Taupunkt - Thore D. Hansen - E-Book

Taupunkt E-Book

Thore D. Hansen

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Beschreibung

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit hat Wissenschaftler Tom Bayer das auch im Weltklimarat umstrittene Phoenix-Programm entwickelt. Es fordert die Aufhebung von Welthandel und Globalisierung, dazu Climate-Engineering, komplette Umstellung der Landwirtschaft, rigorose Geburtenkontrolle, künstliche Sicherung der Polarkappen, gigantische Aufforstungen – allesamt schwerste Eingriffe in das gewohnte Leben der Menschen. Kein Wunder, dass die Regierungen der Welt nichts davon wissen wollen. Nach einer weiteren gescheiterten Klimakonferenz zieht sich Tom aus dem Weltklimarat zurück. Toms Bruder Robert ist Großlandwirt in Norddeutschland. Sein Land leidet unter der Dürre und er selbst an Alkoholsucht. Die ungleichen Brüder trennt ein alter familiärer Konflikt, während sich ihre ebenso ungleichen Töchter anfreunden. In Deutschland entschließt sich Tom, mit seinem Forderungskatalog an die Öffentlichkeit zu treten, und löst damit eine mediale Hetzjagd aus. Die Auseinandersetzungen zwischen Klimaleugnern und Klimaaktivisten werden immer gewalttätiger. Nicht nur Bruder Robert sieht seine wirtschaftliche Existenz bedroht und verliert sich in Verschwörungstheorien. Während das Thema Klimawandel die Brüder entzweit, stellen sich die Töchter zwischen die unversöhnlichen Geschwister und fordern ihre Zukunft ein. Plötzlich ist die lange vorhergesagte Klimakatastrophe Realität. Eine ungeheure Hitzewelle wälzt sich über Europa; Stromausfälle und Brände bringen das öffentliche Leben zum Erliegen, Zehntausende Menschen sind vom Hitzetod bedroht. Der Katastrophenschutz versagt. Alleingelassen auf Roberts Hof in Ostdeutschland kämpft Familie Beyer ums physische Überleben und muss sich ihren Dämonen stellen. Die Trümmer vor Augen wissen alle, dass etwas geschehen muss. Werden die Töchter Aktivisten einer epochalen Veränderung, setzt sich das Phoenix-Programm durch?

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THORE D. HANSEN

TAUPUNKT

EIN KLIMAROMAN

Inhalt

Kapitel 1: LENTZKE, SÜDLICH VON POTSDAM – 38 GRAD

Kapitel 2: NEW YORK – VEREINTE NATIONEN – 33 GRAD

Kapitel 3: NEW YORK – VEREINTE NATIONEN – 36 GRAD

Kapitel 4: AUF DEM WEG NACH NORDFRIESLAND – 36 GRAD

Kapitel 5: FAST EIN GANZES JAHR SPÄTER, MITTE MAI IN POTSDAM – 36 GRAD

Kapitel 6: ISLAND 16 UHR 30 – 31 GRAD

Kapitel 7: NORDFRIESLAND 17 UHR – 38 GRAD

Kapitel 8: BERLIN 10 UHR MORGENS – 39 GRAD

Kapitel 9: FLUGHAFEN BERLIN/BRANDENBURG – 40,5 GRAD

Kapitel 10: NORDFRIESLAND – 39 GRAD

Kapitel 11: POTSDAM – 36 GRAD

Kapitel 12: BERLIN HAUPTBAHNHOF – 29 GRAD

Kapitel 13: LENTZKE – 31,5 GRAD

Kapitel 14: GOLFPLATZ WALL, GEMEINDE FEHRBELLIN – 30,5 GRAD

Kapitel 15: LENTZKE, GEMEINDE FEHRBELLIN – 29,5 GRAD

Kapitel 16: LENTZKE – 35 GRAD

Kapitel 17: BERLIN – HAUS DER BUNDESPRESSEKONFERENZ – 40 GRAD

Kapitel 18: LENTZKE – 42 GRAD

Kapitel 19: BERLIN – 43 GRAD

Kapitel 20: BERLIN – 44 GRAD

Kapitel 21: BERLIN – HAUS DER BUNDESPRESSEKONFERENZ – 44 GRAD

Kapitel 22: BERLIN – 44,5 GRAD

Kapitel 23: BERLIN – HAUS DER BUNDESPRESSEKONFERENZ – 45 GRAD

Kapitel 24: BERLIN – REDAKTION DEUTSCHLANDS GRÖSSTER BOULEVARDZEITUNG – 45 GRAD

Kapitel 25: BERLIN – 43 GRAD

Kapitel 26: BERLIN – 43 GRAD

Kapitel 27: LENTZKE – 43 GRAD

Kapitel 28: LENTZKE – 39 GRAD

Kapitel 29: POTSDAM – INSTITUT FÜR KLIMAFOLGENFORSCHUNG – 39 GRAD

Kapitel 30: POTSDAM – INSTITUT FÜR KLIMAFOLGENFORSCHUNG – 38 GRAD

Kapitel 31: POTSDAM – INSTITUT FÜR KLIMAFOLGENFORSCHUNG – 36 GRAD

Kapitel 32: LENTZKE – 37 GRAD

Kapitel 33: LENTZKE – 38 GRAD

Kapitel 34: BERLIN – 46 GRAD

Kapitel 35: LENTZKE – 49 GRAD

Kapitel 36: LENTZKE – 50 GRAD

Kapitel 37: LENTZKE – 34 GRAD

Kapitel 38: LENTZKE – 45 GRAD

Kapitel 39: LENTZKE – 31 GRAD

Kapitel 40: LENTZKE – 39 GRAD

Kapitel 41: LENTZKE – 51,5 GRAD

Kapitel 42: LENTZKE – 49 GRAD

Kapitel 43: LENTZKE – 31 GRAD

Kapitel 44: LENTZKE – 41 GRAD

Kapitel 45: ST. PETER-ORDING – 28 GRAD

Danksagung

Kapitel 1

LENTZKE, SÜDLICH VON POTSDAM – 38 GRAD

In der Küche steckte Robert Beyer seinen Kopf unter den Hahn, das kalte Wasser beruhigte, aber nur kurz. Er formte beide Hände zu einer Schale, zögerte, trank einen Schluck und ließ den Rest langsam durch die Finger gleiten. Wenn die Gerüchte stimmten, könnte Wasser bald rationiert werden. Der Konflikt zwischen der Bevölkerung und der Landwirtschaft würde weiter angeheizt werden.

In all den Jahren war Robert der Versuchung aufzugeben nie so nahe gewesen. Die Arbeit auf dem elterlichen Hof in Nordfriesland, dazu die Arbeit auf dem zweiten Hof mit der kleinen Fischzucht in Brandenburg, das alles brachte ihn an seine Grenzen. Wie viel Wasser war noch in den Brunnen? Wie lange reichten die Vorräte für das Vieh? Wann musste er mit der Notschlachtung beginnen? Wie viel würde der Staat für den Ernteausfall in diesem Jahr noch übernehmen?

