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Auf wen kannst du dich verlassen, wenn du dir selbst nicht traust? Nach einem großen Vertrauensbruch, der ihre Ehe gehörig ins Wanken brachte, suchen Hannah und Sam verzweifelt nach einem geminsamen Neuanfang mit ihrer achtjährigen Tochter Lily im Gepäck - und wo ginge das besser als im malerischen Owl Cottage im schönen Cornwall. Doch etwas an dem Ferienhaus weckt in Hannah dunkle Erinnerungen... Als sie tote Lebewesen auf der Türschwelle findet und mysteriöses Klopfen an der Tür wahrnimmt, kann Hannah nicht anders, als sich zu fragen, ob jemand ein boshaftes Spiel mit ihr spielt - oder ob die Vergangenheit, vor der sie weggelaufen ist, sie nun endlich eingeholt hat. Die schrecklichen Ereignisse gehen immer weiter und greifen auch bald auf die Gemeinde über, was die Polizei alamiert. Hannah wendet sich währenddessen hilfesuchend an ihren Ehemann. Dieser weist ihre Sorgen jedoch einfach ab und sie beginnt sich zu fragen, ob es falsch war, ihm überhaupt jemals zu vertrauen. Machen die Erinnerungen sie paranoid, oder steckt etwas viel Schlimmeres dahinter, als sie sich vorzustellen wagt?
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Seitenzahl: 432
Zum Buch:
Erholsame Tage im malerischen Cornwall. Das wünscht sich Hannah nach dem ganzen Stress der letzten Zeit. Dieser Urlaub soll die Verbindung zwischen ihr und ihrem Mann Sam wiederherstellen, damit sie wieder als glückliche Familie mit Tochter Lily in die Zukunft schauen können. Doch was, wenn der Blick in die Zukunft plötzlich von der Vergangenheit blockiert wird?
Schreckliche Ereignisse häufen sich und greifen auch bald auf die Gemeinde über, was die Polizei alarmiert. Hannah wendet sich währenddessen hilfesuchend an ihren Ehemann. Dieser weist ihre Sorgen jedoch einfach ab, und sie beginnt sich zu fragen, ob es falsch war, ihm überhaupt jemals zu vertrauen. Machen die Erinnerungen sie paranoid, oder steckt etwas viel Schlimmeres dahinter, als sie sich vorzustellen wagt?
Zur Autorin:
Viele Jahre war Teresa Driscoll als Journalistin, z. B. für die BBC, tätig und verfolgte Geschichten über die Schattenseiten des Lebens. Sie sah, welche Wellen jedes Verbrechen schlug und welch einschneidende Auswirkungen es auf die Beteiligten hatte. Dies erforscht sie in ihren düsteren Romanen.
Sie lebt mit ihrer Familie im schönen Devon und schreibt sowohl Frauenromane als auch Krimis. Ihre Titel wurden bereits in über zwanzig Sprachen veröffentlicht.
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem TitelTell Me Lies bei Thomas & Mercer, Seattle.
© 2023 by Teresa Driscoll
Deutsche Erstausgabe
© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe
HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie, Zürich
Coverabbildung von Madredus / Shutterstock
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749906703
www.harpercollins.de
TAG SIEBEN – OWL COTTAGE
Hannah
Zuerst liebten wir die Eulen …
Oder nein. Vielleicht mache ich mir da nur etwas vor. Womöglich war alles anders, als ich dachte. Vielleicht habe nur ich die Eulen geliebt.
Ich blicke auf das Messer in meiner Hand hinab. An der Klinge klebt Blut und an meinen Fingern auch. Ich sehe, dass ich zittere, spüre die Bewegung aber nicht – diese seltsame Trennung zwischen meinem Verstand und meinem Körper.
Ich spüre sehr wohl, dass ich schwach bin – mir graut davor, dass ich in Ohnmacht falle und Lily zurückkommt und es sieht. Alles. Das hier. Ich schließe die Augen und bemühe mich, tiefer zu atmen. Sehne mich danach, die Eulen zu hören, um meine Gedanken an einen sichereren Ort zu führen. Sehne mich nach einem Anker. Nach etwas, das mich bei Bewusstsein hält.
Ich bin ganz leise. Lausche. Aber da ist nichts.
Bloß nicht umkippen …
Wegen ihnen habe ich diese Ferienwohnung gebucht. Owl Cottage. Wieder versuche ich, mir unseren ersten Abend hier noch mal vorzustellen.
Atme …
Die Stoffe. Das Heulen. Ich öffne kurz die Augen, um den Rayburn-Herd prüfend anzusehen – er ist von einem satten, tiefen glänzenden Blau. Die Geschirrtücher hängen immer noch an der Chromstange. Auf den Baumwollstoff sind Eulen gedruckt. Auch auf den Falten der Vorhänge fliegen Eulen.
Bloß nicht umkippen …
An diesem ersten Abend habe ich nur wenige Schritte von hier entfernt gesessen – da draußen auf den Eingangsstufen. Ich kann nicht glauben, dass ich das war – der Schiefer fühlte sich selbst durch meine Jeans hindurch kalt an, ich nippte an meinem Wein, lauschte ihren Begrüßungsrufen. Dieses andere Ich, das das Rufen der Eulen als einen winzigen Hoffnungsschimmer empfand – den ersten seit Monaten.
Schon als Kind von sechs, vielleicht sieben Jahren liebte ich sie. Seit ich auf einem Jahrmarkt zum ersten Mal einen Kauz gesehen hatte. Ganz nah. Ich hatte die Luft angehalten. Blinzelte nicht.
Willst du mal die Federn anfassen?
Meine Mutter drängte auf eine Antwort, doch ich tat, als würde ich sie nicht hören – nur ich und der Vogel. Wie gebannt. Die Eule drehte ihren Kopf, als die Falknerin näher kam. Behutsam nahm die Frau meine Hand und schob sie direkt unter dem Flügel tief ins Gefieder. Ich erwartete, Fleisch zu spüren, doch stattdessen griffen meine Finger tief, tief in pure Weichheit. Als würde man in eine Wolke greifen …
Das alles war also meine Idee gewesen. Owl Cottage. Ich habe mich in diesen Ort verliebt, als ich ihn auf der Website entdeckt hatte, und dann noch mal an diesem ersten Abend, als ich herumgerannt bin, um Lily all die liebevollen Details zu zeigen.
Sind sie nicht wundervoll, Lily? Sieh mal. Überall Eulen.
Ihre Augen machen mir Angst, Mummy. Ich mag sie nicht.
Nein, nein. Du brauchst keine Angst vor ihnen zu haben, Schätzchen. Sie sind weise und schön und einfach unglaublich. Du wirst schon noch sehen.
Wie kann man sich als Mutter bloß so irren? Lily lernte die Eulen nie lieben. Und ich hätte uns niemals hierherbringen dürfen.
Wieder blicke ich auf das Messer hinab, das ich immer noch in der Hand halte.
