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Neunzehn Erzählungen über eine ganze Lebensspanne – vom Heranwachsen auf dem Land bis zur erwachsenen Unreife: über das Erkunden der Geheimnisse um Bergfee, Brücken und Schlangen, um Leben und Tod im Labyrinth der kindlichen Welt – eine Welterkundung in Schönheit und Entsetzen. Melchior Werdenberg gelingt es, in kurzen, knappen Skizzen die Seelenlagen eines Heranwachsenden zu beschreiben: Eingebunden in der ländlichen Lebenswelt und festgehalten durch soziale Zwänge werden für ihn Verlustschmerz und tröstende Lüge, Sehnsucht und Scham, Einbildung und Wirklichkeit, Führung und Missbrauch, Vertrauensverlust und Schuld zum ständigen Begleiter. Aus biographischen Halbwahrheiten lässt Werdenberg einen Zyklus von Bildern zur Sozialisation, von der Kindheit bis zur Adoleszenz, entstehen.
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Seitenzahl: 83
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Melchior Werdenberg
Erzählungen
Elster & Salis wird mit einem Förderbeitrag des Bundesamtes für Kultur für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.
Melchior Werdenberg
Teilwelten – Geschichten vom Werden
Erzählungen
Verlag
Elster & Salis AG, Zürich
www.elstersalis.com
Lektorat/Korrektorat
Patrick Schär
Satz
Peter Löffelholz
Umschlaggestaltung
André Gstettenhofer
Umschlagbild
Hans Melchior Baumgartner (1855–1919); ca. 1918, unbekannter Fotograf.
Gesamtrealisation
www.torat.ch
Gesamtherstellung
CPI Books Gmph, Leck
Die Originalauflage erschien 2014 bei der Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich.
Neuauflage © 2021, Elster & Salis AG, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-906065-92-2
ISBN 978-3-03930-016-7
Printed in Germany
Die Bergfee
Das Eiswürfelschnitzen
Die Brücke
Der schwarze Mann
Die Schlange
Die dumme Kuh
Das Schweigen
Sigurd
Bigger
Lebensretter
Wasserstoffsuperoxid
Fruchtsalat
Sonntags
Winterabzug
Der Vogt
Der Tod kommt über Nacht
Die schwarzen Hefte
Das Gefühl
Schau dich nicht um
Friedhof zu Matt
Wie mein Vater seinen besten Freund verlor
Lisa
Oreberg
Hoch über dem kleinen Dorf Matt, ein paar hundert Meter, auf ein paar Wiesen, die dieses Wort kaum verdienen, weil alles steil und stotzig ist, leben seit Generationen auf einem kleinen Hof, mehr Hütte als Haus, die Werdenbergs. Oreberg heißt ihr Hoschet, das keinen Flecken ebener Erde sein Eigen nennt. Wind und Wetter überfahren es, wie Gott will.
Im strengen Winter 1912, der Schnee im Tal liegt zwei Meter hoch und die Kinder auf dem Oreberg dürfen seit Wochen nicht mehr zur Schule gehen, erkrankt das Kleinste, das Miggeli. Das Fieber hat es gepackt, es wird geschüttelt, glüht vor Hitze und friert doch ganz fürchterlich. Nach drei Tagen hustet das Kleine Blut.
Der Vater bindet sich wortlos die Schneeschuhe um. Er wickelt das Miggeli, klein und leicht wie ein Laib Brot, in eine Wolldecke und setzt es in seinen Rucksack. Ein kurzer Blick zurück in die furchtsamen Kinderaugen der Geschwister, ein verhaltener Wink. Er macht sich auf den Weg. Der Rucksack verschwindet im Schneegestöber. Irgendwann hört er das Miggeli nicht mehr husten. Er stampft weiter, kommt immer wieder ins Rutschen, befreit sich aus den weißen Massen, die ihn zu erdrücken drohen. Kein Weg, nur eine Richtung ist vorgegeben. Nach Stunden im Tal angekommen, den gefrorenen Schweiß am Körper spürt er nicht, geht er am Doktorhaus vorbei zur Kirche.
Anderntags kehrt der Vater zurück zum Oreberg. Mutter und Kinder erwarten ihn hoffnungsfroh. »Ja, das Miggeli, dem geht es gut, die Bergfee hat es zu sich genommen«, berichtet er in kurzen Worten seinen Liebsten, die seine Tränen im schneenassen Gesicht nicht sehen sollen.
