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Vor der US-Botschaft in London wird die bestialisch zugerichtete Leiche eines korrupten chinesischen Handelsattachés gefunden. Der Scotland-Yard-Ermittlerin Rebecca Winter erscheint die Tat zunächst als Ritualmord: ein Racheakt der chinesischen Mafia. Doch bald schon muss sie erkennen, dass der Attaché eine brisante Rolle spielte in einem sich zuspitzenden Konflikt zwischen Washington und Peking, der sich schon bald zu einem veritablen Krieg entwickeln könnte. Vom ersten Moment, als Rebecca Winter ihren neuesten Fall übernimmt, spürt sie einen immensen Druck von höchster Stelle, den Mord möglichst schnell aufzuklären – zu sehr belastet er die fragilen Beziehungen zwischen den Supermächten USA und China. Als Rebecca ihre Nachforschungen nach Peking ausweitet, ahnt sie nicht, dass die CIA einen ihrer besten Agenten auf sie angesetzt hat, um ihre Ermittlungen zu überwachen – einen Agenten, der keineswegs ihr Partner ist in diesem schmutzigen Fall. Unversehens gerät sie zwischen die Fronten eines internationalen Machtkampfes ungeahnten Ausmaßes, in dem es für beide Seiten um viel, sehr viel Geld geht. Und bald schon muss Rebecca feststellen, dass hier Kräfte am Wirken sind, die bereit sind, alles zu unternehmen, um die Ermittlerin daran zu hindern, eine Verschwörung offenzulegen, für die schon der Attaché sein Leben lassen musste …
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Seitenzahl: 564
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Dieser Roman ist ein fiktionales Werk, auch wenn er reale Gegebenheiten aufgreift. Die Personen und die Handlung sind frei erfunden, sodass etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig wären. Das gilt auch, wenn die Namen der fiktiven Personen und Institutionen den Namen realer Personen und Institutionen ähnlich sein oder mit diesen übereinstimmen sollten.
1. eBook-Ausgabe 2016
© 2016 Europa Verlag GmbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung und Motiv:
Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Layout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, München
Konvertierung: Brockhaus/Commission
ePub-ISBN: 978-3-95890-088-2
ePDF-ISBN: 978-3-95890-089-9
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
Alle Rechte vorbehalten.
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Der feine Sand massierte ihre bloßen Füße, sie streifte in einem hellbeigen Sommerkleid durch die Dünen der schottischen Küste, unweit des Anwesens ihrer Familie. Das hohe Gras umschmeichelte ihre Waden. Die Sonne hüllte die Landschaft in warmes Licht. Ein leichter Wind kam über den Atlantik, spielte mit ihren dunklen Locken. Sie ließ sich sanft zu Boden gleiten und beobachtete blinzelnd das Wechselspiel der wenigen Wolken, die durch den Äther rasten. Arme und Beine streckte sie weit von sich. Ein Gefühl tiefer Geborgenheit und Leichtigkeit durchströmte ihren Körper.
Als sie sich wieder erhob, blickte sie auf das malerische Landhaus. Sie sah ihre Mutter sanft die Rosen im Vorgarten streicheln, ein Lächeln auf den Lippen.
Das plötzliche Erwachen, wie ein Riss in Raum und Zeit. Nur langsam wurde sich Rebecca ihrer Lage wieder bewusst, fühlte am ganzen Körper Schmerzen, eine ihr völlig unbekannte Benommenheit und Erschöpfung. Mühsam richtete sie sich auf der harten Pritsche auf und setzte ihre Füße auf den Boden. Hatte man sie unter Drogen gesetzt? War etwa gerade ihr Leben wie in einem Zeitraffer an ihr vorübergezogen? Jene Bilder, die einem auf den letzten Weg begleiten, bevor der Körper zu versagen drohte oder schon dem Leben entrann?
Vorsichtig versuchte sie die geschwollenen, blutverklebten Augen zu öffnen, alles um sie herum erschien grau, kalter Stein, der Boden glitschig feucht. Nur durch ein winziges Loch an einer Wand drang ein dünner Lichtstrahl, der den Raum in einem diffusen Licht erscheinen ließ. Es roch nach Moos, Schimmel und Treibstoff. Der Putz an den Wänden war größtenteils abgeblättert. Sie blickte auf ihre nackten und kalten Füße, die in einer Pfütze aus Wasser, Dreck und Ölresten standen. Die aufgeschlagene Lippe schmeckte eisenhaltig. Die Handschellen hatten ihre Gelenke blutig gescheuert. Der erste kräftige Atemzug ließ sie laut aufschreien, jeder Muskel zog sich schmerzhaft zusammen, und die Erinnerung an Tritte in die Rippen bis zur Bewusstlosigkeit wurde ihr wieder gewahr.
Dann ein Knarren, nur verschwommen sah sie zwei Gestalten den Raum betreten. Sie kamen auf sie zu, brüllten sie an. Sie verstand kein Wort. Dann ein dosierter Schlag mit einer Eisenstange auf den Oberschenkel. Ihr Körper bäumte sich auf, die Sinne versagten, das Bewusstsein wollte wieder schwinden …
Rebecca fuhr im Bett hoch. Hatte sie gerade Schüsse gehört? War es so weit? Würde aus den Demonstrationen nun ein Bürgerkrieg werden? Sie rieb ihre Augen, reckte sich und hörte aus der Ferne Sprechchöre, Geschrei und Polizeisirenen. Ihre Wohnung in der Saltwell Street lag nur einige Hundert Meter von Londons Finanzzentrum Canary Wharf entfernt. Seit Wochen kam es nach einem verheerenden Hackerangriff auf die Weltbörsen und dem daraus resultierenden drohenden Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu immer stärkeren Protesten breiter Bevölkerungsschichten. Das Epizentrum der Unruhen waren jene Orte, an denen sich schon beim letzten Crash 2008 die ausgemachten Schuldigen befunden hatten: Banker, Zocker, Großkonzerne, Hedgefonds und Politiker.
Rebecca stand auf, streckte ihren Kopf nach hinten und atmete einmal laut aus. Auf dem Weg zur Küche vernahm sie ein grollendes Geräusch, das sich zu einem fast ohrenbetäubenden Lärm steigerte. Das Gemisch aus Motorenbrummen und Sirenengeheul vor ihrer Wohnung ließ sie im Flur erstarren, die Blaulichter drangen durch das kleine Fenster der Eingangstür und reflektierten sich im Flurspiegel. Der Boden unter ihren Füßen zitterte, im Schrank klapperte das Geschirr, und das Wasser in dem Aquarium ihrer beiden Goldfische schlug kreisrunde Wellen. Rebecca ging an die Tür, öffnete sie nur einen Spalt weit und sah einen Armeewagen nach dem anderen vorbeifahren. Sie erhaschte einen Blick auf die besorgten Mienen schwer bewaffneter Soldaten. Schnell schloss sie die Tür, rannte in ihr Schlafzimmer, zog sich Strümpfe, eine graue Stoffhose und einen weiten, bunt gemusterten Wollpullover über, fuhr sich einmal durch die dunkle Lockenmähne, ging zu ihrem Schreibtisch und klickte ihren Rechner aus dem Schlafmodus.
Die Schlagzeilen konnten sie nur kurz beruhigen. Das Innenministerium brachte die Armee in London nur wegen der Überlastung der Polizei zum Einsatz, um das Finanzzentrum vor weiteren Attacken der aufgebrachten Menge zu schützen. Was jetzt wirklich geschehen würde, wie es weitergehen würde, war für Rebecca ein seit Wochen im Geiste durchgespieltes Szenario, denn als Inspector des Serious Fraud Office, einer Sonderabteilung für schwere Wirtschaftsverbrechen bei Scotland Yard, war sie an den Ermittlungen gegen die Attentäter auf die Börsen direkt beteiligt gewesen.
Die bedrohliche Kulisse dieses Morgens im Nacken, musste sie mit den Händen am Türrahmen gestützt mehrmals tief durchatmen. In das Gefühl von Angst mischten sich Schuldgefühle, denn sie war an den Tätern so nah dran gewesen, dass sie den Anschlag zumindest für den Moment vielleicht hätte aufhalten können – und genau das war das Problem gewesen. In einem Augenblick ihrer Karriere, nur einmal, war sie nicht mehr nur die Polizistin, sondern auch der Mensch Rebecca Winter, mit eigenen Überzeugungen, gewesen. Nur ein Moment des Zögerns – und der Lohn dafür waren Nachforschungen des britischen Geheimdienstes, der dem Verdacht nachging, dass Rebecca nicht entschieden genug gehandelt hatte. Und nur ihr Vorgesetzter, Superintendent Robert Allington, wusste, dass es noch weitaus schlimmer gewesen war.
Offiziell war sie beurlaubt. In Wirklichkeit war sie seit über acht Wochen vorübergehend vom Dienst suspendiert und hatte sich die meiste Zeit in ihrer Wohnung vergraben, hatte nur gelegentlich in die Times geschaut, die mit »Sind wir am Ende?« titelte, oder Berichte im Fernsehen gesehen, von Verletzten und sogar ersten Toten aus den Unruheherden Europas und dem Rest der Welt, von Hamsterkäufen, von Beschwichtigungen der Politik und den Zentralbanken oder von sich bestätigt fühlenden Mahnern, die diesem System schon lange sein Ende vorausgesagt hatten. Andere prophezeiten, dass alles, was nun geschehe, ein reinigender Prozess wäre, an dessen Ende ein Neuanfang möglich sei.