Bloß nicht umkippen …
Er ist auf der anderen Seite der Küche ebenfalls zu Boden gesackt. Still jetzt, aber ich stelle mir vor, wie das Blut strömt; ich kann es riechen und sogar spüren, aber ich kann nicht hinsehen.
Und dann überkommt mich eine Woge von etwas noch Schrecklicherem. Ich drehe den Kopf nach rechts. Wehre mich dagegen. Doch da ist er wieder. Ein Schatten, gerade so außer Sichtweite.
Die Erinnerung an die gleiche quälende Angst schleicht sich in mein Bewusstsein. An genau die gleiche Einsamkeit. Ich blicke auf meine Hand hinunter, die immer noch zittert, und mir fällt wieder ein, dass mein Körper schon einmal so gezittert hat.
Ich schließe die Augen und bemühe mich, dieses Bild zu verdrängen, doch das Echo dieses anderen Ortes wird lauter. Die Kälte. Das Grauen. Dunkler beim letzten Mal. Auch dort waren die Eulen.
Ich lege mich auf die Seite, rolle mich zu einer Kugel zusammen und versuche mich zu beruhigen, indem ich mich hin- und herwiege und an das Mädchen mit der Hand in der Wolke denke.
Ich lasse das Messer los und stoße es von mir. Ich werde warten, bis das Licht schwindet, das Zittern aufhört; bis die Eulen mich rufen.
Bis sie mich retten wie beim letzten Mal …
TAG EINS – OWL COTTAGE
Hannah
Wo soll ich beginnen? An dem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben? An dem Tag, an dem ich das mit der Affäre herausfand? Oder an dem Tag, an dem wir nach Cornwall gefahren sind?
Eigentlich spielt es keine Rolle, denn alles läuft am Ende auf dasselbe hinaus. Aber den Mai habe ich schon immer geliebt, diese Veränderung des Lichts und der Temperaturen, den Übergang von Frühling zu Frühsommer, deshalb beginne ich wenigstens mit einem blauen Himmel und strahlendem Sonnenschein. An einem Freitag. Dem Tag, an dem im Cottage der Wechsel stattfindet. Sechs Tage, bevor meine Welt endet, und dennoch in diesem Moment, auf dieser Fahrt – dieser Auszeit.
In diesem Zustand der Unwissenheit. Keineswegs seliger Unwissenheit – das ganz bestimmt nicht –, aber wenigstens habe ich keine Ahnung, was mir bevorsteht. Tun wir deshalb in diesem Moment, an diesem Sonnentag Ende Mai, einfach mal so, als läge das Schlimmste bereits hinter mir.
Dein Gesicht sieht aus wie immer. Dasselbe winzige Muttermal neben deinem Ohr. Derselbe markante Kiefer. Sandfarbenes Haar. Und doch ist alles anders, nicht wahr? Und ich? Ich bin einfach nur schrecklich traurig – abgrundtief traurig – und müde, und mir ist trotz der Klimaanlage heiß. Deshalb krame ich in meiner Tasche nach dem Saft, halte mich an diese neue Regel: Für Lily ein tapferes Gesicht aufsetzen.
Ich denke an die Tabletten in meinem Kulturbeutel. Sie sind stark. Antidepressiva, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie je brauchen würde. Oder je einwilligen würde, sie zu nehmen. Der Arzt sagt, ich müsse mich noch an sie gewöhnen, was wohl der Grund dafür ist, dass ich so müde bin. Aber dir werde ich nichts von diesen Tabletten verraten.
Ich kann nicht.
Der Himmel ist so klar und das Licht so hell, dass du die Augen zusammenkneifst, und als wir um die nächste Ecke biegen, klappst du die Sonnenblende herunter, um deine Augen zu schützen. In einem anderen Leben hätte ich vielleicht vorgeschlagen, anzuhalten und in allen Taschen nach deiner Sonnenbrille zu suchen.
Aber nicht in diesem Leben.
»Ich habe nur noch Apfelsaft.« Ich strecke den Arm zwischen den Sitzen hindurch nach hinten, um Lily das Trinkpäckchen anzubieten.
Sie will Orangensaft. Immer – Orange.
»Tut mir leid, der ist alle, Liebes. Entweder Apfelsaft oder Wasser. Willst du vielleicht Wasser?«
Das Trinkpäckchen wird mir mit einem enttäuschten Seufzer aus der Hand genommen, und ich bemühe mich, mir keine Sorgen um ihre Zähne zu machen. Eigentlich sollte ich auf Wasser bestehen, bin der Auseinandersetzung aber nicht gewachsen.
Was ich uns allen für diesen Trip versprochen habe: Gelassenheit. Ich bin es so leid, die Wirkung auf Kinder zu googeln.
Wir haben die Paartherapie beendet, und ich habe – vorerst zumindest – beschlossen, bei dir zu bleiben, was bedeutet, dass der Fokus und der Druck plötzlich und ungerechterweise wieder ganz auf mir liegen. Ich habe versprochen, es zu versuchen, deshalb muss ich mich jetzt wohl anstrengen.
Wieder wende ich mich dir zu, um dein Gesicht von der Seite zu betrachten. Du hast deine Hand gehoben, die Sonnenblende reicht nicht aus, doch du spürst meinen Blick und drehst ebenfalls den Kopf – deine Miene ist ein Fragezeichen. Ich weiß nicht, was ich dir antworten soll. Ich denke an meine Wutausbrüche jeden Mittwoch in dieser Praxis mit ihren elenden grünen Wänden und ihren elenden grünen Möbeln. Die Farbe der Meditation.
Glaubst du wirklich, wir machen hier ein bisschen Therapie in einem scheißgrünen Zimmer und ich höre einfach so auf, darüber nachzudenken? Wie du mit jemand anderem im Bett liegst?
Und du?
Du wiederholst immer und immer wieder dasselbe. Dass es dir nichts bedeutet hat. Das Problem ist, dass du keine Ahnung hast, was es für mich bedeutet. Deshalb nehme ich heimlich diese Tabletten, und da die Therapie jetzt abgeschlossen ist, muss ich herausfinden, wie um alles in der Welt ich damit zurechtkommen soll.
Ich nehme dein Unbehagen in mich auf – die Sonnenstrahlen – und wünschte, ich könnte in der Zeit zurückreisen. Zu meinem freundlichen Ich. Zu meinem liebevollen Ich. Zu dem Ich, das voll und ganz an uns geglaubt hat. Ich frage mich, was es jetzt wirklich brauchen wird, damit wir die Versprechen, die wir uns gegeben haben, auch halten. Du, dass du mich nicht mehr betrügst. Ich, dass ich damit abzuschließen versuche.
»Willst du an der nächsten Raststätte rausfahren?« Ich räuspere mich. »Um dir eine Sonnenbrille zu kaufen?«
»Es ist nicht mehr weit. Ich komme schon klar.«
Du hältst inne, durch die Überraschung über mein Friedensangebot wird dein Gesicht ein wenig offener, obwohl du immer noch geblendet wirst. Als Nächstes legst du die rechte Hand wieder zurück aufs Lenkrad, damit du mit der anderen nach meiner Hand greifen und sie dankbar drücken kannst.
