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Marah Woolf

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Beschreibung

"Dein wievieltes Leben ist das?", fragte ich mit belegter Stimme. "Das eintausendste", flüsterte er. "Das hier ist dein letztes? Du hast schon tausend Mal gelebt?" "Ja", sagte er noch leiser. "Danach ist es vorbei." Es gibt drei Dinge, die die 18-jährige Sasha sich fest vorgenommen hat: Sie wird in diesem Leben ihre Bestimmung nicht annehmen. Sie wird niemanden wegen ihrer Gabe in Gefahr bringen und ihre Seelenmagie tief in sich verschließen. Auf der sturmumtosten Atlantikinsel Alderney ließen sich diese Vorhaben in die Tat umsetzen, aber dann taucht eines Nachts Cedric de Gray auf. Erst rettet er sie vor dem Ertrinken und dann vor einem Seelenjäger, der es auf Sashas kostbare Seele abgesehen hat. Doch diese übt auch auf Cedric einen unwiderstehlichen Reiz aus, denn mit nur einem Splitter davon, könnte er ewig leben.

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Über dieses Buch

Ewig ist nicht genug.

 

»Dein wievieltes Leben ist das?«, fragte ich mit belegter Stimme.

»Das eintausendste«, flüsterte er.

»Das hier ist dein letztes? Du hast schon tausend Mal gelebt?«

»Ja«, sagte er noch leiser. »Danach ist es vorbei.«

 

Es gibt drei Dinge, die die 18-jährige Sasha sich fest vorgenommen hat: Sie wird in diesem Leben ihre Bestimmung nicht annehmen. Sie wird niemanden wegen ihrer Gabe in Gefahr bringen und ihre Seelenmagie tief in sich verschließen. Auf der sturmumtosten Atlantikinsel Alderney ließen sich diese Vorhaben in die Tat umsetzen, aber dann taucht eines Nachts Cedric de Gray auf. Erst rettet er sie vor dem Ertrinken und dann vor einem Seelenjäger, der es auf Sashas kostbare Seele abgesehen hat. Doch diese übt auch auf Cedric einen unwiderstehlichen Reiz aus, denn mit nur einem Splitter davon könnte er ewig leben.

 

 

 

Wieder seh’ ich Schleier sinken,

Und Vertrautestes wird fremd,

Neue Sternenräume winken,

Seele schreitet traumgehemmt.

Abermals in neuen Kreisen

Ordnet sich um mich die Welt,

Und ich seh’ mich eiteln Weisen

Als ein Kind hineingestellt.

Doch aus früheren Geburten

Zuckt entfernte Ahnung her:

Sterne sanken, Sterne wurden,

Und der Raum war niemals leer.

Seele beugt sich und erhebt sich,

Atmet in Unendlichkeit,

Aus zerriss’nen Fäden webt sich

Neu und schöner Gottes Kleid.

         Hermann Hesse

Aufbau der Seelenmagie

 

 

 

»Die Reise endet, wenn die Liebenden sich finden.«

           William Shakespeare (1564–1616)

Prolog

Schottland, 2. August 2011,Vergangenheit

Das Dröhnen des Motors übertönte beinahe Mums Weinen. Dad versuchte vergeblich, sie zu trösten. »Es ist das Beste so«, raunte er. »Bei deiner Mutter ist Sasha in Sicherheit. Wir müssen an die Jungs denken und sie bringt Adam und Andrew in Gefahr. Wir können sie nicht so schützen, wie sie es braucht.«

»Aber es ist viel zu früh«, schluchzte Mum. »Ihre Gabe sollte sich noch nicht zeigen. Sie kann sie nicht kontrollieren.«

»Und genau deswegen tun wir das Richtige«, unterbrach er sie. »Ich wünsche mir, dass sie ein halbwegs normales Leben führen kann, und wenn wir uns dafür von ihr trennen müssen, sollten wir das tun. Hier geht es nicht um uns, sondern nur um Sasha.«

Ich saß auf der Rückbank, lauschte ihren vertrauten Stimmen und formte aus dem Seelenschimmer, der aus meinen Fingern floss, einen glitzernden Ball. Als ich mit seiner Größe und Festigkeit zufrieden war, ließ ich ihn in den unterschiedlichsten Farben leuchten. Dann warf ich ihn ein Stück in die Höhe. Der Ball prallte an die Decke des Autos und kleine funkelnde Libellen stoben durch den Innenraum.

Mum drehte sich zu mir um und riss vor Entsetzen die Augen auf. »Hör auf damit, Schatz!«, verlangte sie. »Das darfst du nicht tun. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

Ich war zehn, aber bis heute erinnere ich mich genau an ihre Stimme. Sie hatte Mühe, die Panik darin zu unterdrücken, und ich zog eine Grimasse, weil ich ihre Aufregung nicht verstand. Ständig hielt sie mich an, meine Gabe zu verbergen, dabei konnte keiner von meinen Freunden etwas so Cooles. Trotzdem ließ ich den Ball in meiner Hand zu Staub zerfallen. »Ist ja schon gut«, brummte ich. »Mir ist langweilig. Ich will nach Hause. Was soll ich bei Granny und Grandpa auf dieser einsamen Insel? Ohne euch!« Ich war wütend auf sie beide und das sollten sie ruhig wissen.

Mums Augen füllten sich mit Tränen, und sie streckte die Hand aus, um über mein Knie zu streichen, als ein anderer Wagen uns rammte. Unser Auto wurde gegen das Geländer einer Brücke gedrückt, das unter dem Aufprall nachgab. Es stürzte in die Tiefe und knallte auf die Wasseroberfläche. Ich schrie nach meinen Eltern, aber bekam keine Antwort. Wasser drang durch die zerbeulte Tür an meiner Seite, während das Auto noch auf den Wellen schaukelte und langsam sank. Mit aller Kraft schlug ich mit den Fäusten gegen die Scheibe. Vergeblich.

Und dann sah ich die grauen Schemen. Wie riesige, dunkle Fledermäuse schwebten sie um den Wagen herum. Ein Gesicht presste sich an das Fenster. Ich blickte in schwarze, gefühllose Augen. Papierne, dünne Haut spannte sich über einen haarlosen Schädel, und dort, wo eigentlich Mund und Nase sein sollten, gähnten Löcher. Ein fauliger Geruch kroch durch die Schlitze. Spitze Fingernägel kratzten über das Glas. Ich konnte mich nicht mehr rühren und auch nicht schreien. Selbst dann nicht, als die Gestalt kreischend davonflog und das Wasser meine Taille und kurz darauf meine Brust umspülte. Vor Angst war ich wie gelähmt.

Da draußen lauerten Seelenjäger. Sie hatten mich gefunden. Ich musste sie mit meinem Seelenschimmer angelockt haben. Sie hatten mich gewittert.

Granny hatte mich oft genug vor ihnen gewarnt. Wenn sie mich in ihre Fänge bekamen, würden sie meine Seele zersplittern und unter sich aufteilen. Denn das war es, was Jäger taten, was sie antrieb: Sie stahlen die Seelen anderer Menschen, um zu überleben.

Ich begann zu zittern. Das Wasser reichte mir nun bis zum Kinn. Panisch tastete ich nach dem Gurt, um mich zu befreien. Die Autoscheibe explodierte. Wasser spülte über mich hinweg, Hände griffen nach mir und ich sah in Dads Gesicht. Seine Augen waren weit aufgerissen. Ich hielt die Luft an, als das Auto endgültig unterging. Dad zog mich durch das zertrümmerte Fenster. Alles würde gut werden. Die spitzen Zacken der zerbrochenen Scheibe zerschnitten mein Gesicht. Es tat so weh, dass ich aufschrie und gleichzeitig Wasser schluckte. Er stieß mich nach oben, ich durchbrach die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Die Strömung des Flusses trug mich abwärts. Ich strampelte und schrie nach ihm. Irgendwie bekam ich einen herunterhängenden Ast zu fassen. Aber ich war zu schwach, um mich daran hochzuziehen. Meine nassen Finger rutschten über die Rinde und ich schluchzte laut. Wenn ich losließ, würde ich sterben.

Eine Hand packte mich und zog mich ans Ufer. Ich fiel in weiches Gras und spuckte Wasser. »Mein Daddy«, stammelte ich. »Er ist da noch irgendwo, und meine Mum.« Ich fror, weinte und schluchzte. »Bitte. Wir müssen sie retten«, brachte ich trotzdem hervor.

»Um deine Eltern kümmere ich mich später, Kleines.«

Ich hob den Kopf und schaute in tiefschwarze, leblose Augen. Die Wangen des Mannes waren eingefallen und die Haare dünn. »Nein«, flüsterte ich tonlos. »Nein.« Das war unmöglich. Das konnte nicht sein. Nicht er.

»Du weißt, wer ich bin, oder?« Seine Stimme klang lockend.

Natürlich wusste ich das. Vor mir stand Lazarus Rimmon, der oberste und mächtigste Seelenjäger. In Grannys Geschichten versteckte er sich in einer alten Burg irgendwo in Frankreich und ließ sich von seinen Getreuen die geraubten Seelen dorthin bringen. Aber offenbar hatte er die Burg verlassen und war nun hier.

Meine Unterlippe bebte, und obwohl mir schon kalt von den nassen Sachen war, die mir am Körper klebten, gefror mein Blut jetzt zu Eis.