Nach einem sehr langen Tag hatte Robert erst am späten Abend seinen Hof in Lentzke, nicht weit von Fehrbellin, erreicht. Ein kleines Dorf, ohne Zentrum, nur von einer Durchgangsstraße durchzogen. Trotz seiner großen Erschöpfung fand er erst spät in den Schlaf. Die Nächte wurden zunehmend tropisch, immer heißer und schwüler. Darauf war sein Körper, der gewohnt war, im kühlen Norden zu bestehen, nicht eingerichtet. Die Nächte, die einst Erholung brachten, wurden zur Mühsal.

Um 6 Uhr morgens heulten die Sirenen. Feuer fraß sich durch das Getreidefeld seines Nachbarn. In letzter Minute konnte die Feuerwehr verhindern, dass die Flammen auf seinen alten Vierkanthof überschlugen. Nicht alle hatten so viel Glück. Die Dürre und die Brände hatten die Landwirte im Osten Deutschlands schon viel härter erwischt. Sehr bald aber würde es auch das einstmals so feuchte Norddeutschland treffen. Alle paar Jahrhunderte seit Bestehen der Zivilisation, ob im hohen Norden oder bis ins Nildelta, war das schon immer eine tragische Realität gewesen, wusste Robert. Hunger und Mangel hatten schon ganze Reiche und Dynastien hinweggefegt.

Kurz vor zwölf kam eine Nachricht des Bürgermeisters. Die Landwirtschaftsministerin war für 14 Uhr angekündigt. Robert trocknete sein Gesicht mit einem nicht mehr ganz frischen Geschirrtuch und ging durch den Flur. Der alte Holzboden knarrte unter seinen schweren Arbeitsschuhen. Als er die Tür öffnete, wurde ihm klar, dass er nicht in den Spiegel geschaut hatte. Die Hitze, der Schweiß, das Unterhemd, die Frisur. Auch die Linde, an die er sich lehnte, um Halt zu finden, hatte ihre besten Tage hinter sich.

Von den etwa dreihundert Bewohnern des Dorfes trauten sich bei dieser glühenden Hitze nur ein paar Dutzend hinaus auf die Durchgangsstraße. Seiner Nachbarin, deren Feld nun verbrannt war, schwappte der Bauchspeck aus dem dünnen und viel zu engen Hemd. Die Haare fettig, die unreine Haut von der Hitze aufgedunsen, trat sie von einem Fuß auf den anderen. Der Trunkenbold von gegenüber hatte vergessen, seinen Hosenstall zu schließen, und konnte gerade noch die Bierdose halten. Die anderen Umstehenden, bekleidet mit Jogginghosen und verschlissenen T-Shirts, kannte Robert nicht so gut. Nur der Grundschullehrer von nebenan trug wie immer weiße Turnschuhe, gut sitzende Jeans und ein sauberes helles Hemd. Die Arme verschränkt, lehnte er an der gegenüberliegenden Straßenseite an seinem alten, gepflegten Mercedes.

Aus dem Augenwinkel sah Robert seine Tochter Janne ins Haus stürmen, laut knallte eine Tür, während eine vertraute Stimme hinter ihm kommentierte:

»Man kann sich seine Kinder nicht aussuchen, nicht wahr?«

Robert drehte sich um und erblickte Svenja, die einige Kilometer weiter eine kleine Wäscherei betrieb. Sie zwinkerte ihm mit ihren dunklen Augen zu.

»Na ja, sie hat es halt auch nicht immer leicht.« Besseres fiel Robert grad nicht ein.

»Ach komm, du hast dich genug um sie gekümmert.«

Selbst wenn es stimmte. Was konnte man darauf antworten? Svenja blitzte ihn wieder mit diesem schelmischen Lächeln an, das ihm gleichzeitig gefiel und ihn einschüchterte.

»Du solltest dir mal mehr Zeit für dich nehmen. Vorträge über den Klimawandel brauchen wir doch beide nicht mehr, oder?«

Robert spürte Svenjas Hand sanft auf seiner Schulter ruhen, bevor sie weiterlief.

»Ja, ja, vielleicht hast du recht.«

Er schaute ihr nach, bis ihn das Dröhnen einer nahenden Wagenkolone von dem Gedanken ablenkte, dass Svenja seiner verstorbenen Frau immer ähnlicher wurde.

Was mochte wohl die Ministerin dazu veranlasst haben, dieses kleine Dorf für ihren staatstragenden Auftritt zu wählen? Hier war kein Tumult zu erwarten, dachte Robert. Hier gab es keine bekennenden Nazis, keine Verschwörer, nicht mal Klimaaktivisten. Seine fünfundzwanzigjährige Tochter Janne war da eine große Ausnahme. Robert verstand nicht so recht, was gerade sie veranlasst hatte, sich schon früh so glühend für all diese in seinen Augen kruden Theorien von der Erderwärmung zu engagieren. Ansonsten aber lebten hier nur einfache und vom kargen Leben erschöpfte Menschen.

Die ministeriale Limousine mit Polizeieskorte fuhr vor. Sicherheitsleute schützten die Ministerin mit einem Regenschirm gegen die Sonne. Im hellen Kostüm und auf cremefarbenen hochhackigen Schuhen balancierend musterte sie die kleine, schwitzende Menschenmenge.

Robert wurde es schwarz vor Augen, sein Kopf dröhnte, und sein Herz stolperte. Diese Aussetzer, während derer er vergaß zu atmen, quälten ihn in letzter Zeit häufiger. Ob es der Alkohol war? Oder Panik? Oder beides? Die Angst, das Bewusstsein zu verlieren, wurde zunehmend größer. Nur eine Flasche Wein oder mehr ließ die Symptome verschwinden – wenigstens bis zum nächsten Morgengrauen. Zeit für einen Arzttermin nahm Robert sich nicht. Die Sicherung der wackeligen Existenz hatte Vorrang. Den beruhigenden Rausch ertrug er allerdings nur noch spätnachts, wenn sich die Luft endlich auf 25 oder 28 Grad abgekühlt hatte.

Der Anblick der Journalisten, die sich im Halbkreis vor der staatsfraulich dreinblickenden Politikerin postierten, erinnerte Robert an die Fernsehbilder von vergangener Woche mit seinem Bruder Tom als Sprecher des Weltklimarates. Ein Moment der Verwirrung, dann spürte er diese alte, sehr alte Wut in sich hochkriechen.