Ich blicke auf deine Finger hinab. Weiße Knöchel. Ich denke daran, wie wir vor einer Million Jahren Händchen gehalten haben. An unserer Hochzeit. An die Flitterwochen im schönen Bellagio. An all diese Spaziergänge vor all diesen Jahren. Wie wir auf dem Sofa Serien geschaut haben, als Babysitter noch Mangelware waren. Damals, als mir deine Berührung ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit verliehen hat. Ich widerstehe dem Bedürfnis, die Hand wegzuziehen, denn ehrlich gesagt ist das nicht mehr tröstlich.
Wieder denke ich an das Gebrüll in diesem elenden grünen Zimmer und merke, dass ich den Tränen nahe bin. Deshalb bin ich erleichtert, als du den Gang wechseln und als Erster die Hand wegnehmen musst.
»Kann ich eine Geschichte hören, Mummy?«
»Klar, kannst du das, Liebes.« Ich scrolle durch mein Handy und finde eine ihrer Lieblingsgeschichten, die ich über das Autoradio abspielen kann. Ich höre eine Weile zu, dann bin ich vermutlich eingedöst; ich bin mir nicht sicher, aber wahrscheinlich schon, denn viel schneller als erwartet bemerke ich eine Veränderung. Das Auto biegt scharf links ab. Du schaltest das Hörspiel aus. Mein Kopf ruckt zur Seite, und das Navi verkündet, dass wir da sind. Owl Cottage.
»Bin ich eingeschlafen?«
»Du hast geschnarcht, Mummy.«
»Ich schnarche doch nicht.« Um unsere Tochter zum Lachen zu bringen und meine Verlegenheit zu überspielen, grunze ich wie ein Schwein. Ich fühle mich kaputt und ärgere mich darüber, dass ich geschlafen habe, dehne Schultern und Nacken, während wir anhalten.
Der Parkplatz liegt rechts neben dem frei stehenden Haus. Zwischen der geschotterten Einfahrt, die sich direkt vor der Garage befindet, und dem Vorgarten befindet sich ein Holztor. Das Holz ist gepflegt. Frisch gestrichen, was ein gutes Zeichen ist, aber irgendwie kommt es mir auch seltsam vor. Ich frage mich, weshalb der Zaun nicht ganz um das Grundstück herum verläuft. Warum nicht um die Garage? Lily ist bereits aus dem Auto gesprungen und öffnet den Riegel des Tors.
»Langsam, Kleines. Wir müssen das ganze Gepäck mitnehmen.« Ich ziehe meine Reisetasche aus dem Fußraum des Beifahrersitzes und denke an den Berg aus Koffern und Taschen im Kofferraum. Wieder wünschte ich, ich wäre nicht eingenickt. Sehne mich nach mehr Energie.
»Ach, komm schon. Lass uns erst auf Erkundungstour gehen und später auspacken.« Du lächelst mich an, den Kopf bittend schief gelegt, und mir gelingt ebenfalls ein kleines Lächeln, während wir Lily durch das Tor und den Weg hinauf zur Haustür folgen.
Auch diese sieht frisch gestrichen aus – schimmerndes Marineblau, mit einem Messingtürklopfer in Form einer Eule.
»Oh, wow, sieh dir nur all die Eulen an.« Jetzt verändert sich meine Stimmung, sie wird besser, als ich die aus Stein gemeißelte Eule auf den Schieferstufen entdecke, während du auf deinem Handy nach der Zahlenkombination für die Schlüsselbox an der Wand suchst.
Von der Haustür gelangt man direkt in die große Küche, und während Lily durch das Wohnzimmer dahinter vorausrennt, bemerke ich die Eulenuhr und die Eulenvorhänge. Geschirrtücher mit Eulenmotiven sind neben dem Rayburn-Herd gestapelt.
»Sieh mal, Lily. Überall Eulen. Sind sie nicht wundervoll?«
»Ich finde, sie sehen Furcht einflößend aus.« Lily ist wieder zurück in der Küche. »Ich mag ihre Augen nicht.«
Ich sage zu ihr, dass sie keine Angst vor den Eulen haben muss, doch sie hört mir gar nicht zu und zupft dich stattdessen am Hemd.
»Können wir zum Strand gehen? Bitte, Daddy.«
Während der Fahrt hast du von Sandburgen und Burggräben geschwärmt. Davon, wie nah wir am Meer wären. Noch mehr Versprechen …
»Na ja, es ist schon spät.« Ich sehe auf die Uhr und denke an die Lieferung vom Supermarkt, die in weniger als zwei Stunden eintreffen soll. Ob das wohl klappt? Oder werde ich einen Laden suchen müssen, in dem ich Milch, Brot und so weiter bekomme?
»Ich könnte mit Lily den Strand suchen, und du packst aus? Was meinst du?«
Du starrst mich an, und ich spüre diesen Stachel. Die Wahrheit dahinter. Guter Bulle, böser Bulle. Ich, die Praktische. Die, die organisiert, die Taschentücher und Trinkpäckchen parat hat. In unserem anderen Leben hätte ich bereitwillig angeboten zu bleiben. Um auszupacken. Die Einkäufe einzuräumen. Es hätte mir nichts ausgemacht, dafür zu sorgen, dass Milch im Kühlschrank ist, und mir darüber Gedanken zu machen, was Lily zum Frühstück isst. Ich hätte dich den Daddy, mit dem man Spaß hat, sein lassen. Aber nicht heute.
»Lasst uns alle zusammen gehen«, sage ich. »Bis zur nächsten kleinen Bucht geht man zu Fuß wohl nur zehn Minuten. Lasst uns die Taschen im Flur abstellen, und vielleicht kann Daddy später zurücklaufen und die Essenslieferung in Empfang nehmen.«
Du siehst so überrascht aus, wie ich mich fühle.
»Wir müssen nur ein paar Sachen in die Strandtasche packen. Lily – such mal deinen Eimer und deine Schaufel. Kleidung zum Wechseln. Handtuch. Komm schon. Solange die Sonne noch scheint.«
Und so gehen wir zurück zum Wagen und holen das Gepäck herein. Ich ertappe dich dabei, wie du mich von der Seite musterst, als wäre ich ein völlig neuer Mensch. Am liebsten würde ich mich bei dir entschuldigen und sagen, dass es nicht so gemeint war; dass ich einfach erschöpft bin. Keine böse Absicht. Und dass wir das mit der Lieferung auslosen können. Aber du hast recht, wenn du mich so ansiehst, denn ich bin ganz eindeutig ein völlig neuer Mensch.
Und wenn das klappt – diese Auszeit, dieser angebliche Neustart –, dann muss alles anders werden, und zwar nicht nur für mich. Für mein trauriges, verletztes und erschöpftes Ich.