Tief sog er die Luft ein und ich wusste, er konnte meine Angst riechen. »Es geht ganz schnell«, flüsterte er, »und ich verspreche dir, es wird nicht wehtun. Du wirst gar nichts spüren.« Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Er sah nicht so gespenstisch aus wie die anderen Jäger, sondern viel menschlicher. Nur seine leblosen Augen verrieten ihn. »Ich habe so lange auf dich gewartet.« Er klang beinahe erstaunt.

Zitternd wich ich zurück. Ich durfte ihm meine Seele nicht überlassen. Wenn er sie bekam, würde er damit hundert Jahre oder länger überleben. Ich war zwar noch jung, aber meine Seele besaß schon jetzt ein Vielfaches der Energie der Seele eines Normalsterblichen. Sie musste einen unendlichen Reiz auf ihn ausüben.

Hinter mir erklang ein Geräusch. Wenn noch mehr Jäger kamen, hatte ich gar keine Chance, zu überleben. Aber es war mein Dad, der aus dem Wasser stieg und auf uns zukam. In seinem Blick glänzten Wut, Abscheu und Hass. Er würde mich retten. Meine Beine gaben unter mir nach und ich fiel auf die Knie.

Dad packte mich und zog mich wieder hoch. »Lauf, Schatz!«, sagte er mit einer Stimme, die ich noch nie an ihm gehört hatte. »Lauf so weit, wie du kannst.« Etwas Helles glitzerte in seiner Hand, als er sich Lazarus zuwandte, dessen Lippen sich zu einem höhnischen Lächeln verzogen.

»Dann bekomme ich heute also zwei Seelen«, sagte er milde. »Die einer Magierin und die eines Hüters.«

Ich sprang auf und rannte los, als Dad sich auf ihn stürzte.

 

Spaziergänger fanden mich am nächsten Morgen einige Meilen entfernt bewusstlos am Ufer. Mum war im Auto ertrunken und Dad wurde nie gefunden.

Als ich Tage später im Krankenhaus zu mir kam, saßen Granny und Grandpa an meinem Bett, und nachdem ich einigermaßen wiederhergestellt war, brachten sie mich nach Alderney. Auf dem winzigen Eiland im Ärmelkanal lebten wir wie auf einer vergessenen Insel. Es gab nur wenige einheimische Bewohner, und Touristen verirrten sich nur selten hierher, weil es denkbar schwierig war, die Insel zu erreichen. Die Stürme, die Klippen und die unberechenbare See schnitten die Insel von der Außenwelt ab und hielten auch die Seelenjäger fern.

An meinem ersten Tag auf Alderney schwor ich mir, meine Gabe zukünftig zu unterdrücken. Ich würde die Magie in mir verschließen. Eine Seelenmagierin konnte sich für diesen Weg entscheiden. Zwar wurden wir mit unserer Bestimmung geboren, aber annehmen mussten wir diese Aufgabe deswegen nicht.

Und mich hatte die Magie in diesem Leben bereits zu viel gekostet. Ich war nicht bereit, ihr noch mehr zu opfern. Ihretwegen hatte ich innerhalb weniger Minuten meine Eltern, meine Brüder und mein Zuhause verloren.

Dad hatte sich ein normales Leben für mich gewünscht und genau das wollte ich führen. Meine Eltern waren gestorben und ich trug die Schuld daran. Diese Gabe hatte nicht nur mein Leben, sondern auch das meiner jüngeren Brüder zerstört.

Es war mir egal, dass die Seelen meiner Eltern in Kürze wiedergeboren wurden und ein neues Leben führen würden. Es war mir egal, dass ihre Seelen sich dann nicht mehr an mich erinnerten. Ich wollte sie trotzdem stolz machen und Dads letzten Wunsch erfüllen.

Bis heute habe ich mich an diesen Schwur gehalten.

1. Kapitel

Acht Jahre späterAlderney, 25. August 2019, Gegenwart

Die Sterne spiegelten sich im Wasser der Saye Bay und ich betrachtete den Horizont. In spätestens einer Stunde würde lilafarbenes Licht über die scharfe Kante des Meeres kriechen und der neue Tag würde anbrechen. Die düstere Stimmung, die mich schon umgeben hatte, bevor ich zum Joggen aufgebrochen war, lastete immer noch auf mir. Hoffentlich würde der Morgen Erleichterung bringen. Melancholie und Traurigkeit waren ganz normale Begleiterscheinungen, wenn man versuchte, seine Seelenmagie in sich zu verschließen, aber gewöhnlich half mir das Laufen, diese Probleme in den Griff zu bekommen. Die Magie baute sich durch die gleichmäßigen Bewegungen ab. Heute Nacht krallte sie sich allerdings an mir fest. Meine Finger- und Zehenspitzen kribbelten wie verrückt, und wenn ich nichts dagegen unternahm, würde sie wie ein Funkenregen aus mir heraussprühen. Ein etwas befremdlicher Anblick für normale Menschen, aber zum Glück gingen die nicht mitten in der Nacht laufen. Ein Frösteln überzog meine Arme, obwohl es erstaunlich warm für Ende August war, und die Härchen an meinem Körper stellten sich auf wie kleine Blitzableiter. Noch so ein Vorbote. Mit den Händen rieb ich über meine Arme, um die Spannungen wegzustreichen. »Ich kann das kontrollieren«, flüsterte ich leise in den Wind. »Ich kriege das in den Griff.« Aber der Wind und ich wussten es besser, und ich bildete mir ein, ihn leise lachen zu hören. Wäre ich ein gewöhnliches Mädchen, läge ich jetzt in meinem Bett. Wie sehr ich mir das wünschte! Ich war müde. Müde, all dieser Versuche, meinem Schicksal zu entfliehen.

Leider war Schlafen heute Nacht keine Option, denn in dem kleinen, schmalen Haus, das ich mit Granny und Meggie, der jüngsten Novizin des Zirkels der Seelenmagierinnen, bewohnte, planten dessen Mitglieder die Feierlichkeiten für Mabon.

Ich wollte damit nichts zu tun haben. Ich hatte weder Interesse an heidnischen Riten noch Lust, mich an der Diskussion zu beteiligen, ob wir das Fest dieses Mal im Jahre 1083, 1756 oder sonst wann begehen wollten, denn ich würde sowieso nirgendwo mit hingehen. Ich hasste Zeitenwandern. Mir reichte es schon, dass ich ständig damit beschäftigt war, ungeplante Sprünge zu verhindern, da wechselte ich nicht auch noch freiwillig die Zeit.

Keine meiner Schwestern aus dem Zirkel verstand das. Wie auch, schließlich war ich die einzige Seelenmagierin, der beim Zeitenwandern so übel wurde, dass ich mich übergeben musste. Mein sonst so robuster Magen spielte dabei völlig verrückt, und es war nicht lustig, in einer fremden Zeit zu landen und mich direkt vor jemandes Füße zu übergeben.

Ich seufzte und atmete gleichmäßig ein und aus. Die geballte Energie all der Magierinnen, die aus so vielen Jahrhunderten zu Besuch gekommen waren, machte mich unruhig, und der Versuch, meine eigene abzubauen, misslang deswegen gründlich. Seit Stunden rannte ich kreuz und quer über die Insel. Ergebnislos, wie ich jetzt feststellen musste. Die Seelenenergie in mir schien nur noch an Kraft zu gewinnen. Ich wusste nicht, was ich noch tun sollte, um sie loszuwerden. Es war zum Verzweifeln.

In der Vergangenheit hatte ich bereits unterschiedliche Techniken ausprobiert. Keine von ihnen hatte dauerhaft funktioniert. Dabei war ich so perfekt ausgebildet, wie man es sich für eine Magierin nur wünschen konnte. Nach der Primary School war ich von den Freundinnen meiner Großmutter unterrichtet worden.

Sie hatten dafür gesorgt, dass ich jede mögliche Verteidigungstechnik beherrschte, die Reife einer Seele erkannte, Seelenlose erlösen konnte, fließend Französisch sprach und über jedes noch so winzige Ereignis der Weltgeschichte Bescheid wusste. Ich kannte sogar den verdammten Codex des Zirkels auswendig, in dem die Rechte und Pflichten der Seelenmagie niedergeschrieben waren. Nichts, was in einem normalen Leben sonderlich nützlich war, aber unabdingbar für eine Magierin.

Zwei elementare Dinge hatte ich jedoch leider nie gelernt, und das war meine Magie zu beherrschen und sie in mir zu verschließen und gesittet in der Zeit zu springen. Granny konnte sich nicht erklären, weshalb mir diese Dinge nicht gelangen, obwohl ich mich wirklich bemühte. Aber mein Unvermögen bestärkte mich nur in dem Vorsatz, meine seelenmagischen Kräfte in diesem Leben nicht zu benutzen. Niemand konnte mich zwingen, meiner Bestimmung zu folgen. Denn jede Seele hatte das Recht, ihr Schicksal selbst zu wählen. Ich hob meine Hand in den Himmel und betrachtete das sanfte Flimmern auf meiner Haut. Resigniert wischte ich den Schimmer ab, und er verwandelte sich in winzige Staubpartikel, die wie Glühwürmchen davonflogen. Das war nicht gut. Gar nicht gut.

