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Gestresste Banker verzocken sich, Kunsthändler verlieren die Nerven, Schriftsteller scheitern, Modelle dealen unter der Hand. Werdenberg begleitet seine Figuren durch vielfältige Wirren, ohne Scham oder Zynismus. Er folgt einer Toten im Zug nach Mailand, spürt einer vergifteten Familiensaga in der Bergwelt nach und begleitet arme Seelen in die Psychiatrie oder den Tod. An den Rändern der Realität betreten Charaktere die Szene, die man zu kennen glaubt, bis eine Volte ungeahnte Abgründe offenbart. Dabei gehen Lakonie und Todesgefahr eine schlagfertige Allianz ein, denn Werdenberg handhabt die konzise Form der Kurzgeschichte so messerscharf wie seine Helden ihre Mordwerkzeuge.
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Seitenzahl: 139
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Melchior WerdenbergScheinwelten
Der Salis Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Melchior Werdenberg
Scheinwelten
Verlag
Elster & Salis AG
Löwenstraße 2, CH-8001 Zürich
www.elstersalis.com
Lektorat
André Gstettenhofer, Patrick Schär
Korrektorat
Patrick Schär
Satz
Peter Löffelholz
Umschlaggestaltung
André Gstettenhofer
Umschlagbild
© Julian Bledowski,
»aliensurvive« (Ausschnitt), 2018
Gesamtrealisation
www.torat.ch
Gesamtherstellung
CPI Books GmbH, Leck
1. Auflage 2019
© 2019, Salis Verlag AG
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-906195-91-9eISBN 978-3-906195-92-6
Printed in Germany
Aconit Napel
Boilerroom
Das Begräbnisprojekt
Das Scheitern
Der Trainer
Die drei Grazien
Doorwayjunkie
Hans im Glück
Gracias por todo
Heilige Stunde
Heimo Glanz
Katzensee
Kunstliebe
Liebenswürdigkeiten
Mittelstation
Nuit blanche
Rapport einer Ehe
Lörrach
Rehetobel
Toter Fisch
Trainspotting
Die Schildkröte
Sei auf der Hut,
vor dem blauen Eisenhut.
Alemannen aus dem Oberwallis zogen ab dem 13. Jahrhundert in für sie neue Alpenregionen. Vom Piemont bis Südtirol oder Vorarlberg und ebenso an zahlreichen Orten in Graubünden siedelten sie in höheren Lagen. Ihre Arbeitsweise erlaubte ihnen, sich besser als die lokalen Bewohner gegen die Widrigkeiten der Natur durchzusetzen.
Im 15. Jahrhundert wurde als Folge des Rückzugs der Gletscher ein Übergang zwischen Zermatt und dem französischsprachigen Val d’Hérens begehbar. Auch über diesen Pass zogen deutschsprachige Walliser, die sich allerdings hier nicht konkurrenzlos festsetzen konnten, sondern sich an die lokale, Patois sprechende Bevölkerung bis hin zur Französisierung ihrer Familiennamen assimilierten.
Frühmorgens hat Melchior in Sion den ersten Bus zur Barrage de la Grande-Dixence genommen. 27 Kilometer musste der Buschauffeur auf engsten, kurvigen Straßen bewältigen. Am Stausee entlang und über den Geißentritt will Melchior nach Arolla wandern. Ein noch weißer Fleck auf seiner persönlichen Wanderkarte erwartet ihn. Der Gedanke berührt ihn, sich zu Fuß zu einem Ort hin zu bewegen, an welchem, wie er von seiner Mutter weiß, während vier Jahrhunderten Verwandte gelebt haben. Dort antreffen würde er niemanden mehr. Die Familie wurde von einem Fluch getroffen, das Sakrileg einer doppelten Heirat hat seine Opfer verlangt.