Sondern auch für dich.
TAG EINS – OWL COTTAGE
Hannah
Das seltsame Klopfen an der Tür beginnt gleich am ersten Abend. Du bist nach dem Strand unter die Dusche gegangen, und Lily sitzt mit ihren Puppen auf einer Decke draußen auf dem Rasen.
Seltsam ist, dass es an der Hintertür klopft, die von der Waschküche nach draußen führt, nicht an der Haustür. Das überrascht und irritiert mich, weil ich keine Ahnung habe, wo der Schlüssel ist. Nervös rufe ich »Moment«, während ich durch das Cottage-Handbuch blättere. Endlich finde ich den Schlüssel an einem Haken neben der Haustür. Roter Plastikanhänger.
Als ich die Hintertür endlich aufgeschlossen habe, ist dort niemand. Ich trete hinaus und sehe mich um. Ein befestigter Weg führt zu einem kleinen Tor, das seitlich hinausführt. Alles ist überwuchert, eindeutig kein häufig genutzter Weg. Und niemand ist dort.
Ich gehe seitlich am Haus vorbei zu Lily. »Hast du jemanden in den Garten kommen sehen? Durch das Seitentor?«
»Welches Seitentor?«
»Da drüben.« Ich deute hinüber.
Lily schüttelt den Kopf und wendet sich wieder ihren Puppen zu. »Ich habe Hunger.«
»Ich weiß, Schätzchen. Bald gibt es Abendbrot.«
Ich eile zurück nach drinnen. Wer um alles in der Welt ist um diese Zeit hier draußen unterwegs? Und warum sollte derjenige das ausgediente Tor benutzen? Es führt nicht zur Straße und ist eher ein Reitweg, der nicht befahren wird. Du erwähntest, der Lebensmittellieferant sei an die Haustür gekommen und habe vor der Garage geparkt.
Ich berichte dir das alles, als du aus der Dusche kommst. Frisches T-Shirt. Nasses Haar.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich ein Kinderstreich.«
»Meinst du? Hier draußen?« Ich runzle die Stirn. Die ruhige Lage ist einer der Gründe, weshalb ich dieses Ferienhaus ausgesucht habe. Abseits ausgetretener Pfade.
»Na, ich werfe dann mal den Grill an. Ich bin am Verhungern. Lily bestimmt auch.«
»Ja, ist sie. Ich habe ihr Hummus und ein paar Karotten gegeben, um sie bei Laune zu halten. Die Burger stehen im Kühlschrank. Ansonsten gibt es nur Coleslaw und Brötchen. Wir wollten es schlicht halten, oder?« Mir gelingt ein Lächeln.
»Auf jeden Fall. Und Wein.« Du gehst zur Arbeitsfläche bei der Spüle, wo wir die Flaschen in einem kleinen Metallregal untergebracht haben. »Der Koch braucht Wein.«
Ich gehe mit dem Schlüssel zur Hintertür, um sie wieder abzuschließen, und bemerke erst jetzt die große, mit Postkarten bedeckte Pinnwand, die in der Waschküche hängt. Einige stammen aus anderen Teilen des Landes. Die meisten aber aus dem Ausland. Ich nehme einige von ihnen ab und stelle fest, dass sie von vorherigen Besuchern stammen. Danke, Owl Cottage. Wieder zurück in Irland … Merci beaucoup aus Paris, Owl Cottage …
»Hast du die Postkarten gesehen, Sam?«
»Ja. Schöne Idee. Es wird im Handbuch erwähnt. Eine Tradition. Vielleicht sollten wir auch eine schicken, wenn wir wieder zu Hause sind.«
Ich überfliege ein paar weitere Karten, dann gehe ich zurück in die Küche und sehe dir zu, wie du Schublade um Schublade öffnest, bis du einen Korkenzieher findest und uns beiden ein Glas einschenkst. Ich muss immer noch an dieses Klopfen denken. Kinder, die Streiche spielen – hier draußen?
Du reichst mir meinen Wein. »Lass uns den Rest morgen auspacken. Ja?« Du lächelst, als du dein Glas gegen meines klirren lässt, und ich verspüre Gewissensbisse.
»Es tut mir leid wegen des Einkaufs, Sam.« Ich bedauere wirklich, wie das am Strand rübergekommen ist. »Ich wollte nicht darauf bestehen, dass du deswegen zurückgehst …«
Du beugst dich vor und küsst mich auf die Stirn. »Hast du aber. Und dazu hattest du jedes Recht. Ich habe früher viel zu viel für selbstverständlich erachtet. Es ist okay. Ehrlich. Neuanfang, wie wir gesagt haben. Du weißt, wie sehr es mir leidtut und wie sehr ich mir wünsche, dass es funktioniert. Ich werde mich anstrengen. Beim Auspacken helfen. Und uns mit Grillgut vergiften.« Du nippst an deinem Wein. »Abgemacht?«
Es gelingt mir, das Lächeln zu erwidern. In diesem Moment und an diesem herrlichen Ort ertappe ich mich dabei, dass ich mir wünsche, ich könnte dir von den Tabletten erzählen. Dem Arzt. Ich glaube, Sie leiden an einer Depression, und es ist wichtig, dass Sie Hilfe erhalten.
Für den Bruchteil einer Sekunde frage ich mich, was passieren würde, wenn ich dir alles erzählen würde.
»Abgemacht.«
TAG ZWEI – OWL COTTAGE
Hannah
Am nächsten Morgen finde ich die erste tote Eule.
Wahrscheinlich eine Katze. Die Natur ist wunderbar und doch so grausam. Während ich überlege, wie ich das schreckliche Blutbad beseitigen kann, bevor Lily aufwacht, fühlt sich irgendetwas nicht richtig an.
Ich kann nicht erklären, warum, aber ich denke immer noch an das Klopfen an der falschen Tür gestern Abend.
Es ist früh, nicht mal sieben, und Lily schläft zum Glück noch tief und fest. Seeluft. Spätes Grillen.
Die Eule – ein Junges – liegt als trauriges, blutiges Etwas auf der Fußmatte vor der Küche. Ihr Kopf ist schlaff. Der Hals verdreht. Ich empfinde diesen schrecklichen Stich aus Verlust und Wut, schlage mir die Hand vor den Mund. Gestern Abend habe ich die Rufe der Eulen gehört. Es war magisch. Es hat mir gefallen. Jetzt denke ich an die arme Vogelmutter und frage mich, weshalb die Natur so brutal sein muss.
Ich muss mich beeilen und krame in dem Schrank unter der Treppe. Ich erinnere mich an einen Stapel Zeitungen. Eine Kehrschaufel und einen Handbesen.