Der Zirkel existierte seit dem 12. Jahrhundert, mit achtzehn konnte eine Seelenmagierin Mitglied werden. Ich war nicht eingetreten und würde es auch zukünftig nicht tun. Da konnte Selina Montague, die Vorsitzende, sich auf den Kopf stellen. Sie hatte den Zirkel gegründet, kurz nachdem ihre Zwillingsschwester, Stella Montague, von Lazarus Rimmon gefangen genommen worden war. Er hatte damals Stellas Seele geraubt und zersplittert. Selina hatte ihn unbarmherzig gejagt, und es war ihr gelungen, Stellas Seelenstücke zu finden und vor der Dunkelheit und der Verdammnis zu retten. Zwar war Stellas Seele nie wiedergeboren worden, aber wenigstens waren die Splitter in die Ursprungsseele zurückgekehrt.

Jede einzelne Seele, die auf der Erde lebt, ist irgendwann einmal aus dieser Ursprungsseele hervorgegangen, um in einem menschlichen Körper geboren zu werden. Stirbt ein Körper, wandert die Seele weiter in ein Neugeborenes. Die Aufgabe einer Seele ist es, während ihrer verschiedenen Leben Erfahrungen zu sammeln und daran zu reifen. Erst nach eintausend gelebten Leben kehrt sie zurück, um wieder mit der Ursprungsseele zu verschmelzen und diese mit ihrem Wissen zu bereichern.

Stella hatte zwar keine tausend Leben gelebt, aber wenigstens hatten wir sie nicht an die Finsternis verloren, den Ort, an den Seelen gingen, die schwere Schuld auf sich geladen hatten, zerstört oder verflucht waren und deshalb nicht zum Ursprung zurückdurften.

Für ihren Heldenmut wurde Selina seitdem verehrt wie eine Heilige. Denn sie hatte bei dem Kampf mit Lazarus ihre eigene Seele riskiert. Um Stellas Schicksal zu entgehen, lebten Seelenmagierinnen seither in kleinen Gruppen zusammen, denn gegen die geballte Magie von mehreren von uns kam Lazarus nur sehr schwer an, und er war nach wie vor unser größter Widersacher. Jede Seele, die er und seine Jäger sich einverleibten, war für die Ursprungsseele verloren, und damit auch deren Erfahrung und Wissen. Seit Anbeginn der Zeit ist es Aufgabe der Seelenmagierinnen, dies zu verhindern.

 

Aus der Nähe erklang das müde Rufen eines Basstölpels und riss mich aus meinen Gedanken. Ich sollte schwimmen gehen. Vielleicht verschafften das kalte Wasser und die gleichmäßigen Schwimmzüge meiner aufgeputschten Magie ein Ventil. Hartnäckig ignorierte ich die innere Stimme, die mich warnte, etwas so Unvernünftiges zu tun. Aber ich war verzweifelt. Nachts konnte das Meer tückisch und unberechenbar sein, nur heute war ich bereit, dieses Risiko einzugehen. Ich war eine sehr gute Schwimmerin und danach würde ich mich hoffentlich besser fühlen. Ich zog den Pulli aus und schlüpfte aus meinen Leggings, watete in das kalte Nass, biss die Zähne zusammen und tauchte unter, um dann mit langen Arm- und Beinbewegungen das Wasser zu teilen. Schon nach wenigen Schwimmzügen löste sich meine Anspannung. Die aufgestaute Magie verflüchtigte sich und ließ das Wasser um mich herum in einem warmen Licht glühen. Befreit atmete ich auf, als ich spürte, wie sie aus mir herausfloss. Irgendwann legte ich mich auf den Rücken und ließ mich treiben. Es war so friedlich hier draußen, dass ich am liebsten für immer geblieben wäre. Ich schloss die Augen und genoss die Ruhe, die sich in mir ausbreitete. So lange, bis eine kräftige Welle über mich hinwegspülte. Prustend richtete ich mich auf. Der Strand war ziemlich weit weg und die Strömung hatte mich fast bis zum Ausgang der Bucht getrieben. Wenn ich aufs offene Meer hinausgezogen wurde, kam ich nicht wieder zurück. So viel stand fest. Der Wind hatte aufgefrischt und das Wasser begann sich aufs Meer zurückzuziehen. Einsetzende Ebbe und ein aufgewühltes Meer waren keine geeignete Kombination, um hier draußen zu sein. Mit kräftigen Kraulbewegungen machte ich mich auf den Rückweg. Diese Seite der Insel war für ihre heftigen Gezeitenwechsel bekannt, und auch wenn die Saye Bay geschützt lag, war ich definitiv zu weit vom Ufer entfernt. Aber sosehr ich mich auch anstrengte, immer wieder zog das Wasser mich zurück, und ich kam nur langsam und mit viel Mühe vorwärts. Meine Arme und Beine wurden müde, obwohl ich eigentlich eine sehr ausdauernde Schwimmerin war, allerdings nur, wenn ich vorher nicht zehn Meilen gejoggt war. Eine weitere Welle schwappte über mich hinweg und drückte mich nach unten. Ich schluckte Wasser und musste husten. Ich durfte auf keinen Fall ertrinken. Grandpa würde sich im Grab umdrehen. Er hatte sich viel Mühe mit meinem Schwimmtraining gegeben, weil es ihm so wichtig gewesen war, dass ich nach dem Unfall meine Angst vor dem Wasser überwand, und nun enttäuschte ich ihn mit meiner Unvorsichtigkeit. Von Osten frischte der Wind auf und die Wellen schubsten mich noch stärker herum. Ich versuchte, gleichmäßig zu kraulen, spürte aber die Erschöpfung in jedem Knochen. Also zwang ich mich, langsamer zu schwimmen. Wenn ich einen Krampf in den Beinen bekam, war ich verloren. Allerdings konnte ich mit normalen Schwimmzügen nichts gegen die Kraft des aufgewühlten Meeres ausrichten. Wieder krachte eine Welle über mich hinweg und ich ging unter. Panik machte sich in mir breit und ich hielt die Luft an. Hatte der Tod mir nur eine kleine Verschnaufpause gegönnt? War dieses Leben nie für mich bestimmt gewesen? Wundern würde mich das nicht. Richtig viel Glück hatte ich bisher nicht gehabt. Eine weitere Welle presste mich nach unten. Der Druck auf meine Lungen wurde unerträglich, bis ich glaubte, sie würden platzen. Panisch bewegte ich Arme und Beine, um an die Oberfläche zu gelangen, aber ich hatte keine Chance. Ich sank tiefer und tiefer, mein langes Haar umwölkte mein Gesicht und ich schloss die Augen. Dann sollte es eben so sein, vielleicht war ein anderes Leben gnädiger. Manchmal passte ein Leben einfach nicht zu einer Seele. Würde Granny je erfahren, was mit mir geschehen war?

Das verhasste Trudeln im Kopf machte sich ohne jegliche Vorankündigung bemerkbar. Bitte nicht das auch noch! Aber es war bereits zu spät. Türkisfarbener Seelenschimmer sickerte aus meinen Fingerspitzen und vermischte sich mit dem Wasser. Ich spürte das intensive Prickeln in meinem Bauch, das einem ungeplanten Zeitsprung vorausging, und das Kribbeln wurde stärker. Übelkeit stieg meine Speiseröhre hinauf, während sich alles um mich herum drehte und ich zurückkatapultiert wurde. Es ging so schnell, dass ich nicht mal nach dem Seelenanker an meinem Hals greifen konnte. Das Amulett sollte mich genau hiervor bewahren und an dieses Leben binden. Ich war wirklich die mieseste Seelenmagierin aller Zeiten.

Und dann saß ich in einem kratzigen braunen Wollkleid auf einem Holzstuhl. Meine Hände waren auf der Rückseite des Stuhls gefesselt und meine Schultern schmerzten. Seelenmagierinnen konnten in jede beliebige Zeit springen. Dabei gingen sie entweder direkt in eins ihrer vorherigen Leben zurück und verschmolzen dort mit ihrem ehemaligen Ich, oder sie sprangen in eine Zeit und an einen Ort ihrer Wahl, an dem sie vorher nicht gelebt hatten, dann war es allerdings angeraten, sich vorher dieser Zeit anzupassen, um nicht aufzufallen. Nun war ich ganz offensichtlich in einem meiner vorigen Leben gelandet und mit meinem damaligen Körper verschmolzen. Das war die gute Nachricht. Ein halb nacktes Mädchen in Sportunterwäsche ließ sich im 13. oder selbst noch im 18. Jahrhundert nur schwer erklären. Die schlechte Nachricht waren die Männer um mich herum, die mich anbrüllten. Geifernde, verbrauchte Gesichter und hasserfüllte Augen, wohin ich mich wandte. Was sie mir vorwarfen, konnte ich ziemlich gut aus ihren Anschuldigungen heraushören. »Magie ist verboten«, fauchte einer, und als mich sein schaler Atem traf, wurde mir noch übler. Ich unterdrückte den Würgereflex. »Sie ist von Satan gesandt«, keifte ein anderer. »Wir müssen sie ausmerzen, sonst zeugt sie Kinder mit ihm.«

Ich fragte mich, was ich angestellt hatte, dass sie mich für eine Hexe hielten. Hatte ich auch in diesem Leben meine Magie nicht ausreichend beherrscht? Ich blickte mich um. Wir mussten in einer Kirche oder einem Gemeindehaus sein. Vor mir standen Bänke und darauf saßen verängstigte Frauen und Kinder. Keiner von ihnen würde mir helfen. Hinter mir zerrte jemand an meinen Haaren und dann fielen dichte rote Locken auf meinen Schoß. »Wir sollten sie nach Hexenmalen untersuchen«, rief eine alte Frau aus den Reihen der Zuschauerinnen. Von den schmierigen Typen ließ ich mich sicher nicht anfassen. Bei der Vorstellung wurde mir so schlecht, dass ich mich vorbeugte und tatsächlich erbrach. Sie hatten es ja nicht anders gewollt. Kälteschauer schüttelten mich und keuchend rang ich nach Atem. Mist. Mist. Mist. Dieses Mal saß ich wirklich in der Patsche.

