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Jesper Humlin hat es nicht leicht. Zwar ist er ein gefeierter Lyriker, doch sein Verleger besteht darauf, dass er endlich einen Kriminalroman schreibt, der Kurs seiner Wertpapiere ist gefallen, seine Freundin will ein Kind von ihm, und seine Mutter hat eine Agentur für Telefonsex eröffnet. Da lernt er bei einer Lesung Tea-Bag, ein schwarzes Flüchtlingsmädchen, und ihre Freundinnen kennen. Nach und nach erfährt er ihre Geschichten. Ein Roman, der das Gegensätzlichste verbindet - eine Satire auf den modernen Literaturbetrieb und einen Einblick in die illegale Welt der Einwanderer. Ein Buch von wunderbarer Komik und tiefem Ernst - ein neues Genre, in dem Mankell wie in seinen früheren Büchern brilliert.
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Seitenzahl: 461
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Zsolnay E-Book
Henning Mankell
Tea-Bag
Roman
Aus dem Schwedischen
von Verena Reichel
Paul Zsolnay Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 2001 unter dem Titel Tea-Bag im Leopard förlag in Stockholm.
ISBN 978-3-552-05701-2
© Henning Mankell 2001
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2003/2014
Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung einer Fotografie von Peter Manninger (Lucécia Paco in: Henning Mankell, Butterfly Blues).
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1
Es war einer der letzten Tage des Jahrhunderts.
Das Mädchen mit dem großen Lächeln erwachte davon, daß sanfte Regentropfen gegen die Zeltplane über seinem Kopf trommelten. Solange sie die Augen geschlossen hielt, konnte sie sich vorstellen, sie sei noch immer daheim im Dorf, an dem Fluß, der das kühle, klare Wasser aus den Bergen brachte. Hinter geschlossenen Lidern ließ sich dieses Gefühl festhalten. Sobald sie jedoch die Augen aufschlug, wurde sie in eine leere, unbegreifliche Wirklichkeit hinausgeschleudert. Dann blieb von ihrer Vergangenheit nichts als ein Bilderreigen der Erinnerungen, wobei die langwierige Flucht, die sie hinter sich hatte, in ruckartigen Sequenzen wiederkehrte. Sie lag regungslos da und bemühte sich, langsam aufzuwachen und die Träume nicht zu verlassen, ohne gut gerüstet zu sein. Die ersten schwierigen Minuten des Morgens entschieden darüber, wie ihr Tag aussehen würde. Im Moment des eigentlichen Erwachens war ihr, als sei sie von Fallgruben umgeben.
Während der drei Monate, die sie sich nun schon im Flüchtlingslager befand, hatte sie ein Ritual erfunden und es täglich Stück für Stück ausgebaut, bis sie die beste und sicherste Art gefunden zu haben meinte, den Tag zu beginnen, ohne daß sie sogleich in Panik verfiel. Hauptsächlich kam es darauf an, nicht sofort von dem unbequemen Zeltbett aufzuspringen, in der falschen Hoffnung, gerade an diesem Tag würde etwas Entscheidendes geschehen. Nichts geschah, das wußte sie inzwischen. Es war die erste und entscheidende Lektion, die sie hatte lernen müssen, nachdem sie sich an dem steinigen europäischen Strand an Land geschleppt hatte und von bedrohlichen Schäferhunden und bewaffneten spanischen Grenzsoldaten empfangen worden war. Ein Flüchtling zu sein hieß, daß man allein war. Diese Erfahrung galt für alle, unabhängig davon, woher sie ursprünglich stammten oder aus welchen Motiven sie aufgebrochen waren, um sich nach Europa durchzuschlagen. Sie war allein, und sie tat gut daran, nicht zu erwarten, daß diese Einsamkeit enden würde. Sie würde eine Zeitlang davon umschlossen sein, vielleicht eine sehr lange Zeit.
Mit geschlossenen Augen lag sie in dem unbequemen Bett und ließ die Gedanken sich vorsichtig zur Oberfläche hinauftasten. Wie sah ihr Leben eigentlich aus? Mitten in all dem, was unklar und verwirrend war, hatte sie nur einen einzigen Anhaltspunkt. Sie befand sich eingesperrt in einem Flüchtlingslager in Südspanien, nachdem sie das Glück gehabt hatte zu überleben, während fast alle anderen ertrunken waren, alle an Bord des morschen Schiffs, das sie von Afrika herübergebracht hatte. Sie erinnerte sich noch an die großen Erwartungen, die den dunklen Laderaum erfüllt hatten. Die Freiheit hat einen Duft, dachte sie. Der um so stärker wurde, wenn die Freiheit nur ein paar Seemeilen entfernt lag. Freiheit, Sicherheit, ein Leben, in dem nicht Furcht und Hunger und Hoffnungslosigkeit regierten.
Es war ein Laderaum voller Träume, dachte sie mitunter, aber vielleicht wäre es richtiger zu sagen, es war ein Laderaum voll Illusionen. Alle, die da in der Dunkelheit an dem marokkanischen Strand gewartet hatten, in den Händen gieriger und rücksichtsloser Menschenschmuggler aus verschiedenen Erdteilen, waren in der nächtlichen Finsternis zu dem Schiff gerudert worden, das verdunkelt auf Reede lag. Matrosen, die wie Schatten auftauchten, hatten sie zischend in den Laderaum hinuntergescheucht, als wären sie die Sklaven der heutigen Zeit.