Joseph und Marie, die sich seit Kindsbeinen kannten, waren ein sich versprochenes Liebespaar, das eine schöne gemeinsame Zukunft erwarten durfte. Über mehrere Generationen hinweg hatten sich ihre Familien, zugezogen aus Zermatt, in Arolla etablieren können, öfter gar abwechslungsweise die Vorsteherschaft in der Gemeinde erlangt. 1896 konnte das kleine Dorf, das ganz zuhinterst im Val d’Hérens auf einer Höhe von 2000 Metern am Fuße des majestätischen Mont Collon angesiedelt ist, die Errichtung des Grand Hotels feiern. Die Engländer zuerst und nachfolgend die Franzosen hatten den Kuraufenthalt in den Schweizer Alpen entdeckt. Das Touristengeschäft erlebte den ersten Boom in der Bauernschweiz. Das Grand Hotel Kurhaus, so sein offizieller Name, aus großen Steinquadern errichtet, mit Einbezug von cognacbraunen Balken aus Lärchenholz, vierstöckig, mit einer kamindominierten Lobby nach englischem Vorbild, wurde über die lokale Presse hinaus als großer Wurf bezeichnet. Arolla wurde international bekannt, und der Zustrom der Gäste war sommers wie winters beträchtlich. Doch der Besitzer, ein alleinstehender Mann aus dem Ort, der es mit dem Kuhhandel zu Geld gebracht hatte, lag im Streit mit seinen Verwandten, die einen Anteil am Reichtum ihres Onkels begehrten. Sogar der Versuch einer Streitbeilegung durch den Bischof aus Sion blieb erfolglos. Die Missgunst war so groß, dass der Hotelier schlussendlich seiner Verwandtschaft jeden Zutritt zum Hotel untersagte. Mehr noch, er stellte ihnen in Aussicht, sie allesamt zu enterben. Als er nach biblischen sieben erfolgreichen Jahren schwer erkrankte und den Tod vor sich sah, fiel sein Blick auf Marie, die bei ihm in der Rezeption tätig war. Eines Abends, als Marie gerade ihre Arbeit beenden wollte, bat er sie in sein Arbeitszimmer. Er machte keine langen Umschweife, sagte nur, sie solle sich setzen, und bot ihr an, sie zu heiraten und sie zur Alleinerbin zu machen, ganz ohne Gegenleistung, denn bald werde er sterben. Marie wagte nicht, aufzublicken, blieb stumm.
In dieser Nacht verließ Marie das Hotel, auf die Gefahr hin, das jemand sie sehen konnte. Im Dorf angekommen, schlich sie über eine Leiter hinter dem Haus hinauf zum Dachboden, wo Joseph seine Bettstatt hatte, um ihn zu unterrichten. Sie besprachen sich während Stunden. Auch wenn sie sich schon lange heimlich liebten, die Ehe war für sie ein heiliges Sakrament. Doch der Köder war ausgelegt, die Verlockung wuchs mit jedem Tag. Der Aussicht auf den mit einer Sünde behafteten Reichtum konnten sie nicht widerstehen, zu groß war die Not des Alltags, zu gering die Chancen auf ein eigenständiges wirtschaftliches Fortkommen. Nach wochenlangem Ringen versprachen sich die beiden Liebenden, sich auf alle Zeit treu zu sein, und trotzdem sollte Marie das Angebot annehmen. Die Trauung zwischen dem alten Hotelier und seiner gekauften Braut wurde im Frühling 1903 vollzogen. Viele aus dem Dorf blieben der Feier fern, nicht nur die Verwandten, die sich ausrechnen konnten, wohin die erwartete Erbschaft gehen würde. Der Hotelier tat seiner jungen Gattin den Gefallen und verstarb schon im Herbst. Wenige Tage später reiste der Notar aus Sion an und bestätigte formell das Alleinerbe von Marie.
Joseph und Marie waren ungeduldig, das Trauerjahr schien ihnen unendlich langsam zu verstreichen. Sie wollten nicht länger aufeinander warten. Doch jetzt begann das Ungemach. Der Pater war nicht bereit, Joseph und Marie zu trauen. Sie mussten nach Sion, wo sie gegen eine private Zuwendung von einem Mönch den gewünschten Segen erhielten. In Arolla und im ganzen Tal wurde hinter ihrem Rücken getuschelt, wo immer sie auftauchten. Beim Abendmahl verweigerte ihnen der Priester die Hostie. Bald schon setzte ein Feuer einen Annexbau des Hotels in Brand; von welcher Hand gesetzt, blieb unklar. Dann erlitt Marie eine Fehlgeburt. Das Kind hätte Peter geheißen, nach dem Hotelier, wäre ein Stammhalter gewesen. Ein Jahr später gebar Marie ein Mädchen mit blauen Augen und roten Haaren. Eine Hexe habe während der Geburt vor der Maternité ihre gekrümmten Finger verrenkt, hieß es im Dorf. Ein weiteres Jahr später kam mit schwarzen Haaren und dunklen Augen eine Schwester zur Welt, nach der Mutter Marie geheißen. Über das zweite Mädchen konnte sich Joseph bereits nicht mehr freuen. Er war schwermütig geworden, nahm nicht mehr wahr, was um ihn herum geschah, war unfähig geworden, seiner Gattin bei den alltäglichsten Verrichtungen zu helfen. Der Doktor wusste nicht zu sagen, ob es die Seele oder der Körper sei, was den jungen Mann verelenden ließ. Wohl beides, meinte er, ein Medikament gebe es nicht. Im Dorf und darüber hinaus im ganzen Tal glaubte man den wahren Grund seines Zerfalls zu kennen. Sie hatten sich gegen das heilige Sakrament der Ehe versündigt, und Gott ließ das nicht zu.