Gerade als sich die Kolonne der Armee entfernt hatte und sie in der Küche den Wasserkocher anschaltete, klingelte ihr Handy. Sie ging zum Schreibtisch und schaute auf das Display. Es war Allington. Würde sie jetzt ihre Kündigung oder gar eine Anklage erwarten? Sie atmete einmal tief durch und hob ab.
»Guten Morgen! Pack deine Sachen und komm ins Büro. Eben gerade wurde der chinesische Handelsattaché Ta Liang vor der US-Botschaft tot aufgefunden. Du kommst in die Zentrale, suchst mir die Akten raus und wartest, bis ich dich rufe, verstanden?«
»Soll das bedeuten, dass ich wieder im Dienst bin?«
»Tu, was ich sage. Bis später, es ist dringend!«, sagte Allington in einem herrischen Ton.
»Aber …«
»Ich kann es vor dem Team nicht mehr plausibel erklären, dass sich meine beste Ermittlerin seit Wochen im Urlaub befindet, während alle anderen über die Schmerzgrenze hinaus Überstunden schieben. Also los!«, wütete Allington – und legte auf.
Für einen Moment stand Rebecca regungslos vor ihrem Schreibtisch und schaute durchs Fenster über ihren kleinen Garten hinweg in die graue Wolkendecke. Diese befehlsartige Tonlage kannte sie von Allington bisher nicht. Ein paar Schneeflocken tupften gegen die Scheiben und schmolzen binnen Sekunden. Sie nahm ihre Schlüssel vom Schreibtisch und ging ohne die gewohnte morgendliche Tasse Tee zu ihrem schwarzen Mini und fuhr los.
Auf dem Weg ins Hauptquartier von Scotland Yard war der Verkehr weitestgehend ruhig. Die Unruhen hatten sich nach einer Absperrung rund um das Regierungsviertel in den Finanzdistrikt und die Innenstadt verlagert.
In den Fluren ihrer Abteilung herrschte noch kaum Betrieb. Auf Rebeccas Schreibtisch hatte jemand einen Aktenberg abgeladen. Sie hängte ihren Mantel über einen Kleiderständer neben der Tür, setzte sich an den Schreibtisch und hielt kurz inne, noch immer ungläubig, plötzlich wieder im Dienst zu sein. Oder war dies nur ein kurzes Intermezzo, bevor sie schließlich doch noch rausgeworfen oder vor die Anklagebank gestellt würde?
Rebecca versuchte diese Gedanken abzuschütteln und startete ihren Rechner. An den Fall Ta Liang konnte sie sich kaum erinnern. Sie war an der Sache nur peripher beteiligt gewesen. Ein Kollege, der inzwischen die Stelle gewechselt hatte, hatte die Ermittlungen im letzten Jahr bis kurz vor dem Börsencrash geleitet. Sie fand eine knappe, unpersönliche Mail von Allington vor, in der er ihr auftrug, nach Hinweisen dafür zu suchen, dass der Attaché den Börsencrash für seine Zwecke missbraucht haben könnte. Das erschien ihr wenig plausibel. Soweit es ihr noch geläufig war, war es damals nicht gelungen, dem Diplomaten überhaupt irgendwelche illegalen Geldtransfers von China über den Umweg von Londoner Banken in weltweite Steueroasen nachzuweisen. Wenn der Attaché in Geldwäsche verwickelt gewesen war, dann deutlich vor dem Crash. Was der Attaché sonst noch für eine Rolle gespielt hatte, konnte sie einfach nicht mehr erinnern.
Sie suchte in den mit Namensschildern markierten Akten und zog die Mappe von Ta Liang heraus. Sie hatte ein ungutes Gefühl, gleich vorbei an den neugierigen Blicken von Kollegen in Allingtons Büro zitiert zu werden. Sie war es nicht gewohnt, in der Defensive zu sein. Ihr Ruf als hartnäckige Ermittlerin, die sich kaum eine Pause gönnte, die man meist nur mit wehenden weiten Klamotten durch die Flure huschen sah, die kaum persönliche Kontakte in der Abteilung pflegte, der man hinter dem Rücken nachsagte, sie sei zwar gewissenhaft, dabei aber pedantisch und unnahbar, reichte ihr schon. Aber die zusätzlich ungewollte Aufmerksamkeit, die ihre Person seit dem letzten Fall genoss, lag in der Natur der Sache. Schließlich war die ganze Abteilung des Serious Fraud Office über Wochen mit den Ermittlungen gegen diesen undurchsichtigen Zirkel von Wirtschaftsterroristen in vollem Einsatz gewesen. Hinzu kam, dass das MI6, der britische Geheimdienst, vorübergehend Rebeccas Büro besetzt und durchsucht hatte. Über die Gründe wurde ein Mantel des Schweigens gelegt. Dass Allington dabei wilde Spekulationen abwehren musste, dass Rebecca sich bei dem letzten Fall etwas zuschulden hatte kommen lassen, lag auf der Hand. Für eine Polizistin wie sie, die in den vergangenen Jahren bereits einige große Fische der internationalen Finanzwelt hinter Gitter gebracht hatte, war die Zwangspause eine empfindliche Strafe gewesen. Das alleine nagte schon an ihren Nerven.
Obwohl Allington ihr eingetrichtert hatte, in ihrem Büro zu warten, hielt sie es einfach nicht mehr aus. Sie klemmte sich die Mappe unter ihren Arm, stand auf und lief, ohne Notiz von anderen Kollegen zu nehmen, durch den Flur.
Allingtons Tür stand offen.
Sie atmete einmal tief durch, spähte hinein, doch der Raum war verlassen. Mit gesenktem Kopf drehte sie sich wieder um.
»Verschwinde in dein Büro und hab verdammt noch mal Geduld!«
Die leise, aber dennoch überdeutlich zischende Stimme Allingtons fuhr ihr von hinten ein wie ein Schlag.
»Robert, wir haben nun schon seit Wochen nicht mehr richtig miteinander gesprochen.«
»Ziehst du aus deinem Verhalten eigentlich irgendeine Lehre?«, fragte Allington, nun deutlich leiser, und schaute sich um.
»Es gab keine Gelegenheit, mit dir darüber zu reden.«
»Du kannst die Frage doch gar nicht beantworten. Du hast alle angelogen, nicht nur mich, sondern auch das MI6, und sogar in einem offiziellen Bericht hast du nicht die Wahrheit gesagt. Was glaubst du eigentlich, warum ich dich wie die Pest meide!«
Rebecca verschlug es angesichts der Wut, die ihr entgegenschlug, die Sprache. Allington bedeutete Rebecca, in sein Büro zu gehen, folgte ihr und schmiss die Tür mit einem solchen Knall hinter sich zu, dass Rebecca zusammenzuckte.
»Im ersten Augenblick hatte ich noch nicht begriffen, wie weit deine Konspiration gegangen war. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du dich auf die Seite von Leuten stellen würdest, die glaubten, Gott spielen zu können.«
Rebecca hatte Allington noch nie so erlebt, er war außer sich. Dabei war das Geschehen doch schon einige Wochen her. Sie setzte sich auf die Ledercouch vor Allingtons Schreibtisch und legte die Hände auf ihre Beine.
»Von Konspiration kann wohl kaum die Rede sein. Was hab ich denn schon wirklich falsch gemacht? Ich war in dem entscheidenden Moment völlig allein mit der ganzen Situation und musste eine Entscheidung treffen.«
Rebecca sah, wie Allington den Kopf schüttelte und sich in den schwarzen Sessel vor seinen Rechner setzte. Er schwieg einen Moment, blickte an die Decke und bewegte seinen Kopf weiter hin und her. Sein neues Büro, in dem er seit seiner jüngsten Beförderung residierte, hatte bisher kaum eine persönliche Note, ganz im Gegenteil zu seinem alten Refugium, in dem es nur so von Erinnerungsstücken in Form von Fotos und Auszeichnungen gewimmelt hatte.
»Man maßt sich als Polizist nicht an, die gesamten Zusammenhänge der Weltwirtschaft zu verstehen! Das war dein Fehler! Niemand hier, auch du nicht, hat das Recht, so eigenmächtig vorzugehen!«
Rebecca sah sich zwar selbst nicht als besonders harmoniesüchtig oder konfliktscheu, aber diese Ansage schlug ihr unerwartet in den Magen. Allingtons Verhalten mochte ja professionelle Motive haben, wie die nötige Distanz zu wahren, um in dieser Causa nicht selbst ins Visier zu geraten oder den Anschein zu erwecken, Rebecca über Gebühr zu schützen. Es war üblich, die Kommunikation zu Beamten einzustellen, solange gegen sie intern ermittelt wurde. Trotzdem musste er doch verstehen, dass die wochenlange Ungewissheit darüber, wie es für sie weitergehen würde, nur schwer zu ertragen war. Schließlich ging es um nichts weniger als den Vorwurf, Beweismittel zurückgehalten zu haben, die vielleicht einen der größten Zusammenbrüche der internationalen Börsen hätten verhindern können, einen Crash, der die Welt seit Wochen mit ungewissem Ausgang in Atem hielt.
Ihre einzige, aber durchaus realistische Chance, ohne Anklage und Kündigung aus der Sache herauszukommen, bestand in der allgemeinen Erkenntnis, dass dieser Erdrutsch im Finanzsektor ohnehin nicht mehr hätte verhindert werden können. Und genau das wusste Allington. Seit Jahren resultierte aus ihren gemeinsamen Ermittlungen die Erkenntnis, dass der Finanzmarkt gravierende Ungerechtigkeiten produzierte. Der Mangel an echten Reformen ließ selbst das Urgestein der Abteilung, Robert Allington, zeitweise an seinem Job zweifeln. Also was zum Teufel sollte diese Dramatisierung? Wenn er von seiner Wutrede wirklich überzeugt wäre, hätte er sie doch nicht zurück in den Dienst geholt.