»Wir werden sie der Hexenprobe unterziehen«, ließ sich eine deutlich kultiviertere Stimme vernehmen. Ich drehte den Kopf und erkannte einen Priester. Aber ich erkannte auch die schwarzen, gefühllosen Augen. Lazarus Rimmon! Hatte er die Leute aufgehetzt? In wie vielen Leben verfolgte er mich eigentlich? Ich hatte ihn seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen, aber vergessen hatte ich seinen Anblick nie. Er sah immer noch aus wie damals, nur hatte er längst nicht so eingefallene Wangen und so schütteres Haar. An Seelen, die er sich einverleiben konnte, schien hier kein Mangel zu herrschen. Jetzt trat er neben mich, eine dunkle Haarsträhne löste sich aus seiner Frisur und fiel ihm über die Stirn. Er war unbestreitbar ein sehr attraktiver Mann und vermutlich boten die Frauen in dieser Zeit ihm ihre Seelen freiwillig an. Mit der Kuppe seines Zeigefingers strich er über meine Wange. Dabei lächelte er triumphierend und sog genüsslich meinen Duft ein. Angst schoss durch mich hindurch. Seelenjäger konnten nicht in der Zeit springen. Solange sie frische Seelen bekamen, waren sie einfach unsterblich. Er wusste nicht, dass wir uns in der Zukunft wiederbegegnen würden. Wenn er mir aber heute die Seele stahl, würde es meine Zukunft nicht geben. Ich musste etwas unternehmen. Irgendwas. Wie stark war meine Magie in diesem Leben gewesen?

Lazarus’ Finger war eiskalt. Wie viele unschuldige Seelen würde er sich zukünftig einverleiben? Selbst für einen Jäger war diese lange Lebensdauer ungewöhnlich. »Und wir werden die Probe sofort durchführen«, verkündete er jetzt laut und richtete sich auf. »Ein kleines Schauspiel sollten wir meinen Schäfchen schon bieten. Meinst du nicht auch?«

Die Leute klatschten zustimmend Beifall. Die Frauen hingen an seinen Lippen. Ich konnte es ihnen nicht mal verdenken. Er war ein schöner Mann und vermutlich versprach er ihnen die Erlösung von all ihren Sünden. Lazarus durchschnitt die Fesseln und riss mich von dem Stuhl. Dann packte er einen meiner Arme und ein anderer Mann den anderen. Sie zerrten mich aus dem Haus. Dunkle Nacht umfing uns. Die johlende Menge folgte uns mit brennenden Fackeln. Ich musste es unbedingt schaffen, zurückzuspringen, oder ich musste meine Magie einsetzen. Ich tastete nach ihr, aber ich spürte sie nicht. Jedenfalls nicht genug davon, um sie zu bündeln. Hatte ich sie in diesem Leben in mir verschließen können? Wenn ja, könnte das jetzt meinen Tod bedeuten. Ich wand mich in dem Versuch, mich zu befreien, aber Lazarus’ Griff verstärkte sich nur. »Wenn du klug bist, gestehst du freiwillig«, flüsterte er gelassen in mein Ohr. »Dann mache ich dir deinen Tod leichter.«

»Vergiss es«, zischte ich zurück. »Eher lasse ich mich verbrennen, als dass du meine Seele bekommst.«

Er lächelte und seine Augen glitzerten bei seinen nächsten Worten. »Noch einmal wirst du nicht brennen, Kleines. Auf diesen Tag habe ich schon viel zu lange gewartet.«

Abrupt blieb er stehen, und bevor ich über seine Worte nachdenken konnte, stieß er mich ohne eine weitere Ankündigung in einen eiskalten, stinkenden Tümpel. Ich schluckte brackiges Wasser, ruderte mit den Armen und schnappte nach Luft, als es mir schließlich gelang, das Gesicht über die Wasseroberfläche zu halten. Lazarus stand am Ufer und lächelte. Das Gewicht des mit Wasser vollgesogenen, dicken Wollstoffs des Kleides zog mich wieder in die Tiefe, als hätten sie mir einen Stein um den Hals gebunden. Panisch versuchte ich mich zu konzentrieren. Wenn sie meinen Körper derart geschwächt aus dem Wasser zogen, hatte Lazarus ein leichtes Spiel mit meiner Seele. Manche dieser ungeplanten Zeitsprünge dauerten nur ein paar Minuten, manche schon mal eine Stunde. Zurück war ich bisher immer gekommen, aber noch nie hatte ich in solch einer Gefahr geschwebt. Ich musste in meine Zeit, hatte aber nie gelernt, alleine gezielt zu wandern. Genau das wurde mir nun zum Verhängnis. In meinem Leben ertrank ich zwar auch gerade, aber es kam mir weniger schlimm vor, wegen meiner eigenen Dummheit zu ertrinken, als wegen der Dummheit meiner Mitmenschen, die Lazarus’ Lügen geglaubt hatten. Ich strampelte mit den Beinen und blickte nach oben. Ein gleißender Blitz zuckte über die Wasseroberfläche und ich spürte die Seelenmagie selbst hier im Wasser. Andere Magierinnen mussten gekommen sein, um mich zu retten. Ich würde nicht sterben! Als das Kreiseln in meinem Kopf einsetzte, hieß ich die Übelkeit ausnahmsweise willkommen.

Sekunden später schmeckte das Wasser wieder salzig und das Gewicht des Kleides war verschwunden. Stattdessen legte sich ein Arm um meine Taille. Ich wurde hochgezogen und mein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche. Gierig schnappte ich nach Luft. Hatte ich etwa Lazarus mit in diese Zeit gebracht? Panisch begann ich um mich zu schlagen. Mit aller Kraft drückte ich seine Hände von meinem Bauch und trat mit den Füßen nach ihm. Seelenschimmer schoss aus meinen Fingern. Es nützte gar nichts. Der Mann besaß leider unvorstellbare Kräfte. »Hör auf«, befahl er. »Du bist zurück in deiner Zeit. Dir wird nichts geschehen. Hol einfach tief Luft und entspann dich oder wir ertrinken beide.« Ganz offenbar war er weder Lazarus noch einer dieser Hexen hassenden Männer aus dem Mittelalter. So weit, so gut. Aber wer war er dann? Kein normaler Mensch ging nachts bei so unruhiger See ins Meer, um ein Mädchen zu retten. Ich erschlaffte in seinem Arm und sog tief die kühle Nachtluft in die Lungen. Das Wasser hatte sich mittlerweile etwas beruhigt, aber der Wind wehte noch ziemlich kräftig. Mein Seelenschimmer zog sich zurück, das Kribbeln verschwand, und mein Rücken wurde an einen stahlharten Körper gedrückt, der sich umgehend in Bewegung setzte. Ich sah den Mond und die vertraute Sternenkonstellation. Nur ein paar Sekunden länger, und ich wäre ertrunken, in welcher Zeit auch immer. Wenigstens hatte Lazarus auch in der Vergangenheit meine Seele nicht bekommen, sonst gäbe es mich in diesem Leben gar nicht. Aber weshalb war er auch damals schon hinter mir her gewesen?

Doch jetzt hatte ich ein ganz anderes Problem. Wer auch immer mich gerade durch das Wasser zog, wusste, wer ich war und was mir gerade passiert war. Ein Jäger konnte er nicht sein, denn Jäger scheuten das Wasser. Keines dieser Monster hätte mich vor dem Ertrinken gerettet. Es musste eine andere Erklärung geben. Die See zerrte an uns, doch mein Retter ließ sich nicht beirren. Er musste lebensmüde sein, anders war nicht zu erklären, dass er nach mir getaucht war. Er war kein Jäger und auch kein Meermensch, denn er hatte eindeutig Beine. Lange, muskulöse Beine, die sich ungeachtet der Strömungen mit gleichmäßigen Bewegungen durchs Wasser zum Strand pflügten. Meine Hände klammerten sich an seinem linken Unterarm fest, mit dem er mich an sich presste. Eigentlich war es egal, wer oder was er war. In diesem Moment war ich einfach nur erleichtert, dass er hier war und mich hielt. Wir erreichten das Ufer, und ich wurde auf die Füße gestellt, aber weiter festgehalten, was auch notwendig war, weil meine Beine mich nicht trugen. Für eine scheinbar endlose Sekunde genoss ich nur den vertrauten Sand unter meinen Füßen. Ich war nicht tot und ich war wieder zu Hause. Ich wollte meinen Retter anschauen und mich bedanken, aber stattdessen musste ich würgen. »Bitte nicht«, murmelte ich. Leider hatte ich mehr Salzwasser geschluckt als je zuvor in meinem Leben und mein Körper wollte es wieder loswerden. Um mich nicht auf seinen Füßen zu übergeben, drehte ich mich weg und geriet ins Taumeln. Eine kühle Hand griff nach mir, als ich mich in den Sand erbrach. Mein Retter strich mir das Haar aus dem Gesicht und ich erstarrte. Niemand entblößte je meine linke Gesichtshälfte. Ich hoffte inständig, dass er in dem schummrigen Licht meine Narben nicht sah. Mein Magen hob sich erneut. Geduldig hielt er mich weiter fest, bis nichts mehr aus mir herauskam und ich nur noch zitterte.