»Was machst du da?«
Ich erschrecke so heftig, dass ich mit dem Ellbogen gegen die hölzerne Schranktür knalle. »Autsch!«
»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Du trägst eine Schlafanzughose. Kein Oberteil. Früher hätte mir das gefallen. Ich hätte dich geneckt. Früher hätte ich mich vielleicht gestreckt und dir die Arme um den Hals gelegt, aber wenn ich jetzt auch nur daran denke, werde ich traurig, deshalb wende ich mich von dir ab, reibe mir den Ellbogen und schnappe mir dann einen kleinen Stapel von den Zeitungen.
»Eine Katze hat ein Eulenjunges reingebracht. Ich will nicht, dass Lily es sieht.«
»Ein Eulenjunges?« Du runzelst die Stirn.
»Ein Eulenküken.«
»Himmel. Wie schrecklich.« Du gehst zur Tür, beugst dich vor und siehst es dir genauer an. »Ist die Katze noch hier drin?«
»Nein. Ich glaube nicht. Ich hab noch nicht genau nachgeschaut.«
»Wie ist sie reingekommen?«
»Keine Ahnung.«
»Komm, ich erledige das.« Du streckst die Hand nach den Zeitungen aus. »Ich weiß, was du für Eulen empfindest.«
Ich sehe zu, wie du die Schweinerei mit der Zeitung aufnimmst und zu einem Bündel zusammenfaltest.
»Ich schaue mal nach, ob es einen Komposthaufen gibt.« Du siehst mich an, das grauenvolle Päckchen in der Hand.
»Können wir es bitte draußen in die Tonne werfen oder verbrennen? Mir gefällt der Gedanke nicht, dass etwas zu ihm gelangen könnte …«
»Klar. Ich überlege mir etwas.« Du gehst mit dem Bündel nach draußen.
Ich wasche mir die Hände und koche Kaffee in der großen French Press.
Während du weg bist, durchsuche ich das Ferienhaus. Zuerst unten, dann gehe ich auf Zehenspitzen nach oben, aber nirgends ist eine Katze. Und Fenster ist auch keins offen.
Es verstreichen einige Minuten, bis du wiederkommst. Wir setzen uns an den kleinen Küchentisch.
»Ich komme nicht dahinter, wie die Katze hereingekommen ist«, sage ich. »Hast du gestern Abend irgendwelche Fenster geöffnet? Und sie später wieder zugemacht?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Seltsam. Vielleicht können wir der Vermietungsagentur eine Nachricht schicken. Fragen, ob hier eine Katze herumstreunt. Vielleicht gibt es einen Weg ins Haus, den wir noch nicht gefunden haben.«
»Klar. Gute Idee. Ich rufe sie an.« Du nimmst einen großen Schluck Kaffee. »Hast du gut geschlafen?«
»Nicht wirklich. Fremdes Bett.«
Ich warte darauf, dass du mich wie gestern Abend fragst, ob ich vorhabe, die ganze Woche bei Lily zu schlafen. Letzte Nacht habe ich das Einzelbett gegenüber ihrem in Beschlag genommen, mit der Ausrede, ihr beim Eingewöhnen helfen zu wollen. Aber wir wissen beide, dass es darum nicht geht.
Zu Hause schläfst du zurzeit meistens im Gästezimmer.
»Hör mal. Wegen letzter Nacht. Weil ich bei Lily geschlafen habe. Ich sage nicht nie, Sam …« Ich verstumme, weil ich nicht so recht weiß, ob das eine weitere Lüge zwischen uns ist. Ein kleiner Teil von mir macht sich Sorgen, dass meine Träume Lily stören könnten, aber ich muss gerade so viele Dinge in Einklang bringen. Ich kann es nicht ertragen, das Bett mit dir zu teilen. Noch nicht.
»Schon gut. Mach dir keinen Stress.« Du siehst mir direkt in die Augen, und ich halte deinem Blick stand; zähle die Sekunden.
»Ich vermisse dich einfach, Hannah.« Dein Gesicht ist weicher. Freundlich. Du neigst den Kopf, und ich merke wieder, dass ich mir wünsche, mit allem herausplatzen zu können. Dir die Wahrheit über den Arzt, die Tabletten und die Erschöpfung zu erzählen. Und die Kopfschmerzen und die Träume, die sich zu einem immer finstereren Gewirr vermischen.
»Am Strand war es schön«, sage ich.
»Ja, nicht wahr?«
Ich denke an Lily, an der überall nasser Sand klebte. Ihre Sandburg mit Burggraben. Daran, wie sie die Hand an den Rand des Wassers gelegt hat. Ich denke daran, wie sie später im Garten war und einen zweiten Burger wollte. Ich bin am Verhungern. Wie wir drei auf den Stufen vor der Haustür saßen und beobachteten, wie das Licht schwand und der Mond aufging. Ich denke daran, wie schnell sie groß wird. Gerade ist sie acht geworden und ähnelt so sehr dem kleinen Mädchen, das ich früher war. Dem Mädchen auf den Fotos, die überall im Haus meiner Mutter hängen.
Das kleine Mädchen aus meinen Träumen.
An das ich mich nicht mehr erinnern will.
FRÜHER
Hannah
Die Therapeutin starrt mich an. Wartet.
Sie heißt Jessica, trägt ein knallrotes Shirt und eine Halskette mit einem silbernen Herzanhänger. Er reflektiert das Licht, blitzt auf, als würde er eine Nachricht in Morsezeichen übermitteln. Das irritiert mich, am liebsten würde ich sie bitten, sich anders hinzusetzen, damit es aufhört. Aber ich lasse es bleiben.
Das ist meine erste Sitzung, und es ist ein Einzelgespräch. Das ist offenbar üblich. Mit dir hat sie sich bereits getroffen, und jetzt wünschte ich, ich wäre zuerst dran gewesen. Wie sich herausstellt, hast du meine Träume bereits erwähnt, meine Albträume – wie auch immer du sie genannt hast.
Fairerweise hast du mich vorgewarnt.
»Hören Sie. Ich habe Sam gesagt, dass ich über all das nicht reden möchte. Er hätte es nicht erwähnen sollen.« Du hast dir in den Kopf gesetzt, dass meine Träume die Wurzel all dessen sind, was zwischen uns schiefläuft. Dass sie die Abwärtsspirale im letzten Jahr in Gang gesetzt haben. Das würdest du doch so sagen, oder? »Wir sind hier, weil mein Mann mit einer anderen Frau geschlafen hat, nicht wegen dem, was mir zugestoßen ist, als ich ein Kind war.« Ich will noch mehr sagen, lasse es aber.
Jessica wartet. Wieder blitzt ihr Anhänger auf. Aus irgendeinem Grund muss ich an Wichtelmännchen denken. An Flaggen. Habe ich je Morsezeichen gelernt? Ich kann mich nicht erinnern.
»Ich will, dass Sie wissen, dass das hier ein geschützter Raum ist, Hannah. Dass ich für Sie da bin. Für Sie als Einzelpersonen und für Sie gemeinsam als Paar.« Sie hält inne. »Sam sagt, dass Ihre Albträume im Jahr vor seiner Affäre häufiger geworden sind.«
Ich zucke mit den Achseln.
