer Reise durch die bayerische Provinz. Heindlsäge besaß nichts, was einen dazu hinreißen könnte, hier Urlaub zu machen. Gelbes Ortsschild hin oder her. Alles, was Maggie empfand, war Beklemmung.

Simon stand vor der ins Tor eingelassenen Tür, auf deren Griff zahllose Abdrücke von ölverschmierten Händen zu sehen waren. Von drinnen dröhnten schwere dumpfe Schläge. Metall traf in einem gleichbleibenden Rhythmus auf Metall. Simon zögerte, vielleicht wegen des Lärms oder weil er seine Finger nicht schmutzig machen wollte. Maggie schloss zu ihm auf, langte an ihm vorbei, packte nach der fettig glänzenden Klinke und öffnete die Tür. Perplex zuckte er zurück. Offenbar war er nervlich immer noch nicht wieder auf der Höhe. Sie stellte sich darauf ein, das Reden zu übernehmen.

Sie betraten eine Halle aus nacktem Beton, die von verdreckten Neonröhren in ein schummriges Licht getaucht wurde. Es gab eine Hebebühne und eine Grube, über der ein alter Golf mit geöffneter Motorhaube stand. Dasselbe Modell, das ihre Mutter früher besessen hatte, als Maggie noch ein Teenager und oftmals auf den elterlichen Fahrdienst angewiesen war. Einer ohne Schnickschnack und Gepiepse, wie Mama immer zu sagen pflegte, einer, bei dem man alles noch selbst machen musste. Sogar die rote Farbe passte, auch wenn bei diesem hier der Lack stumpf und ausgeblichen war. Maggie zwang sich, den Blick von dem roten Golf abzuwenden, auch um den Gedanken an ihre Mutter loszuwerden. Sie schaute über eine vollgestellte Werkbank und weitere Reifenstapel hinweg zur Hebebühne, auf der ein radloses, irgendwie ausgebeint aussehendes Vehikel gebockt war, das nicht den Eindruck erweckte, als könne es je wieder fahrtüchtig werden. Aus dieser Ecke donnerte der nächste Schlag, der sich ohne die Dämpfung durch das Werkstatttor nun schmerzhaft an ihrem Trommelfell entlud. Maggie kniff die Augen zusammen.

In einer Ecke stand ein gedrungener Mann in einer speckigen Latzhose und bearbeitete mit einem Vorschlaghammer und wuchtigen Schlägen ein Stück Eisen auf einem Amboss. Es ging eine geradezu archaische Kraft von ihm aus.

Die dämpfige Atmosphäre mit den stechenden Gerüchen nach Maschinenfett, Gummi, korrodiertem Metall und Altöl hatte etwas Bedrohliches. Die von dunkelbraunen Spritzern besprenkelten Wände waren mit Werkzeug und zugestellten Regalbrettern vollgehängt. Gleich mehrere Kalender präsentierten barbusige junge Frauen, welche sich in fragwürdigen Stellungen auf Motorhauben rekelten oder ihre nackten Hintern gegen polierte Kotflügel pressten. Sie zählte vier Stück der Hochglanzdruckwerke, und kein einziges zeigte den richtigen Monat an. Bei einem stimmte zumindest die Jahreszahl.

Erst jetzt bemerkte Maggie, dass der infernale Lärm verstummt war. Mit über den Kopf erhobenem Hammer starrte der Mann sie unverhohlen an. Zwei, drei Sekunden verstrichen, dann senkte er langsam das massive Werkzeug, während er gleichzeitig etwas zu ihnen sagte. Das Echo der Schläge hallte weiterhin in Maggies Ohren nach, doch das war nicht der Grund dafür, dass sie kein Wort verstand. Der Mechaniker benutzte eine ihr vollkommen fremde Sprache. Sie tauschte einen Blick mit Simon, der ebenso ratlos schien.

»Wir hatten einen Wildunfall«, sagte Maggie ohne jede Einleitung.

