Nachtschatten - Melchior Werdenberg - E-Book

Nachtschatten E-Book

Melchior Werdenberg

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Beschreibung

Zweiundzwanzig Ausflüge in die Wildnis des Alltags. Melchior Werdenberg lässt Zeit und Raum hinter sich und erzählt Geschichten über selbst gewählte und erlittene Alltagskatastrophen: friedlich, bösartig, tödlich, nachdenklich machend, amüsant, dramatisch, mit und ohne Pointe – ein Kaleidoskop menschlicher Unvollkommenheit. Der Fremdgeher, der eine Überraschung erlebt; der Treuhänder, der die Treue verliert und das Leben dazu; der irritierende Kobold vom Sihl-wald; ein gewolltes Ende des eigenen Lebens oder ein Scheidungsfall mit unverhofftem Ausgang.

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Seitenzahl: 158

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Melchior Werdenberg

Nachtschatten

Erzählungen

Elster & Salis wird mit einem Förderbeitrag des Bundesamtes für Kultur für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

 

Melchior Werdenberg

 

Nachtschatten

 

Erzählungen

Verlag

Elster & Salis AG, Zürich

 

[email protected]

 

www.elstersalis.com

Lektorat/Korrektorat

Patrick Schär

Satz

Peter Löffelholz

Umschlaggestaltung

André Gstettenhofer

Umschlagbild

Azrael, Engel des Todes, risingphoenixhc.com

Gesamtrealisation

www.torat.ch

Gesamtherstellung

CPI Books GmbH, Leck

 

Die Originalauflage erschien 2016 beider Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich.

 

Neuauflage © 2021, Elster & Salis AG, ZürichAlle Rechte vorbehalten

 

ISBN 978-3-03930-018-1eISBN 978-3-90606-552-6Printed in Germany

INHALT

Personenschaden

Blaulicht

Love Tracker

Treue Hände

Das Wiedersehen

Gott ist groSS

Hongkong

Späte Offenbarung

Sommerliche Mittagspause

Die Schlange und die Maus

Sihlwald

Die Leiter zum Himmel

Hochwasseralarm

Der Engel

Bedroht

J. A.

Du wirst …

Parricida

Kollegenfreunde

Die Kulturwanderer

Dormicum

Love Beens

PERSONENSCHADEN

»Jede Zeit hat ein Ende, nur der Anfang hört nie auf.«

Die Gratiszeitung hatte er längst weggelegt, aber dieser Satz des Tages ließ ihn nicht los. Der Zug sollte eigentlich längst weiterfahren Richtung Hauptbahnhof, aber er stand seit einigen Minuten. Erste Passagiere begannen auszusteigen.

Sollte er auch? Von Oerlikon mit dem Tram zur City würde er eine halbe Stunde zusätzlich brauchen.

»Personenschaden auf der Strecke nach Zürich Wipkingen – wir bitten unsere Fahrgäste um Entschuldigung und danken für das Verständnis.«

Die Ansage schepperte so gleichtönig wie in allen anderen Bahnhöfen dieses Landes, vielleicht gar der Welt. Alle Flughäfen sehen gleich aus, dachte er, alle Freizeitparks, bald auch alle Hotels.

Wieder einer dieser hoffnungslosen Egoisten, der sich aus dem Leben verabschiedet, aber sich nicht um seinen Nachlass kümmert, dachte Melchior.

Der Zug stand weiter still. Melchior blieb für sich beim Thema. Es wäre an der Zeit, eine öffentliche Diskussion anzustoßen, um die Selbstmordkandidaten von den Gleisen fernzuhalten. Sollte man mit Anzeigen darauf hinweisen, dass keineswegs jeder mit dem sicheren Tod rechnen konnte? Niemand berichtet über die schwer invaliden, absolut hilflosen lebenden Kadaver, die es nicht geschafft haben. Und die Erfolgreichen, sie sollten sich schämen. Sie zerstören das Leben anderer: traumatisierte Lokführer, die mit dem fremden Tod vor Augen leben müssen. Die Todessüchtigen denken nicht an ihr Blutbad und nicht an die Hilfspersonen, die sich mit ihrer zerfetzten Hülle beschäftigen müssen.

Er entschied sich, aufs Tram zu wechseln.

Wo ist der Anfang, wenn der Zug kommt?, dachte er.