Allerdings hatten sie keine Eisenketten an den Füßen getragen, die Fesseln waren ihre Träume gewesen, ihre Verzweiflung, die große Furcht, die sie dazu getrieben hatte, aus verschiedenen irdischen Höllen aufzubrechen, um sich zur Freiheit in Europa durchzuschlagen. Wie nahe waren sie ihr gewesen, als das Schiff auf Grund lief und die griechischen Matrosen sich in den Rettungsbooten davonmachten und die Menschen, die unten im Laderaum hockten, sich selbst überließen.
Europa hat uns aufgegeben, ehe wir überhaupt angekommen sind, dachte sie. Das darf ich nie vergessen, wie auch immer es mir in Zukunft ergehen wird. Wie viele von ihnen ertrunken waren, wußte sie nicht, wollte es auch gar nicht wissen. Die Schreie, die abgebrochenen Hilferufe, hallten noch wie ein pochender Schmerz in ihrem Kopf wider. Wie sie da in dem kalten Wasser lag, war sie zuerst von all diesen Rufen umgeben gewesen, die dann jedoch nach und nach verstummt waren. Als sie gegen eine Klippe stieß, war ein Triumphgefühl in ihr aufgestiegen. Sie hatte überlebt, sie war am Ziel. An was für einem Ziel? Wovon sie auch geträumt haben mochte, sie hatte es zu vergessen versucht. Jedenfalls war nichts so geworden, wie sie es sich vorgestellt hatte.
In der Dunkelheit an dem kalten spanischen Strand war sie von den Lichtern plötzlich aufflammender Scheinwerfer geblendet worden, dann hatten die Hunde sie aufgespürt, und die Soldaten mit ihren glänzenden Gewehren hatten sie mit müden Augen betrachtet. Sie hatte überlebt. Das war aber auch alles. Weiter geschah nichts. Man hatte sie in ein Lager gesteckt, das aus Baracken und Zelten bestand, mit defekten Duschräumen und verdreckten Klosetts. Jenseits des Zauns hatte sie das Meer gesehen, das sie aus seinem Griff entlassen hatte, aber sonst nichts, nichts von dem, wovon sie geträumt hatte.
Die Insassen des Flüchtlingslagers, all diese Menschen mit ihren verschiedenen Sprachen und Kleidern und den entsetzlichen Erlebnissen, von denen sie Zeugnis ablegten, meist schweigend, zuweilen mit Worten, verband nur eins: sie hatten nichts zu erwarten. Viele von ihnen befanden sich schon seit mehreren Jahren im Lager. Nirgends gab es ein Land, das sie aufnehmen wollte, und alles, worum sie noch kämpften, war, zu verhindern, daß man sie zurückschickte. Einmal, beim Warten auf eine der drei täglichen Essensrationen, hatte sie mit einem jungen Mann aus dem Iran gesprochen, oder vielleicht auch aus dem Irak – woher die Menschen kamen, ließ sich selten wirklich klären, da alle schwindelten und ihre wahre Identität verbargen, in der Hoffnung, das könnte ihnen zum Asyl in einem Land verhelfen, das aus unberechenbaren und unerklärlichen Gründen plötzlich seine Tore öffnete. Der Mann, der vielleicht aus dem Iran oder aus dem Irak stammte, hatte gesagt, das Lager sei wie eine einzige große Todeszelle, ein einziger langer Todeskorridor, wo eine lautlose Glocke jedem die Stunde schlug. Sie hatte verstanden, was er meinte, sich aber gegen den Gedanken zu wehren versucht, er könnte recht haben.
Er hatte sie mit traurigen Augen angesehen. Das hatte sie erstaunt. Seit sie der Kindheit entwachsen und zur Frau geworden war, hatten alle Männer sie mit Augen betrachtet, die auf die eine oder andere Weise einen Hunger ausdrückten. Doch dieser hagere Mann schien weder ihre Schönheit noch ihr Lächeln bemerkt zu haben. Das hatte ihr angst gemacht. Sie konnte den Gedanken, daß Männer sich nicht sofort für sie interessierten, ebensowenig ertragen wie die Vorstellung, diese lange, verzweifelte Flucht sei vergeblich gewesen. Genau wie alle anderen, denen es nicht gelungen war, durch die Maschen des Netzes zu schlüpfen, und die statt dessen in dem spanischen Auffanglager gelandet waren, klammerte sie sich trotz allem an die Hoffnung, die Flucht würde irgendwann ein Ende haben. Eines Tages würde auf wundersame Weise vor jedem von ihnen eine Person stehen, mit einem Papier in der Hand und einem Lächeln auf den Lippen, und sagen: Willkommen.
Um nicht vor lauter Hoffnungslosigkeit verrückt zu werden, galt es, sich in Geduld zu üben, das hatte sie frühzeitig begriffen. Und Geduld konnte nur aus dem Gefühl entstehen, daß nichts geschehen würde, und dadurch, daß sie sich aller Erwartungen entledigte. Im Lager kam es oft vor, daß Menschen sich das Leben nahmen oder wenigstens einen ernsthaften Versuch machten. Sie hatten nicht gelernt, ihre Erwartungen wirksam genug zu bekämpfen, und waren schließlich unter der Last zusammengebrochen, die aus der Überzeugung resultierte, alle Träume würden sich sofort verwirklichen lassen.
Jeden Morgen, während sie langsam erwachte, redete sie sich also ein, es sei das Allerbeste für sie, überhaupt keine Erwartungen zu haben. Und nicht preiszugeben, aus welchem Land sie kam. Das Flüchtlingslager war ein einziger summender Bienenstock von Gerüchten, welche Herkunftsländer zur Zeit als diejenigen galten, bei denen man die größten Chancen hatte, mit der Garantie auf Asylrecht entlassen zu werden. Es war, als sei das Lager ein Markt, auf dem verschiedene Länder und Asylmöglichkeiten an einer Börse notiert wurden, die ständig dramatische Veränderungen durchlief. Keine Investition war sicher oder dauerhaft.