Notgedrungen hatte Robert seinen Bruder auf dem Bildschirm verfolgt, denn Janne hatte darauf bestanden, ihren Onkel Tom in den Nachrichten zu sehen. Obwohl sie ihn nur einmal als Kind persönlich getroffen hatte. Wieder mal eine dieser oberschlauen Reden über den Klimawandel. Als wäre Roberts Tag nicht schon zermürbend genug gewesen. Nein, er hasste seinen Bruder nicht. Der war längst in New York zu einem wichtigen Mann im Weltklimarat aufgestiegen. Aber wenigstens zur Beerdigung der Mutter hätte Tom doch kommen können. Seine Karriere hatte immer Vorrang. Gut, die Mutter hatte beiden Söhnen immer gepredigt, der Beruf ginge vor. Aber gleichzeitig träumte sie davon, endlich in Rente zu sein und mehr Zeit für die Söhne zu haben. Das hatte sie, schwer krebskrank und bereits spürbar entkräftet, dem fernen Bruder zu Weihnachten am Telefon gesagt, während Robert im Nebenzimmer den Weihnachtsbaum für seine Mutter dekorierte. Zum letzten Mal. Ein paar Tage später war sie dank gnadenvoll hoher Dosen Morphiums eingeschlafen.

Dem Vater hatte das das Herz gebrochen. Nach zweiundvierzig Jahren Ehe stand er plötzlich alleine da. Nur ein Jahr später starb auch er, mit 67 Jahren, praktisch für das marode Rentensystem. Auch diesmal war Tom auf einer wichtigen Klimakonferenz. Zu wichtig für das Begräbnis seines Vaters. Schon wieder war Robert mit Janne allein vor dem Grab gestanden.

Danach gab es keine Anrufe mehr vom kleinen Bruder. Wäre Robert der Zweitgeborene gewesen, dann hätte Tom den Hof übernehmen müssen. Das letzte Mal gesehen hatten sie sich vor fünfzehn Jahren. Toms Kurzbesuch endete mit einem kurzen, aber erbitterten Kampf im Garten. Den Anlass dafür hatte Robert vergessen. Ein Wunder, dass bei der Klopperei keiner ernsthaft verletzt wurde. Vielleicht auch kein Wunder. Tom war der kleine Bruder. Und er war zu einem Sesselfurzer geworden. Körperliche Arbeit kannte der schon lange nicht mehr. Hasste Robert seinen Bruder? Nein, das nicht, aber sie waren sich zutiefst fremd geworden.

Wie lästig das Hirn sein kann, wenn es einem immer wieder Streiche spielt. Irgendwo hatte er gelesen, dass das Gehirn Erinnerungen fälschen kann und quasi seine eigenen Fake News produziert. Geschehnisse können sowohl komplett neu erfunden oder auch einfach aus dem Bewusstsein gestrichen werden. Aber das funktionierte offensichtlich nicht mit Mitgliedern der eigenen Familie, seien sie einem noch so gleichgültig, fremd oder widerwärtig. Nein, das geht nicht, dachte Robert, obwohl er schon seit Jahren den Fernseher abschaltete, wenn Toms Gesicht auf dem Bildschirm erschien. Ebenso mied er alle Zeitungen, wenn sie Toms Konterfei mit der nächsten großen Warnung vor dem Klimakollaps ankündigten. Janne hingegen hatte ihren berühmten Onkel schon immer vergöttert. Während Robert immer härter arbeiten musste, um ihr Leben finanzieren zu können, und die Lebensmittelkonzerne die Preise drückten, lebte sein Bruder im Luxus.

Robert wusste, dass Janne mit ihrer Cousine in New York, Toms Tochter Mareike, via Facebook Kontakt hielt. Die beiden jungen Frauen tauschten sich wohl über Mädchenkram, aber auch über die nächsten Demonstrationen gegen die Klimapolitik ihrer Regierungen aus. Robert sah das nicht gerne, obwohl ihn das eigentlich nichts anging. Aber er konnte Janne sowieso nichts mehr vorschreiben. Seine Tochter war erwachsen. Entwachsen war sie ihm schon länger.

Nun stand Robert vor dieser Ministerin, die sich ausgerechnet dieses Kaff ausgesucht hatte, um ihr Bedauern über die immer schwierigeren Zustände auszudrücken und um Hilfsmaßnahmen anzukündigen. Das typische Gefasel, das die Landeier beruhigen sollte, während sich die Bessergestellten in den klimatisierten Betonbauten der Metropolen verschanzten. Diese Stromfresser! Die beteten am Abend vor dem Fernseher oder im Internet die Ikonen des Wohlstands an, während Ärsche wie er, Robert, ganz real mit den immer schwierigeren Bedingungen auf ihren Feldern kämpften. Er war es, der dafür sorgte, dass die alle verdammt noch mal ihr Essen auf den Tisch bekamen.

Schweiß brannte ihm in den Augen. Das salbungsvolle Gerede der Ministerin ekelte ihn an. Er wollte weg.

»Warte!«, sagte Janne. »Sprich mit ihr, du kannst das besser als alle anderen!«

»So beschissen, wie ich aussehe? Und was soll ich der sagen?«

»Wir sehen alle so aus. Willst du die hier einfach nur quatschen lassen? Ein paar Ankündigungen abfeiern und das war’s dann wieder? Ja? Eine geschenkte Sau für die Tagesschau? Und dann kann ich mir wieder dein Gejammer über zu wenig Hilfsgelder anhören?«

Janne sah eigentlich aus wie damals als Kind, wenn sie nach einem langen Sommertag gerade noch rechtzeitig vom Spielen zum Abendessen nach Hause kam. Mit leuchtenden Augen und total verdreckt. Definitiv reif für die Badewanne. Er war sicherlich nicht streng genug. Gesicht- und Händewaschen mussten reichen, damit das Abendessen nicht kalt wurde. Das waren bessere Zeiten. Aber auch heute war sie wunderbar. Trotzdem brummte er:

»Ich bin hier fertig!«

Kapitel 2

NEW YORK – VEREINTE NATIONEN – 33 GRAD

Am runden Sitzungstisch des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen beobachtete Tom die Gesichter der Diplomaten und Wissenschaftler. Leere Blicke, ratlose Mienen, aus einigen blitzte der Zorn. Die Vertreter der wichtigsten Industrienationen würden morgen nach dem Abschlussbankett wieder nach Hause reisen. Sie würden aus klimatisierten Hotelzimmern in klimatisierte Limousinen steigen, um dann in klimatisierten Flugzeugen zu sitzen. Sie würden ihren Regierungen die Lösungen der Wissenschaftler präsentieren und vor einer Mauer stehen. Auf dieser Mauer stünde wieder einmal: »Wer soll das bezahlen?« Tom sah zu Lil Marrow, seiner langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiterin. Ihre Hände zitterten.

Die Zahl der Menschen, die in diesem Jahr bereits weltweit direkt oder indirekt wegen der Hitzewellen ihr Leben verloren hatten, würde bald das Niveau des Jahrhundertsommers 2003 mit 70 000 Toten allein in Europa in den Schatten stellen.