Marie war tapfer. Sie versuchte nach Kräften, das Hotel zu führen und ihren beiden Töchtern eine gute Mutter zu sein. Die Menschen im Dorf schnitten alle drei. Aber auch das Weltgeschehen schien sich gegen sie verschworen zu haben. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs blieben die Gäste aus. Die Talbewohner waren nach wie vor argwöhnisch. Mutter und Geschäftsfrau, das schien ihnen unvereinbar. Für Marie stellte sich die Frage nie, sie hatte keine Wahl, auch dann nicht, als die rothaarige Tochter sich eines Tages von der Brücke in die Borgne stürzte. Ein Grab wäre ihr verwehrt worden, wohl deshalb hatte sie es vorgezogen, sich wegtragen zu lassen. Die schwarzhaarige Schwester, sehr schön, wollte von keinem Mann etwas wissen. Lieber blieb sie ledig. Nach dem Verlust des Hotels zog sie zusammen mit ihrer alt gewordenen Mutter nach Zermatt, wohl wissend, dass beide die Sprache ihrer Herkunft nicht verstehen würden. In Arolla wurden alle Zeichen der Anwesenheit der Familie vernichtet. Der Pater beseitigte gar die zwei hölzernen Kreuze, die an Joseph und seinen totgeborenen Sohn hätten erinnern sollen. Das Hotel war einer Bank aus Sion zugefallen, die Marie einen Tag nach der Kriegserklärung von Franz Joseph I. am 29. Juli 1914 die Kredite gekündigt hatte.
Melchior schreitet weiter seinem Ziel Arolla zu. Gedanklich bleibt er bei Joseph und Marie hängen. Die Sonne und die sauerstoffarme Luft auf dieser Höhe befördern sein Denkvermögen nicht. Erst als er Marie in Maria verwandelt, kommt ihm der kleine Glücksbringer in den Sinn, der auf einem Bett aus Stroh lag und die Welt verändern sollte. Was daraus wurde, er will nicht daran denken. Lieber bleibe ich das gottlose Maultier, das ich bin, denkt er, während er weiter am Stausee entlang vorwärtsschreitet. Wiederholt hört er einen Pfiff eines Murmeltieres, blickt sich jeweils um und sieht zu, wie die kleinen, noch mausgrauen Jungtiere in ihre Löcher flüchten. Sie brauchen fast nur den Adler zu fürchten, aber wir Menschen, was haben wir zu fürchten? Welche Macht hat die Religion heute noch in diesen Bergtälern, die sich zunehmend entvölkern? Was hat in den Augen der Bergler Gott mit den Gletschern zu tun, die sich jedes Jahr stärker zurückziehen, abbrechen, verschwinden? Melchior bleibt stecken in unklaren Gedanken, vorwärtsschreiten allein hilft gar nichts.
Ein Knall wie ein Donner lässt ihn erschrecken. Auf der anderen Seite des Tals beginnt der Berg zu leben. Erstes Geröll fällt von der steilen, felsigen Wand herunter, eine ganze Platte beginnt zu rutschen und taucht ins milchig graue Gletscherwasser. Zuerst spürt Melchior den Luftdruck. Sein Filzhut wird ihm vom Kopf gerissen. Dann nähert sich rasend schnell eine mehrere Meter hohe Welle, die sich als Halbring um das Geschiebe gebildet hat und sich konzentrisch ausbreitet. Obwohl der Seespiegel wegen Trockenheit dreißig Meter unter der Normalhöhe liegt, spritzt das Wasser beim Aufprall bis zu ihm hinauf und über den Wanderweg hinaus. Die Kraft der entfesselten Naturgewalt ist so stark, dass der Weg an mehreren Stellen abrutscht.