Zu Beginn ihres Aufenthalts im Lager hatte Bangladesch ganz oben auf der Liste gestanden. Aus einem den Flüchtlingen unbekannten Grund bewilligte Deutschland auf einmal all denjenigen Asyl, die aus Bangladesch kamen. Einige intensive Tage lang standen schwarze, braune, hellhäutige, schlitzäugige Menschen vor den kleinen Büros an, in denen erschöpfte spanische Beamte hinter ihren Tischen saßen, und wiederholten mit großer Treuherzigkeit, ihnen sei plötzlich eingefallen, daß sie aus Bangladesch kämen. Auf diese Weise waren zumindest vierzehn Chinesen nach Deutschland gelangt. Ein paar Tage darauf hatte Deutschland »Bangladesch geschlossen«, und nach dreitägigem ungewissen Warten hatte sich das Gerücht verbreitet, Frankreich sei bereit, eine begrenzte Anzahl von Kurden aufzunehmen.
Vergeblich hatte sie versucht herauszufinden, woher die Kurden eigentlich kamen und wie sie aussahen. Doch sie stellte sich gehorsam in eine der Warteschlangen, und als sie an der Reihe war, bei dem rotäugigen Beamten einzutreten, der ein Namensschild trug, auf dem »Fernando« stand, hatte sie mit ihrem schönsten Lächeln gesagt, sie suche in Frankreich Asyl, da sie von Geburt Kurdin sei. Fernando hatte nur den Kopf geschüttelt.
– Welche Farbe hat deine Haut? fragte er.
Sofort ahnte sie die Gefahr. Aber sie mußte antworten. Die spanischen Beamten mochten keine Menschen, die die Auskunft verweigerten. Was immer man sagte, und seien es auch größtenteils Lügen, so war es immer noch besser als das Schweigen.
– Du bist schwarz, beantwortete Fernando selbst seine Frage. Und es gibt keine schwarzen Menschen, die Kurden sind. Kurden sehen aus wie ich. Nicht wie du.
– Es kann Ausnahmen geben. Mein Vater war kein Kurde. Aber meine Mutter.
Fernandos Augen schienen sich immer mehr zu röten. Sie lächelte fortwährend, das war ihre stärkste Waffe, seit eh und je.
– Was hat dein Vater in Kurdistan gemacht?
– Geschäfte.
Fernando triumphierte.
– Es gibt kein Kurdistan. Jedenfalls nicht offiziell. Gerade deswegen verlassen die Kurden ihr Land.
– Wie können sie ein Land verlassen, das es nicht gibt?
Fernando hatte nicht die Kraft, ihr zu erklären, wie ein Land, daß es nicht gab, trotzdem existieren konnte. Abwehrend winkte er mit der Hand.
– Ich sollte dich anzeigen, weil du lügst, sagte er.
– Ich lüge nicht.
Sie meinte plötzlich, einen Funken des Interesses in Fernandos Augen zu erkennen.
– Du sagst also die Wahrheit?
– Kurden lügen nicht.
Der Funke in Fernandos Augen erlosch.
– Geh, sagte er. Das ist das Beste, was du tun kannst. Wie heißt du?
In diesem Moment beschloß sie, sich einen neuen Namen zuzulegen. Hastig schaute sie sich im Zimmer um und entdeckte die Teetasse auf Fernandos Tisch.
– Tea-Bag, erwiderte sie.
– Tea-Bag?
– Tea-Bag.
– Ist das ein kurdischer Name?
– Meine Mutter mochte englische Namen.
– Ist Tea-Bag wirklich ein Name?
– Das muß er wohl sein, da ich so heiße.
Fernando seufzte und schickte sie mit einer müden Handbewegung weg. Sie verließ das Zimmer, und sie knipste ihr Lächeln erst aus, als sie auf den Hof hinausgekommen war und einen Platz am Zaun gefunden hatte, wo sie allein sein konnte.
Fortwährend trommelte der Regen gegen die Zeltplane. Sie verscheuchte die Gedanken an Fernando und ihren mißglückten Versuch, sich eine überzeugende kurdische Identität zuzulegen. Statt dessen versuchte sie, sich die unruhigen und wilden Träume ins Gedächtnis zu rufen, die während der Nacht durch ihren Kopf gerast waren. Doch alles, was davon übrig war, wie die Ruine eines niedergebrannten Hauses, waren die verschwommenen Schatten, die sie umgeben hatten, während sie schlief, Schatten, die aus ihrem Kopf zu kriechen schienen, um ihre eigentümlichen Schauspiele aufzuführen und dann wieder hinabzutauchen in die tiefen Verliese des Gehirns. Sie hatte ihren Vater daheim im Dorf auf dem Dach hocken sehen. Er hatte einem seiner eingebildeten Feinde Schimpfwörter zugebrüllt und gedroht, die Toten lebendig und die Lebenden tot zu machen, und er war da oben auf dem Dach sitzen geblieben, bis er vor Erschöpfung das Bewußtsein verlor, herunterrollte und in dem trockenen Sand landete, wo Tea-Bags verzweifelte Mutter ihn weinend angefleht hatte, wieder normal zu werden und nicht mehr gegen seine unsichtbaren Feinde zu kämpfen.
Aber jetzt, da Tea-Bag aufwachte, war nichts von alledem geblieben. Nichts als das geschwärzte Bild ihres Vaters dort oben auf dem Dach. Auch von den anderen Träumen war kaum etwas übrig, nur vereinzelte Düfte oder die flüchtige Erscheinung von Menschen, die sie nicht genau identifizieren konnte.