»Ich kapituliere«, sagte Tom und schloss seine rote Mappe mit dem Emblem des internationalen Klimarates.

»Warten Sie!«, schallte es plötzlich durch den Saal. »Wenn wir hier ohne Verabschiedung einer Abschlusserklärung rausgehen, werden einige von Ihnen in erhebliche Erklärungsnot geraten«, polterte der Luxemburger Außenminister. »Sie alle wissen, dass sich die Prognosen tagtäglich gegen unseren Zeitplan wenden. Wir müssen diese Maßnahmen umsetzen. Sonst verspielen wir die Zukunft unserer Kinder endgültig! Glasgow darf sich nicht wiederholen!«

Der Exodus der Diplomaten beschleunigte sich, und selbst einige Mitglieder des Klimarates verließen nun zügig den Saal. Lil starrte regungslos auf die Abschlusserklärung. Tom sah in das Gesicht des Außenministers. Der pfefferte wütend einen Ordner vom Tisch, verschränkte die Arme und starrte frustriert an die Decke.

»Jetzt bringt das nichts mehr«, sagte Tom leise. »Komm, nutzen wir die Zeit. Vielleicht haben wir doch noch eine Chance. Wir müssen bilaterale Verhandlungen führen.«

Sie alle waren seit 16 Stunden auf den Beinen. Lil blickte in Richtung des deutschen Verhandlungsbeauftragten, der hastig seine Sachen packte und ging. »Schwierig, wenn deine eigene Regierung komplett versagt.«

»Ja, ich weiß. Wie lange machen wir das jetzt schon?« Tom seufzte.

»Wieso fragst du mich das ausgerechnet jetzt?«

»Ich habe versagt, Lil. Es sind zehn verlorene Jahre. Wird Zeit, dass du das Ruder übernimmst.«

»Tom, sieh dich um. Wir haben kein Ruder!«

»Wir dürfen nicht lockerlassen. Wir müssen Geld auftreiben. Ich werde versuchen, persönlich Einfluss auf die deutsche Regierung zu nehmen.«

»Und das soll dir ausgerechnet in Deutschland gelingen?«, fragte Lil mit hochgezogenen Schultern.

»Zwei trockene Winter schaden mehr als zwei trockene Sommer. Wenn der kommende Winter in Deutschland wieder so trocken wird … na ja, dann werden wir ja sehen. Die Sache fliegt uns jetzt um die Ohren. Seit vierzig Jahren wussten wir das, Lil, vierzig Jahre!«

Im großen Sitzungssaal entstand eine ratlose Stille. Selbst der eben noch tobende Außenminister Luxemburgs hielt, so schien es, den Atem an.

Lil schloss die Augen: »Aber nicht heute Abend. Nicht mit mir. Macht, was ihr wollt. Ich bin verabredet.«

»Kannst du das nicht verschieben?«

»Ich verschiebe mein Leben seit Monaten!« Ihre Stimme klang so erschöpft wie entschlossen: »Hast du mit Lisa gesprochen?«

Es war das erste Mal nach ihrer Affäre, dass Lil Tom auf seine Frau ansprach. Es war auch das erste Mal, dass sie den Sinn seiner – ihrer gemeinsamen – Arbeit infrage stellte. Nein, nicht den Sinn, aber die Konsequenzen für das eigene Leben. Genauso, wie es auch Lisa seit Jahren tat. Ja, im Grunde war ihm zum Heulen. Die Arbeit hatte nicht nur die Beziehung zu seiner Frau Lisa zermürbt, sondern auch die mit Lil. Lils Träne im Augenwinkel war für Tom wie die Zusammenfassung dieses Tages, wie etwas, das man weiß und doch nicht aussprechen mag. Für die ursprünglich geplanten Maßnahmen und das Pariser Klimaabkommen war es längst zu spät, und die Angst kroch in ihm hoch, dass dieser Tag, wenn er New York, wie schon länger geplant, den Rücken kehren würde, nun auch die heimliche Beziehung mit Lil beenden könnte.

Tom nickte. Schweigend verließen sie den Saal. Auf dem Flur sah er auf einem Flatscreen die aktuellen Nachrichten von CNN, darunter auf dem Newsticker die Nachrichten über die Waldbrände in Kalifornien. Die vielen gescheiterten Klimakonferenzen, die in seine Zeit fielen, waren zermürbend und letztlich auch das Resultat mangelnder Aufklärung der Bevölkerung. Tom blieb gedankenverloren vor einem Monitor stehen. Er sah den Nachrichtensprecher, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Genau genommen war bis dato noch zu keinem Zeitpunkt wirklich erklärt worden, warum unsere gesamte Lebensweise zur Disposition stand. Vollumfänglich erklärt, wie es so schön in der Sprache der Diplomaten, Juristen und Wissenschaftler heißt. Kinder waren nötig ge wesen, um die Großen in der Politik zu schütteln, wachzurütteln, sie zur Pflicht zu rufen. Es bedurfte einer Minderjährigen aus dem fernen Skandinavien, einer Schülerin, um allen zu sagen, was gehört werden musste. Hochnotpeinlich für alle hochbezahlten, professionellen Politiker und Diplomaten.

Die Wut kochte in Tom. Der Politik gelang es nicht, den Menschen den Verstand, das Verständnis, das Gefühl und die Sicherheit zu geben, dass die große Transformation nicht nur überlebenswichtig, also nötig, sondern auch möglich und womöglich sehr positiv werden konnte. Dass der Verzicht auf schlechte Gewohnheiten auch einen größtmöglichen Gewinn für die Zukunft aller bedeuten konnte. Wie soll man eine Bevölkerung aufklären, wenn die wichtigsten Akteure der Weltpolitik sich dem Wandel verweigerten? Diese Berufsaussitzer, die Veränderungen ebenso fürchteten wie den Verlust von Wahlen, Ämtern, Reichtum, Arbeitsplätzen und Macht? Durch die neue Epoche der Neo-Populisten gingen weitere wichtige Jahre verloren. Der Klimawandel wartete nicht. Er hatte seine eigene Agenda und schritt in großen Schritten voran. Derweil standen, jahrein, jahraus, weltweit gigantische Flächen in Flammen. Jetzt konnten auch Politiker die wissenschaftliche Tatsache des menschengemachten Klimawandels nicht mehr leugnen, ohne das Gesicht zu verlieren. Selbst der erzkonservative Verleger Rupert Murdoch hatte seinen Zeitungen und Sendern in Australien einen neuen Kurs verordnet. Doch wo früher die Glaubwürdigkeit der Klimawissenschaft selbst untergraben wurde, wurden nun Armeen von Lobbyisten mit Geld ausgerüstet, um das unheilige Versprechen abzugeben, dass die Menschen bei der Transformation der Wirtschaft auf nichts verzichten müssten. Der gefährlichste Teil stand ihm und allen Wissenschaftlern erst noch bevor. Die Leugnungslobby verlor zwar ständig an Kraft, aber zu langsam. Und in Tom wuchs der Entschluss zu handeln. Und sie hatten Lösungen!