Melchior hat Glück, bleibt verschont. Wäre der Fluch, der auf meinen Verwandten lastet, genügend stark gewesen, hätte es mich heruntergerissen in diese Gletschersuppe. Melchior schüttelt den Gedanken von sich, will nicht glauben, dass dieser Bergsturz etwas mit seiner Familie zu tun haben könnte. Es ist die Hitze, die der Erde zusetzt. Doch trägt nicht der Mensch dafür die Verantwortung? Kann man hier noch von einem Naturereignis sprechen?
Die Sturheit hat keine eindeutige Qualität, sie kann retten und töten. Melchior lässt sich durch den Erdrutsch nicht von seinem Vorhaben abbringen. Er will den Weg nach Arolla fortsetzen. Es ist heiß, die Steine glühen, dreißig Grad beträgt die Temperatur auf 2500 Metern über Meer. Er denkt an die Wanderer, die sich in Arizonas Wüsten verlieren und verdursten. Wird es bald in seinen Bergen dieselbe Trockenheit geben? Hellblaue Flächen in den Höhen zeigen ihm an, wo die Gletscher besonders stark bluten.
Melchior hat es nach schwierigen Geröllhalden bis zu den eisernen Leitern geschafft, die den Wanderern den Aufstieg zum Pas de Chèvres ermöglichen. Er muss unten warten, weil eine gemischte Gruppe teils knapp bekleideter Berggängerinnen die an der Felswand befestigten Leitern heruntersteigt. Was sich in öffentlichen Badeanlagen stark beruhigt hat, scheint alpin nicht der Fall zu sein, hier feiert der Hautmarkt Urständ. Melchior bringt den Lederstrümpfen, die ihre Haut von der Sonne verbrennen lassen, höchstens Bedauern entgegen. Erst als eine junge Frau im Minirock direkt über ihm sich ansetzt, die Leiter herunterzusteigen, fühlt er sich genötigt, sich den blutenden Gletschern zuzuwenden oder mit flauem Magen den Felsen, die direkt unter ihm auf seinen Absturz warten. Endlich hat die Portugiesin, angetrieben von ihrem Freund, den Abstieg beendet. Melchior kann aufsteigen, ergreift krampfhaft Sprosse um Sprosse, versucht, die Gedanken an ihre Beine und an einen möglichen Absturz zu verscheuchen. Da erzittert das Eisen in seinen Händen. Ein erster Stein fällt an ihm vorbei und schlägt nach gut hundert Metern unten auf, weitere folgen. Nicht loslassen, sagt er sich. Er zieht den Kopf ein und hält sich krampfhaft am Eisen fest.
Kopf nennt man auch die kleinen, unbedeutenden Bergspitzen. Sie finden sich überall. Dem Kopf rechts vom Geißentritt ist es offenbar zu viel geworden. Vielleicht hat ihm die Hitze zugesetzt, oder es hat ihn die Tatsache verärgert, dass sich vor ihm auf der Steinplatte so viel verbrannte nackte Haut ausgebreitet hat. Er ließ sich fallen, aufgeteilt in hundert Teile. Melchior überlebte nur, weil ihn ein Überhang oberhalb der Treppe schützte. Auch die hübsche Portugiesin und die anderen Wanderer, die in der Gegenrichtung unterwegs waren, sind verschont geblieben, da der Weg Richtung Stausee unmittelbar nach der Leiter horizontal vom Abbruch wegführt.
Auf dem Pass angekommen, wäre es an der Zeit gewesen, sich der Sinnfrage zu stellen. Seit Melchior sich mit zwölf Jahren gefragt hat, weshalb er hier ist, ist ihm seine Existenz ein Rätsel geblieben. Aber die Berge haben ihre eigene Philosophie, sie ist dem Menschen nicht zugänglich. Berggänger denken nur, dass sie denken, meist kämpfen sie mit ihrem Sauerstoffmangel, auch Melchior spürt die Höhe.