Damals, als es noch wirkliche Winter gab, mit Schnee und Eis, sorgte im Kleintal, dieser schattenlosen Zahnlücke zuhinterst in der Glarner Bergwelt, alljährlich ein Spiel für Unterhaltung. Es war mehr als nur ein Spiel, es war ein Wettbewerb, mit dem Unmöglichen zum Ziel. Am Samstagabend versammelten sich die Kinder auf dem Dorfplatz, unweit der Kirche, die zweimal im Jahr durch das Martinsloch, eine hausgroße Öffnung im Berg, beschienen wird. Wer den Mut hatte, sich am Spiel zu beteiligen, der erschien mit einem kleinen Rüstmesser aus Mutters Küche. Die älteren Schüler brachten große Eisbrocken, die sie aus der winters trägen, halb zugefrorenen Sernf herausgebrochen hatten. Die Brocken wurden verteilt, und es galt, daraus einen Würfel zu schnitzen. Wem dies gelang, dem stand die noch viel schwerere Aufgabe bevor, die sechs Seiten mit je einer anderen Augenzahl zu versehen.
Die Erinnerung an den Abend, als es Geisser Adams Jüngstem gelungen war, auf der letzten noch zu bearbeitenden Seite nach dem fünften Auge auch noch das sechste auszustechen, ist unter den Beteiligten wohl erhalten. Und wer damals nicht dabei war, dem wurde es so oft erzählt, dass es ihm vorkommen musste, als sei auch er dabei gewesen. Der Sepp hielt seinen Eiswürfel nach vollendeter Tat in den Händen, hoch über dem Kopf, und drehte sich triumphierend im Kreise. Wie strahlte er, es war, als schiene die Sonne gerade durchs Loch auf sein Haupt.
Da tritt ein kleines hutzeliges Männchen, niemand hat es beachtet, niemand weiß, woher es kommt, aus dem Kreis der Schaulustigen hervor.
»Adams Sohn«, schreit es mit krächzender Stimme, »du freust dich über nichts. Du hast ja nur Eis, nur gefrorenes Wasser in den Händen, gleich wird dein Erfolg zerrinnen. Hör auf mich, versuche dein Glück, für jedes geworfene Auge hast du einen Wunsch frei.«
Sepp ist gefangen von den Worten des Unbekannten. Hat er nichts, oder kann er sich zumindest einen, vielleicht aber auch sechs Wünsche erfüllen? Er wirft den Eiswürfel auf den Boden, wo er in viele Stücke zerspringt. Ein Aufschrei geht durch die Menge, aber da ist das Männchen schon verschwunden und wird nie mehr gesehen.
Auch Geisser Adams Jüngster verlässt am anderen Tag das kleine Bergtal und kehrt nie wieder zurück.
Vom Vorderdorf zum Hinterdorf führen zwei Wege. Einer zieht sich, etwas erhöht, an den Häusern entlang, der andere, unten in der Talsohle, folgt dem Lauf der Sernf. Und vom Vorderdorf aus gesehen gibt es bis zur Mitte, wo man sich für oben oder unten entscheiden muss, noch einen dritten Weg.
Dieses mittlere Weglein beschritt ich oft, wenn ich, getrieben von der Langeweile, vom Vorderdorf zum Hinterdorf wechselte. Weit weg von zu Hause, abgeschoben, weil noch nicht schulpflichtig, waren die beiden Großmütter in den auseinanderliegenden Dorfteilen meine Pole, je nach Dauer von Plus auf Minus wechselnd und umgekehrt.
Als ich, unangemeldet wie immer, eines Nachmittags im Hinterdorf ankam, schien die Großmutter über mein Kommen weniger erfreut als sonst.
»Welchen Weg hast du genommen?«, wollte sie ungewohnt direkt von mir wissen.
Ich verstand die Frage nicht, aber ich fürchtete, obgleich wissend, dass ich nichts angestellt hatte, jetzt gleich von ihr, von der ich noch nie in meinem Leben ein einziges böses Wort gehört hatte, verdächtigt zu werden, Äpfel von den Bäumen gestohlen zu haben oder dergleichen.
»Den Weg in der Mitte«, antwortete ich, halb bei der Wahrheit und doch nicht daneben.
»Bist du über die Rus gekommen?«
»Gewiss«, antwortete ich.
Es gibt keine andere Möglichkeit, jeder der beiden Wege führt über den Seitenzubringer der Sernf. Zwangsläufig gibt es auch zwei Brücken, und das mittlere Weglein endet exakt davor.