Die Antwort fand er schnell: »Der Anfang ist bei mir.«

Er empfing eine SMS: »Außergewöhnlicher Todesfall beim Bahnhof Wipkingen.«

Nicht jeder Staatsanwalt rückt bei einem Personenschaden aus, aber ein dumpfes Gefühl in der Magengrube sandte eine Botschaft an die Leitzentrale weiter oben. Er entschloss sich, gleich hinzugehen.

Mit Tram und Bus war er nach zwanzig Minuten vor Ort. Dort war der Bahnverkehr noch immer blockiert. Durch den Erkennungsdienst waren zahlreiche Markierungen angebracht und ebenso viele Fotos gemacht worden. Jetzt sammelten zwei Männer in dunkelblauen Überkleidern die Leichenteile auf, die überall verstreut zwischen und neben den Gleisen lagen. Melchior blickte auf seine Schuhe, rechts davon lag eine blutige Leber auf dem Schotter.

»Der Körper muss im Fallen direkt mit dem fahrenden Zug zusammengeprallt sein, nur so ist zu erklären, dass der Mann derart auseinandergerissen worden ist. Dieses Unfallbild sehen wir sonst nur bei Schnellzügen.« Der Polizeioffizier machte die Mitteilung routiniert, aber man spürte, dass er bemüht war, emotional auf Distanz zu gehen.

Melchior nickte, blieb wortlos. Er war nicht unglücklich, dass man die Lokomotive bereits wegfahren ließ. Sie musste nur an einen neuen Einsatzort überführt werden. Zum Glück hatte sie keine Personenwagen mit sich geführt. So gab es keine Probleme mit fotografierenden Fahrgästen.

Der Lokführer hatte einen Notstopp ausgelöst, als die Kollision bereits erfolgt war. Die Polizei hatte ihn zur Befragung mitgenommen. Seine Arbeitgeberin würde ihn für die nächste Zeit vom Dienst dispensieren. Auch für ihn würde es einen neuen Anfang geben, vielleicht nicht mehr im Führerstand. Durchschnittlich trifft es jeden dritten Lokführer einmal – durchschnittlich.

Für Melchior gab es am Tatort nichts zu tun. Aber er hatte sich einen eigenen Eindruck verschafft. Er wusste, die Bilder würde er in seinem Kopf mit sich herumtragen. Später, wenn ihm die Akten vorlagen, würde er die Fotos des Erkennungsdienstes mit seiner Erinnerung abgleichen.

Doch schneller, als die Polizei ihre Akten aufbereiten konnte, waren die Journalisten, die den Selbstmord von Wipkingen zum Tagesthema machten.

Für die Presse gilt die ungeschriebene Regel, über suizidale Schadensereignisse mit der Eisenbahn zu schweigen, um keine Nachahmertaten zu provozieren. In diesem Fall hatte sich ein Journalist nicht daran gehalten. Nur wenige Stunden nach dem Ereignis hatte er seine Story zusammen mit der Aufnahme eines attraktiven, halb nackten Mannes auf seinem Newsportal aufgeschaltet. Das Foto zeigte einen athletischen Mann in Boxershorts. Beide Arme hielt er vorgestreckt, die Hände waren weiß bandagiert, bereit zum Kampf. Damit war der Damm gebrochen, die Medienflut losgetreten.

Beim Toten handelte es sich um einen Türsteher, der sich einen Namen als Mixed-Martial-Arts-Kämpfer gemacht hatte. Auf Youtube und Facebook gab es reichlich Bildmaterial. Innerhalb von Stunden wurde aus dem Kleinkünstler Milos eine lokale Prominenz. Mindestens zwei aktuelle Freundinnen fanden den Weg zum Mikrofon eines Lokalradios. Seine Familie gab vor laufender Kamera ein bewegendes Zeugnis davon ab, was für ein sehr guter, liebevoller Mensch hier sein Leben gelassen hatte.

Auch Melchior ging auf Youtube und Facebook. Er wusste aus Erfahrung, dass solche Posts schnell aus dem Netz verschwinden konnten. Tatsächlich gab es zu Milos bereits einige verstörende Hasseinträge. Die Autoren gönnten dem Toten offensichtlich auch in den ewigen Jagdgründen keine Ruhe. Und die Botschaften zielten auf die Freunde des Verstorbenen, deren Trauer sie virtuell mit Dreck bewarfen.