Was immer man ihr vorwerfen mochte, eines hatten auch ihre Recherchen ergeben: Der Knall wäre nicht mehr aufzuhalten gewesen, sie war in dem Spiel ein viel zu unbedeutendes Rädchen gewesen. Denn unabhängig von dem Anschlag auf die Börsen waren zuvor alle Warnungen hinsichtlich der realen Wirtschaftslage ignoriert worden. Dass der Anschlag überhaupt funktionieren konnte, war einem Gemisch aus vielen Faktoren zu verdanken gewesen. Da waren die Schwachstellen der digitalen Weltbörsen, die Hacker nahezu einluden anzugreifen. Da waren die von Menschen programmierte Gier der Algorithmen im Hochfrequenzhandel und ihre Manipulierbarkeit. Und nicht zuletzt die unregulierten Banken und Konzerne sowie die globale Staatsverschuldung, die nach dem Prinzip Hoffnung verdrängt wurde. In Summe ein System, das irgendwann einfach explodieren musste. Dass die Täter vorgaben, ein auch in den Augen Rebeccas zutiefst ungerechtes System stürzen zu wollen, hatte sie in der Tat kurzfristig ihre Pflichten vergessen lassen. Doch Allington, bisher stets an ihrer Seite, nicht selten in eine fast väterliche Rolle verfallen, um seine beste Ermittlerin, wie er immer betonte, vor Schaden zu bewahren, wechselte seit ihrer Auszeit kein Wort mehr mit ihr und schon gar keines zur Sache.
Doch der Fall Ta Liang schien gerade alles zu verändern. Wie kam ihr Vorgesetzter auf den Verdacht, dass der Diplomat etwas mit dem Crash zu tun hatte? Wie sie Allington kannte, würde eine Antwort nicht mehr lange auf sich warten lassen.
»Wieso konntest du mir nicht wenigstens privat eine Nachricht zukommen lassen, wie es um die Ermittlungen gegen mich steht?«
»Bei einer internen Ermittlung? Du hast echt Nerven.«
Bevor Rebecca antworten konnte, öffnete sich die Tür, und ein Assistent winkte Allington heraus. Dieser erhob sich, atmete tief aus und ging schnurstracks auf Rebecca zu.
»Die Akte bitte!«
»War es das? Bin ich nur deswegen gekommen?«, sagte Rebecca und bemerkte selbst, wie leise und brüchig ihre Stimme klang.
Von der Seite beobachtete sie Allingtons verkniffene Mundwinkel, im nächsten Augenblick ein Kopfschütteln, dem dann aber ein kleines Lächeln folgte. Er zog ein Foto aus der Mappe, drehte sich um, verlor den kurzen Anflug guter Laune auch schon wieder, ging zur Tür und winkte in den Flur. Rebecca schaute ihm hinterher. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seine graue Anzughose zerknittert war und die sonst stets akkurat gebundene Krawatte fehlte. Auch schien sein Gang schwerfälliger als sonst.
»Das ist er doch, oder?«, fragte Allington jemanden, den Rebecca von ihrem Platz nicht sehen konnte.
Was wird das denn? Rebecca erhob sich von der Couch, zog ihren bunt gemusterten Wollpullover über der weiten Stoffhose zurecht, ging zur Tür, riss die Augen auf und sah herab in das Gesicht eines stämmigen Mannes asiatischer Herkunft.
»Ja!«
»Gut, teilen Sie der Botschaft mit, dass wir in Zusammenarbeit mit der Mordkommission und Interpol alles daransetzen werden, den Fall zu klären. Also, ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, sagte Allington dem Asiaten.
Der Mann nickte ihm zu.
»Was man davon in Peking hält, kann ich nicht beeinflussen«, antwortete der Mann, deutete eine Verbeugung an und ließ sich von einem Assistenten zum Lift begleiten.
Zusammen mit Allington blickte sie dem Asiaten nach. Dann schielte sie herunter zu ihrem Vorgesetzten, der einen halben Kopf kleiner als sie war – ein Umstand, der Allington in der Regel vermeiden ließ, sich direkt neben sie zu stellen. Doch heute schien er daran keinen Gedanken zu verschwenden. Als sie so nah bei ihm stand, sah sie, dass seine Augen rot unterlaufen waren, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Seine ergrauten Haare waren leicht fettig. Roch sie gerade etwa auch noch Alkohol? Er sah fürchterlich aus, als hätte er Tage nicht geschlafen.
»Was ist hier los? Was für voreilige Schlüsse? Worauf?«
»Bevor man dem Attaché eine Kugel in den Hinterkopf gejagt hat, muss man ihn seinen Verletzungen zufolge längere Zeit gefoltert haben. In Peking geht man davon aus, dass der Zeitpunkt seines Todes kein Zufall ist. Auf jeden Fall sorgt das gerade für diplomatische Verstimmungen zwischen Washington und Peking, und das ist noch milde ausgedrückt.«
»Puh, und wer war der Mann da eben?«
»Der Asiate? Das war der chinesische Konsul, und er würde gerne wissen, warum der Attaché ausgerechnet vor der US-Botschaft gefunden wurde.«
»Die glauben doch nicht wirklich, dass das die Amis waren, oder?«
Allington schüttelte den Kopf, ansonsten deutete seine Miene für Rebecca nicht darauf hin, als würde er ein Interesse daran haben, dass sie sich über die Aktenrecherche hinaus weiter für die Sache engagierte, obwohl sie als Zuständige für Interpol-Ermittlungen geradezu für solche Fälle prädestiniert war. Mit einem Schnauben ließ sie sich wieder in die Ledercouch fallen, nahm einen Bleistift und drehte ihn in ihren Händen. Den Blick nach unten gerichtet, sah sie auf ihre graue Stoffhose und ihre braunen Stiefel.
»Wir wissen noch gar nichts Genaues, Rebecca, aber es eilt«, sagte Allington, blieb vor dem Spiegel neben der Garderobe stehen, fuhr sich einmal mit der Hand übers Gesicht, ordnete seine Haare und drehte sich wieder zu Rebecca. »Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Warum, erkläre ich dir später. Du hast 24 Stunden Zeit, um dich mit dem Fall vertraut zu machen. Was mir zusätzlich Kopfschmerzen bereitet, ist, dass die letzten Transaktionen des Attachés nur wenige Wochen vor dem Crash abgewickelt wurden.«
Rebecca richtete sich von der Couch auf. In der Sekunde spürte sie das Adrenalin in ihren Adern, den Blutdruck pulsieren.
»Das heißt, ich bin wirklich wieder voll im Dienst?«
»Wozu hätte ich mir sonst den Arsch für dich aufgerissen.«
»Robert, ich muss mit dir reden.«
Allington vergrub kurz die Hände in seinem Gesicht und ging zum Fenster.
»Kurz, und nur weil ich verstehe, dass du auf glühenden Kohlen sitzt, denn wie du schon mitbekommen hast, habe ich wahnsinnig viel um die Ohren. Du bist mit deinen gerade mal 29 Jahren zwar die Jüngste in der Abteilung, aber was du geleistet hast in den letzten drei Jahren, ist wirklich beachtlich, und das weiß ich auch zu würdigen. Doch du bist einfach zu verbissen. Ich muss mich wieder auf dich verlassen können.« Er sah sie eindringlich an. »So ein Egotrip wie zuletzt darf dir nie wieder passieren, sonst kann ich dir das hier nicht anvertrauen«, schloss Allington in einem etwas milderen Ton.
Wahnsinn, sie wartete seit Wochen auf diese alles entscheidenden Worte – und Allington sagte sie nun wie nebenbei. Mit Mühe gelang es Rebecca, die Fassung zu behalten.
»Du hast keine Ahnung, wie ich mich in den letzten Wochen gefühlt habe!«
Allington sah sie an, abwägend, in welche Worte er das Folgende verpacken sollte.
»Der Fall ist abgeschlossen, Rebecca«, sagte er schließlich mit müder Stimme. »Ich hoffe einfach nur, dass dein verdammter Idealismus einen nachhaltigen Dämpfer abbekommen hat.«
»Na, danke. Wie auch immer. Ich bin aber kein Spezialist für China.«
»Du weißt, wie eng wir besetzt sind. Darien Jackson hat bis zu seinem Weggang die Ermittlung im Fall Ta Liang geleitet, und jetzt übernimmst du das! Du bekommst dafür spätestens morgen Verstärkung von Interpol China.«
»Okay!«
»Sehr schön. Ich habe eben auch schon einen Anruf aus dem Außenministerium bekommen. Der Fall hat absolute Priorität. Ich muss wissen, in was der Mann wirklich verwickelt war, und vor allem, mit wem er Geschäfte gemacht hat. Vielleicht wusste der Attaché von dem drohenden Crash und hat versucht, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen«, sagte Allington und reichte Rebecca wieder die Mappe. »Wir haben keine Zeit zu verlieren, also stürz dich auf die Akten, fahr zur US-Botschaft und hol dir, was du brauchst. Wir sehen uns zur Lagebesprechung!« Er schmiss ihr eine weitere Mappe auf den Tisch.