»Geht es wieder?« Ich spürte seine Hand in meinem Nacken und wünschte, ich müsste mich nicht aufrichten und ihn ansehen. Mich vor dem Ertrinken zu retten, war eine Sache. Bei mir zu bleiben, während ich mich übergab, eine ganz andere.

»Wir können hier nicht bleiben«, fuhr er fort. »Ich schätze, es wird noch Regen geben, und für diese Nacht warst du unvernünftig genug.«

»Wie bitte?« Ich blieb stehen. Hände auf die Knie gestützt, Kopf nach unten gebeugt.

»Du hast mich schon verstanden. Wer bitte geht um diese Uhrzeit schwimmen? Es ist stockfinster und ein Unwetter zieht auf.« Er schaffte es irgendwie, mich nicht loszulassen und mir trotzdem ein Handtuch über den Rücken zu legen, wo auch immer das herkam.

»Das weiß ich alles selbst«, verteidigte ich mich nicht sonderlich überzeugend. »Du musst es mir nicht noch unter die Nase reiben.«

»Glücklicherweise war dein Seelenschimmer deutlich genug zu sehen und du warst nicht lange weg. Ich hätte nicht ewig da draußen warten können«, fuhr er mit seinen Vorwürfen fort. Dabei hob er kaum die Stimme, sondern zählte einfach der Reihe nach meine Vergehen auf.

»Ich habe dich nicht darum gebeten, mich zu retten. Warum hast du das getan? Wir hätten beide sterben können.«

»Na, glücklicherweise hat das Schicksal uns ein anderes Ende zugedacht«, entgegnete er trocken und beantwortete meine Frage nicht. »Soll ich dich tragen? Du musst dringend ins Warme.« Seine Hand strich über meine Haut. Die Berührung stand in krassem Gegensatz zu seinen Vorwürfen. Mir wurde warm. Leider nur im Gesicht.

»Nein, danke. Ich habe Beine.« Ich richtete mich auf. »Wenn uns jemand sieht, erholt mein Ruf sich nie davon.«

»Hier ist niemand, der dich sehen könnte.« Mittlerweile klang er noch unwilliger.

»Hast du eine Ahnung. Wir leben hier auf einer Insel, da sind sogar die Vögel geschwätzig.« Es war nicht hell genug, um jede Einzelheit seines Gesichts zu erkennen, aber was ich sah, wirkte irgendwie einschüchternd. Trotz der Anstrengung, die er gerade hinter sich gebracht hatte, strahlte er eine unbändige Energie aus. Beim kleinsten Anzeichen von Gefahr würde er mich packen und fortbringen. Na ja, das war vermutlich ein Überrest meiner Kleinmädchenträume. Hier brachte niemand irgendwen irgendwohin. Trotzdem betrachtete ich fasziniert das Muskelspiel seiner glatten Brust, auf der noch Wassertropfen funkelten. Ich schüttelte den Kopf und wich einen Schritt zurück. Er war ein Fremder und ein Fremder war immer eine potenzielle Gefahr für mich. Diese kleine Bewegung oder sein Anblick, der aus einem Meter Entfernung noch überwältigender war, war zu viel für meinen Gleichgewichtssinn, und ich taumelte. Sein Arm schnellte vor und er zog mich wieder an sich. »Bist du sicher, dass es dir gut geht? Soll ich dich zu einem Arzt bringen?«

Meine Hände lagen plötzlich auf seinen muskulösen Oberarmen, und ich zwang mich, nicht über die nasse Haut zu streichen. Keine Ahnung, wie meine Finger überhaupt dorthin gekommen waren. »Es ist alles in Ordnung. Gleich geht es wieder.«

»Dann lasse ich dich jetzt los«, warnte er mit dieser dunklen, samtigen Stimme, die mich ganz durcheinanderbrachte.

Bitte nicht, flüsterte die unartige Stimme in meinem Kopf. »Okay«, sagte mein vernünftiger Mund, wofür ich ihm dankbar war.

Er trat einen Schritt zurück und gab mich frei. Dabei ließ er mich keine Sekunde aus den Augen. Wenn ich fiel, würde er mich wieder auffangen. Nicht gern, wie ich seinem missbilligenden Blick entnahm, aber er würde es tun. Der dumpfe Kopfschmerz, der schon den ganzen Tag in meinem Kopf gepocht hatte, meldete sich zurück. Plötzlich wollte ich nur noch ins Bett, ganz egal, wie viele Seelenmagierinnen, die mir Vorträge über mein mangelndes Verantwortungsbewusstsein halten wollten, mein Zuhause bevölkerten. Ich zog meine Sachen über die nasse Sportunterwäsche und schlüpfte in meine Schuhe. Dabei ignorierte ich standhaft die Kälte, während er mir nicht von der Seite wich und ebenfalls Jeans, Pullover und Sneakers anzog.

»Soll ich dich wenigstens nach Hause bringen?«

»Erst, wenn du mir sagst, weshalb du weißt, was ich bin.«

»Wer sagt, dass ich das tue?« Deutlich sah ich, wie ein imaginärer Schutzschild sich zwischen uns schob, hinter dem er seine eigenen Geheimnisse verbarg.

Trotz seiner Abwehr verschränkte ich die Arme vor der Brust und begann aufzuzählen. »Du hast im Meer gewartet, bis ich zurückgesprungen bin. Du hast meinen Seelenschimmer gesehen und bist weder erstaunt noch läufst du schreiend davon.«

Für ein paar Sekunden fochten wir ein stummes Blickduell aus. »Das hättest du wohl gern.«

Er war mir ein Rätsel. Ob er von dem Campingplatz oberhalb der Bucht gekommen war? Alderney war bei Wassersportlern sehr beliebt und mit diesem Körper musste er ein Surfer sein. Aber ein einfacher Surfer, der sich mit Seelenmagie auskannte und zufällig vorbeigeschwommen kam, während ich fast ertrank, war ziemlich unwahrscheinlich. Kalter Wind strich über meine klammen Sachen, und ich schauderte bei der Erinnerung, dass ich in diesem anderen Leben gerade Lazarus gegenübergestanden hatte.

Mein unfreundlicher Retter hob seine Jacke vom Boden auf und legte sie mir um die Schultern. »Zieh die über«, befahl er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Eigentlich sollte ich ihm die Jacke an den Kopf werfen, aber ich trug nur ein dünnes Sportshirt, also schlüpfte ich hinein. »Danke jedenfalls für die Rettung. Vielleicht kann ich mich bei unserer nächsten Begegnung revanchieren.«

Sein Kiefer verkrampfte sich. »Ein nächstes Mal wird es nicht geben, denn noch mal wirst du nicht in der Dunkelheit baden gehen. Was, wenn ich dich nicht entdeckt hätte?« Jetzt wirkte er regelrecht aufgebracht. Er strich sich das Haar zurück. Es war so dunkel wie die Nacht. Nass hing es ihm fast bis auf die Schultern und ließ ihn ein bisschen wie einen Piraten aussehen. Einen wütenden Piraten, der es nicht erwarten konnte, mich loszuwerden.

»Ich dachte eigentlich eher, dass ich dich in der Stadt auf einen Kaffee einlade«, gab ich ebenso unfreundlich zurück und verkniff mir ein Augenrollen. Für wie blöd hielt er mich eigentlich?

»Wo steht dein Auto?«, fragte er als Nächstes.

»Zu Hause. Ich bin gejoggt.«

»Mitten in der Nacht?« Ich hätte nicht gedacht, dass er noch empörter klingen könnte. Langsam wurde es beinahe lustig.

Ich zuckte mit den Schultern. »Da ist nichts dabei. Hier auf der Insel fressen die Katzen nicht mal Mäuse. Friedlicher geht es kaum.«

»Das glaubst aber auch nur du. Ich bringe dich heim, sonst erfrierst du noch auf dem Rückweg, und dann habe ich dich ganz umsonst gerettet. Und darüber gibt es keine Diskussion.«

Himmelherrgott noch mal. Kopfschüttelnd folgte ich ihm den kleinen Weg durch das Dünengras zur Straße und sah in einiger Entfernung einen Jeep in einer der Haltebuchten stehen. Angestrengt überlegte ich, wie ich ihn am diplomatischsten loswerden konnte, als wie aus dem Nichts ein Schatten rechts von uns auftauchte. Mein Retter wirbelte herum, drängte mich hinter sich und bildete bereits einen lebenden Schutzschild, während ich die Gestalt aus meinen Albträumen noch anstarrte. »Lauf!«, schrie er und rannte direkt auf den Schatten zu.

Ich ignorierte die Anweisung. Dieses Mal würde ich nicht weglaufen. Ich hatte meinem Dad damals nicht helfen können, weil ich zu jung gewesen war. Ihn hier ließ ich nicht im Stich.