Tea-Bag zog die fleckige Decke bis zum Kinn. Vielleicht war sie selbst es, die auf dem Dach gesessen hatte, eingeschlossen in denselben Schmerz, den ihr Vater in sich getragen hatte? Sie wußte es nicht, fand keine Antwort. Der Regen trommelte gegen die Zeltplane, das schwache Licht, das durch ihre geschlossenen Lider sickerte, sagte ihr, daß es sieben Uhr war oder vielleicht halb acht. Mit den Fingern tastete sie nach ihrem Handgelenk. Dort hatte sie die Uhr getragen, die sie dem italienischen Ingenieur an dem Abend vor der letzten Etappe ihrer langen Flucht gestohlen hatte. Doch während der Nacht auf dem verrosteten Schiff war sie ihr abhanden gekommen, vermutlich, als sie sich verzweifelt aus dem Laderaum nach oben gekämpft hatte. Noch immer hatte sie nur vage Erinnerungen an das, was tatsächlich in jener Nacht geschehen war, als das Schiff eine unterseeische Klippe gerammt hatte und dann rasch versunken war. Da waren keine Einzelheiten, nichts als ihr verzweifelter Kampf zusammen mit den anderen Flüchtlingen zu überleben, nicht hinabgezogen zu werden und nur wenige Meter vom Uferstreifen entfernt, welcher die Freiheit bedeutete, zu sterben.
Tea-Bag schlug die Augen auf und betrachtete die Zeltplane. Von draußen hörte sie Geräusche von Menschen, die husteten oder Worte in einer Sprache wechselten, die sie nicht verstand. Sie konnte hören, daß sie sich langsam bewegten, genau wie sie es selber beim Aufstehen tun würde, Bewegungen, wie sie nur Menschen ohne Hoffnung machen. Schwere, widerwillige Schritte, da ihnen jedes Ziel fehlte. Anfangs hatte sie im Lager die Tage gezählt, sie mit einer Reihe aus kleinen weißen Steinen markiert, die sie am Strand auflas, gleich neben dem Zaun. Aber später hatte auch das seinen Sinn verloren. In dieser Zeit, der ersten im Lager, hatte sie das Zelt mit zwei anderen Frauen geteilt, die eine kam aus dem Iran, die andere aus Ghana. Sie hatten einander nicht ausstehen können und sich den begrenzten Raum des Zelts streitig gemacht. Flüchtlinge waren einsame Wesen, ihre Angst machte sie unfähig, die allzu große Nähe anderer Menschen zu ertragen, als wären die Trauer und die Verzweiflung der anderen ansteckend und könnten zu unheilbaren Infektionen führen.
Die Frau aus dem Iran war schwanger gewesen, als sie im Zelt einquartiert wurde, und hatte nächtelang geweint, weil ihr Mann auf irgendeiner Etappe der langen Flucht verlorengegangen war. Als die Wehen einsetzten, waren die spanischen Wachen mit einer Trage erschienen, und seitdem hatte Tea-Bag sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Das Mädchen aus Ghana hatte zu den Ungeduldigen gehört, zu jenen, die keinen Zaun sehen können, ohne sofort zu beschließen, ihn zu überwinden. Zusammen mit ein paar Jungen aus Togo, die mit einem Floß aus leeren, aus einem Shell-Lager gestohlenen Fässern nach Europa gekommen waren, hatte sie eines Nachts versucht, über den Zaun zu klettern. Aber die Hunde und die Scheinwerfer hatten sie eingefangen, und sie war nicht ins Zelt zurückgekehrt. Tea-Bag ahnte, daß sie sich jetzt in dem Sektor des großen Auffanglagers befand, in dem diejenigen, die einen Fluchtversuch unternommen hatten, unter strengerer Bewachung gehalten wurden als jene, die gehorsam waren und nur der Resignation und dem Schweigen anheimfielen.
Tea-Bag setzte sich in ihrem Feldbett auf. Die Einsamkeit, flüsterte sie vor sich hin, ist mein stärkster Schmerz. Ich kann dieses Zelt verlassen und bin sogleich von Menschen umgeben, ich esse zusammen mit ihnen, mache Spaziergänge am Zaun entlang und betrachte das Meer in ihrer Gesellschaft, ich rede mit ihnen, aber trotzdem bin ich allein. Alle Flüchtlinge sind allein, umgeben von unsichtbaren Wänden aus Angst. Wenn ich überleben will, muß ich aufhören zu hoffen.
Sie stellte die Füße auf den Boden des Zeltes und fröstelte von der Kälte, die durch die Fußsohlen nach oben stieg. Im selben Moment dachte sie wieder an ihren Vater. Immer, wenn er überraschend auf Schwierigkeiten stieß, oder vielleicht nur, wenn ihn ein Gedanke unvorbereitet traf, hatte er die Füße fest auf den Boden der Hütte oder in den Sand des Hofs gestemmt. Das gehörte zu ihren frühesten Erinnerungen im Leben, die Entdeckung des Rätselhaften und Überraschenden, das die Menschen, die ihr nahestanden, mitunter plötzlich an den Tag legten. Später, als sie sechs, sieben Jahre alt war, hatte ihr der Vater erklärt, ein Mensch müsse sich immer um einen festen Stand bemühen, wenn ihn Sorgen oder unerwartete Plagen heimsuchten. Solange sie diese Regel beherzigte, würde sie auch nie die Kontrolle über sich selbst verlieren.
Jetzt stemmte sie die Füße fest gegen die Zeltplane und redete sich ein, auch an diesem Tag würde nichts Entscheidendes geschehen. Geschah etwas, würde es als Überraschung kommen, nicht als etwas, worauf sie ungeduldig gewartet hatte.