»Was grübelst du?«, fragte Lil.

»Ich mach mir Sorgen, dass wir wieder keinen Schritt weiterkommen.«

»Was war eigentlich mit Huber los? Warum hat er dir die Unterstützung wieder entzogen?«, fragte Lil.

»Er fürchtet vermutlich den Verlust seiner Reputation.«

»Okay. Ich rede mit ihm. Er mag mich.«

Lil folgte Tom den langen Flur zum Lift entlang. Der luxemburgische Außenminister überholte sie im Stechschritt, und er hatte nicht nur seine Aktentasche unter dem Arm, sondern auch die Akte, die er eben noch auf den Boden gepfeffert hatte. Der Lift brauchte ewig. Als sich endlich die Tür öffnete, platzte es aus Lil heraus: »Wie hältst du das noch aus, mal ganz ehrlich?«

»Gar nicht, aber ich habe eine Tochter. Wir haben die Lösungen auf dem Tisch, und dann ist dieses Pack von Diplomaten immer und immer wieder zu feige, sich durchzusetzen. Verdammte Scheiße. Ja ich habe genug, nur die Wut treibt mich noch an.«

»Das spüre ich die ganze Zeit, und das fühlt sich nicht gut an!«

Der Fahrstuhl öffnete sich, und plötzlich hörte Tom seine Schritte wie durch Watte. In seinen Ohren begann es zu klingeln, und einen Moment lang nahm er Lil an seiner Seite wie in Trance wahr. Andere Menschen schwebten wie in Zeitlupe an ihm vorbei. Dann hatte er eine Installation der Künstlerin Teresa Borasino vor Augen, die Auszüge aus dem Weltklimabericht auf Toilettenpapier gedruckt hatte. »Give a shit« nannte sie ihre Aktion, damals auf dem Weltklimagipfel in Paris. Das Wattegefühl und das Klingeln im Ohr ebbten wieder ab. Tom blieb stehen, holte sein Smartphone raus und öffnete die E-Mail mit dem Arbeitsvertrag für das Präsidium des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung. Von New York nach Potsdam? Tochter Mareike wollte unbedingt in Berlin studieren, und seine Frau Lisa pochte seit Monaten auf mehr gemeinsame Zeit. Und Lil? Warum konnte er nicht einfach alles eingestehen? Wie sehr er sie liebte. Tom kannte keine andere Frau in seinem Leben, die so attraktiv war und so engagiert lebte, beruflich wie privat. Die solch eine geradlinige Art hatte, die Dinge beim Namen zu nennen. Sie vereinte Leidenschaft und Sinnlichkeit mit einer geistigen Klarheit, Unabhängigkeit und Zielstrebigkeit, wie er es noch bei niemandem zuvor erlebt hatte. Nun aber verhielt Lil sich auffällig distanziert. Das tat ihm weh und machte Angst. Er war an einem Punkt, wo er sich fragte, ob er dem Weltklimarat – und damit am Ende auch Lil – den Rücken kehren sollte? Distanz schaffen, um ihre Distanz zu ertragen? Hatte er noch eine Chance, im Weltklimarat den ganz großen Wurf zu wagen? Oder würden seine Gegner seine Karriere beenden? Die Philosophie der Institution war es, den immer wieder aktualisierten Stand der Klimaforschung so aufzubereiten, dass Entscheidungen von Regierungen, Unternehmen und privaten Haushalten auf Basis aktuellster wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen werden konnten. Dies war auch Toms Philosophie. Sein Vorgehen war in der Sache richtig. Aber politisch war es wirkungslos.

Schon seit Wochen quälte sich Tom mit den gleichen Fragen. Wäre es ein Rückschritt, zurück nach Deutschland zu gehen? Oder könnte er gerade dort die enormen Mittel auftreiben, die man bräuchte, um mehr zu erreichen?

In Potsdam könnte er seine Forschung und die Akquise der Mittel neu ausrichten und müsste keine diplomatischen Rücksichten mehr nehmen. Auch die anstrengenden Reisen zwischen dem Hauptsitz des Weltklimarates in Genf und New York hätten ein Ende. Plötzlich zog es heftig an seinem Sakko.

»Tom! Vorsicht!«

Um ein Haar wäre er über irgendwas gestolpert, direkt vor der Marmortreppe. Auch die hatte er nicht wirklich wahrgenommen. Die schöne, lange Marmortreppe. Das wär’s gewesen. Für einen Moment gefiel ihm die Vorstellung, jetzt einfach zu sterben. Aber wer würde dann die Welt retten, lachte er innerlich. Genau dies versuchte er nun schon seit Jahrzehnten. Welch ein Irrsinn.

»Ja, alles gut. Danke! Ich war in Gedanken.«

»Nein, es geht dir nicht gut. Du brauchst dringend eine Pause, Herr Professor!«

»Ich erinnere mich an einen chemischen Effekt, bei dem es reicht, ein einziges Atom Natron zu einer gesättigten Lösung zu geben, und in Bruchteilen einer Sekunde geht alles vom flüssigen in den festen Zustand über … So könnte ich es am besten beschreiben, diesen plötzlichen Wandel, auf den wir hoffen. Es ist wichtig, dass du hier die Stellung hältst. Oder du wechselst ebenfalls die Stelle und kommst …«

Lil legte ihre Hand auf Toms Mund und schaute ihm tief in die Augen. »Du hörst mir wirklich nicht zu. Du solltest deine Ehe retten.«

»Das ist nicht so leicht, wie du vielleicht denkst. Ich muss das Phönix-Programm weiterentwickeln. Wir müssen aufhören, uns was vorzumachen. Es ist zu spät! Das Pariser Abkommen ist gescheitert.«

Lil umarmte ihn. Er hörte einen leisen Seufzer, roch ihr Parfüm. »Tom, du wirst mir fehlen«, flüsterte sie. »Du wirst hier fehlen.«

»Ich werde die nötigen Mittel bekommen.«

»Woher?«

»Von meinen Feinden!«

Kapitel 3

NEW YORK – VEREINTE NATIONEN – 36 GRAD

Lil wollte gerade das Gebäude der Vereinten Nationen verlassen, als sie Ron Huber sah. Der betrat soeben das Büro, das den Mitgliedern des Weltklimarates während der Konferenzen und Tagungen in New York zur Verfügung stand, und schloss die Tür hinter sich. Einen Moment zögerte sie, sah sich um, ging auf die Tür zu und klopfte dreimal. Noch bevor sie wusste, wie sie das Gespräch einleiten wollte, öffnete Huber die Tür.