Sie bohrt weiter. »Ich höre Ihnen zu. Sam hat womöglich recht. Über Ihre Träume zu reden, darüber, was in Ihrer Kindheit passiert ist, mag schmerzhaft sein. Das verstehe ich. Aber es könnte auch hilfreich sein, Hannah. Bevor wir zur Paartherapie übergehen. Wollen Sie es nicht wenigstens ausprobieren? Wir können ganz, ganz behutsam vorgehen. Sehen, wie es läuft? Wir könnten ein paar weitere Sitzungen machen. Nur Sie und ich.«
»Nein danke.«
Ich denke an Lily. Wie sehr sie gewachsen ist. Daran, dass alle sagen, wie sehr sie mir als Kind ähnelt. Ich schließe die Augen und stelle mir ihr letztes Schulfoto vor. Ich weiß, dass sie ein rotes Sweatshirt getragen hat. Eine rosa Haarspange hält ihren Pony zur Seite. Ich strenge mich so an, ihr Gesicht in der Dunkelheit zu erkennen. Aber ich sehe nur Finsternis. Ich kann sie nicht finden.
»Hören Sie«, sage ich. »Ich lebe schon seit meiner Kindheit mit dem, was geschehen ist. Habe es schon vor langer Zeit hinter mir gelassen. Ich bin nicht das Problem.« Ich öffne die Augen. »Ich bin nicht diejenige, die mit jemand anderem geschlafen hat.«
Ich denke an meine Grundschulzeit. Die Szene am Vatertag. Wie ich Stühle umhergeworfen habe. Meine Mutter musste mich abholen. Nach Hause bringen.
Jessica streicht ihren Rock glatt.
»Dann … hat Sam Ihnen die ganze Geschichte erzählt?« Was ich eigentlich wissen will: Weiß Jessica, wer ich bin? Oder besser gesagt, wie sie mich genannt haben?
Ich frage mich, wie viel du in deinem Einzelgespräch preisgegeben hast. Bestimmt hat sie mich gegoogelt.
Das Mädchen im Wald. Die Klatschpresse hat sich dieses kleine Juwel ausgedacht. Sie brauchten eine Bezeichnung, weil sie meinen Namen nicht nennen durften, aber natürlich wussten alle, wer gemeint war. In der Schule. In meinem Dorf. Sie durften meinen Namen und mein Foto nicht in die Zeitung setzen, doch alle in unserer Gegend haben in jener Nacht die Hubschrauber gehört.
Ich war acht, fast neun. Kaum älter als Lily. Ja, es beunruhigt mich zu sehen, dass sie dieses Alter erreicht. Aber ich habe gelernt, damit zu leben; ich habe es hinter mir gelassen. Und darum geht es hier nicht.
»Ich habe Sam gesagt, dass Sie die Entscheidung treffen, ob Sie darüber reden möchten oder nicht.« Jessicas Medaillon blitzt wieder auf, und ich frage mich, ob es wohl Fotos enthält. Von ihren Eltern? Ihrem Partner? Ihrem Kind? Ich frage mich, ob sie je einen ihr nahestehenden Menschen verloren hat, doch ich werde sie nicht danach fragen. »Ich möchte nur klarstellen, dass ich gerne zuhöre, falls Sie darüber sprechen möchten, was geschehen ist, als Ihr Vater starb, Hannah. Es muss traumatisch für Sie gewesen sein.« Sie macht eine Pause. »Ich würde Ihnen gern helfen. Aber das liegt bei Ihnen.«
»Nein. Das will ich wirklich nicht. Man hat mir in der Schule psychologische Betreuung angeboten. Es ist, was es ist.« Ich hole tief Luft und schließe die Augen. Ich kann ihr nicht sagen, dass ich die Therapie damals abgelehnt habe, weil darüber zu reden alles schlimmer gemacht hat. Anstatt besser. Dass ich nur Lilys wegen hier bin; die Alternative wäre gewesen, das Handtuch zu werfen. Mich sofort scheiden zu lassen.
»Ich versichere Ihnen, dass ich momentan nicht unglücklich bin wegen dem, was mir als Kind zugestoßen ist. Ich bin unglücklich, weil mein Ehemann Versprechen gegeben und nicht gehalten hat.«
Und genau das ist der springende Punkt.
Bevor ich diese Textnachricht auf deinem Handy gefunden habe. Bevor wir diesen Showdown hatten und ich zu Boden gesunken bin, weil mich mein Skelett nicht länger aufrecht halten konnte, warst du der Mann, der mich gerettet hat.
Du warst der Mann, der aus dem Mädchen im Wald – dem wilden Mädchen, das damals an der Schule Stühle durchs Klassenzimmer geschleudert hat – eine Frau gemacht hat, die wieder an das Glück glauben konnte.
Ich habe den Leuten immer erzählt, dass du mich gerettet hast. Vor mir selbst.
Und heute? Ich sehe Jessica an, und ich möchte es gar nicht laut aussprechen, weil ich fürchte, dass ich, wenn ich es jetzt sage, nie wieder zurückrudern kann. Dass unsere Ehe nie mehr gerettet werden kann.
Denn die Wahrheit ist: Ich betrachte meinen Ehemann nicht mehr als denjenigen, der mich gerettet hat.
Ich betrachte ihn als den Mann, der mich betrogen hat.
TAG ZWEI – OWL COTTAGE
Hannah
»Bist du sicher, dass nicht lieber ich gehen soll?« Du stehst im Garten und hältst das quietschgelbe Frisbee in der Hand. Lily steht voller Ungeduld neben dir.
»Nein, spielt ihr zwei ruhig. Ich bin nicht lang weg.« Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es fast sechs ist. Die Tankstelle im nächsten Dorf sollte noch geöffnet haben. Wir brauchen mehr Grillkohle. Sie ist fast alle, wir sind wohl aus der Übung. Was daran liegen mag, dass wir zu Hause einen Gasgrill haben.
Aus irgendwelchen Gründen spukt mir Amys Stimme durch den Kopf. Selbstversorgung? Was für ein Urlaub soll das sein,Hannah? Ich spüre, wie mich ein Schauder durchläuft, als ich an sie denke. Amy, meine Freundin. Ehemalige Freundin? Unser schrecklicher Streit.
Du legst den Kopf schief, weil ich nicht mitbekommen habe, was du eben gesagt hast.
»Wie bitte?« Ich bin immer noch müde. Wie benebelt.
»Ich sagte, wir können im Pub essen.«
»Nein, nein. Da ist es viel zu voll. Es wird nicht lang dauern. Bin gleich wieder da, Lily.«
»Tschüss, Mummy.«
Ich eile durch das Gartentor, schließe es hinter mir. Im Garten des Cottages nebenan schneidet eine grauhaarige Frau verwelkte Blumen ab. Sie trägt einen Korb von Pflanze zu Pflanze, ein Bild, das mich an meine Mutter erinnert. Die Frau hebt die Hand, und ich winke zurück.