Lange saß Tea-Bag regungslos da und wartete darauf, daß die Kraft sich einfinden und sie erfüllen würde, die Kraft, noch einen weiteren Tag in diesem Lager zu ertragen, das von Menschen bevölkert war, die ihre Herkunft verleugnen mußten und ständig nach Anzeichen dafür suchten, daß auch sie irgendwo in der Welt willkommen sein könnten. Daß es Türen gab, die ihnen aufgetan würden, manchmal nur für wenige Stunden, manchmal für Tage oder Wochen.
Als sie sich stark genug fühlte, stand sie auf und tauschte das verschlissene Nachthemd gegen ein T-Shirt aus, das sie von dem Mädchen aus Ghana erhalten hatte, mit einem Bild und einem Werbetext von Nescafé darauf. Sie dachte, der Text auf dem weißen Hemd verberge tatsächlich ihre Identität, ähnlich wie die Tarnanzüge, welche die Militärs an jenem entsetzlichen Morgen getragen hatten, als sie zwischen den Hütten auftauchten und ihren Vater abführten, für immer.
Rasch schüttelte sie diese Gedanken ab. In regelmäßigen Abständen träumte sie davon, wie er auf dem Dach hockte, bis er vor Erschöpfung das Bewußtsein verlor und zu Boden fiel. Mitunter dachte sie an seine Füße, die sich gegen den Boden stemmten. Aber an sein Verschwinden zu denken, war ihr nur abends möglich. Da war sie am stärksten, direkt vor Sonnenuntergang, einige kurze Minuten lang, wenn sie von übermenschlichen Kräften erfüllt schien. Danach war es, als ob sie langsam zu fallen anfinge, ihr Puls wurde schwächer, und ihr Herz versuchte sein hartnäckiges Pochen tief in einem der geheimen Räume ihres Körpers zu verbergen.
Tea-Bag schlug die Zeltplane zurück. Es hatte aufgehört zu regnen. Feuchter Dunst hing über dem Lager, die langen Reihen der Baracken und Zelte standen da wie angepflockte, schmutzige Tiere. Menschen bewegten sich langsam auf Ziele zu, die nur in ihrem Inneren existierten, draußen vor dem Zaun patrouillierten die Wachen mit ihren glänzenden Waffen und den Hunden, die immerzu aufs Meer hinauszuspähen schienen, als seien sie darauf abgerichtet, die Gefahren stets von dort kommen zu sehen, Gefahren in Form von morschen Schiffen mit einer Unzahl verzweifelter Menschen in den Laderäumen oder von sonderbaren selbstgebastelten Flößen oder von Ruderbooten, sogar von herausgebrochenen Türen, die den Menschen als Schwimmbretter dienten.
Ich bin hier, dachte Tea-Bag. Das ist der Mittelpunkt meines Lebens, hier befinde ich mich im Zentrum der Welt. Hinter mir liegt nichts, vielleicht liegt auch nichts vor mir. Ich bin hier, weiter nichts. Ich bin hier, und ich erwarte nichts.
Wieder war ein Tag angebrochen. Tea-Bag ging hinüber zu einer der Baracken, in der sich die Duschen befanden, die von den Frauen im Lager benutzt wurden. Wie üblich stand eine lange Warteschlange davor. Nach einer guten Stunde war sie an der Reihe. Sie schloß die Tür hinter sich, schlüpfte aus den Kleidern und stellte sich unter den Wasserstrahl. Dabei stieg in ihr die Erinnerung an die Nacht auf, in der sie dem Ertrinken nahe gewesen war. Der Unterschied, dachte sie, während sie ihren schwarzen Körper einseifte, der Unterschied ist etwas, das ich eigentlich nicht verstehen kann. Ich lebe, aber ich weiß nicht, warum, und ich weiß auch nicht, wie es ist, tot zu sein. Nachdem sie sich abgetrocknet und angezogen hatte, machte sie der nächsten Frau in der Schlange Platz, einem dicken Mädchen, das einen schwarzen Schal um den Kopf gewickelt hatte, so daß nur die Augen herausschauten wie zwei tiefe Löcher. Zerstreut überlegte Tea-Bag, ob das Mädchen den Schal ablegte, wenn es sich wusch.
Sie setzte ihren Weg zwischen den Baracken und Zelten fort. Wenn jemand ihren Blick erwiderte, lächelte sie. Unter einem provisorisch errichteten Blechdach auf einem offenen Platz holte sie sich bei einigen rundlichen, schwitzenden Spanierinnen, die bei der Essensausgabe pausenlos miteinander schwatzten, ihre Ration ab. Tea-Bag setzte sich an einen Plastiktisch, fegte ein paar Brotkrumen weg und begann zu essen. Jeden Morgen fürchtete sie, ihren Appetit verloren zu haben. Mitunter dachte sie, das einzige, was sie am Leben erhielt, sei, daß sie immer noch imstande war, Hunger zu empfinden.
Damit die Zeit verging, aß sie langsam. Dabei dachte sie an die Uhr, die tot am Meeresboden lag. Sie überlegte, ob das Uhrwerk noch lief, oder ob es in dem Moment stehengeblieben war, in dem sie eigentlich gestorben wäre, wenn sie ertrunken wäre wie all die anderen. In ihrer Erinnerung forschte sie nach dem Namen des italienischen Ingenieurs, dem sie in jener einsamen Nacht die Uhr gestohlen hatte, als sie sich verkaufte, um Geld für die Fortsetzung der Flucht zu bekommen. Cartini? Cavanini? Ob es ein Nachname gewesen war, mit dem er sich vorstellte, wußte sie nicht. Aber es spielte auch weiter keine Rolle.