»Wie, einfach so, als wäre nichts gewesen?«
»Wir stehen unter Druck, also los! Alles Weitere an Dokumenten findest du in meiner Mail. Ich will, dass du jede Minutenutzt und dich in den Fall einarbeitest. Der Attaché war schon vor unseren Ermittlungen auf der Fahndungsliste von Interpol, da er im Rahmen der Antikorruptionskampagne der chinesischen Führung zwischen die Mühlen geraten war. Er hat vermutlich Hunderte von Millionen Dollar gewaschen – aber für wen und wo? Panama? Jungferninseln oder auf den Seychellen? Wir haben die Ermittlungen letztes Jahr zu früh eingestellt, da wir nicht nachweisen konnten, welches Geld über welche Konten geflossen war. Jesus! Ich weiß es gerade selbst nicht mehr genau. Ich habe mich damals auch nur am Rande mit dem Fall beschäftigt, aber es gab auch den Verdacht, dass der Mann hochrangige Chinesen hätte belasten können, und du weißt, dass Interpol auch gerne missbraucht wird, um sich unliebsamer Dissidenten zu entledigen. Mein Instinkt sagt mir, dass er in mehr als das verwickelt war. Schau dir auch die politische Lage an. Knie dich rein, und dann sehen wir weiter.«
»Aber …«
»Rebecca. Ich habe die Sorge, dass dieser Fall durch den Crash noch eskaliert. Es brodelt schon länger zwischen Peking und Washington, aber jetzt ist da mehr im Busch.«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil ich ohne Angabe von Gründen Druck aus der Downing Street bekomme. Bis heute Morgen war der Mann für Interpol längst abgehakt. Was befürchtet man da plötzlich? Schau dir ganz genau die aktuellen Lagebeurteilungen zwischen China und den Staaten an. Versuch herauszubekommen, in was der Attaché sonst noch verwickelt war. Für wen war er eine Bedrohung?«
Für Neal Brown bahnte sich in der Hauptzentrale des Geheimdienstes in Langley ein unerwarteter Auslandseinsatz an, denn Chinaexperten waren bei der CIA absolute Mangelware. Brown kannte Peking aus unzähligen Reisen, hatte dort einen Teil seines Studiums verbracht, beherrschte neben dem Hochchinesischen, dem Mandarin, auch noch Kantonesisch, den bekanntesten Dialekt, der vor allem in Hongkong, Macau und Guangdong verbreitet war. Brown wusste nach dem nächtlichen Anruf nur, dass vor einem für die US-Wirtschaft extrem wichtigen Wirtschaftsgipfel in Peking, der bislang geheim gehalten wurde, ein internationaler Zwischenfall vermieden werden musste. Für mehr als einen Kaffee aus der Kantine war keine Zeit geblieben. Noch nie hatte man ihn mitten in der Nacht ins Hauptquartier beordert. Er rückte im Fahrstuhl seine blaue Krawatte, passend zum dunkelblauen Anzug, zurecht, strich sich mit der rechten Hand durch seine kurzen dunklen Haare und über seinen Dreitagebart. Seine dunklen Augen waren leicht geschwollen. Er hustete einmal kräftig, spürte dabei einen leichten Muskelkater vom abendlichen Krafttraining und stieg aus dem Lift. In den Gängen seiner Abteilung eilten Mitarbeiter teils wild mit Unterlagen in den Händen gestikulierend umher, riefen sich Dinge zu, die Brown, noch schlaftrunken, kaum einordnen konnte. Eine Sekretärin lief ihm fast in die Arme. Mit seiner Größe von fast zwei Metern und breiten trainierten Schultern baute er sich kurz mit einem Grinsen vor der Dame auf, um ihr dann den Weg wieder freizugeben.
»Ziemlich spät dran«, kommentierte sie, während Brown schon zackig die Tür seines Abteilungsleiters ins Visier nahm. Er blickte durch die Flurfenster in die stockdunkle Nacht. Am Horizont war gerade mal der Mond zu sehen.
Kurz bevor er eintreten wollte, konnte er bereits Ron Spencers knarzende Stimme hören, zwei Mitarbeiter öffneten die Tür und traten mit hochgekrempelten Ärmeln und verkniffenen Mienen in den Flur. Eine dunkelhaarige junge Frau in einem schwarzen Kostüm wies ihm den längst bekannten Weg in Spencers Büro. Für einen kurzen Moment konnte er sich nur schwer von den dunklen und reizvollen Augen trennen, ging dann aber schnurstracks an ihr vorbei, die Tür schloss sich.
Ron Spencer bemerkte ihn nicht sofort. Mit bald 65 Jahren zählte er zu den alten Hasen. Er trug wie gewöhnlich einen dunkelgrauen Maßanzug mit einer Regimentskrawatte. Mit seiner silbernen Mähne, seinem kantigen Gesicht, leuchtenden blauen Augen, einer breiten Nase, dicken Wangenfalten und einer etwas rötlichen Haut wirkte er eher wie ein vom Wetter gegerbter Fischer als der Leiter einer CIA-Abteilung. In Wirklichkeit hatte Spencer den größten Teil seiner Laufbahn bis auf die zeitlich begrenzten Außeneinsätze in der Zentrale der CIA verbracht. In der Regel mit breiter Brust am Schreibtisch sitzend, hinter ihm die amerikanische Flagge und ein Bild des aktuellen US-Präsidenten, verteilte er in rauem Ton die Aufgaben an seine Mitarbeiter.
Doch an diesem Morgen sah Neal Brown seinen Boss auf dem Ledersofa neben dem Eingang mit krummem Rücken über einen Laptop gebeugt. Mit der einen Hand wirbelte er seine Lesebrille hin und her, und mit der anderen presste er sich sein Handy ans Ohr. Papiere waren über den sonst stets aufgeräumten Tisch verteilt, und Spencers schweißnasse Haare deuteten an, dass ihn etwas aus der Ruhe gebracht hatte. Als er Brown sah, schmiss er das Handy auf den Tisch und bat ihn mit einer laschen Handbewegung zu sich.
»Ron, ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich der Agent.
»Es gibt Scheißtage und gute Tage, wen kümmert es. Setz dich. Du fliegst morgen Mittag nach London. Hier sind die ersten Unterlagen. Es geht um einen korrupten chinesischen Diplomaten, der zuletzt als Handelsattaché in London stationiert war. Die Leiche wurde vor unserer Botschaft abgeladen, um uns … ach, ich weiß es auch nicht, es ist völlig absurd! Und jetzt versuchen zahlreiche Funktionäre in Peking das auszunutzen, da sie den Wirtschaftsgipfel in 14 Tagen mit aller Gewalt torpedieren wollen. Und das Außenministerium will wissen, warum wir das nicht auf dem Schirm hatten. Du musst …«
»Hatten wir etwas nicht auf dem Schirm?«
»Ach«, knurrte Spencer mit seiner ungewöhnlich sonoren Stimme. Er atmete tief aus und erhob sich. Während er eine Gießkanne von der dunklen Kommode in der Ecke des Zimmers nahm und seine im Raum verteilten Pflanzen zu gießen begann, erklärte er, dass ihm Staatssekretär Bob Rodon mit einer Untersuchung des Kongresses gedroht habe, da unter anderem die Aufnahmen der Videoüberwachung in London verschwunden wären. Wer oder was auch immer dahintersteckte, müsse ermittelt werden. Auf keinen Fall dürften die Vereinigten Staaten mit dem Mord auch nur im Ansatz in Verbindung gebracht werden. Da der Attaché lange Zeit ein vehementer Gegner der USA gewesen sei, sich aber schrittweise gewandelt habe, könnte der Verdacht entstehen, er hätte spioniert oder die USA auf irgendeine Weise unterstützt, was man als Verrat chinesischer Interessen ansehen würde, und das würde die Verhandlungen quasi zunichtemachen. Weitaus bedrohlicher sei aber, dass sich das alles in einem Machtkampf zwischen der aktuellen Führung Chinas und dem Klüngel um Chinas Ex-Diktator Jiang Zemin bewegte. Einige seiner Analysten könnten sogar einen Putsch des Militärs nicht ausschließen. Im Verteidigungsministerium würde bereits rund um die Uhr gearbeitet, um mögliche Szenarien einer Eskalation durchzuspielen, und erste Kriegsschiffe wären auf dem Weg ins Südchinesische Meer.
»Ich habe Bob Rodon versichert, dass wir binnen einer Woche Beweise dafür liefern, dass wir mit diesem Mord nichts, aber auch rein gar nichts zu tun haben. Dieser verdammte Idiot stolziert wie ein aufgescheuchter Pudel herum, nur weil unser Botschafter einbestellt wurde. Inoffiziell! Du überwachst die Ermittlungen von Scotland Yard. Wir müssen wissen, was sie herausbekommen, und notfalls intervenieren. Thomas Parker ist bereits mit einem Team auf dem Weg nach London. Das MI6 stellt euch eine eigene Abteilung mit separater Überwachungseinheit zur Verfügung. Es wird gerade alles vorbereitet.«
»Warum soll ich die Ermittlungen von Scotland Yard überwachen lassen?«
»Neal!«
Es war ein üblicher Vorgang bei solchen Einsätzen, nicht oder nicht gleich in alles eingeweiht zu sein, aber Spencers offensichtliche Nervosität machte die Frage für Brown unausweichlich, schließlich war China kein ungefährliches Pflaster für CIA-Agenten. Achselzuckend lehnte er sich an Spencers Schreibtisch.
»Schon in Ordnung, ich sollte aber vorbereitet sein, falls irgendwas Unvorhergesehenes passiert … Was wissen wir eigentlich über den Mann?«
Spencer kickte mit der geleerten Gießkanne ein Papierknäuel von der Tischplatte, stellte sie ab und setzte sich mit einem Stöhnen. Kurz blickte er auf seinen Bildschirm.