»Gefällt es Ihnen hier?« Ihre Stimme ist eine Spur zu laut. Sie legt ihre Hand über die Augen, damit die Sonne sie nicht blendet.
»Ja. Wir haben solches Glück mit dem Wetter.«
»Ist es nicht herrlich? Nun ja, wenn Sie etwas brauchen, klopfen Sie einfach. Ich bin meistens zu Hause.«
»Danke. Ich bin auf dem Weg zur Tankstelle. Hat sie noch offen?«
»Wie bitte?« Sie legt die Hand um die Ohrmuschel.
»Ob die Tankstelle hier noch geöffnet ist?«
»Oh ja. Ab sofort die ganze Saison über bis zwanzig Uhr.«
»Großartig. Dann lasse ich Sie jetzt mal allein.«
Ich schließe das Auto auf und steige ein. Ein wenig befangen – sie beobachtet mich – fahre ich rückwärts aus der Einfahrt, an dem schmalen Grünstreifen vor ihrem Haus entlang und dann auf die breitere Straße.
Im Nullkommanichts bin ich an der Tankstelle, und genau wie mir vorhin beim Vorbeifahren aufgefallen ist, stehen kleine Säcke Grillkohle draußen vor der Tür. Ich schnappe mir zwei davon und nehme drinnen noch einen Schokoriegel mit. Ein Nachtisch für Lily als Belohnung für ihre Geduld. Sie ist nicht daran gewöhnt, so spät zu essen.
»Sie übernachten hier in der Gegend?« Die Frau an der Kasse mustert mich unverhohlen, während sie den Scanner über die Strichcodes auf der Grillkohle zieht.
»Ja. Owl Cottage. In der Nähe des Strandes. Es ist herrlich da draußen.«
»Ah ja. Das kennen wir. Schöne Parkmöglichkeit.« Sie hält inne. »Schön und praktisch, wenn man eine Garage hat, meine ich.« Die Frau zieht die Augenbrauen hoch und wechselt einen vielsagenden Blick mit dem Mann, der neben ihr steht. Er starrt mich an. Mit versteinerter Miene.
»Wie bitte?«
»Ich meine damit nur, dass es schön sein muss, eine Garage zu haben.« Wieder legt sie eine seltsame Betonung auf das Wort. »Vor der die Supermarktlieferanten anhalten können.«
Ihr Tonfall enthält eindeutig Schärfe. Einen Moment lang frage ich mich, ob ich sie darauf ansprechen soll. Ich zögere. Überlege es mir anders. Mir fällt ein, etwas über Spannungen aufgrund von Zweitwohnsitzen und Ferienwohnungen gehört zu haben, vor allem während der Covid-Lockdowns. Besser, ich sage dazu nichts. Mit einem erzwungenen Lächeln halte ich zum Bezahlen meine Karte hoch.
Als ich die zwei Säcke Grillkohle wieder an mich nehme und auf den Kassenbon warte, fällt mir eine Anzeigetafel neben dem Fenster auf. Dort hängen verschiedene Plakate für Spendenaktionen. Eine Regatta später im Sommer. Einen Wohltätigkeitsbasar. Und daneben ein Plakat in Neonfarben. Es ist ein Aufruf zu einem Protestmarsch in der nächstgelegenen Kleinstadt. Morgen. So schnell ich kann, überfliege ich die Details, wobei mir bewusst ist, dass ich immer noch beobachtet werde. Auf eine Facebook-Gruppe wird hingewiesen. Irgendwas über den Prozentsatz von Ferienwohnungen und Zweitwohnsitzen im Verhältnis zur lokalen Bevölkerung. Rettet unsere Kommunen.
Wieder im Auto google ich die Facebook-Gruppe, und mir wird schwer ums Herz. Offenbar gibt es einen heftigen Groll. Ich finde einen Link zu einem vorherigen Protest. Auf YouTube sind einige Videos zu sehen. Eine ziemlich hohe Beteiligung. Plakate. Ein Demonstrationszug, Leute schlagen Trommeln.
Ich finde ein paar Zeitungsartikel und überfliege sie, während ich mich nach meinem Sicherheitsgurt recke. Ich schnalle mich an, halte inne. Denke an die Berichterstattung in den Medien, die es über mich gab.
Das Mädchen im Wald.
Ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt. Hole Luft. Bereue, dass ich recherchiert habe.
Meine Mutter hat damals natürlich versucht, mich abzuschirmen. Aber Kinder sind Kinder; sie reden. Und meine Geschichte ist immer noch im Archiv. Für immer im Internet. Genau wie diese Protestgeschichte.
Ich denke an Jessica, die Therapeutin. Und frage mich, ob es falsch war, nicht mit ihr darüber zu reden. Ich weiß es nicht.
Die Wahrheit ist, dass ich mich frage, wie die Medien damit durchkommen konnten. All diese Schlagzeilen. All der Aufruhr.
Ich war erst acht. Ein Mädchen, das mit ihrem Vater zu einem Picknick aufgebrochen ist. Das dann die ganze Nacht tief im Wald festsaß, ganz allein, weil er gestorben ist. Im Wald. An einem nicht diagnostizierten Herzleiden.
Ich drehe den Schlüssel im Zündschloss. Frage mich, wie mein Leben ausgesehen hätte, wenn meine Mutter damals mitgekommen wäre. Und nicht zu Hause geblieben wäre, weil sie für eine Konferenz packen musste. Ich frage mich, wie mein Leben jetzt aussehen würde, wenn ich mich daran erinnern könnte, was in diesem Wald wirklich geschehen ist.
Ich versuche wirklich, nicht darüber nachzudenken. Nicht davon zu träumen. Aber manchmal ist es wie ein Spuk.
Ich habe diese Flashbacks. So wie jetzt. Manchmal wie ein Tagtraum. Manchmal nachts. Der weite Weg. Wie wir einen Bach überqueren. Auf dem Boden liegen. Eine Picknickdecke. Wie ich sie um uns wickle und mich an meinem Vater festhalte – fest, ganz fest.
Die Dunkelheit. Die Kälte. Eulen rufen. Ich glaube, ich bin weggegangen, um Hilfe zu holen, aber ich bin mir nicht sicher. Ich weiß, dass ich mich daran erinnere, große, große Angst gehabt zu haben. Dass ich zurückgegangen bin, um mich neben meinem Dad zusammenzurollen. Sein Fleisch war so klamm. Dann kalt. Wie ich eingeschlafen und dann von einem schrecklichen Geräusch aufgewacht bin, das ich für Donner hielt. Aber es war der Suchhubschrauber. Ich habe mir in blinder Panik in die Hose gepinkelt. Die schreckliche Scham wegen des Geruchs, als die Polizistin endlich neben mir in die Hocke gegangen ist.
Hannah, du musst deinen Daddy jetzt loslassen.