Melchiors Analyse war simpel. Es standen sich zwei verfeindete Mixed-Martial-Arts-Clubs gegenüber, und ein Teil ihrer Anhänger pflegte den Hass mehr als den Sport. Die beiden Clubs waren sich sehr ähnlich, ja eigentlich gleich, nur ihre Mitglieder glaubten, sie seien wegen ihrer Herkunft ungleich.

Melchior seufzte. Wenn die Jungs einen Versuch machen würden, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, könnten sie sehr viel Gemeinsames entdecken, zum Beispiel, dass ihre Väter auf dem Amselfeld Seite an Seite gestanden hatten. Aber davon hatten sie noch nie gehört. Nur der Name dieses Schlachtfeldes war ihnen geläufig. Er diente als Code, um ihr Feindbild zu aktivieren.

Melchior suchte weiter. Beim Durchgehen der Facebook-Freunde des Toten blieb sein Blick an einer jungen Frau hängen, die ihm ausnehmend schön erschien. Sie hatte Bilder gepostet, die sie in sportlichem Dress zeigten. Und der Hintergrund dieser Bilder ließ klar werden, dass sie denselben Kampfsport wie Milos praktizierte.

Cherchez la femme, diese alte Kriminalistenweisheit hat sich ebenso wenig abgewertet, wie sich die Menschen seit der Zeit von Hercule Poirot oder Maigret geändert haben. Melchior notierte sich ein Motiv: »Martial Arts in erotischer Schönheit, ein Grund, verrückt zu werden, ein Grund, zu töten.«

War dieser Personenschaden wirklich ein Selbstmord? Melchior spürte, diese Frau würde zur Lösung des Rätsels beitragen. Ihr Name verriet ihm ihre Herkunft. Mit der Freundschaft zu Milos hatte sie auf die falsche Seite gewechselt.

Das Telefon klingelte. Der Offizier, der am Morgen die Tatbestandsaufnahme geleitet hatte, rief an: »Wir haben Zweifel am Selbstmord, wir ermitteln wegen Verdachts auf Tötung.«

»Und Sie wissen natürlich, in welchen Kreisen Sie nach Tatverdächtigen zu suchen haben«, antwortete ihm Melchior.

»Gewiss, es geht um Leute, die einem mit Milos’ Tribe verfeindeten Club angehören.«

»Und ich vermute, dass sich der Streit um eine Frau drehte, deren Herz Milos hatte erobern können«, gab Melchior das Ergebnis seiner Internetrecherche preis. »Milos’ schöne Kampfsportfreundin finden Sie auf Facebook. Vielleicht braucht sie Polizeischutz.«

Milos’ Handy war beim Aufprall mit der Lokomotive in Kleinteile zerlegt worden. Es gab aber noch ein zweites Datenleben bei einem Big Brother. Die Polizei ließ sich sämtliche Handydaten von Milos’ Telefonanbieter übermitteln. Interessant waren die Telefonate, die er in der letzten Stunde vor seinem Tod geführt hatte. Sein Erzfeind hatte sich mit ihm verabredet. Er verlangte einen privaten Fight, auf Leben und Tod, nur sie beide, Milos’ Erscheinen sei eine Frage der Ehre.

Auch die schöne Kampfsportlerin hatte mehrmals angerufen, Milos hatte zuletzt aber nicht mehr abgenommen.

Noch interessanter war eine Aufnahme, die Milos unmittelbar vor seinem Fall von der Brücke gemacht hatte. Sie dauerte rund fünfzehn Minuten und endete mit dem Aufprall auf die Lokomotive. Milos hatte sein Handy heimlich auf Aufnahme geschaltet, als er sich seinen Mördern gegenübersah. Die aufgenommenen Dialoge waren brutal, aber aufschlussreich.

»Drei gegen einen, ich nehme es mit euch auf, ihr Hunde.« Das musste Milos’ Stimme sein.

Melchior hörte sich die Aufnahme mehrmals an. »Wir töten dich«, war deutlich zu vernehmen. Er erstellte eine erste Abschrift der gesamten Aufzeichnung und wusste, dass er damit den zentralen Kern seiner Anklageschrift zu Papier gebracht hatte.

Zuversichtlich sah er der Festnahme der Mörder entgegen. Man würde die drei finden. Die Erfahrung lehrte ihn: Solche Typen kamen ohne ihre Mama nicht zurecht.

Und er freute sich auf den Prozess. Auch wenn es keine Zeugen gab, würden die automatisch generierten Ortsaufzeichnungen der Handys der Täter die Beweislage hieb- und stichfest machen.