»Lil, was führt dich her? Ich habe nur wenig Zeit, aber komm rein.« Er lockerte seine Krawatte und lehnte sich mit verschränkten Armen an einen mächtigen Schreibtisch.

»Danke, Ron. Ich fasse mich kurz: Was hast du für ein Problem mit Tom?«

Sofort verfinsterte sich Hubers Gesicht, und Lil schwante, dass sie vermintes Gelände betreten hatte.

»Toms apokalyptische Szenarien sind kontraproduktiv. Purer Defätismus. Als wäre schon alles außer Kontrolle geraten und unlösbar. Wir als Forscher sind verpflichtet, nicht die Apokalypse auszumalen, sondern verlässliche Prognosen zu entwickeln. Vor einer Woche beschwert Tom sich noch über die Hysterie in den Medien, und jetzt fährt er uns mit seinem 5-Grad-Szenario in die Parade, und das bei einer entscheidenden Sitzung! Das ist mein Problem mit ihm.«

Lil wusste für einen Moment nicht, wie sie reagieren sollte. Im Grunde konnte sie Huber sogar verstehen. Sie hatte Tom gewarnt. Inzwischen gingen immer mehr Kollegen davon aus, dass die Regierungen schon mehr als genug unter Druck geraten waren. Das IPCC, kurz für das Intergouvernemental Panel on Climate Change, hatte die Folgen des Klimawandels auf Basis aktueller Daten neu moduliert. Die aktuellste Prognose ging von einer Erwärmung unseres Planeten um drei Grad aus. Drastischere Szenarien könnten Panik und Resignation oder Zweifel an den Ergebnissen auslösen, was wiederum zu noch mehr Populismus und zu einer politischen Schockstarre führen würde.

Lil blickte aus dem Fenster, es goss in Strömen, die Skyline Manhattans war kaum noch zu sehen.

»Es war nie die Rede davon, dass Tom das öffentlich machen sollte. Tatsache ist aber, dass dieses Szenario möglich ist, sollten die Kipppunkte schneller eintreten, als es die Modelle hergeben. Wie besprochen hält er auch das Phönix-Programm unter Verschluss. Du hast also keinen Grund, ihn fallen zu lassen.«

Lil fand Hubers Mimik oft schwer zu lesen. Aber nun sah sie in seinen Augen eine finstere Entschlossenheit.

Huber setzte sich und straffte sein Sakko. »Lil, was willst du von mir?«

»Ich setze mich für Tom und das Phönix-Programm ein.«

»Ach ja? Oder nur für ihn?«

Wut und Trauer verknoteten Lils Magen. Sie schluckte. Ein Foto an der Wand zeigte Huber mit seinem Team vor mindestens zehn Jahren, darunter auch Tom, als seine Haare noch schwarz waren, sein Kinn kantig und straff, seine Augen noch nicht von zu vielen schlaflosen Nächten dunkel umringt. Die letzten Jahre hatten große Opfer gekostet.

»Dein Schweigen ist vielsagend. Wie auch immer, Tom manövriert sich ins Abseits, und du musst dich entscheiden, wohin du gehörst.«

»Ins Abseits? Du manövrierst ihn dort hin! Überlege dir gut, was er außerhalb des Klimarates bewegen kann.«

»Er geht?«

»Was glaubst du denn?«

Huber stand auf. »Das Phönix-Programm wird vielleicht eines Tages unausweichlich werden, aber bis dahin sollte Tom Ruhe geben. Jeder Wissenschaftler, auch du. Sobald ihr euch damit in die Öffentlichkeit wagt, seid ihr dem Mob im Netz und den Medien ausgeliefert. Und all den politischen Kräften, die gegen uns sind. Ich habe auch die Verantwortung, uns genau davor zu schützen. Gut, Lil, ich muss los. Ich fliege gleich zurück nach Genf.«

»Aber …«

»Nein, Lil. Ich muss dafür sorgen, dass Tom keinen weiteren Schaden anrichtet, und wenn er freiwillig geht, ist es für alle am besten. Ich rede mit ihm.«

»Wir können aber nicht warten, bis es zu spät ist!«

Ron Hubers Augen weiteten sich. »Doch! Nur dafür ist das Programm gedacht. Das Risiko können wir erst eingehen, wenn es quasi zu spät ist. Das weißt du genau.«

Lil nahm ihre schwarze Lederhandtasche, stand auf, ging zur Tür, zögerte und drehte sich um. »Tom wird vermutlich schweigen, aber du kannst dich nicht darauf verlassen, dass ich das tue, wenn du ihm unnötig schadest. Ihr wisst alle, dass er recht hat. Und niemand kann uns daran hindern, Geldgeber zu finden.«

»Dann werden die auch dich zu stoppen wissen.«

»Was?«

»Guten Abend, Lil.«

»Wer sind die?«

»Auch das weißt du ganz genau. Bitte geh jetzt!«

Kapitel 4

AUF DEM WEG NACH NORDFRIESLAND – 36 GRAD

Janne schaute auf die vorbeiziehenden Wälder, Raststationen und Eisenbahngleise und sehnte sich für einen Moment nach etwas, das es nie mehr geben würde. Als ihre Mutter noch lebte, hörten sie Musik während der Fahrt vom Hof in Nordfriesland nach Lentzke, lachten gemeinsam oder lästerten über die Touristen, obwohl die das Einkommen sicherten. Ihr Vater schmiedete Pläne, wie sie den günstig erworbenen Hof in Ostdeutschland als neue, zusätzliche Einkommensquelle nutzen könnten. Oder sie stritten sich über Politik. Der Ausbau des Vierkanthofes an Frieslands Küste, mit fünf Gästezimmern und einem Hofladen, brachte wichtige Einnahmen zusätzlich zur Landwirtschaft. Mit der Landwirtschaft wurde es von Jahr zu Jahr schwieriger, aber noch reichte es, um ein bisschen zu träumen. Meistens war das Geld jedoch knapp. Meistens saßen die Bank, die Lieferanten oder das Finanzamt ihrem Vater im Nacken. Besonders im Winter und noch viel mehr nach einer verregneten Saison, wenn die Gäste ausblieben. Siglinde, oder Siggi, wie jeder im Dorf ihre Mutter nannte, war Herz und Seele des Hofes. Dichte, blonde, lange Haare, weiche Gesichtszüge, blaue Augen, für eine Landwirtin auffällig gut gekleidet – und dann dieses gewinnende Lächeln. Wenn im Sommer die Gäste kamen, war sie es, die die Leute begrüßte. Immer freundlich und auch mit schwierigen Gästen geduldig, sorgte sie dafür, dass jeder sich wohlfühlte, gab Auskunft und pries die Attraktionen: Watt- und Dünenwanderungen, Kutterfahrten, die schönsten Plätze am Strand. Jannes Vater kurvte indessen meistens mies gelaunt mit dem Traktor über den Hof. Abends, nach dem Besuch am Stammtisch, war seine Stimmung etwas besser. Wie in fast jeder Familie, die mit Gastronomie zu tun hatte, war Alkohol fester Bestandteil des Alltags und half dabei, die Sorgen wegzuschieben. Bäuerliche Landwirtschaft gepaart mit Gastronomie war schon damals unberechenbar. Jannes Freundinnen berichteten aus ihren Elternhäusern kaum andere Zustände, aber sie machte sich trotzdem Sorgen. Insgeheim hatte sie immer den Wunsch, ihre Eltern aus diesem Wahnsinn zu retten. Doch spätestens mit ihrem Weggang nach Berlin und dem Beginn des Studiums verblassten die Kinderträume. Das Dorf, die alten Freunde und die schöne Natur schienen weit weg. Im Laufe der Jahre hatten sich Jannes Eltern so sehr in ihr Unglück verstrickt, dass auch ihrer Mutter das Strahlen abhandengekommen war. Beiden war kaufmännisches Geschick nicht in die Wiege gelegt. Während Anfang des neuen Jahrtausends aus allen Ecken des Landes die Immobilienhaie kamen und die Nordseeküste von einem Modernisierungsboom profitierte, verpassten sie den Anschluss. In dieser Zeit begann Janne, sich für den Naturschutz, den schleichenden Wandel im Wattenmeer und das Verhalten der Zugvögel zu interessieren. Für die meisten im Ort war das Gerede vom »Klimawandel« zu abstrakt. Das war etwas für Wissenschaftler. Jannes Vater wurde immer still, wenn dieses Thema in den Nachrichten kam. Nur wenn er seinen Bruder im Fernsehen sah, murmelte er höhnische Kommentare wie »Arschloch« oder »Klugscheißer«. Siggi stellte ihm dann noch eine Flasche Bier hin und wünschte sich: »Vielleicht regelt ihr das bald mal wie Männer.«