Was war hier heute Nacht eigentlich los? Wie festgenagelt blieb ich auf der Stelle stehen und beobachtete aus sicherer Entfernung, wie die beiden Schemen aufeinander zurasten. Das hier war mein richtiges Leben und ich hing nicht hilflos in einem anderen Jahrhundert fest. Hier spürte ich meine Magie mehr, als mir lieb war, und jahrelanges Training hatte mich auf diese Situation vorbereitet. Ich kanalisierte die Energie in meinem Körper. Der finstere Schatten prallte mit meinem Retter aufeinander und ein schrilles Kreischen ertönte.

Genau wie die Jäger, denen ich in meiner Kindheit begegnet war, trug auch dieser einen langen schwarzen Mantel, und sein Gesicht wurde von einer Kapuze bedeckt. Je länger ein Jäger überlebte, umso mehr verlor er von seiner Körperlichkeit. Jedenfalls dann, wenn es ihm nicht gelang, regelmäßig neue Seelen zu vereinnahmen. Diese geraubten Seelen banden ihn an das irdische Dasein. In früheren Zeiten, als Europa noch von Kriegen und Krankheiten heimgesucht wurde, war es viel leichter für die Jäger gewesen, Seelen zu rauben. Geschwächte Menschen hatten ihnen nichts entgegenzusetzen. Denn bekamen Jäger nicht ausreichend Nahrung, verfielen ihre Körper, und sie glichen irgendwann Gespenstern oder Geistern. Meist starben sie dann, weil ihnen die Kraft fehlte, frische Seelen zu vereinnahmen. So menschlich, wie Lazarus bei unserer Begegnung gerade eben ausgesehen hatte, herrschte bei ihm in diesem Jahrhundert kein Mangel an frischer Seelenenergie. Aber so menschlich war er bei unserer ersten Begegnung in meiner Kindheit nicht gewesen. Ich pirschte mich näher an die beiden heran. Acht Jahre hatten wir friedlich und von den Jägern unbehelligt auf der Insel gelebt. Wo kam dieser so plötzlich her? Trotz meiner feuchten Kleidung begann ich zu schwitzen. Zwar besaß ich grundsätzlich die Fähigkeit, einen Seelenjäger zu töten, aber ich hatte sie noch nie eingesetzt. Die beiden gingen zu Boden und wälzten sich auf der harten Erde. Die Kapuze rutschte vom Kopf des Jägers und ich blickte in sein entstelltes Gesicht. Es sah genauso aus wie das Gesicht, das sich damals gegen die Autoscheibe gedrückt hatte. Diese Monster waren für den Tod meiner Eltern verantwortlich. Schwarze, stumpfe Augen starrten mich an und er fletschte die braunen Zähne, Haarreste hingen von der faltigen Kopfhaut herab und fahle Haut spannte sich über hervorstehende Knochen.

»Ich hatte gesagt, du sollst weglaufen«, presste mein Retter hervor. Seine Hände lagen um das, was vom Hals des Jägers übrig war, und er drückte zu.

Aber in seiner Gier entwickelte das Monster unvorstellbare Kräfte. Es bäumte sich auf und schüttelte ihn ab. Dann trat er meinem Retter in die Seite, der sich daraufhin stöhnend zusammenkrümmte. Ich rührte mich nicht, sondern wartete geduldig, bis der Jäger sich mir zuwandte und auf mich zuschwebte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Die dünne Linie, die seinen Mund bildete, verzog sich zu einem grausamen Lächeln. »Wen haben wir denn da?«, röchelte er. »So viel Energie«, zischte er erfreut. Schnuppernd hielt er das Loch, wo mal eine Nase gewesen war, in die Luft.

Da hatte er ganz recht und genau dieses Übermaß würde ihm jetzt zum Verhängnis werden. Meine Hände pulsierten. Nur noch ein Schritt und er saß in der Falle. Doch bevor ich ihm meine Magie entgegenschleudern konnte, sauste etwas Glänzendes durch die Luft und bohrte sich in seinen Hals. Braunes Blut pulsierte aus der Wunde und rann über die Kutte. Ein Messer steckte tief in seinem Hals. Ein Silbermesser. Der Jäger ging in die Knie und verdrehte die Augen, sein Körper zuckte wild, als er auf die Seite fiel, und dann verwandelten sich seine Überreste in eine Art Asche, die der Wind wegblies. Ich stand immer noch an derselben Stelle und starrte auf den Boden, als sich jemand neben mir aufbaute.

»Was war an dem Befehl Lauf eigentlich misszuverstehen?«

»Weglaufen ist immer nur die letzte Option«, erwiderte ich leise. »Willst du mir nicht lieber erklären, was das hier gerade war?« Er hatte mal eben einen Seelenjäger getötet und wollte mit mir darüber diskutieren, weshalb ich nicht fortgelaufen war?

»Will ich nicht. Ich bringe dich jetzt nach Hause und da bleibst du gefälligst. Keine nächtlichen Ausflüge mehr, verstanden?«

»Sag mal, spinnst du? Du tauchst aus dem Nirgendwo auf, rettest mich vor dem Ertrinken, tötest einen Seelenjäger und bildest dir ein, mir Befehle erteilen zu können? Hat er dich vielleicht verletzt? Am Kopf? Ich wäre auch allein mit ihm fertiggeworden. Sag mir lieber, wer du bist und weshalb du zufälligerweise ein Silbermesser mit dir herumschleppst?«

Für meinen Geschmack beschäftigte er sich plötzlich etwas zu intensiv damit, das braune Blut des Jägers mit einem Stofftaschentuch, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte, von der glänzenden Klinge zu wischen, anstatt mir zu antworten. »Ich bin nur jemand, der zufällig vor Ort war, als du überfallen wurdest.«

»Ja klar, und ich bin Dornröschen.« Aufgebracht erwiderte ich seinen Blick.

Es beeindruckte ihn nicht im Mindesten. »Steigst du jetzt in den Wagen, damit wir verschwinden können, bevor noch mehr von den Typen auftauchen?«

Das war ein vernünftiger Vorschlag. Jäger jagten normalerweise nicht allein, sondern in Rudeln. Ich riss die Autotür auf und kletterte in den Angeberwagen. Ungeduldig wartete er, bis ich mich angeschnallt hatte.

»Denkst du, das war ein Späher?« Sie hatten mich gefunden. All der Schutz hatte nichts genützt. Wie lange würde es dauern, bis Lazarus persönlich kam?

»Vermutlich. Und gewöhnlich folgt einem Späher eine ganze Armee. Vor allem, wenn der Späher nicht zurückkommt.«

Dabei waren wir all die Jahre so vorsichtig gewesen. Der Zirkel hatte einen unsichtbaren Schirm aus Magie über die Insel gelegt und mich versteckt. Etwas musste ihn zerstört haben.

»Wo wohnst du?« Er startete den Wagen und drehte an den Reglern der Klimaanlage.

»Du kannst mich in der Victoria Street absetzen«, antwortete ich kurz angebunden. »Es wäre wirklich gut, wenn uns niemand sieht, ich will keinen Ärger mit meiner Großmutter.«

»Und den bekommst du, wenn ein fremder Mann dich im Morgengrauen nach Hause bringt?« Langsam fuhr er los, und ich sank in den Sitz, froh über die Erfindung der Sitzheizung und darüber, die zweieinhalb Meilen nicht laufen zu müssen.

Sauer wäre Granny vor allem, wenn sie erfuhr, dass besagter Mann mich vor einem Seelenjäger gerettet hatte. Misstrauisch betrachtete ich ihn. Weshalb tat er so geheimnisvoll? »Ich sag mal so, es gäbe Gerede und das will ich vermeiden.« Und ich wollte auf keinen Fall, dass eine Horde aufgedrehter Seelenmagierinnen ihn unter die Lupe nahm, wenn er mich direkt vor meiner Tür absetzte. Um diese Zeit hatten sie mit Sicherheit sämtliche Punschvorräte ausgetrunken und dann wurde die eine oder andere von ihnen unberechenbar. Sie brächten es fertig und verschleppten einen so attraktiven Mann, der zudem noch gegen Jäger kämpfen konnte, an den Hof Ludwigs XIV., nur um ihn damit zu beeindrucken. Darauf wollte ich es nicht ankommen lassen. Andererseits konnte Granny mir mit Sicherheit sagen, was es mit ihm auf sich hatte. Ich hatte noch nie von einem gewöhnlichen Mann gehört, der einen Jäger einfach so tötete. Jedenfalls nicht im 21. Jahrhundert. Außer er war ein … Ich schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Mein Vater war der letzte Hüter gewesen. Granny hatte ihn nach meiner Geburt in das Geheimnis der Seelenmagie eingeweiht, und er hatte geschworen, mich mit seinem Leben zu beschützen, und das hatte er ja auch getan. Ansonsten gab es meines Wissens keine Hüter mehr. Die Menschen waren zwar nicht mehr so abergläubisch und furchtsam wie früher, aber sie standen der Magie trotzdem skeptisch gegenüber. Es war besser, wenn niemand von uns wusste.