Ein Anfang war zu Ende, aber es war Zeit, ihn fortzuführen.

BLAULICHT

Ein Polizeifahrzeug kam ihm mit Blaulicht entgegen. Ohne eingeschaltetes Signalhorn hatte der schnell, aber auf dem neuen Straßenbelag ruhig dahingleitende 5er-BMW etwas Schemenhaftes an sich. Kaum hatte er ihn wahrgenommen, war der Spuk auch schon vorbei. Wohin der wohl fährt, fragte er sich kurz, um gleich wieder seine Schritte aufzunehmen und weiter seinen Gedanken nachzuhängen.

Zudem musste er sich auf die Straße konzentrieren. Die Nacht hatte die Kälte zurückgebracht. Überall dort, wo am Tag Schmelzwasser in kleinen Rinnsalen über die Straße geflossen war, drohte ihm jetzt blankes Eis. Das fahle Licht des Mondes half kaum, die gefährlichen Stellen zu erkennen. Langsam ziehende Wolken verdunkelten die spärliche Sicht. Er wusste, er würde noch eine gute Stunde der nachts praktisch verkehrsfreien Kantonsstraße durch den Wald folgen müssen, bis er das erste Dorf erreichen würde.

Dreißig Jahre war es her, seit er an einer Neueröffnung im Waldhaus teilgenommen hatte. Eine Nachbarin hatte das heruntergekommene Haus an der damals stark befahrenen Hauptverkehrsachse von Zug nach Zürich für ein Restaurant mit gepflegter Küche hergerichtet. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, um den Verlust ihrer beiden Söhne besser verdrängen zu können. Der Ältere hatte sein Leben an der Nadel gelassen, der Jüngere war kurze Zeit später in Portugal mit dem Deltasegler in eine Klippe gerast. Doch der Betrieb erwies sich schon bald als wenig lukrativ. Nach dem Einrichtungsstress war für die Pächterin nicht mehr genug Energie geblieben. Ihre Depression lag wie ein Nachtschatten auf dem Betrieb.

Diese Erinnerung hatte eine Rolle gespielt, als er sich von seinem Klienten hatte dazu bewegen lassen, nach dem ausgezeichneten, aber auch etwas alkoholbelasteten Dinner den gemeinsamen Abend im Klub zu verlängern, der sich seit einigen Jahren im ehemaligen Waldhaus eingenistet hatte.

Er hatte abzuschätzen gewusst, was ihn dort erwarten würde. Leicht bekleidete Damen, die sich zuerst nach seinem Vornamen und dann nach seinem Sternzeichen erkundigen würden. Sie würden vorgeben, seine feinen Hände schön zu finden. Und sie würden ihm anbieten, sich speziell für ihn um die glänzende Stange zu drehen. Ein paar Brocken Deutsch, denen er ein paar Brocken Russisch entgegensetzen würde, und ein paar weitere Worte in englischer Sprache würden genügen, um sich über die gegenseitigen Bedürfnisse auszutauschen. Eine seltsame Gesetzgebung erlaubte es, dass diese jungen Frauen aus der Ukraine sich in der Schweiz während ein paar Monaten als Künstlerinnen prostituieren durften.

Der Klient war offensichtlich Stammgast. Es hatte ein lautes Hallo gegeben, das sogar die Musik übertönte. Die Edelste unter den zahlreichen Schönheiten fiel ihm schwärmerisch um den Hals. Aufregend war der lange Schlitz in ihrem schwarzen Kleid, der bis zur Taille reichte. Der Rest der Damen gruppierte sich mit etwas Distanz um die zwei Gäste, abwartend, wer noch dazugebeten würde. Andere Gäste gab es nicht. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen strahlten die Künstlerinnen, als hätten sie soeben in der Lotterie gewonnen. Auch die kleine rumänische Bardame im Glitzermini schien vor gefühlter Wärme aufzublühen.

Die Damen bekamen Champagner, die beiden Herren Weißwein und Zigarren. War das Lokal als Fumoir zugelassen, oder hatte der Gesundheitsschutz für Mitarbeiter keine Bedeutung, weil die Künstlerinnen ja schon bald wieder reexportiert würden? Während der Klient sich mit dem Körper seiner Dame befasste, setzte sein Anwalt sein Bemühen fort, wie ein Kriegsberichterstatter das Geschehen für sich selbst zu kommentieren.