Die Großmutter fragte nicht weiter nach. Sie war eine sehr stille Frau, mit trotz unentwegtem Schaffen sehr zarten, fast glasigen Händen, bei denen überall das blaue Blut durchschimmerte. Ihr Leben schien mir immer von Dulden und Leiden geprägt gewesen zu sein, aber sie beklagte sich nie, sie erklärte sich auch nicht. Niemand erkundigte sich je nach ihrem Schicksal. Ihre zwei Fragen waren mehr, als ich von ihr gewohnt war. Und ich kannte den Sinn ihrer Frage nicht. Sie blieb ohne Erklärung. Ohne Worte ging sie ruhig in die Küche, um auf dem Holzofen Milchreis zuzubereiten. Sie wusste, dass ich diese Speise mit Zimt über alles liebte, mit Öpfelschnitz.
Am Abend, ich bin schon im Bett, höre ich durch die dünne Holzwand, wie der Thes bei der Großmutter vorbeikommt. Sie sitzen in der getäferten Stube. Mir ist, als hörte ich den schweren Atem des Nachbarn und röche ich seinen Zigarettenrauch. Sein Vater sei erhängt unter der Rusbrücke aufgefunden worden. Der Hilari habe das Leiden des Alters nicht mehr ertragen. Das Zipperlein habe ihn geplagt, und das Alleinsein wohl auch.
Wortlos liege ich da, aber die Nacht fängt mich, und am nächsten Morgen in der Früh schickt mich die Großmutter ohne Erklärung zur anderen ins Vorderdorf. Als ich die Rus auf einem der beiden Wege überschreite, weiß ich nicht, unter welcher Brücke sich der alte Hilari erhängt hat, ich bin mir aber ganz sicher, ihn am Vortag hängen gesehen zu haben. Ich trage dieses Bild bis heute in mir.
Wie eine Siedlung am Dorfrand aussieht, die in den Sechzigerjahren gebaut wurde und sich »Neue Welt« nennt, braucht keine Erklärung. Architektonische Schuhschachteln. Die Balkone mit Maßstab und Bleistift maximal reduziert. Kostengünstig oder ästhetisch optimiert macht nicht wirklich einen Unterschied. Jeder Stock höher kostete ein paar Franken Monatsmiete mehr. Jedermann kennt die Hühnerleiter, will kein Huhn sein, auch kein Schwein, oben ist besser als unten. Unser Rasen, immer schön kurz geschnitten, für Verwaltung und Hausmeister ein Gütesiegel, war für Fußball natürlich nicht freigegeben. Aber immerhin hatten wir Gartensitzplatzkinder freien Ausgang. Allerdings nur bis zum Zaun, der unseren Vorzeigerasen umgab. Dahinter begann das (noch) landwirtschaftliche Hinterland.
Heute ist das alles ganz anders. Die Schuhschachteln haben überall Junge bekommen, sind in die Höhe und Breite geschossen. Land unter. Du fragst dich allenfalls, ob der Bauer die Profite on- oder offshore geparkt hat.
Doch damals, das war an einem Sonntagmorgen in der »Neuen Welt«. So weit am Rand der Gemeinschaft fühlte man sich kaum mehr zur Dorfkirche hingezogen. Vorausgegangen war eine lange TV-Nacht, angefangen mit Aktenzeichen XY, was auch uns noch nicht schulpflichtigen Kindern, schwarz-weiß natürlich, ganz selbstverständlich zugemutet wurde.
Am Sonntagmorgen also, die Eltern noch im Schlafgemach, suchten wir echtes Neuland. Gemeinsam gingen wir weg vom Dorfrand ins Ungewisse. Wir folgten der kleinen geteerten Straße, die nach dem Parkplatz weiterführte. Wir überquerten eine kleine Brücke. Ein kleiner Wassergraben begleitete unseren Weg, der unbemerkt zum Feldweg wurde. Wir gingen weiter, wir waren schon ganz weit weg. Der Himmel war blau, die Frühlingsblumen blühten. Wir sangen mutige Lieder. Nein, wir Abenteurer machten uns mit Liedern Mut, wir waren schon einige hundert Meter unterwegs.
Doch ganz allein waren wir auf unserem Weg zu neuen Horizonten nicht. Ein Sonntagsspaziergänger kam uns entgegen. Allerdings sah er nicht ganz alltäglich aus. Er trug einen langen Mantel. Nicht nur das, er hatte einen Hut auf, nicht schlapp, aber doch schlabberig. Und er ging am Stock, nicht locker, sondern etwas unharmonisch. Das linke Bein, ja genau, das linke, das zog er etwas nach. Ein Gedanke durchfuhr mich. Und laut schrie ich: »Das ist der schwarze Mann.«
Genau, vor diesem Kerl hatte uns die Mutter doch immer wieder gewarnt. Ich war bereit, ein Held zu sein, in Aktion zu treten: »Los, rennt, rennt!«