Sie stand vom Tisch auf und ging hinüber zu den Frauen, die mit großen Kellen in den enormen Töpfen fischten, während sie sich mit ihren schnatternden Stimmen unterhielten. Tea-Bag stellte den Teller auf den Geschirrwagen, ging hinunter zum Zaun und blickte auf das Meer hinaus. Irgendwo weit draußen im Dunst zog ein Schiff vorüber.
– Tea-Bag, hörte sie eine Stimme sagen.
Sie drehte sich um. Es war Fernando, der sie mit seinen geröteten Augen betrachtete.
– Jemand will mit dir reden, fuhr er fort.
Sogleich wurde sie mißtrauisch.
– Wer?
Fernando zuckte mit den Schultern.
– Jemand will mit dir reden. Er will mit irgend jemand reden. Egal mit wem. Also will er mit dir reden.
– Niemand will mit mir reden.
Jetzt war sie auf der Hut, zeigte ihr großes Lächeln, damit Fernando ihr nicht zu nahe kam.
– Wenn du nicht magst, kann ich jemand anders fragen.
– Wer ist das, der mit mir sprechen will?
Tea-Bag spürte, daß Gefahr im Anzug war. Sie begann zu hoffen, jemand würde ihr eine unsichtbare Öffnung im Zaun zeigen. Um sich zu wappnen, machte sie ihr Lächeln so groß wie möglich.
– Wer?
– Jemand, der sich in den Kopf gesetzt hat, daß er über euch schreiben will.
– Was schreiben?
– Ich vermute, es ist für eine Zeitung.
– Wird er über mich schreiben?
Fernando verzog das Gesicht.
– Ich frage jemand anders, wenn du nicht willst.
Er drehte sich um und ging. Tea-Bag hatte das Gefühl, vor einer der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens zu stehen, entweder am Zaun zurückzubleiben oder Fernando zu folgen.
Sie entschied sich für letzteres.
– Ich möchte gern mit jemandem reden, der mit mir reden will.
– Es wird für dich nicht von Vorteil sein, wenn du die Verhältnisse hier im Lager kritisierst.
Tea-Bag versuchte dahinterzukommen, was er meinte. Die spanischen Wächter gebrauchten immer eine Sprache, bei der das Wesentliche zwischen den Worten lag.
– Was kann für mich von Vorteil sein?
Fernando blieb stehen, kramte einen Zettel aus der Tasche und las vor.
– »Zu meiner Freude habe ich festgestellt, daß die spanischen Behörden unsere Situation mit humanem Wohlwollen betrachten.«
– Was ist das?
– Das, was du sagen sollst. Alle, die hier arbeiten, haben eine Kopie davon. Jemand aus dem Innenministerium hat es verfaßt. Das sollen alle antworten, die von Journalisten befragt werden. So sollst du auch antworten. Es kann für dich von Vorteil sein.
– Was für ein Vorteil?
– Ein Vorteil für dich.
– Was heißt das?
– Daß wir dich weiterhin mit humanem Wohlwollen betrachten werden.
– Was bedeutet das? »Humanes Wohlwollen?«
– Daß du dein Ziel erreicht hast.
– Was für ein Ziel?
– Das Ziel, das du dir selber gesetzt hast.
Tea-Bag beschlich ein Gefühl, als ginge sie mit verbundenen Augen im Kreis herum.
– Bedeutet das, daß ich das Lager verlassen kann?
– Im Gegenteil.
– Was heißt »im Gegenteil«?
– Daß du hier im Lager bleiben darfst.
– Das hätte ich doch auf jeden Fall getan?
– Du kannst zurückgeschickt werden. In das Land, aus dem du kommst. Welches es auch ist.
– Ich habe kein Heimatland.
– Du wirst aus Spanien in das Land ausgewiesen, in dem du dich zuletzt aufgehalten hast.
– Dort wird man mich nicht aufnehmen.
– Natürlich nicht. Du wirst zurückgeschickt, worauf wir dich wieder zurückschicken. Du gerätst in das hinein, was wir die »Kreisbewegung« zu nennen pflegen.
– Was heißt das?
– Daß du dich immer im Kreis herum bewegst.
– Um was herum?
– Um dich selbst.
Tea-Bag schüttelte den Kopf. Sie verstand es nicht. Und es gab nichts, was sie so sehr aufregte, wie etwas nicht zu verstehen.
– Ich habe von einem Mann gehört, der behauptet, er käme aus der Zentralafrikanischen Republik, fuhr Fernando fort. Seit zehn Jahren wohnt er jetzt auf einem Flugplatz in Italien. Niemand will ihn aufnehmen. Da auch niemand ihm einen Flugschein bezahlen will, hielt man es für die billigste Lösung, ihn auf dem Flugplatz wohnen zu lassen.
Tea-Bag zeigte auf den Zettel, den Fernando in der Hand hielt.
– Soll ich das sagen?
– Nur das. Nichts anderes.
Fernando reichte ihr den Zettel.
– Er wartet in meinem Büro.
– Wer?
– Der Journalist. Außerdem hat er einen Fotografen dabei.
– Wozu?
Fernando seufzte.
– Das ist bei denen so üblich.
Vor Fernandos Fenster warteten zwei Männer. Der eine war klein, hatte rote Haare und trug einen flatternden Regenmantel. In der Hand hielt er eine Kamera. Neben ihm stand ein Mann, der sehr groß und dünn war. Tea-Bag fand, er gleiche einer Palme, der Rücken war gekrümmt und er hatte eine buschige Mähne, die gesträubt war wie die Krone des Palmbaums. Fernando deutete auf Tea-Bag und ließ die drei allein. Tea-Bag lächelte. Der Mann, der einer Palme glich, erwiderte ihr Lächeln. Er hatte schlechte Zähne, wie sie sah. Der andere Mann hob die Kamera. Der Regenmantel raschelte.