»Vielleicht zu viel. Hier sind die aktuellen Lageeinschätzungen. Mach dich auf den Weg. Sollte Interpol seine Ermittlungen nach Peking ausweiten, ist auch dort alles vorbereitet, ich wiege so lange das Außenministerium in Sicherheit.«
Brown konnte sich erinnern, dass sein Boss ihm in den Jahren seiner Ausbildung einmal sehr deutlich gesagt hatte, dass es Momente geben würde, wo seine sonst joviale Art umschlüge, wo es nur noch um die Sache gehen würde. Bei einem operativen Einsatz müsste Neal das tun, wofür er ausgebildet wurde. Für nichts anderes wäre dann mehr Platz, insbesondere nicht für Fragen zum falschen Zeitpunkt. Dieser Moment war offenbar gekommen, dachte Brown. Was immer da auf ihn zukommen würde, es musste was Größeres sein, und die ersten Analysen, die er auf dem Weg in die Zentrale bekommen hatte, schilderten vor allem das angespannte Verhältnis zwischen Peking und Washington, das in den vergangenen Jahren schon eine gefährliche militärische Rhetorik angenommen hatte. Trotz aller wechselseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten beider Mächte wuchs der Druck aufgrund der Weltwirtschaftslage seit 2008 und nun verschärft durch den letzten Börsencrash gefährlich.
Obwohl er sich durch die Jahre des Trainings bei der CIA grundsätzlich sicher fühlte, zudem ausreichend Einsätze in Asien gehabt hatte, gab es andere Agenten mit weitaus mehr Erfahrung in verdeckten Aktionen. Hinzu kam, dass Neal Brown in den letzten Wochen wiederholt ein schmerzhaftes Stechen im Magen gespürt hatte. Der Arzt hatte zwei Magengeschwüre diagnostiziert, deren Behandlung und Heilung sich als äußerst zäh erwiesen. Er fingerte aus seinem Sakko eine Tablettenpackung. Neben der Eingangstür zu Spencers Büro stand auf einer Anrichte eine Karaffe Wasser mit einigen Gläsern. Brown bediente sich und schluckte das Medikament.
»Alles in Ordnung, Neal?«
»Ja, ist nur so ein scheiß Sodbrennen.«
»Wäre ein schlechter Zeitpunkt …«
»Es ist nichts, Ron«, beschwichtigte Brown, wissend, dass er eigentlich verpflichtet gewesen wäre, seine Krankheit zu melden. Nach kurzem Zögern setzte er hinzu: »Warum ich, Ron?«
»Weil du aus einer aufrechten Republikanerfamilie kommst.«
Sehr witzig, dachte Brown. Er blieb abwartend stehen und verschränkte die Arme. Er sah, wie Spencer sich aufrichtete.
»Neal, was soll das? Du bist einer unserer besten Sinologen, warst lange Jahre in Peking, bist kaltschnäuzig, lügst perfekt, stehst auf Geld, Frauen und Karriere, hast die seltene Fähigkeit, dich um keinen Preis aus der Ruhe bringen zu lassen. Du hast mehrfach bewiesen, dass du deine Loyalität nicht vor irgendwelche persönlichen, womöglich noch moralischen Erwägungen stellst. Mit anderen Worten: Du bist genau der, den wir hier brauchen. Leute, die ihren Job machen, dafür gut bezahlt werden, reichlich Privilegien genießen und schlau genug sind, diese Vorteile nicht durch Eigenmächtigkeit zu riskieren. Ich hoffe, das war ausführlich genug. Du leitest die Operation!«
Brown wusste für den Moment nicht, ob er diese Blitzanalyse schmeichelhaft finden sollte. Allerdings konnte er nichts entdecken, was an ihr falsch war. Bei den unendlichen Einstellungstests der CIA war es ein Standardverfahren, diese Persönlichkeitsmerkmale zu erkennen, aber die Wortwahl, die fast emotionslose und ungewöhnlich direkte Art Spencers hatte er bisher nicht gekannt. Doch an einem Punkt irrte Spencer sich gewaltig, und wie er es Nathalie beibringen sollte, dass er ohne Angabe von Gründen vielleicht für Wochen verschwinden müsste, schlug ihm mindestens genauso in die Magengrube wie der erste Kuss, den er ihr vor Wochen gegeben hatte. Noch in Gedanken stand er wortlos da.
»Neal. Raus jetzt. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Du bekommst später mehr Informationen. Ich muss die ganze Operation noch planen. Melde dich, wenn du in London …«
Brown wandte sich der Tür zu, drückte die Klinke herunter. Doch als er ein Stocken in Spencers Stimme vernahm, blickte er zurück und sah den schlagartigen Wandel in dessen Gesichtsausdruck, während er wieder auf seinen Bildschirm starrte. Eine Sekunde später versuchte er sich wieder zu fassen.
»Warte, Neal … Das hatte ich fast vergessen. Ich gebe heute Abend eine Gartenparty. Ich denke, du solltest dazukommen.«
Für einen Moment wusste Brown nicht, was er sagen sollte.
»Wie komme ich denn zu der Ehre?«
»Um 18 Uhr, Neal, bis später.«
Brown ging hinaus und schloss leise die Tür. Für einen kurzen Augenblick blieb er im Flur stehen. Ron Spencer hatte seines Wissens noch nie eine Party gegeben, und Brown war sich nicht mal sicher, ob hinter Spencers Haus überhaupt ein Garten lag.
Rebecca sah Allington den Flur entlangjoggen, das Handy am Ohr. So hatte sie ihn noch nie erlebt, Robert Allington ein paar Jahre vor der Pension, eigentlich die Ruhe in Person, im Laufschritt. Was war los? Warum konnte er sich nicht etwas mehr Zeit nehmen, um mit ihr über die Ermittlung gegen sie zu sprechen? Über die Beweggründe ihres damaligen Handelns?
Gut, ein ermordeter Diplomat vor der amerikanischen Botschaft war allerdings wirklich keine Kleinigkeit, aber so nervös und aufgelöst hatte sie Allington noch nie erlebt. Was aber könnte der Attaché mit dem Crash zu tun gehabt haben? Wie kam Allington auf diesen Gedanken? Die Ermittlungen gegen ihn lagen doch Wochen vor dem Knall. Oder ging er vielmehr davon aus, dass der Tod des Diplomaten eine Folge der aktuellen Ereignisse war?
Sie schaute sich mit einem Seufzen in ihrem neuen, spärlich eingerichteten Büro um. Ein paar weiße Schränke, ein Schreibtisch, ein Sessel für Besucher. Nachdem die ganze Abteilung kurz vor ihrer Beurlaubung wegen einer Umstrukturierung in ein anderes Stockwerk umziehen musste, hatte bis auf den kleinen Stoffteddy über dem Bildschirm bisher nichts Persönliches Platz bekommen. Der kurze Adrenalinkick nach der Auseinandersetzung mit Allington verpuffte.
Sie setzte sich und blickte wieder auf den Bildschirm. Allington hatte ihr eine Reihe von Mails geschrieben. Eine der Nachrichten enthielt kommentarlos den Abschlussbericht zum Fall »Quantum Dawn«. Rebecca öffnete die Datei, überflog die Zeilen und stieß auf die alles entscheidende Stelle. Wie von ihr inständig erhofft, war die Untersuchung zu dem Schluss gekommen, dass der Zusammenbruch an den Börsen ohnehin nicht mehr hätte verhindert werden können. Nach einer Aufzählung der Ursachen, die Rebecca bestens bekannt waren, folgte die Entlastung: Es gab keine Hinweise auf Versäumnisse vom Scotland Yard.
Rebecca entfuhr ein lautes Stöhnen. Die Hoffnung jener Männer und Frauen, die hinter dem Anschlag auf die Börsen gestanden hatten, hatte sich, ganz anders als von Rebecca fälschlicherweise vermutet, nicht sofort erfüllt. Die krude Vorstellung des geheimen Zirkels von ehemaligen Bankern und geschassten Investoren, dass nur aus dem Chaos etwas wirklich Neues hervorgehen würde, könnte aber noch aufgehen, denn es schien, als wäre ein unumkehrbarer Punkt erreicht worden. Zu viel war über die Machenschaften und die Fragilität des internationalen Finanzsystems ans Tageslicht gekommen. Viele begriffen erst jetzt, dass nun auch der Westen an die Reihe kam – so titelten zumindest die meisten Tageszeitungen der letzten Wochen. Noch kämpften alle Institutionen mit allen Mitteln gegen den Untergang eines Systems, das ihnen bisher so viel Macht und Sicherheit verschafft hatte.
Rebeccas Handy piepste. Der Tatort wurde für Scotland Yard freigegeben. Wurde auch Zeit, dachte sie. Es war schon kurz nach elf Uhr. Offenbar hatten sich die Amerikaner sehr viel Zeit dabei gelassen, um sich mit dem Frühstück, das man ihnen vor die Haustür geworfen hatte, intensiv zu beschäftigen.
Sie nahm die Schlüssel aus ihrer Schublade, schnappte sich ihren Wollmantel vom Haken, blickte abermals aus dem Fenster, stand für einen Moment still und betrachtete ihr Gesicht im Spiegelbild des Fensters. Ab jetzt war sie wieder im Spiel. Die Angst der letzten Wochen, einen großen Fehler begangen zu haben und ihren Job zu verlieren, verflog langsam. »Du packst das schon«, sagte sie sich.
Als sie in den Flur trat, schauten sie die Kollegen an. Sie quittierte die neugierigen Blicke mit einem Lächeln und eilte zum Fahrstuhl.
In der Tiefgarage erreichte sie eine SMS von Allington. »Die Chinesen haben den amerikanischen Botschafter in Peking inoffiziell ins Politbüro bestellt. Wir brauchen schnelle Ergebnisse!«
Draußen knallte sie das Warnlicht aufs Dach und startete ihren schwarzen Mini.