Der Tsunami beim Lac des Dix, der Steinschlag beim Pas de Chèvres, die Portugiesin im Minirock auf der Leiter, Melchior kann keine Ordnung in die Ereignisse bringen. Er kennt nur ein Ziel, er will nach Arolla. Mittlerweile hat er sein letztes Wasser aufgebraucht. Der Weg ist noch weit. Auf der rechten Seite hängt das Eis teils blau wie ein See an den Wänden. An gewissen Stellen ist der Gletscher aufgebrochen. Der schützende Überzug aus Schnee ist weggeschmolzen, das blaue, das ewige, das wahre Element des Lebens ist ungeschützt der Sonne ausgesetzt. Le soleil, das Maskuline, setzt sich durch. Melchior stürzt sich hinunter ins Tal. Er flüchtet vor den Steinen, deren Ruhe gestört worden ist, und auch vor dem Eis, das sich verliert.
Nach einer guten Stunde Abstieg, das Tal hat sich geweitet, links weiden die schwarzen Kühe, Stolz und Sinnbild des Tals, wird Melchior ruhiger. Die Waldgrenze ist erreicht, das Unterholz wird dichter. Arolla sieht er noch nicht, aber er weiß, da unten, hinter den Bäumen, liegt sein Ziel. Ein schlechter Tritt stoppt ihn. Er hat sich den Fuß verdreht. Nur langsam klingt der Schmerz ab, genug Zeit, um sich umzublicken. Der Gletscher des Mont Collon hat seine Freundlichkeit verloren. Er nimmt den Nachtschatten vorweg, ist abweisend. Aufgeben in den Bergen ist der Tod, Dummheit ebenso. Schon lange hat Melchior das Wasser gehört, das irgendwo unter den Steinen seinen Weg meerwärts sucht.
Der Blick in die Weite des Tals, einst ein Gletschergarten, jetzt eine Gras- und Niederholzweide, führt ihn zu einem jungen Rehbock, der sich leichten Schrittes von ihm wegbewegt. Das Reh, dieses sanfte Wesen, ist für Melchior das willkommene Symbol für Glück, Zufriedenheit und neue Freundschaften. Gerne folgt er seiner Spur. Eine Senke hat Wasser hervortreten lassen. Ein Bergseelein im Miniformat ist entstanden, wenige Quadratmeter nur. Melchior, die geöffnete Trinkflasche in der Hand, tritt hinzu. Als er die offene Flasche in das Wasser eintauchen will, wird er eines Bergmolchs gewahr. Der bewegt sich mit seinen vier Beinchen und seinem Schwanz wild zappelnd Richtung Wasseroberfläche, schnappt nach Luft und dreht sich überraschend auf den Rücken. Sein feurig oranger Bauch, nach oben treibend, signalisiert sein Ende, Totmann. Mitleid mit Amphibien, muss ich das haben?, fragt sich Melchior. Er kapituliert, nimmt kein Wasser aus der Quelle. Doch die Leichtigkeit, mit der er jede Anteilnahme am Schicksal des kleinen Bergmolchs hinweggescheucht hat, das weiß er, würde sich rächen. Fragen würden sich seiner bemächtigen, ihn im Schlaf heimsuchen und plagen.
Der Bergmolch lässt Melchior nicht unberührt. Nach gut hundert Metern kehrt er zurück. Der kleine Wurm liegt nun am Rande des Wassers, angeschwemmt, steif wie ein Stock Holz. Niemand hat ein Interesse an seinem Schicksal. Erst jetzt, bei näherer Betrachtung, fällt Melchior auf, dass sich beim Abfluss der Tränke ein paar Pflanzen, offensichtlich ausgerissen und hineingeworfen, mit Blüten und Wurzeln, angestaut haben. Mit den Handschuhen, die er zum Schutz vor Blasen beim Gebrauch seines Alpenstocks stets trägt, sammelt er das Pflanzgut ein und steckt es in einen Plastikbeutel, den er in seinem Rucksack verstaut. Der Mensch weiß vieles, aber mehr noch weiß er nicht. Melchior immerhin weiß nun, weshalb er auch jetzt auf einen kühlen Schluck Wasser aus der Rehtränke verzichtet.
Die Faszination des Bergsteigens, hat Melchior von einem Extremalpinisten bei einem Geschäftsanlass mit Unterhaltungselementen vernommen, erklärt sich mit dem Glücksgefühl, das der Kletterer mit jedem einzelnen Schritt erfährt.