– Ich heiße Per, sagte der Palmenmann. Wir machen eine Reportage über Flüchtlinge. »Menschen ohne Gesicht« nennen wir sie. Sie handelt von dir.
Etwas an der Art, wie der Mann sprach, veranlaßte Tea-Bag nicht nur zu erhöhter Wachsamkeit. Ihr Lächeln blitzte stärker als je zuvor. Sie war richtig wütend geworden.
– Ich habe ein Gesicht.
Der Palmenmann, der Per hieß, sah sie fragend an, ehe ihm klar wurde, was sie meinte.
– Wir meinen das symbolisch. Als Bild. »Menschen ohne Gesicht«. Solche wie du, die versuchen, nach Europa zu gelangen, aber nicht willkommen sind.
Zum ersten Mal in den Monaten, die sie sich im Lager befand, verspürte sie plötzlich das Bedürfnis, es in Schutz zu nehmen, nicht nur das Lager und die rotäugigen Wächter, sondern auch die Schäferhunde, die dicken Frauen, die ihnen zu essen gaben, die Männer, die die Latrinen leerten. Alle wollte sie in Schutz nehmen, auf dieselbe Weise, wie sie all die Flüchtlinge in Schutz nehmen wollte, die sich im Lager befanden, und alle, die nie ihr Ziel erreicht hatten, die ertrunken oder ausgebrochen waren oder sich in äußerster Verzweiflung das Leben genommen hatten.
– Ich will nicht mit dir reden, sagte sie. Nicht, ehe du dich nicht für die Behauptung entschuldigt hast, ich hätte kein Gesicht.
Dann wandte sie sich an den Mann im Regenmantel, der dauernd die Position wechselte und Aufnahmen von ihr machte.
– Ich will nicht, daß du Bilder von mir machst.
Der Mann schrak zusammen und riß die Kamera herunter, als hätte sie ihn geschlagen. In diesem Moment erkannte Tea-Bag, daß sie möglicherweise einen Weg eingeschlagen hatte, der sie in die Irre führen würde. Die beiden Männer, die sie vor sich hatte, waren freundlich, sie lächelten sie an, und ihre Augen waren nicht von Müdigkeit gerötet. Rasch beschloß Tea-Bag, einen Rückzieher zu machen und ihnen zu erlauben, mit ihr zu reden, ohne daß sie sich bei ihr entschuldigten.
– Ihr könnt mit mir reden, sagte sie. Und ihr könnt eure Bilder machen.
Der Mann mit der Kamera knipste sofort wieder los. Ein paar Kinder, die nichts zu tun hatten und im Lager herumspazierten, blieben stehen und beobachteten das Geschehen. Ich spreche für sie, dachte Tea-Bag. Nicht nur für mich selber, sondern auch für sie.
– Wie ist es? fragte der Mann, der Paul oder Peter oder vielleicht Per hieß.
– Wie ist was?
– Hier zu sein?
– Man behandelt mich mit humanem Wohlwollen. Das freut mich.
– Es muß furchtbar sein, hier im Lager zu leben! Wie lange bist du schon hier?
– Ein paar Monate. Oder tausend Jahre.
– Wie heißt du?
– Tea-Bag.
Der Mann, der ihr die Fragen stellte, hatte immer noch nicht gesagt, ob er eine Tür für sie bereithielt, eine Tür, die er öffnen konnte, um sie hinauszuführen.
– Wie bitte?
– Ich heiße Tea-Bag. Auf die gleiche Art wie du Paul heißt.
– Ich heiße Per. Woher kommst du?
Achtung, dachte sie. Ich weiß nicht, was er will. Er kann eine Tür hinter seinem Rücken haben, er kann aber auch jemand sein, der mich zurückschicken will, jemand, der versucht, mir meine Geheimnisse zu entlocken.
– Ich wäre beinahe ertrunken. Etwas hat mich am Kopf getroffen. Ich habe alle meine Erinnerungen verloren.
– Hast du mit einem Arzt gesprochen?
Tea-Bag schüttelte den Kopf. Warum stellte er all diese Fragen? Was wollte er? Wieder wurde sie mißtrauisch, zog sich zurück, so weit sie konnte.
– In diesem spanischen Lager werde ich mit humanem Wohlwollen behandelt.
– Das kannst du doch wohl nicht behaupten? Du sitzt hier doch wie in einem Gefängnis?
Er hat eine Tür, dachte Tea-Bag. Er will herausfinden, ob ich es wert bin, sie zu benutzen. Sie mußte sich zurückhalten, um nicht zu ihm hinzustürzen und ihn zu umarmen.
– Woher kommst du?
Jetzt war sie es, die die Fragen stellte.
– Aus Schweden.
Was war das? Eine Stadt, ein Land, der Name einer Tür? Sie wußte es nicht. Namen von Ländern und Städten summten ständig im Lager herum wie unruhige Bienenschwärme. Aber hatte sie den Namen »Schweden« schon mal gehört? Vielleicht, sie war sich nicht sicher.
– Schweden?
– Skandinavien. Nordeuropa. Wir kommen von dort. Wir wollen eine Artikelserie über Menschen ohne Gesicht schreiben. Flüchtlinge, die verzweifelt versuchen, nach Europa zu gelangen. Wir vertreten deine Sache. Wir wollen, daß du wieder ein Gesicht bekommst.
– Ich habe bereits ein Gesicht. Was fotografiert er denn, wenn ich kein Gesicht habe? Kann man lächeln ohne Zähne, ohne Mund? Ich brauche kein Gesicht. Ich brauche eine Tür.