Wie ihre Mutter mit den jüngsten Entwicklungen, der Hitze, den Ernteausfällen, die seit ihrem Tod immer unübersehbarer wurden, umgegangen wäre, war eine Frage, die Janne immer wie der beschäftigte. Sie vermisste sie. Auch nach so vielen Jahren. Doch von der Diagnose bis zum Tod hatte der Brustkrebs ihr keine zwei Jahre Zeit gewährt. Diese Bestie, die schon Jannes Großmutter getötet hatte. Janne erinnerte sich genau an jenen Tag. Ausnahmsweise war sie mal nicht erreichbar. Auf dem Anrufbeantworter hörte sie dann die tränenerstickte Stimme ihres Vaters. Bei Krebs glaubte man, auf diese Nachricht vorbereitet zu sein, der Tod war nur eine Frage der Zeit. Doch auf den Verlust eines Menschen konnte man sich nicht vorbereiten. Da war nichts als schneidender Schmerz, schreiende Hilflosigkeit, abgrundtiefe Leere und die erdrückende Last, nun den eigenen Vater trösten zu müssen, ohne selbst Halt zu finden. Wenn Janne an diese Erlebnisse dachte, relativierte sich vieles. Sogar die Furcht vor dem Klimakollaps. Verzweiflung und Trauer wichen der Wut, dass ihre Eltern auf der Jagd nach Wohlstand und Status, oder manchmal auch ums schlichte Überleben, kaum Zeit füreinander gehabt hatten. Janne hatte versucht, mit ihrem Vater etwas nachzuholen, das es nicht nachzuholen gab. Und die Sorgen um die schiere Existenz erstickten seit Jahren jede Freude, jeden Neuanfang. Jetzt war es das dritte Dürrejahr in Folge, und ihrem Vater drohte die Kraft auszugehen. Da war es wieder, dieses Gefühl, ihn retten zu müssen.

Nun saßen sie im Auto. Robert am Steuer. Janne scrollte am Smartphone die neuesten Facebook-Meldungen durch, schaute ab und zu hoch und beobachtete, wie ihr Vater mit leeren Augen die Straße fixierte. Er machte das Radio an, um zur vollen Stunde die aktuellen Wetternachrichten zu hören. Immer die gleichen Meldungen: Brände, Dürre, sinkende Flusspegel, zu trockene Wälder und Felder, Ernteausfälle und steigende Preise. Und wieder kein Regen!

»Wenn du den Hof in Lentzke verkaufst, muss ich mir in Berlin eine Wohnung besorgen.«

Sein Stöhnen kündigte den Beginn der üblichen Diskussion an. »Wir klären das später.«

»Wann später? Weißt du eigentlich, wie schwierig es ist, in Berlin unterzukommen?«

»Versprich mir, dass du nicht mehr zu diesen Demos gehst, dann zahle ich dir die Wohnung.«

Janne wäre beinahe das Smartphone aus der Hand gefallen. Wäre sie sechzehn oder siebzehn und hätte keine Ahnung, was auf sie zukommen würde, gut. Aber sie war keine kleine Schülerin mehr. Sie kannte Berlin auch bei Nacht. Und sie wusste, wie man auf Demos nicht verhaftet wird. Aber ihre Frage war eigentlich beantwortet. Er bog ab in die lange Auffahrt zum Hof, vorbei an den Rapsfeldern und an den Kirsch- und Apfelbäumen, die rund um den hübschen roten Klinkerbau wuchsen. Früher hatten sie gute Ernte gebracht. Vor der Tür stand der Wagen des polnischen Landmaschinenmechanikers, der seit drei Jahren mehr schlecht als recht half, die Geräte in Schuss zu halten. Für Jannes Gefühl kassierte er dafür viel zu viel Geld und verleitete ihren Vater noch früher am Tag zum Trinken, als es gut für ihn war. Auch Roberts Mitarbeiter Petersen war dem Alkohol gefährlich zugeneigt und verleitete ihren Vater regelmäßig zu einem Schlückchen.

»Demonstrationen für den Klimaschutz sind wichtig.«

»Ich will nicht, dass du so wirst wie er.«

»Wovon redest du?«

»Du himmelst deinen Onkel an, als wäre er der Heiland.«

»Was er sagt, ist richtig, und ich bin alt genug, um das richtig zu finden.«

»Sei kurz still.« Robert hielt an und machte das Radio lauter.

Der Deutsche Wetterdienst warnte erneut vor Waldbränden und Wasserknappheit. Der Nachrichtensprecher räusperte sich und kündigte an, dass es in Nord- und Ostdeutschland für die Landwirtschaft zu weiteren Einschränkungen in der Wasserversorgung kommen werde, damit die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser gewährleistet bleiben könne. Entsprechende Verordnungen würden von der Landesregierung erarbeitet. Janne sah den Kopf ihres Vater nach hinten in die Kopfstütze sinken. Er stieß die Tür auf, stieg aus, ging über den verdorrten Rasen zur Holzbank unter der Kastanie, setzte sich und vergrub sein Gesicht in den Händen.