»Geh ah, Preissn«, stellte der Mann fest und grinste breit. Er musterte sie ausgiebig von Kopf bis Fuß, wogegen er Simon völlig ignorierte. »Was war’s, a Reh?«, fragte er, bemüht um eine verständliche Aussprache, was ihm nur schwer gelang.

»Kein Reh«, entgegnete Maggie. »Wo können wir das melden?«

»Habts einen Schaden?«

»Vorne rechts«, bestätigte Simon, der endlich seine Sprache wiedergefunden hatte. »Wollen Sie sich das mal ansehen?«

Besser nicht, dachte Maggie, schaffte es aber nicht, den Einwand laut auszusprechen. Der Mechaniker stellte den Hammer auf den Amboss, zog einen Stofflappen aus seiner Hosentasche und versuchte erfolglos, damit seine Finger zu säubern. Dann kam er ihnen entgegen, und für zwei Sekunden hatte sie die Befürchtung, er würde ihr seine schmierige Hand hinstrecken und erwarten, dass sie seinen Gruß erwiderte. Doch als er vor ihnen stand, stopfte er die Hände zusammen mit dem Stofflappen in seine ausgebeulten Hosentaschen. Trotz all der Werkstattgerüche drang Maggie eine Wolke saurer Körperausdünstungen in die Nase. Jetzt aus der Nähe wurde seine Kompaktheit noch deutlicher. Er war einen halben Kopf kleiner als sie, aber das stete Schwingen des Vorschlaghammers hatte ihm breite Schultern, einen Stiernacken und muskulöse Oberarme beschert, die nicht zu übersehen waren, da er neben der Latzhose nur ein Feinrippunterhemd trug, das vor langer Zeit vermutlich einmal weiß gewesen war. Seine kleinen, etwas rot geränderten Augen drängten sich eng an den breiten Zinken. Das Gesicht war aufgedunsen und nicht weniger dreckig als seine Hände. Offenbar hatte er sich mit seinen schmierigen Pranken heute auch schon mehrfach über seinen runden, geschorenen Kopf gewischt und dort deutliche Schmutzspuren hinterlassen. Der Mechaniker konnte in ihrem Alter sein oder in dem ihrer Eltern. Maggie tendierte zu Letzterem. Es war die Art, wie er sich bewegte, die sie zu diesem Schluss brachte. Etwas behäbig und unrund, als zwickte ihn die Hüfte oder der Rücken. Sein Blick wanderte mehrfach unschlüssig zwischen ihren Augen und ihren Brüsten auf und ab. Schließlich ging er ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei nach draußen. Aus Simons Miene las sie einen stillen Hilferuf. Du hast ihn dazu aufgefordert, lag ihr auf der Zunge, doch auch damit hielt sie an sich. Ihr war zuwider, dass der Mann mit seinen dreckigen Pratzen das Wohnmobil ihres Bruders anfasste, doch daran würde sich jetzt nichts mehr ändern lassen. Simon wirkte seltsam ungelenk, als er dem Mann aus der Werkstatt folgte. Maggie verharrte noch ein, zwei Sekunden, bevor auch sie hinterherging.

»Na sauber«, sagte der Mechaniker, der bereits vorm Wohnmobil stand. Er hatte sich nach vorne gebeugt und stützte sich mit den Händen auf seinen Knien ab. In dieser Position begutachtete er den Schaden, um schließlich mit spitzen Fingern ein Büschel Haare aus einem der Risse im Scheinwerferglas zu zupfen und zu inspizieren. »Schaut nicht nach Reh aus«, stellte er fest.

»Es war ein Hund«, sagte Simon. »Kann ich bei Ihnen die Polizei rufen, ich habe hier kein Netz.«

»Es war ein Wolf«, berichtigte ihn Maggie, weil sie der Meinung war, dass ein streunender Hund nicht ausreichte, um den Mann in der Latzhose von der Dringlichkeit ihres Anliegens zu überzeugen.