Eine gute Viertelstunde später erreichte sie die US-Botschaft am Grosvenor Square. Die Region um das Gebäude war komplett gesperrt. Am Haupteingang nur wenige Meter von der Statue des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan lag unter einer grauen Decke offenbar die Leiche des Diplomaten, umringt von Beamten. Streng genommen befand sie sich damit aber außerhalb des Territoriums der US-Botschaft. War der Fundort der Leiche am Ende doch nur ein Zufall? Hinter dem schwarzen Stahlzaun standen bewaffnete Polizisten mit Schnellfeuerwaffen, Dutzende Journalisten versuchten aus der Entfernung Aufnahmen zu erhaschen, was ihnen durch gespannte Leinentücher erschwert wurde. Der Sarg war bereits geöffnet, jeden Moment würde der ehemalige Attaché abtransportiert werden. Rebecca zupfte ihren Ausweis aus ihrer Manteltasche, ging auf einen kleineren Beamten zu und ließ ihn kurz einen Blick auf das Dokument werfen.
»Guten Morgen, wer hat die Leitung?«
»Der Lange da«, sagte der Mann, bückte sich und legte eine Spurensicherungsnummer neben eine Blutspur.
»Sir! Guten Morgen. Ich wurde …«
»Ich bin über Ihr Kommen informiert worden, aber Ihr Vorgesetzter hat mir offenbar nicht zugehört. Es gibt hier nichts an Spuren, zumindest nichts, was Ihrer Abteilung dienen könnte.«
Der Mann sagte das mit einem Lächeln, das Rebeccas ersten Anflug von Wut abmilderte. Außerdem sah sie seine geröteten und leicht geschwollenen Augen, offenbar war er schon lange im Dienst, dachte Rebecca – und war dennoch etwas vor den Kopf geschlagen.
»Er hat nichts bei sich gehabt?«
»Ich würde sagen, er hat sogar noch weniger als das«, sagte der Beamte und ging zur Leiche.
»Ich hoffe, Sie haben einen stabilen Magen. So etwas sehe selbst ich nicht alle Tage.«
Bevor Rebecca sich vorbereiten konnte, zog der Beamte die Decke bereits zurück. Ihr Gesicht wurde heiß, die Knie begannen zu zittern, und sie spürte einen Würgereiz. Abgesehen von dem Einschusskanal am Hinterkopf und dem damit verbundenen Einblick ins Gehirn, war der komplett nackten Leiche fast die gesamte Haut vom Rücken entfernt worden, sodass die Sicht auf tiefer liegendes Gewebe freigegeben war – ein Anblick, den Rebecca nur vom Metzger kannte. Auch sonst war der restliche Körper von zahlreichen Blutergüssen und Stichwunden übersät.
»Mein Gott, wer zum Teufel macht so was?«
Auch wenn der Beamte den Leichnam hastig wieder zudeckte, suchte Rebecca Halt, wankte ein paar Schritte zurück und stützte sich kurz an der Reagan-Statue ab.
»Ms Winter, es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht …«
»Puuhh! Das gehört wahrlich nicht zu meinem Job. Was ist mit den Kameras vor der Botschaft? Es muss doch Aufnahmen geben?«
Der Mann schaute sie mit weit geöffneten Augen an, als würde er die Frage nicht verstehen.
»Die Aufnahmen werden wir eventuell nie zu sehen bekommen. Unsere amerikanischen Freunde fürchten wohl, dass sich das Ganze zu einem internationalen Zwischenfall entwickeln könnte. Was wir aber definitiv sagen können, ist, dass der Mann hier nur abgeladen wurde. Die Schusswunde ist älter als 48 Stunden.«
»Internationaler Zwischenfall?«
»Na ja, sagen wir mal so, den wollen vermutlich alle im Moment vermeiden. Mir ist schon klar, dass unsere Freunde wohl kaum für seinen Tod verantwortlich sind, aber irgendwer wollte hier ein deutliches Zeichen setzen.«
»Eine völlig entstellte Leiche. Was für ein Zeichen soll das sein – und warum hier?«
»Nun, das wollte ich eigentlich Sie fragen, aber wenn Sie meine Meinung wissen wollen: Der Attaché könnte mit den Amerikanern zusammengearbeitet haben, Spionage, was weiß ich. Bis die Forensik dran war, kann ich im Moment auch nur raten. Hier, nehmen Sie das«, sagte der Mann und reichte ihr einen Datenstick.
»Was ist das?«
»Fotos vom Tatort und der Leiche.«
»In Ordnung. Danke!«
Rebecca stand da und fand für den Moment keine Worte. Die Spionagethese war nicht von vornherein abwegig. Bei allen Klischees und Vorurteilen hinsichtlich der Haftbedingungen und der Grausamkeit, von der die Menschenrechtsorganisationen aus chinesischen Gefängnissen berichteten, war die politische Führung in Peking stets um Diskretion bemüht, verbot sich seit Jahrzehnten jedwede Einmischung des Westens in ihre Angelegenheiten. Rebecca konnte sich aber beim besten Willen nicht an einen einzigen Fall erinnern, der die chinesische Führung mit solch einer brutalen Hinrichtung im Ausland in Verbindung gebracht hätte. Das hier sah eher aus wie ein bestialischer Ritualmord.
Während die Leiche in den Sarg gehievt wurde, versuchte Rebecca anhand der spärlichen Informationen erste Zusammenhänge zu verstehen. Ein gesuchter Handelsattaché, den in China die Todesstrafe erwartet hätte, wird in London vor der US-Botschaft schwer verstümmelt abgeworfen. Der einzige Hinweis auf ein Motiv aber bestand bisher darin, dass hinter den Konten, die bei Ta Liang gefunden wurden, vielleicht weitere korrupte Funktionäre standen, die der Attaché hätte belasten können. Aber auch das war bisher nichts als graue Theorie, denn es wäre genauso möglich, dass er auf eigene Rechnung dieses Dickicht an Konten angelegt hatte.
Rebecca wollte sich gerade von den Beamten verabschieden, als ihr Handy klingelte.
»Robert?«
»Komm zurück ins Büro. Dein neuer Partner kommt schneller als gedacht. Du hast alles, was du brauchst, auf deinem Rechner oder auf dem Schreibtisch. Lies dich ein. Ich brauch Ergebnisse, schnell. Es eilt.«
»Robert. Dem Mann wurde die gesamte …«
Aufgelegt. Ein Telefonat so abrupt zu beenden war in der Regel eher ihre Eigenschaft.
Robert Allington, was ist bloß los mit dir?, dachte sie.
Rebecca raste in ihrem schwarzen Mini zurück in die Zentrale. Die morgendlichen Schneeflocken waren einem stürmischen Regen gewichen, es schüttete binnen Sekunden in Strömen. Die Bilder des malträtierten Attachés schossen immer wieder in ihr hoch. In der Hoffnung, ihre Gedanken etwas abzulenken, schaltete sie die BBC ein: »… Es könnte noch schlimmer kommen. Die Zahl der Arbeitslosen wird nach Ansicht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) weiter wachsen. Bereits seit der letzten Finanzkrise 2008 sind ihr zufolge weltweit 61 Millionen Jobs verschwunden. Sollte sich die internationale Gemeinschaft nach dem aktuellen Börsencrash erneut nicht auf grundlegende Reformen, Schuldenschnitte und neue Wachstumsziele einigen, werde es bis Ende des Jahres weltweit rund 350 Millionen Menschen ohne Arbeit geben, heute seien es bereits 220 Millionen, so die UN-Sonderorganisation in ihrem Arbeits- und Sozialbericht. In einigen Industrieländern erreiche die Einkommensungleichheit bereits das Niveau einiger Schwellenländer. Nach Ansicht der UN schwäche die Entwicklung weiter das Vertrauen in die Regierungen und berge ein hohes Risiko für eine Eskalation der zurzeit steigenden sozialen Unruhen …«
Auf der Victoria Street kurz vor der Zentrale passierte ein Mann im strömenden Regen die Straße. Die Wucht der Vollbremsung in letzter Sekunde ließ ihren Kopf nur knapp das Lenkrad verfehlen. Unter seiner Kapuze hatte der Mann die Gefahr nicht einmal wahrgenommen. Während Rebecca die ersten Hupzeichen hinter sich hörte, schloss sie die Augen und atmete tief ein und aus, spürte, wie sich der Mageninhalt gerne einen Weg nach oben gesucht hätte. Sie unterdrückte den Reiz erfolgreich und fuhr langsam Richtung Tiefgarage. Für Leute, die bei der Mordkommission arbeiteten, mochten solche Bilder ja erträglich sein, aber für sie war der Anblick der Leiche eher ein Grund, den Job zu schmeißen.
Bevor sie ihr Büro aufsuchte, holte sie sich aus der Kantine einen Kaffee. Es war das erste Mal in den letzten Jahren, dass sie sich von ihrem Vorgesetzten zeitlich unter Druck gesetzt fühlte, normalerweise bremste er sie eher ein, statt sie anzutreiben. Schnellen Schrittes erreichte sie ihr Büro, schaltete den Rechner an und öffnete die Mappen mit den bisherigen Ermittlungsakten, Allington hatte weitere dazugelegt. Sie rückte ihren Stuhl zurecht und rief die Mails ab. Allington hatte sie damit geradezu bombardiert. Was machte ihn bloß so nervös? Nach und nach druckte sie die Mails aus und sortierte sie zu den alten Ermittlungsakten.