Ich betrachtete seine langen, schlanken Finger auf dem Steuerrad und dann sein Profil. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und die Stirn gerunzelt, als ärgerte er sich über etwas. Es war nicht schwer zu erraten, auf wen er wütend war. Ich lotste ihn bis zu Gretas Blumengeschäft. »Hier kannst du mich rauslassen«, bat ich. »Es sind nur ein paar Meter. Danke fürs Bringen.«

Er hielt an, stieg aus, ohne etwas zu sagen, ging um das Auto herum und öffnete mir die Tür. »Tust du mir den Gefallen und verlässt vorerst nachts nicht mehr das Haus?«

»Wenn du mir erklärst, wer dir beigebracht hat, Seelenjäger zu töten.«

Sichtlich verärgert schüttelte er den Kopf. »Du musst deiner Großmutter sagen, was passiert ist. Sie wird wissen, was zu tun ist.«

Das wurde immer mysteriöser. Weshalb wusste er, dass Granny eine Magierin war? Sie würde mich auf der Stelle in eine andere Zeit bringen und mich dort verstecken, wenn ich ihr hiervon erzählte. Aber das würde ich nicht zulassen. Als Kind hatte ich keine Wahl gehabt, als sie mich auf dieser Insel versteckt hatten. Heute wollte ich selbst über mein Leben bestimmen, und ich ließ mir nicht von einem Unbekannten vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen hatte.

»Ach, vergiss es«, unterbrach er meine Überlegungen. »Sei einfach vorsichtiger.«

Bevor ich irgendwas erwidern konnte, hatte er schon die Autotür geschlossen, den Wagen umrundet, war auf seiner Seite wieder eingestiegen und fuhr davon. Verblüfft, dass er sich nicht mal verabschiedet hatte, stand ich noch mindestens eine Minute am Straßenrand, sah den Rücklichtern hinterher und rannte dann die letzten paar Meter nach Hause. Ich brauchte dringend eine heiße Dusche. In Filmen und Büchern waren die Lebensretter doch immer nett und charmant. Klar, dass ich an einen unfreundlichen Bestimmer geraten musste.

Als ich leise die Ladentür aufschloss, hörte ich tatsächlich noch Gemurmel aus den hinteren Räumen. Auf den Sesseln und dem Tresen lagen bunte Mäntel oder gestrickte Überwürfe. Es roch nach verbrannter Myrrhe, dem aus mir unerfindlichen Gründen beliebtesten Duft unter Seelenmagierinnen, und überall standen leere Gläser oder Tassen mit Punschresten herum. Ihre Seelen konnten noch so rein sein, von Ordnung hielten die Mitglieder des Zirkels nicht allzu viel. Ich hatte allerdings keine Lust, jetzt mit dem Aufräumen zu beginnen. Das konnte warten. Lautlos schlich ich zur Treppe, als sich ein Schatten vor mir aufbaute. Ich schrie leise auf und erkannte dann Selina Montagues Gesicht. Sie lächelte dünn. »So schreckhaft, Sasha?« Ihr Blick glitt prüfend über mich und blieb an der Männerjacke hängen. Ihre sorgfältig gezupfte Augenbraue ging in die Höhe. »Wo warst du?«

»Joggen«, gab ich kurz angebunden zurück. Sie war zwar die Vorsitzende des Zirkels, aber deswegen war ich ihr keine Rechenschaft schuldig.

»Möchtest du dich nicht noch etwas zu uns gesellen?« Sie hob das Punschglas an ihre Lippen und trank einen Schluck. Mein Blick blieb an den blutrot geschminkten Lippen hängen. Wie fast immer trug sie ihr dunkles Haar zu einem strengen Dutt gebunden, was ihre hohen Wangenknochen und ihre mandelförmigen Augen unterstrich.

»Ich würde lieber duschen gehen und schlafen.«

Selina nickte und trat etwas beiseite. »Dann wünsche ich dir schöne Träume.«

»Danke schön.« Ich schob mich an ihr vorbei. Rosenduft umgab sie.

»Ich gehe in den nächsten Tagen an Richards Hof. Möchtest du mich nicht doch einmal begleiten?«

Diese Frau konnte es einfach nicht lassen. »Vielen Dank, Selina. Aber nein. Ich habe hier genug zu tun.«

»Wie du meinst. Wenn du es dir je anders überlegst, weißt du ja, wo du mich findest.« Sie stöckelte mit ihren High Heels in Richtung Wintergarten. Ich sah ihr hinterher, bis ihre schlanke Silhouette verschwand. Dann rannte ich in mein Zimmer. Mittlerweile fror ich erbärmlich. Ich zog die Jacke meines unbekannten Retters aus und hängte sie über den Stuhl, dann befreite ich mich von den feuchten Klamotten, duschte ausgiebig und schlüpfte in eine warme Haushose und einen ausgeleierten Wollpullover. Danach kuschelte ich mich in mein Bett und starrte die Jacke an.

Kurz bevor ich einschlief, fiel mir noch etwas ein. Bei meinem ungeplanten Zeitsprung hatte ich fremde Magie gespürt. Wer war zu meiner Rettung gekommen? War es Selina gewesen? Ich hätte sie vorhin danach fragen können. Aber dann hätte ich ihr erzählen müssen, was passiert war. Ich seufzte und wünschte mir, ich könnte mein Seelenbuch auch bekommen, ohne in den Zirkel einzutreten. Aber das war der Preis, den ich dafür zahlte, meine Bestimmung nicht anzunehmen. Es war nur schwer auszuhalten, weil ein Seelenbuch zu seiner Magierin gehörte.

In unserem Seelenbuch vermerken wir die wichtigsten Ereignisse unserer vorherigen Leben, und sobald wir beim Eintritt in den Zirkel unser Buch zurückerhalten, können wir uns an all diese Leben erinnern. Ein Seelenbuch ist ein komplizierter magischer Gegenstand, der diese Erinnerungen häppchenweise zurückgibt. Mir blieben sie in diesem Leben verwehrt. Allerdings, sagte ich mir, erinnerten sich andere Menschen auch nicht an die Leben, die ihre Seelen bereits hinter sich gebracht hatten. So schlimm konnte es nicht sein. Was ein normaler Mensch konnte, musste für mich auch möglich sein.

2. Kapitel

Alderney, 26. bis 31. August 2019,Gegenwart

Nachdem ich am nächsten Nachmittag das Chaos beseitigt hatte, radelte ich zum Campingplatz und erkundigte mich bei der Eigentümerin Zoe unauffällig nach einem gut aussehenden jungen Mann. Leider beherbergte sie derzeit nur drei Familien, außerdem hatten noch ein paar Mädchen ihr Zelt dort aufgeschlagen. Ich überlegte, sie zu fragen, ob ich einmal über den Platz laufen dürfte, aber das hätte sie bloß noch neugieriger gemacht, und ganz St. Anne würde spätestens morgen über meine Nachforschungen reden. Im Braye Beach Hotel oder den diversen Pensionen nachzufragen, wäre noch auffälliger gewesen, also ließ ich es bleiben. Immerhin hatte ich versucht, ihn zu finden. Dann würde ich die Jacke eben behalten und ihn vergessen. Das war sowieso klüger. Ich hatte das untrügliche Gefühl, dass er, wer immer er gewesen war, meinen Bemühungen, ein normales Leben zu führen, nicht gerade zuträglich sein würde.

Mein Vorsatz, ihn zu vergessen, ließ sich leider nicht in die Tat umsetzen, denn in den folgenden Tagen dachte ich unablässig an ihn, obwohl ich mit allen Mitteln versuchte, mich abzulenken. Ich half Onkel Will, die Kirche für eine Hochzeit zu schmücken, backte mit Meggie jede Menge Cookies, staubte die Bücherregale im Laden ab und sortierte die Kisten mit den Kristallen neu. Während ich all dies tat, fragte ich mich immer wieder, wer er gewesen war. Ob er wieder abgereist war? Allerdings hatte es in den letzten Tagen stark gestürmt, die Fähre hatte er also nicht nehmen können. Ich hätte ihn zu gern wenigstens noch ein Mal gesehen. Hauptsächlich, weil ich mir aus dieser kurzen, diffusen Erinnerung ein Bild von ihm gebastelt hatte, das unmöglich der Wirklichkeit entsprechen konnte. Er war einfach nur ein junger Mann, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war und verdammt gut schwimmen konnte, ein Silbermesser bei sich trug und ziemlich bestimmend gewesen war. Er war definitiv kein Prinz, der den Job übernehmen würde, mich vor Lazarus Rimmon zu retten. Das konnte ich nur selbst.

Der Seelenjäger, der uns angefallen hatte, war wohl tatsächlich nur ein Einzelgänger gewesen und zu hungrig, um die Situation richtig einzuschätzen. Sich als einzelner und halb verhungerter Jäger einer Magierin entgegenzustellen, war einfach nur dumm gewesen. Die Magie der vielen Seelenmagierinnen, die die Nacht auf der Insel verbracht hatten, musste den Schutzschild geschwächt und ihn angelockt haben. Wäre er einer von Lazarus’ Spähern gewesen, hätten wir längst ein viel größeres Problem. Ich würde die ganze Sache einfach für mich behalten. Niemand musste davon erfahren.

 

Granny rührte in ihrem Tee und las die Zeitung, als ich fünf Tage später in unseren Wintergarten kam, der direkt hinter dem Laden lag. Sie hob nicht mal ihren Blick. »Du hättest es mir auch selbst erzählen können.«

»Entschuldige.« Ich setzte mich ihr gegenüber und zog eine Tasse zu mir heran, in die ich ebenfalls Tee einschenkte. »Ich wollte dich nicht beunruhigen.« Bedächtig rührte ich Zucker in den Tee, und mein Blick klebte an den kleinen Wellenbewegungen, die der Löffel verursachte.