»Wir befinden uns hier in einer gesetzesfreien Oase, Teil eines erotischen Untergrundnetzwerkes, das sich mitten im Sihlwald etabliert hat.«

Gerade wollte sich bei diesen Betrachtungen ein durchaus wohliges Gefühl bei ihm einstellen, als ihn ein Ereignis irritierte. Zwei kräftige Männer in sportlich-schlampigem Dress waren aus dem Backoffice herausgeschossen und schnellen Schrittes auf sie zugekommen. Noch bevor er das Geschehen einordnen konnte, drängten sich ihm Bilder aus einem Tarantino-Film auf. Er sah jetzt Salma Hayek. Sie tanzt mit einer weiß-gelben Python zur Malagueña, und es beginnt eine blutige Keilerei, bei der das Personal zu gierigen Zombies mutiert.

Doch es kam nicht zur Schlägerei. Auch die beiden wilden Kerle begrüßten den Stammgast mit einer engen Umarmung und kräftigem Schulterklopfen. Und die langhaarige Blondine, die zwischenzeitlich ihre nackten Beine über seine Oberschenkel gelegt hatte, fragte den Anwalt nach seinem Sternzeichen.

Als die Forderungen der Blondine immer konkreter wurden – sie wollte aufs Zimmer, aber nicht allein –, war der Anwalt aufgestanden und hatte sich freundlich, aber bestimmt verabschiedet. Auf ein Taxi wollte er nicht warten, der Spaziergang durch den nächtlichen Sihlwald schien ihm attraktiver.

Als er gegangen war, war er noch nicht nüchtern, aber die frische Luft, die Kälte, die seine Stirn kühlte, das alles tat ihm gut. Mit jedem Schritt begann sich der Alkoholnebel mehr zu verflüchtigen. Er war schon in der Hälfte seines Weges angekommen, als ihm zwei weitere Fahrzeuge, ein grauer Dienstwagen und eine Ambulanz, mit Blaulicht entgegenkamen, an ihm vorbeirauschten und ihn allein in der totenstillen Nacht zurückließen. Wohl ein Verkehrsunfall mit gröberen Folgen, dachte er. Doch seine Gedanken entfernten sich, gingen weit zurück.

Er hatte seinen Klienten an einem Sonntagnachmittag im Garten von Freunden kennengelernt. Vorgefahren war er im offenen schwarzen Roadster. Seine Begleiterin hatte das Aussehen eines Models, und die Kleidung entsprach der Preisklasse, nach der ein gehobener Mercedes verlangte. Die Begegnung war, was man flüchtig nennt. Er hatte sich knapp die Vornamen des Ehepaares merken können. Erst später begann er sie mit Romeo und Julia zu vergleichen.

Zwei Wochen nach dem Treffen erreichte ihn ein Anruf. Das Ehepaar sei verhaftet worden, der Mann wünsche ihn als seinen Verteidiger. Damals begann für den Anwalt ein Mandat, das er später als den Fall mit der längsten Untersuchungshaft und der zweitgrößten Niederlage vor Gericht bezeichnen würde.

Sein Klient wurde beschuldigt, sich als Mitglied eines montenegrinischen Familienclans betätigt zu haben, der in den Drogenhandel involviert war. Der Chef des Clans gehörte zur Familie seiner Frau, war flüchtig, und ihm wurde nebenbei ein Tötungsdelikt in einem Zürcher Vorort zugeschrieben.

Beim ersten Besuch in der Zelle entstand das Bild von Romeo und Julia. Romeo war vom Clan nur ungern aufgenommen worden, seine nicht nur reizvolle, sondern auch tatkräftige Julia hatte sich aber beim Vater durchgesetzt. Am Rande der eigentlichen Drogengeschäfte waren die beiden in den Geldfluss des Clans einbezogen worden, was ihnen ein angenehmes Leben ermöglicht hatte. Romeo gab seine fußballerischen Ambitionen auf, ohne beruflich Ersatz zu suchen, und Julia war mit der Mutterschaft beschäftigt, die auch den familiären Widerstand gegen einen Eheschluss beseitigte.