Also fangen wir von vorne an, dachte Rebecca und vertiefte sich in einen ersten Bericht über den letzten Stand der Ermittlungen, bevor Ta Liang verschwunden war. Was immer auch Allingtons Quellen berichtet haben mochten, sie konnte sich partout nicht vorstellen, warum der Mord an einem relativ unbedeutenden, korrupten Handelsattaché die Beziehungen zwischen Washington und China belasten sollte. Im Gegenteil. Sie konnte sich an einen Bericht der BBC von vor ein paar Tagen erinnern, dem zufolge beide Regierungen von einem nötigen Schulterschluss für die Bewältigung der aktuellen Krise gesprochen hatten. Sie sah auf das Foto des Attachés, dessen Aussehen für sie einen leicht mongolischen Einschlag hatte.
Den Unterlagen zufolge war der Attaché seit 2013 als Diplomat nach London entsandt worden und dann vor ein paar Monaten in den Verdacht geraten, Schmiergelder in Millionenhöhe auf Überseekonten herumgeschoben zu haben. Nachdem man in London seiner nicht mehr habhaft werden konnte und auch für die Zahlungsströme keine Beweise gefunden wurden, hatte ihr Kollege die Ermittlungen eingestellt.
So weit, so gut, dachte Rebecca. Laut einem Memo, das über dem Bericht angeheftet war, war das MI6 davon ausgegangen, dass er sich nach Australien abgesetzt hatte. Darauf hatte eine Auswertung von Flugdaten und Handybewegungen hingewiesen.
Rebecca musterte weiter die Unterlagen. Wenn sie auch nicht auf China spezialisiert war, müsste sie schnell vorankommen. Wegen Englands Rolle als ehemaliger Kolonialmacht verfügte Scotland Yard wie kaum eine andere Behörde über umfangreiche Kenntnisse, Kontakte und Daten hinsichtlich Chinas politischer und gesellschaftlicher Entwicklung.
Wie Allington es verlangt hatte, rief Rebecca sich eine Lageeinschätzung des britischen Außenministeriums ab. Seit der Parteichef Xi Jinping der Korruption den Kampf angesagt hatte, waren bereits Hunderte Gouverneure, Beamte und Politiker ins Gefängnis gewandert oder hingerichtet worden.
Rebecca legte die Stirn in Falten und öffnete als Nächstes einen Bericht von Interpol, in dem es um Chinas Kapitalflüchtlinge ging. Offensichtlich waren diese alles andere als zimperlich und durchaus bereit zu morden, um ihre Imperien zu verteidigen. In welches Fahrwasser war nun aber der Attaché geraten? Etliche Funktionäre befanden sich bereits auf der Fahndungsliste von Interpol. Die meisten wegen Korruption gesuchten Personen waren wie der Attaché Regierungsbeamte oder Topmanager staatlicher Unternehmen. Wie schwer das Korruptionsproblem in China war, zeigte auch der Umstand, dass kein anderes Land der Welt auch nur annähernd so viele Kriminelle, die wegen Schwarzgeld-Delikten oder Bestechung verfolgt wurden, über Interpol suchte wie China. Der prominenteste der Liste war Gao Yan, der ehemalige Provinzchef von Yunnan und Vertrauter von Chinas Ex-Diktator Jiang Zemin, der mit ein paar zur Seite geschafften Millionen bis heute unauffindbar in Australien abgetaucht war. In den vergangenen 30 Jahren hatten sich über 4000 Beamte und Manager mit insgesamt 50 Milliarden US-Dollars ins Ausland abgesetzt.
Doch die Arbeit der KP-Disziplinarkommission ging über die Suche nach Kapitalverbrechen hinaus und führte zu einem Klima der Angst, das das ganze Land lähmte. Seit sie ihre Tätigkeit aufgenommen hatte, wurde der Tatbestand der Korruption weitaus schärfer ausgelegt und bezog auch behördliches Versagen mit ein, da man auch dahinter grundsätzlich Korruption vermutete. Aber die Regierung selbst handelte zum Teil völlig im Widerspruch zu der Kommission. Statt selbst mehr Transparenz walten zu lassen, wurden immer wieder Missstände verschleiert. Bei einem Chemieunfall in einem Lagerhaus in der Stadt Tianjin zum Beispiel fanden über hundert Feuerwehrleute den Tod, da die Behörden verschwiegen hatten, dass dort unter widrigen Umständen 700 Tonnen Natriumzyanid gelagert wurden – genug Gift, um theoretisch 1,3 Milliarden Chinesen auszulöschen. Und der Druck und die Angst vor Versagen waren auch dafür verantwortlich, dass die Börsenaufsicht den sich abzeichnenden Börsencrash von 2015 erst durch ihr Schweigen forcierte, anstatt einzugreifen. Genauso wurden gigantische Umweltprobleme aus Angst, Rechenschaft ablegen zu müssen, unter den Teppich gekehrt.
Rebecca pfiff durch die Zähne und nahm einen Schluck Wasser. Sie dachte nach. Aber selbst wenn der Attaché im Fadenkreuz der Antikorruptionskampagne stand, würde er wohl kaum außerhalb des Landes auf diese Art und Weise zur Strecke gebracht werden, mutmaßte sie. Wieder vertiefte sie sich in den Bericht. Der Verfasser schloss seine Analyse mit der Bemerkung, dass die Säuberungswelle vor allem dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei diente, seine Macht abzusichern und sich auf diese Art leicht seiner Gegner zu entledigen. Nach den strengen Regeln der Disziplinar-Kommission ließ sich – je nach Bedarf – fast jeder auf irgendeine Art der Korruption überführen. Aber die Kampagne hatte auch ihre offiziell beabsichtigte Wirkung. Innerhalb kürzester Zeit hatten die Behörden über zehn Milliarden Dollar zurückgewinnen und etliche Beamte in den Knast oder vor ein Erschießungskommando bringen können.
Wie auch immer, ein vor der US-Botschaft abgeladener Handelsattaché passte da so gar nicht ins Bild.
Rebecca lehnte sich zurück und blickte aus dem Fenster. Für einen Moment dachte sie, dass Allington zu viel damit verlangte, sich in nur 24 Stunden alle Hintergründe dieses Falls anzueignen. Die Lage in China war mehr als komplex.
Sie blätterte weiter in den Akten. Eine Anekdote in dem Fall trieb ihr dann ein lang vermisstes Lächeln ins Gesicht, denn bevor Liang untergetaucht war, hatte man in einer seiner Wohnungen in Peking allein 80 Millionen Dollar in bar gefunden, die Geldscheine waren zum größten Teil jedoch durch die Feuchtigkeit in der Wohnung bereits verschimmelt gewesen.
Rebecca öffnete ihre Schreibtischschublade, fingerte aus einer Tüte ein Karamellbonbon und versuchte, während der süße Geschmack ihren Mund erfüllte, die alten Spuren irgendwie einzuordnen. Sie öffnete den Browser auf dem PC und suchte nach aktuellen Nachrichten aus China. Über den Mord an dem Attaché wurde zwar spekuliert, aber nirgends schaffte der Vorfall es in die Topnachrichten. Angesichts des allgemeinen Chaos aufgrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der anhaltenden Proteste gegen die Sparpolitik und den Finanzsektor nicht wirklich verwunderlich, aber dennoch merkwürdig, da es keinerlei offizielle Stellungnahme der chinesischen Führung gab. Woher und warum also der Druck, dem Allington oder gar die Regierung ausgesetzt war?
Sie wechselte wieder zu ihrem Mailaccount und schrak auf. Allington hatte vermerkt, dass der Tod des Attachés alle Ermittlungen von Interpol China in einem Fall von groß angelegter Geldwäsche seitens hochrangiger Chinesen zunichtemachen könnte. Ohne jedoch Beweise zu haben, äußerte er den Verdacht, dass der Attaché vielleicht belastendes Material gegen die Funktionäre hatte, deren Konten er womöglich sogar als Strohmann verwaltet hatte. Hinzu kam ein Bericht der Times, der einen ersten Bezug zu den Verwerfungen zwischen Washington und Peking herstellte. Demzufolge war der Attaché vor Jahren an Verhandlungen über neue Freihandelszonen zwischen den USA und China beteiligt gewesen, hatte den Amerikanern aber als harter Gegner gegolten. Sollte er wirklich Interessen der Amerikaner im Wege gestanden haben, dachte Rebecca, würde man ihn aber doch unter keinen Umständen vor der eigenen Botschaft umbringen, geschweige denn foltern, das war völlig abwegig.
Im Überfliegen weiterer Dokumente stieß sie auf die konkrete Spur, die Allington angedeutet und die Scotland Yard seinerzeit zur Verzweiflung gebracht hatte. Auf einem Rechner von Ta Liang waren fast hundert Kontonummern gefunden worden. Offenbar über etliche weitere Konten auf den Bahamas und den Kaimaninseln waren Millionenbeträge verschoben worden, bis man irgendwann nicht mehr nachvollziehen konnte, wo und bei wem das Geld gelandet war – geschweige denn, woher es gekommen war. Was wäre, wenn der Attaché tatsächlich nur als Strohmann fungiert und wie ein Buchhalter die Schwarzgelder für weitere Chinesen verwaltet hatte? Sollte er die Inhaber gekannt und diese befürchtet haben, bei seiner Verhaftung aufzufliegen, wäre das zumindest ein erstes belastbares Motiv. Andererseits erschien Rebecca die Zahl der Konten als zu hoch. Gewöhnlich waren es bei solchen Geldwäscheprojekten, selbst bei groß angelegten, vielleicht ein Dutzend oder etwas mehr. Aber die alles entscheidende Frage, warum Liangs Tod aktuell eine Bedrohung für das Verhältnis zwischen China und den USA sein sollte, konnte sie sich beim besten Willen noch nicht herleiten.