»Schmarrn!«, kommentierte der Mechaniker. »Wölf ham wir hier nicht!«

»Ist ja auch egal«, wandte Simon ein. »Jemand muss den Schaden aufnehmen, wegen der Versicherung.«

Auf der anderen Straßenseite hatten sich zwei Senioren eingefunden, die ungeniert zu ihnen herüberglotzten. Beide trugen Arbeitsklamotten, Gummistiefel und aus der Mode geratene Cordhüte. Einer der beiden stützte sich auf eine Mistgabel. Ein Haus weiter versteckte sich jemand nicht besonders sorgfältig hinter einer Gardine im ersten Stock. Maggie hoffte, dass sie schnell wieder hier wegkamen, bevor sie noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zogen.

»I bin da Otto«, sagte der Mechaniker unvermittelt. »Einen neuen Scheinwerfer kann i euch b’sorgen«, fügte er geschäftstüchtig an. »Könnt bis morgen da sein.«

Maggie fasste Simon am Oberarm, doch der nickte bereits zustimmend. »Wenn das geht.«

»Freilich. Wir san hier ja nicht aus da Welt«, erwiderte Otto und zeigte zwei gelbe Zahnreihen. Wieder rieb er seine Hände an dem speckigen Lappen. »Ich brauch den Fahrzeugschein.«

»Machen wir«, beschloss Simon, ohne ihren wortlosen Einwand zu berücksichtigen. »Aber vorher will ich telefonieren.«

»Mit da Schmier?«, hakte Otto nach.

»Mit der Polizei«, bestätigte Simon, darauf bedacht, sie nicht anzusehen.

»Wegen einem toten Hund?«, fragte Otto und schob seine wulstige Unterlippe nach vorne.

»Ich brauche was Offizielles für die Versicherung«, sagte Simon. »Sonst probieren wir es im nächsten Ort.«

Maggie hatte plötzlich die Hoffnung, dass sie zurück nach Passau fahren könnten. Zurück in die Zivilisation. Und sie würden für die Strecke auch keine drei Stunden brauchen, wie auf ihrem Weg hierher. Weil sie nicht erneut zwanzigmal anhalten müssten, um die Landschaft zu bewundern, so wie Simon das getan hatte, nachdem sie aus dem Donautal abgebogen und hier herauf in den Wald gefahren waren. Jetzt mach doch mal ein Foto, Maggie!

»Im nächsten Ort«, wiederholte Otto auf eine Art, die ihr vermittelte, dass dieser Versuch keinen Erfolg in Aussicht stellte.

»Im nächsten Ort«, beharrte Simon und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Otto rollte mit seinen Augen, die hier draußen in der Sonne in einem hellen Blau aus einem schmutzigen Gesicht leuchteten. Vielleicht sah er gewaschen gar nicht so unheimlich aus? »Telefon hängt drin«, sagte er nach drei Atemzügen und deutete zur Werkstatt. »Die Nummer vom Revier steht auf der Liste daneben.«

Simon nickte, wandte sich ab und ging auf das Tor zu.

»Sagst besser nix von einem Wolf!«, rief Otto ihm hinterher.