»Ich bin nicht beunruhigt, Schatz.« Grannys Teelöffel klirrte gegen das dünne Porzellan. »Ich bin nur froh, dass dir nichts passiert ist.«

»Woher weißt du überhaupt davon?« Endlich sah ich auf und stellte mich ihrem Blick.

»Mr Larson hat dich in aller Herrgottsfrühe aus dem Auto eines jungen Mannes steigen sehen und es gestern Selina erzählt und die hat es brühwarm Greta berichtet und Greta hat mich gerade angerufen. Selina war sehr empört, du weißt ja, wie sie ist.«

Und ob ich das wusste. Selina nahm aus irgendeinem Grund an, sie wäre meine engste Vertraute und ich müsste ihr immer alles erzählen. Mit zehn hatte ich das vielleicht auch getan, wenn sie uns auf der Insel besucht hatte. Mit achtzehn tat ich das bestimmt nicht mehr, obwohl sie mittlerweile auch hier lebte. Ihr Haus stand außerhalb der Stadt in der Longis Bay, trotzdem drang jedes Gerücht an ihre Ohren. »Es ist ein Wunder, dass es ganze fünf Tage gedauert hat, bis dieser neugierige Mann sein Wissen herausposaunt hat«, sagte ich erleichtert. Wenigstens wussten weder Granny noch Selina etwas von dem getöteten Seelenjäger.

»Seine Gicht hat ihm zu schaffen gemacht, deswegen kam er ein paar Tage nicht aus dem Haus.« Sie zwinkerte mir zu.

Und diese Tage hatte er am Fenster hinter seiner Gardine verbracht. Ich beschloss, die Hälfte zu beichten. »Meine Magie hat sich beim Laufen nicht abgebaut und da bin ich schwimmen gegangen. Die See wurde ziemlich unruhig und der junge Mann hat mich aus dem Wasser gezogen.«

»Wie unruhig?«

Ich wand mich unter ihrem durchdringenden Blick. »Ich hatte ein paar Schwierigkeiten.«

Granny nickte. Es war nicht ihre Art, sich unnötig über Dinge zu echauffieren, die sie nicht mehr ändern konnte. »Ist sonst noch etwas Nennenswertes passiert?«

»Nein. Er hat mich nach Hause gebracht, weil es nach Regen aussah, und dann ist er verschwunden.«

»Dann bin ich ja beruhigt. Ich habe in diesem Leben schon Schlimmeres angestellt, als nachts baden zu gehen.« Sie lächelte und ich unterdrückte mein schlechtes Gewissen.

»Lass das bloß Onkel Will nicht hören.«

Die Falten um ihre himmelblauen Augen vertieften sich. Ihr Sohn, mein Onkel Will, Pfarrer unserer kleinen Gemeinde auf Alderney, war der vorsichtigste und fantasieloseste Mensch auf dem Planeten, und manchmal glaubte ich, er war bei seiner Geburt vertauscht worden, weil er ganz anders als Granny war. Und auch wenn ich mich nur noch dunkel an meine Mum erinnerte, war sie bestimmt tausend Mal lebenslustiger gewesen.

Meggie kam mit einem Tablett herein und grinste, als sie mich sah. Natürlich wusste auch sie längst über mein Abenteuer Bescheid. Ich grinste zurück.

Meggie war eine Novizin. Sie lebte seit einem halben Jahr bei uns, und obwohl sie nur ein Jahr älter war als ich, hatte sie deutlich mehr Lebenserfahrung. Bei ihrer Ankunft auf der Insel war sie abgemagert und schmutzig gewesen, aber daran erinnerten heute maximal noch ihre grünen Haare, die Piercings in der linken Augenbraue und die Tattoos, die sich über ihren gesamten rechten Arm zogen. Sie war das selbstständigste und unabhängigste Mädchen, das ich kannte. Ihr Leben lang war sie auf sich allein gestellt gewesen. Ihre Eltern hatten sie als Kleinkind ausgesetzt, und sie war in einem Heim groß geworden, aus dem sie mit sechzehn ausgerissen war. Danach lebte sie auf der Straße. Ich konnte nur vermuten, wie beängstigend es für sie gewesen war, als sich ihre Magie zeigte. Für einen Teenager ohne Vorkenntnisse mussten die plötzlichen Magieausbrüche ziemlich unheimlich gewesen sein. Als sie zu uns kam, hatte Granny sofort eine neugeborene Seelenmagierin in ihr erkannt und sie unter ihre Fittiche genommen. Die Seelen von Granny, ihren Freundinnen und selbst meine hatten bereits viele Leben gelebt. Aber eine Seelenmagierin mit einem ersten Leben wurde nur noch sehr selten geboren.

Meggie ließ seitdem nicht nur bereitwillig ihre Seelenmagie schulen, sondern kochte und backte für Granny und mich und hielt das Haus sauber. Sie hatte nie ein richtiges Zuhause gehabt, aber dafür war sie erstaunlich häuslich. Mir kam es manchmal so vor, als wollte sie all die verloren Momente ihrer Kindheit nachholen. Momente, in denen ihre Eltern sie hätten behüten und beschützen müssen. Momente, von denen ich trotz des Todes meiner Mum und meines Dads so viele gehabt hatte, weil Granny und Grandpa da gewesen waren.

Granny und ich hüteten uns, Meggie darauf hinzuweisen, dass sie uns nicht umsorgen musste, weil gerade das sie glücklich zu machen schien. Ich konnte ihren Drang, ständig zu kochen und zu backen, zwar nicht immer nachvollziehen, aber ich hatte schließlich auch meine Eigenheiten, die Meggie nicht hinterfragte, sondern einfach hinnahm. Das Leben hatte ihr früh beigebracht, Menschen so zu lassen, wie sie waren.

Ich war jedenfalls sehr froh, dass sie hier war. Nach Grandpas Tod vor einem Jahr war Granny lange Zeit traurig gewesen. Sie hatte ihren Seelengefährten verloren, und obwohl sie wusste, dass sie ihn in ihrem nächsten Leben wiederfinden würde, hatte sie sehr darunter gelitten. Meggies Ankunft und deren Ausbildung hatte sie von ihrem Kummer abgelenkt. Sie war unglaublich stolz auf jeden noch so kleinen Fortschritt, den Meggie machte. An Mabon Ende September sollte sie offiziell in den Zirkel aufgenommen werden. Meggie konnte es gar nicht abwarten, endlich mit ihrer Arbeit als Seelenmagierin zu beginnen und Seelenlose aufzustöbern, um diese zu erlösen.

Seelenlose waren Menschen, denen Jäger die Seele geraubt hatten. Wir durften nicht zulassen, dass sie weiterlebten, denn dann wurden sie unweigerlich selbst zu Jägern. Wenn einem Menschen die eigene Seele geraubt wurde, wurde die Gier nach einer neuen Seele so groß, dass er selbst Jagd auf einen Menschen machte und dessen Seele stahl. Und wer erst einmal die Seele eines anderen geschmeckt hatte, wurde süchtig danach. Wenn es uns gelang, einen Seelenlosen zu finden, bevor er sich eine erste Seele einverleibte, ließ er sich leichter von seinem Schicksal erlösen, als wenn er bereits ein Jäger war. Ihn zu erlösen war dabei nur eine beschönigende Umschreibung für töten. Ich war nicht neidisch auf diese Aufgabe, denn für dieses Leben hatte ich mir schließlich etwas anderes ausgesucht. Ich sortierte lieber Duftkerzen, angelaufenen Silberschmuck und antiquarische Bücher in Grannys Laden und schlug mich mit unverschämten Touristen herum. Das konnten durchaus auch sehr spannende und erfüllende Aufgaben sein. Meistens jedenfalls.

Meggie stellte einen Teller Scones vor mich auf den Tisch und setzte sich zu uns. »Na, mal ausnahmsweise Dummheiten gemacht?«

Ich zuckte nur mit den Schultern. Da bemühte ich mich, immer nur vernünftige Entscheidungen zu treffen, und dann verhielt ausgerechnet ich mich so unklug. Kein Wunder, dass ganz St. Anne sich über mich amüsierte, auch wenn kaum jemand wusste, wo das tatsächliche Problem lag. Wir hingen unsere Bestimmung nicht an die große Glocke.

Granny griff nach einem Scone und Meggie schob ihr die Clotted Cream zu.

»Dr. Barnes hat dir verboten, zu viel fettiges Zeug zu essen«, sagte ich etwas lahm zu meiner Großmutter. Je älter ich wurde, umso mehr hatte ich das Bedürfnis, auf sie aufzupassen. Ich hatte bereits meine Eltern verloren und durfte zu meinen Brüdern keinen Kontakt haben, weil ich sie nicht in diese Sache verwickeln wollte. Mein Großvater war viel zu früh gestorben und viel mehr Verluste würde ich nicht ertragen. Wenn Granny irgendwann starb … den Gedanken wollte ich nicht zu Ende denken.

»Das hat er, aber was wäre das Leben ohne Sünden?« Sie zwinkerte mir zu.

»Ungefährlich?«, schlug ich vor.

Sie lachte. »Ich dachte eher an langweilig.« Damit schnitt sie ihren Scone auf. »Will hat angerufen«, sagte Meggie, nachdem wir den ersten Hunger gestillt hatten. »Du sollst nachher in der Kirche vorbeikommen.«