Sie blickte aus dem Fenster in mittlerweile orange gefärbte Wolken. Über dem Studium der Akten und Mails waren die letzten Stunden wie im Flug vergangen. Rebeccas Magen knurrte, und die Kantine würde bald schließen, aber sie mochte sich nicht von der Recherche trennen.
Allington hatte ihr aufgetragen, sich ganz genau das Verhältnis der beiden Supermächte anzusehen. Sie öffnete am Rechner das interne Recherchesystem von Scotland Yard und druckte sich eine aktuelle Studie des Außenministeriums aus. Diese beschrieb, dass sich beide Länder zwar weiter als Rivalen verstünden, doch in Wirklichkeit aufeinander angewiesen wären wie nie zuvor. Gerade jetzt, wo die Weltwirtschaft drohte in eine der größten Rezessionen überhaupt zu rutschen, hatte Asien als letzter Joker der Weltwirtschaft, als der letzte große Motor, der die Wachstumsideologie des Westens würde retten können, an dramatischer Bedeutung hinzugewonnen. Das galt ganz besonders für China. Gleichzeitig aber führten die Spannungen zwischen Russland und dem Westen zu einer für die USA gefährlichen Allianz, denn Russland weitete die Zusammenarbeit mit Peking immer mehr aus. Die Dominanz des Westens, seine Reformunfähigkeit, was den Finanzsektor betraf, und die damit verbundenen Risiken, die sich in den letzten Wochen abermals bestätigt hatten, stießen in Peking auf massive Kritik. Frustriert über die Abhängigkeit vom Westen, hatten die Chinesen schon vor Jahren ein alternatives Finanzsystem aufgebaut und mit der Gründung der Asian Infrastructure Investment Bank eine echte Konkurrenz zur Weltbank erschaffen. Für die Vereinigten Staaten war dies eine herbe Niederlage. Zusätzlich bauten die Chinesen schrittweise ihre Dollarbestände ab. Amerika, so die Analyse, hatte sich schon vor dem Crash in einer schizophrenen Lage befunden, in der man ein starkes China fürchtete, ein wirtschaftlich schwaches aber viel gefährlicher werden könnte. Es war, als würden zwei Sumoringer miteinander kämpfen, dabei aber so ineinander verhakt sein, dass beide stürzen könnten, wenn auch nur einer stolperte. Aber die Analyse gab auch preis, dass es in China eine Reihe von prowestlichen Kräften gab. Jetzt, wo sich anscheinend alles einer globalen Depression näherte, würde jedes weitere diplomatische Zerwürfnis Öl ins Feuer gießen. Das britische Außenministerium ging sogar in seiner Einschätzung so weit, dass die Gefahr eines Krieges zwischen China und den USA täglich größer würde. Aber wie konnte es sein, dass ein korrupter Diplomat diese Bedrohung erhöhte? Was machte Allington so nervös, und warum bekam er Druck aus der Downing Street, den Fall so schnell wie möglich zu klären?
Das Telefon klingelte. Rebecca hob ab.
»Komm schnell in mein Büro!«
Die Tür zu Allingtons Büro stand weit offen, zwei Mitarbeiter kamen gerade heraus, Allington gab Rebecca ein Zeichen.
»Komm rein und schließ die Tür.«
Rebecca setzte sich wieder auf die Ledercouch gegenüber von Allingtons Schreibtisch und sah, wie er einen Haufen Unterlagen auf seinen Tisch schmiss. Er trat mit einem Seufzen zum Fenster und wandte ihr mit Blick in die ersten Abendsterne den Rücken zu.
»Alles in Ordnung?«
»Nein!«, antwortete Allington, drehte sich wieder zu Rebecca und ging im Raum umher. »Es gibt Gerüchte, dass man unserer Abteilung die Schuld in die Schuhe schieben wird, da wir die Sache letztes Jahr zu früh fallen ließen, und der Attaché entgegen unserer Vermutung offenbar doch noch in London war. Sein Tod hätte demnach verhindert werden können, und wir hätten die Quellen der Zahlungsströme nachweisen können müssen.«
»Spinnen die? Laut einem Memo war es doch das MI6, das uns gesagt hat, er wäre in Australien …«
Doch bevor Rebecca weiterreden konnte, unterbrach Allington sie und reichte ihr die ausgedruckte Mail eines Freundes aus dem Außenministerium. Die Befürchtungen von Allingtons Bekanntem deckten sich mit den Analysen, die sie zuvor gelesen hatte. Auch er hegte letztlich eine diffuse Angst vor einer kriegerischen Auseinandersetzung. Auch er führte die ohnehin schon prekäre Lage zwischen Washington und Peking an, die eskalieren könnte, sollte der Fall nicht schnellstens aufgeklärt werden. Die politische Situation, die Machtkämpfe innerhalb der Kommunistischen Partei böten eine gefährliche Gemengelage, und in Washington fürchtete man um den Einfluss im gesamten pazifischen Raum. Die Mail schloss mit der Vermutung, dass Teile der chinesischen Führung erbost wären, da mit dem Tod des Attachés die Bekämpfung der Korruption auf höchster Ebene erschwert würde. Teile? Was sollte das heißen? Dass andere Teile davon profitieren würden?
»Na, klasse. Trotzdem verstehe ich es nicht.«
»Diplomatisch ist es die schnellste Lösung, jemand Dritten für den Tod des Attachés verantwortlich zu machen. Alle anderen können so ihr Gesicht wahren.«
»Das ist nicht dein Ernst, es muss doch noch einen größeren Anlass geben, sonst ergibt das alles keinen Sinn.«
Rebecca saß einen Moment schweigend da, lehnte sich tiefer in das weiche Ledersofa. Gerade erst hatte Allington ihr aus der Patsche geholfen. Sie konnte es auf keinen Fall zulassen, dass man ihn zum Bauernopfer machte.
Sie sah, wie er zu seinem völlig überfüllten Schreibtisch ging. Er nahm ein Blatt Papier vom Tisch, streifte dabei einige Aktenberge, die daraufhin zu Boden rutschten.
»Ach, Scheiße. Ich hab keine Ahnung, ob uns das weiterhilft, aber das hier ist topsecret, vielleicht auch nur ein Zufall.«
Während Allington fahrig die Akten wieder auf den Tisch hievte und sich setzte, las Rebecca die Nachricht, deren Quelle nicht nachvollziehbar war. Demnach würde es in 14 Tagen einen geheimen Gipfel zwischen den USA und China geben, der ein umfangreiches Freihandelsabkommen zum Inhalt haben würde. Innerhalb des Politbüros gebe es vermutlich zahlreiche Gegner eines solchen Abkommens, da man zu großen Einfluss der USA in China und dem gesamten pazifischen Raum fürchtete.
»Woher hast du das?«
»Ich sagte ja: topsecret, aber es könnte erklären, warum man im Außenministerium so nervös ist und Druck ausübt«, sagte Allington. »Es könnte sein, dass der Fall schlicht und einfach nur genutzt wird, um dieses Abkommen zu torpedieren.«
»Gut, ich verstehe. Wir werden verhindern, dass man uns das anhängt, Robert.«
»Mir, Rebecca, mir. Aber vielleicht können wir das gemeinsam verhindern«, sagte Allington, stand auf und ging zu einer Tür, die zwischen Schreibtisch und Sofa in einen Konferenzraum führte, der in der Regel für Lagebesprechungen genutzt wurde.
»Mr Ching, darf ich Sie bitten.«
Ohne zu wissen, warum, erhob sich Rebecca. Durch die Tür kam ein Mann, der für einen Asiaten überdurchschnittlich groß wirkte. Er war schlank, braungebrannt, hatte zwar eine sorgenvolle Mimik, dachte sie, aber seine Augen waren klar und gaben dem Gesicht eine kräftige Ausstrahlung. Er trug blaue Jeans, ein weißes Hemd und einen langen schwarzen Ledermantel, der ihm fast bis zu den Knien reichte.
»Darf ich vorstellen – Huan Ching von Interpol Peking.«
»Ms Winter, nehme ich an«, sagte Ching akzentfrei und mit einer nur leicht angedeuteten Verbeugung.
»Setzen Sie sich«, bat Allington, blieb selbst aber vor seinem Schreibtisch stehen.
»Mr Ching ist ausgewiesener Experte für Wirtschaftsverbrechen und Korruption in China. Er ist hier in London aufgewachsen. Mr Ching, in Anbetracht der Lage leiten Sie die Ermittlungen.«
Rebecca öffnete den Mund und versuchte ihre Überraschung darüber, ins zweite Glied gerückt worden zu sein, mit einem tiefen Atemzug zu unterdrücken. Als sie einen strengen Blick Allingtons auffing, realisierte sie, dass sie froh sein konnte, dass er sie überhaupt so schnell wieder in den Dienst geholt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass er sie in ihrem instinktiven Führungsanspruch bremste. Wobei sie es dieses Mal verstehen konnte. Sie hatte keinerlei Erfahrung mit China und kannte viel zu wenige Hintergründe. Das musste aber nicht bedeuten, keine Initiative zu übernehmen.
»Gut, dann würde ich gerne gleich einen Verdacht der Mordkommission in den Raum werfen«, sagte Rebecca, ging zu Allingtons Schreibtisch, steckte einen USB-Stick in den Rechner, öffnete die Fotos vom Fundort der Leiche und drehte den Bildschirm herum.
»Der Anblick hat mir heute Vormittag den Magen verdorben. Abgesehen von den Folterspuren, wurde dem Mann die gesamte Rückenhaut entfernt. Bei aller Liebe, aber das spricht doch wohl kaum für eine Täterschaft der Amerikaner, das hat eher Merkmale eines Ritualmordes …«
»Rebecca, ich glaube, du hast die Dimension noch nicht verstanden.«