5

Den Hörer des antiquierten Wählscheibentelefons anzufassen, das rechts vom Werkstatttor über einem mit losen Zetteln und einer kuriosen Kugelschreibersammlung übersäten Regalbrett an die Wand geschraubt war, kostete Überwindung. Die Ziffern in den Löchern der Plastikscheibe waren nicht mehr vorhanden oder lagen unter mehreren Schichten Schmutz und Lackresten verborgen. Wie von Otto versprochen, pinnte an der nackten Wand neben dem Fernsprecher ein vergilbter Karton, auf dem in krakeliger Handschrift diverse Nummern aufgelistet waren, die entweder Vornamen oder kryptischen Abkürzungen zugeordnet waren. Das Wort Polizei konnte er nirgends finden, aber er entdeckte hinter dem Namen Volker den Zusatzvermerk Bulle. Durch die offene Tür sah Simon, dass Otto weiterhin zusammen mit Maggie vor dem Wohnmobil stand. Er hätte rufen müssen, um sich zu vergewissern, was ihm jedoch unangenehm war. Überhaupt war ihm der Mechaniker nicht so recht geheuer, ohne dass er sagen konnte, was genau ihn an diesem Mann störte. Ganz gewiss die ungenierte Art, wie er Maggie anstarrte. Aber das war es nicht allein. Ohne es näher erklären zu können, verspürte er ein wenig Furcht vor dem grobschlächtigen Hinterwäldler. Vielleicht hatte er in seinem Leben einfach zu viele Horrorfilme gesehen, in denen genau ein solcher Kerl seinen Hammer plötzlich nicht mehr nur gegen ein Stück Eisen drosch, sondern damit Schädel zertrümmerte. Auf den Handel mit dem Scheinwerfer hatte er sich nur vordergründig eingelassen, weil er befürchtet hatte, sonst nicht ohne Weiteres telefonieren zu dürfen. Natürlich war Maggie sofort anzusehen, was sie davon hielt, diesen Otto mit der Reparatur des Wohnmobils zu beauftragen. Er nahm sich vor, das klarzustellen, sobald er mit der Polizei – mit Volker dem Bullen – gesprochen hatte.

Angeekelt griff er sich den Hörer, darauf bedacht, ihn nicht direkt ans Ohr zu legen, und wählte die Nummer, die zum Glück nur aus vier Ziffern bestand. Es läutete siebenmal, und er hatte schon Zweifel, ob es sich bei Volker tatsächlich um den hiesigen Ordnungshüter handelte oder nicht doch um den Metzger oder einen Viehzüchter. Doch dann hatte er plötzlich jemanden in der Leitung.

»Ja?«

»Bin ich mit der Polizei verbunden?«, fragte Simon verhalten.

6

Maggie hatte kurz die Hoffnung gehegt, dass Otto ihren Mann nicht unbeaufsichtigt in die Werkstatt lassen würde. Doch offensichtlich verspürte der Mechaniker keinerlei Bedenken gegenüber Simon, jedenfalls wich er ihr nicht von der Seite. Er fischte eine Zigarettenschachtel aus der Tasche, die auf dem Latz seiner Arbeitshose genäht war, und bot ihr einen der filterlosen Glimmstängel an. Salem N°6 las sie auf der zerknautschen grünen Packung. »Is von den Tschechen«, kommentierte Otto, als wäre das ein besonderes Qualitätsmerkmal. Sie sah die Enttäuschung in seinen Augen, als sie ein wenig zu heftig den Kopf schüttelte. Er schob sich eine Salem zwischen die Lippen, steckte die Packung wieder zurück und zauberte stattdessen ein Benzinfeuerzeug daraus hervor, das er auf affektierte Weise aufschnappen ließ und mittels einer flinken Bewegung seines kurzen Daumens entzündete. Er schob die Zigarettenspitze in die Flamme und brachte sie zum Glühen.

»Wo wollts’n hin?«, fragte er, nachdem er seinen ersten Zug einmal bis tief hinab in seine Lungen hatte wandern lassen, um den Rauch mittels eines rauen Husters hoch in den blauen Himmel zu befördern.

»Bisschen rumfahren.« Maggie hatte keine Lust, mit Otto über ihre Urlaubspläne zu plaudern. Abgesehen davon, dass nur Simon die genauen Reisepläne kannte. Die Orte, die er sehen, die Berge, auf die er hinaufwollte. Er hatte zwar alles vorab mit ihr besprochen, allerdings hatte sie bei der Auswahl der einzelnen Ziele nie besonders aufmerksam zugehört.