– Eine Tür? Einen Ort, wo du bleiben kannst? Wo du willkommen bist? Genau aus diesem Grund haben wir die Reise hierher gemacht. Damit du einen Ort findest, wo du bleiben kannst.
Tea-Bag versuchte die Worte zu verstehen, die an ihre Ohren drangen. Jemand, der ihre Sache vertrat? Welche Sache? Der große Mann, der dauernd zu schwanken schien, hatte bestimmt eine Tür im Rücken, die er ihr noch nicht gezeigt hatte.
– Wir möchten, daß du uns deine Geschichte erzählst, sagte er. Die ganze Geschichte. So viel davon, wie du in Erinnerung hast.
– Wozu?
– Weil wir sie weitererzählen wollen.
– Ich will eine Tür. Ich will hier raus.
– Genau darüber werde ich schreiben.
Später sollte Tea-Bag denken, daß sie eigentlich nicht verstanden hatte, wieso sie dem schwankenden Mann vertraute, der ihr all diese Fragen stellte. Aber irgend etwas hatte ihr gesagt, daß sich ihr tatsächlich langsam eine Tür öffnete. Vielleicht hatte sie es gewagt, sich auf ihre Intuition zu verlassen, fest mit beiden Füßen auf dem Boden stehend, genau wie ihr Vater es sie gelehrt hatte, ihr einziges Erbe von ihm. Vielleicht hatte es daran gelegen, daß der Mann, der die Fragen stellte, sich tatsächlich dafür zu interessieren schien, was sie antwortete. Oder daß er keine geröteten, müden Augen hatte. Jedenfalls hatte sie einen Entschluß gefaßt, hatte gesagt: Ja, sie wolle erzählen.
Sie waren in Fernandos Büro gegangen, wo die schmutzige Teetasse sie daran erinnerte, wie sie zu ihrem Namen gekommen war – aber davon sagte sie nichts; sie hatte mit dem angefangen, was tatsächlich wahr war, daß sie irgendwo, in einem Land, dessen Namen sie nicht mehr wußte, einen Vater gehabt hatte, den sie nicht vergessen hatte, und der eines Morgens von Militärs abgeführt worden war, um nie wieder zurückzukehren. Ihre Mutter war drangsaliert worden, weil sie zur falschen Gruppe von Menschen gehörten, als eine andere Gruppe von Menschen an der Macht war, und ihre Mutter hatte ihr geboten zu fliehen, und sie hatte ihr gehorcht. Sie ließ Teile ihrer Geschichte aus und sagte nichts von dem italienischen Ingenieur und wie sie sich an ihn verkauft hatte, um Geld für die Fortsetzung der Flucht zu bekommen. Sie behielt ebenso viele Geheimnisse für sich wie sie preisgab. Aber sie merkte, wie sie von ihrer eigenen Erzählung ergriffen wurde, sie sah, daß der Mann, der seinen kleinen Kassettenrecorder vor sie hingestellt hatte, ebenfalls ergriffen war, und als sie zu der furchtbaren Nacht im Laderaum kam, fing sie an zu weinen.
Sie hatte über vier Stunden erzählt, bis die Worte versiegten. Ab und zu hatte sich Fernando in der Tür gezeigt, und da hatte sie sogleich die Worte über das »humane Wohlwollen« in den Satz eingeschmuggelt, den sie gerade beendete. Und es war, als hätte der Mann, der ihr zuhörte, verstanden, daß sie ihm ein geheimes Signal sandte.
Dann war es vorbei.
Der Mann, der seinen Kassettenrecorder einpackte, hatte ihr keinen Weg aus dem Lager eröffnet. Aber sie hatte trotzdem eine Tür bekommen. Den Namen eines Landes in weiter Ferne: Schweden. Dort gab es Menschen, die gerade ihre Späher zu ihr ausgesandt hatten.
Sie begleitete sie bis zum streng bewachten Tor des Lagers.
– Heißt du nur Tea-Bag? fragte er. Hast du keinen Nachnamen?
– Noch nicht.
Er sah sie fragend an, aber er lächelte, und der Mann mit der Kamera bat einen der Wächter, ein Aufnahme zu machen, auf der sie Tea-Bag in die Mitte nahmen.
Es war einer der letzten Tage des Jahrhunderts.
Gegen Nachmittag begann der Regen wieder zu fallen. An diesem Abend saß Tea-Bag auf ihrem Bett und stemmte die Fußsohlen lange und fest gegen den kalten Boden des Zeltes. Schweden, dachte sie. Da will ich hin. Da muß ich hin. Dort habe ich mein Ziel.
2
Jesper Humlin, der zu den erfolgreichsten Autoren seiner Generation zählte, war mehr um seine Sonnenbräune besorgt als um den Inhalt seiner oft schwer deutbaren Gedichtsammlungen, die er jährlich veröffentlichte, immer mit dem 6. Oktober als Erscheinungsdatum, dem Geburtstag seiner jetzt siebenundachtzigjährigen Mutter. Genau an diesem Morgen, einige Monate nach dem zuletzt publizierten Band, betrachtete er sein Gesicht im Badezimmerspiegel und konnte feststellen, daß die Sonnenbräune eine Tiefe und Ebenmäßigkeit erreicht hatte, die der Idealvorstellung von einem Mann in den besten Jahren sehr nahe kam. Vor wenigen Tagen war Jesper Humlin von einer monatelangen Reise in die Südsee, wo er zwei Wochen auf den Salomoninseln und den Rest der Zeit auf Rarotonga verbracht hatte, in ein eher kühles Schweden zurückgekehrt.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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