Viereinhalb Jahre nach seiner Verhaftung hatte das Obergericht Romeo zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Wenige Tage später war er entlassen worden, die Restzeit war auf Probe ausgesetzt worden. Das hätte als Erfolg der Verteidigung gewertet werden können, hatte doch das Urteil der ersten Instanz noch auf zwölf Jahre Gefängnis gelautet. Tatsächlich war Romeo jedoch das Opfer einer äußerst ungünstigen Interessenverteilung geworden. Seine Verteidigung hatte deswegen zu einer Strategie geraten, die einer weitgehenden Aussageverweigerung entsprach, und Romeo hatte sich trotz starkem Druck daran gehalten. Doch die mangelnde Kooperation hatte ihren Preis.

Aufgrund monatelanger Telefonüberwachungen hatte die Untersuchungsbehörde von familiären Streitigkeiten Kenntnis gehabt. Sie zielte deshalb darauf ab, mit einem geständigen Romeo zu einer wesentlichen Verbesserung der Beweislage gegen den Clan zu kommen. Romeo aber konnte seine Familie, in die er eingeheiratet hatte und mit der ihn ein Kind verband, nicht belasten. Die Folgen hätten weit nachteiliger sein können als jede Freiheitsstrafe.

Die Untersuchungsbehörde hatte dafür wenig Verständnis. Der Staatsanwalt drehte deshalb an allen Schrauben, an denen er drehen konnte, um den Druck auf den wider-spenstigen Geständniszeugen zu erhöhen. Nachdem in Aussicht gestellte Vergünstigungen nicht halfen, wurde die Romeo zugeschriebene Rolle als Geldwäscher massiv aufgewertet. Er mutierte zum Cheftreasurer der Gruppe. Ebenso wurde er plötzlich als Teil der organisierten Kriminalität angesehen, um den Haftrichter zu beeindrucken und Romeos Fall zu dramatisieren.

So gelang es der Staatsanwaltschaft, die Untersuchungshaft über Jahre aufrechtzuerhalten, obwohl der in der Schweiz geborene und aufgewachsene Romeo bei objektiver Betrachtung eigentlich längst hätte entlassen werden müssen. Es gibt auch innerhalb der Justiz rechtsfreie Räume. Beugehaft wäre hier der zutreffende Begriff gewesen.

Romeo erwies sich trotz der überlangen Haft als mental außerordentlich stark. Wenn sein Anwalt jeweils demoralisiert die abschlägigen Haftentscheide, einschließlich der bundesgerichtlichen, zu überbringen hatte, war es Romeo, der ihm in der kleinen Besucherzelle Mut zusprach. Daran vermochte auch der Staatsanwalt nichts zu ändern. Wenn er über die Gefängnisleitung in Erfahrung gebracht hatte, dass sich der Beschuldigte in einer Anstalt gut, ja sehr gut eingerichtet hatte, wurde er umgehend in ein neues Gefängnis umplatziert. Dabei verlor er stets auch alle erarbeiteten Vergünstigungen.

Bei seiner Entlassung hätte er einen Führer für sämtliche Untersuchungsgefängnisse des Kantons schreiben können.

Bei Julia dagegen war das Haftentlassungsgesuch ihres Verteidigers schon nach kurzer Zeit gutgeheißen worden. Eine Haftrichterin stellte das Kindeswohl in den Vordergrund, und das verlangte nach einer freien Mutter. Dass die Mutter sich während der langen Haftzeit ihres Mannes von diesem befreite, war ein anderes Kapitel, aber auch das ließ den nicht vorbestraften Romeo nicht einknicken.

Vor Langnau, erinnerte er sich später, war es heller geworden. Der Winter würde bald vorbei sein. Das Blaulicht kam ihm wieder in den Sinn. Er hatte erwartet, dass der Krankenwagen in Richtung Stadtspital an ihm vorbeifahren würde, aber das war nicht geschehen. Sollte sich etwas im Club ereignet haben? Er schaltete sein Mobiltelefon ein, die Nummer von Romeo war gespeichert. Das Rufzeichen ertönte dreimal, dann nahm jemand ab und meldete sich: »Moser, Kantonspolizei.«

LOVE TRACKER

Sie war im Bad, er lag auf dem Rücken. Was sie dort tat, interessierte ihn nicht wirklich. Er würde die Erektion schon hinkriegen. Irgendwie hatte es immer geklappt, aber wenn nicht, dann würde er kein Drama draus machen. Sie schon eher. Frauen nehmen ja alles so persönlich. Dabei hätte es mit ihr gar nichts zu tun. Er mochte ihre blonden, kurzen Haare, die dicken Hinterbacken.