Janne hievte den Rucksack über ihre Schulter. Als sie ins Sonnenlicht trat, schlug ihr die Hitze ins Gesicht. Einen Moment fragte sie sich, warum sie überhaupt mitgefahren war, und schaute auf ihr Smartphone. Seit Tagen hatte sich Tobias nicht mehr gemeldet. Ihr Streit war kurz, aber heftig gewesen. Die Aktionsgruppen in Berlin waren dabei, sich aufzuspalten. Es gab die radikalen Aktivisten, die bereit waren, sich über den zivilen Ungehorsam hinaus an größeren Sabotageaktionen in Kohlekraftwerken und anderen Einrichtungen zu beteiligen. Andere lehnten dies strikt ab und hielten an den friedlichen Straßen- und Kraftwerksblockaden fest. Janne hatte laut gedacht und Verständnis für die Radikalen geäußert. Doch Tobias lehnte jede Form von Gewalt ab, nur übersah er dabei, wie brutal der Klimawandel zuschlagen würde. War das etwa keine Gewalt? Sie hatte sich entschuldigt, aber ihren Freund einen Feigling zu nennen, war wohl eins zu viel gewesen, und auf Jannes Entschuldigung hatte er bisher nur geschwiegen. Sie musste dringend zurück nach Berlin. Sie sah ihren Vater an.

»Du musst dich mal ausruhen und du musst weniger trinken. Der Alkohol macht alles doch nur noch schlimmer. Hier, für dich«, Janne zog eine Packung Vitamin B12 aus der Tasche.

»Was soll das?«

»Nervennahrung.«

»Füllt das auch mein Konto?«

»Oh Gott, ich kann es nicht mehr hören. Du solltest ernsthaft darüber nachdenken, ob du diesen Hof aufgibst. Wenn du hier alles verkaufst, kannst du den Hof in Lentzke behalten, und ich muss nicht eine halbe Weltreise machen, um dich zu besuchen. Dir ist es doch egal, wo du schuftest. Außerdem mag dich Svenja sehr, und sie trinkt nicht.«

Janne wusste, was jetzt kommen würde. Der Hof war seit fünf Generationen im Familienbesitz, so was darf man nicht einfach aufgeben, und wäre Tom nicht einfach verschwunden, würde alles anders aussehen. Wenigstens investieren hätte er können, und überhaupt sei der »Klugscheißer« an allem schuld. Dabei wusste Janne genau, dass dem Hof nicht nur der Klimawandel schwer zusetzte. Der Betrieb war schlichtweg zu klein und warf auch in guten Jahren zu wenig ab. Landwirtschaft lohnte sich nur noch für Konzerne.

»Ich krieg das Loch nicht gefüllt«, murmelte Robert. Die Augen ihres Vaters waren trübe wie nach dem Tod ihrer Mutter. Janne legte ihren Arm um ihn.

»Es tut mir leid. Ich weiß, du hörst das nicht gerne, aber du und Tom, ihr habt mehr gemeinsam, als du denkst.«

»Ach ja?«

»Immer Stress, nie Zeit, nie Zeit zum Zuhören. Ihr arbeitet euch zu Tode. Du ruinierst dich zusätzlich mit Alkohol. Er hat schon Herzprobleme, wusstest du das?«

Die Stirn ihres Vaters sah aus wie ein Acker – tiefe Furchen. Er steuerte – oder wankte? – auf seinen sechzigsten Geburtstag zu. Drei Wochen noch, dann musste man feiern. Und wie?

»Woher weißt du das?«

»Was spielt das für eine Rolle. Vielleicht könnt ihr euren Konflikt endlich lösen, es nervt. Und ich würde meine Cousine und meinen Onkel ganz gerne mal leibhaftig wiedersehen.«

Robert biss sich auf die Lippen.

»Er hätte ja mal herkommen können, aber was soll das schon noch bringen.«

Jetzt stöhnte auch Janne. Plötzlich hörten sie Hilferufe. Eine ältere Frau kam über die Einfahrt gelaufen.

»Wir haben kein Handy, bitte rufen Sie einen Krankenwagen! Mein, mein Mann ist zusammengebrochen«, stammelte die Frau.

Robert sprang auf, drückte auf dem Smartphone den Notruf. Janne rannte Richtung Hauseingang.

»Warten Sie«, brüllte sie, »ich hole Wasser!«

In der Küche riss sie den Kühlschrank auf, griff zwei Literflaschen und rannte zurück. Die Frau war schon wieder auf dem Feldweg. Janne holte sie schnell ein.

»Wo ist er?«

Der Mann lag zwanzig Meter weiter in der prallen Sonne auf dem Boden.

»Der Notarzt ist unterwegs«, rief Robert.

»Hol bitte einen Regenschirm«, schrie Janne.

Ihr Erste-Hilfe-Kurs war Jahre her. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Sie kniete sich vor den Mann, er atmete noch. Ach ja, das Wasser. Trinken, kühlen. Robert kam angerannt, spannte den Schirm auf und reichte ihn der Frau. Janne hörte das verdächtige Ploppen eines Kronkorkens.

»Bier! Bist du verrückt?«

»Alkoholfrei, er braucht Mineralien. Aber erst Wasser. Gieß ihm etwas über das Gesicht. Langsam. Ich heb ihn gleich etwas an, und du gibst ihm zu trinken, okay?«

»O Gott, o Gott«, wimmerte die Frau.

»Bier!«, dachte Janne. Sie wusste nicht, dass er auch alkoholfreies Bier hatte. Und er hatte recht: Mineralien!

Der Mann war nicht völlig bewusstlos. Er half, sich aufzurichten, langsam öffneten sich seine Augen.

»Können Sie mich hören?«, fragte Robert.

Der Mann nickte. Janne setzte die Bierflasche an seinen Mund und ließ den alten Mann vorsichtig trinken. Er hatte eine Platzwunde am Kopf und wirkte extrem geschwächt. Das Warten war zermürbend. Aus der Ferne hörten sie irgendwann ein Martinshorn.

Robert versuchte die erschütterte Frau zu beruhigen.

»Na, Gott sei Dank. Da sind sie. Normalerweise dauert das hier länger.«

Die Frau hatte sich erschöpft auf den Boden gesetzt und hielt den Schirm über ihren Mann. Der Rettungswagen rumpelte über den Feldweg. Wie in Zeitlupe, dachte Janne. Endlich kam der Wagen zum Halten, und der Notarzt stieg aus. Er grüßte entspannt, kniete sich nieder und musterte die Lage: Blutung, Atmung, Schock?

»Okay, haben Sie gut gemacht«, lobte er. Zwei Sanis kamen mit der Trage. Der Notarzt versorgte die Platzwunde, sie hievten den Mann in den Rettungswagen und legten ihm eine Infusion.

»Mineralien«, murmelte Robert.