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Ich öffne die Augen und merke, dass ich immer noch vor der Tankstelle sitze und das Lenkrad umklammert halte. Mein Herz hämmert. Rechts von mir fährt ein großer weißer Lastwagen auf der Straße vorbei.
Ich beobachte, wie Staub aufwirbelt, in der Luft hängt, dann blicke ich nach links und merke, dass mich die Tankwartin und der Mann noch immer durch das Fenster anstarren.
Ich fühle mich schutzlos. Ärgere mich, dass ich mich von meinen Gedanken habe davontragen lassen. Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich denke an meinen Vater. So wie ich mich damals an ihm festgeklammert habe, klammere ich mich nun am Lenkrad fest. Mein herrlicher Vater. Der herrliche Schriftsteller. Der liebe, nette Mann, der Geschichten über Feen schrieb und für mich der vollkommenste Vater der Welt war.
Knirschend lege ich den ersten Gang ein und fahre los, verrenke mir den Hals, um zu sehen, ob die Straße frei ist. Meine Fingerknöchel stehen weiß hervor. Weil meine Hände das Lenkrad viel zu fest umklammern.
Ich versuche, meinen Griff zu lockern, doch es geht nicht. Noch nicht.
Weil ich noch immer im Wald bin. Ich erinnere mich daran, dass ich mich geweigert habe, meinen Vater in diesem Wald loszulassen, klein, wie ich war, und so schrecklich, wie diese Nacht war, wusste ich tief in meinem Inneren, dass ich ihn nie wieder zurückbekäme, wenn ich jetzt losließe.
TAG DREI – OWL COTTAGE
Hannah
Sonntagmorgen, acht Uhr – und ich kann es einfach nicht fassen. Noch ein totes Eulenküken auf dem Schuhabstreifer.
Ich stehe stocksteif auf der unteren Treppenstufe, schockiert und desorientiert nicht nur wegen dieses wiederholten Horrors, sondern auch, weil ich es noch einige Sekunden zuvor gewagt habe, mich so viel besser zu fühlen.
Ich habe gut geschlafen, und wir haben einen so unerwartet schönen Tag zusammen verbracht – der Strand und zum zweiten Mal Grillen –, dass ich mich beim Aufwachen irgendwie leichter gefühlt habe. Hoffnungsvoller.
Ich drehe den Kopf, blicke zur geschlossenen Tür deines Schlafzimmers oben an der Treppe. Du warst gestern so geduldig mit Lily – hast Kricket gespielt und so getan, als würdest du den Ball nicht bekommen, damit sie weiterlaufen kann. Hast immer wieder mit ihr gekegelt, selbst als ich genug davon hatte und gegangen bin, um am Kiosk einen Kaffee zu trinken. Erst vor einer Sekunde bin ich an dieser Schlafzimmertür vorbeigegangen und habe daran gedacht, wie sehr du dich bemüht hast. Daran, wie Lily im Sand Rad geschlagen hat und du beim Drehen ihre Beine gehalten hast. An das Frisbee und an die Steaks zum Abendessen. Und ich habe so viel mehr Wärme für dich empfunden.
Als ich die Treppen hinuntergegangen bin, ist mir bewusst geworden, dass ich mich heute Morgen tatsächlich auf dich und unseren nächsten gemeinsamen Familientag freue. Und ich habe an etwas gedacht, was die Therapeutin gesagt hat – dass wir neue Erinnerungen schaffen sollen, um voranzukommen. Neue Schnappschüsse jenseits des Schmerzes. Unbefleckt von diesem Schmerz. Deshalb hat Jessica auch diese Auszeit vorgeschlagen. Sie sagte, neue und glückliche gemeinsame Erfahrungen könnten die Bausteine für unsere Zukunft werden, für die Heilung. Zum ersten Mal habe ich verstanden, was sie damit meinte.
Und jetzt das schon wieder.
Ich wende mich wieder der blutigen Sauerei auf dem Schuhabtreter vor der Küche zu, runzle die Stirn, als ich zur Waschküchentür hinüberblicke. Das Fenster ist zu. Die Hintertür geschlossen. Der Schlüssel mit dem roten Etikett hängt am Haken neben der Haustür. Wir haben gestern Abend wieder alles gründlich überprüft, damit keine Katze reinkommen kann. Du hast sogar eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter der Ferienhausagentur hinterlassen und gefragt, ob es früher schon Probleme mit Katzen gegeben hat. Und wir haben gestern Abend alle Wohnzimmerfenster zugelassen; als ich mir vor dem Schlafengehen noch ein Glas Wasser geholt habe, habe ich alles noch mal überprüft.
Was zur Hölle geht hier also vor?
Die Treppe führt direkt in die Wohnküche, und von dieser unteren Stufe aus kann ich Lilys leuchtend orangefarbene Badesandalen neben ihrem Fischernetz bei den Garderobenhaken sehen. Auf den Schuhen ist immer noch Sand. Die beiden Plastikeimer stehen daneben, und ich ertappe mich dabei, wie sehr mir dieser Gegensatz missfällt: Lilys hübsche Sachen, die mich an unseren schönen Tag gestern erinnern, so nahe an dem traurigen kleinen Leichnam der Eule.
Diese hier ist nur ein kleines bisschen größer als die erste. Wieder ist der Hals verdreht, und auf der Brust sind ein paar getrocknete Blutstropfen zu sehen.
Ich blicke auf die große Uhr über dem Rayburn-Herd. Inzwischen habe ich schon fast fünf Minuten vertan. Es reicht, Hannah. Lily hat noch tief und fest geschlafen – all die Seeluft wieder –, aber ich wage es nicht zu riskieren, dass sie das hier sieht. Rasch gehe ich zum Schrank unter der Treppe, um Papier, Kehrbesen und Schaufel zu holen. Ich breite mehrere Zeitungsseiten auf den Bodenfliesen aus und benutze die Kehrschaufel, um den Vogel in deren Mitte zu schieben. Dann falte ich das Papier um ihn. Ich stopfe das grausige Paket in eine Plastiktüte, die ich nach unseren Souvenireinkäufen auf dem Nachhauseweg gestern auf dem Küchentisch abgelegt habe, und öffne die Riegel oben und unten an der Haustür. Als Nächstes nehme ich den Schlüssel vom Haken bei der Garderobe, um endlich aufzuschließen, ziehe die schwere Holztür auf und gehe nach draußen. Die Tüte halte ich am ausgestreckten Arm vor mir.
Es ist kühler, als ich erwartet habe, mit diesem taufrischen Morgenduft – ein süßer Hauch liegt in der Luft. Wahrscheinlich der letzte Bärlauch, der an der Hecke wächst, die den Garten säumt. Ich überquere die Veranda vor dem Cottage und gehe zum Schuppen an der Hecke. Dann hebe ich den Deckel der großen schwarzen Mülltonne, die danebensteht, und lasse die Tüte hineinfallen. Ich schließe den Deckel wieder und greife nach einem Stein, um ihn draufzulegen. Ich will nicht, dass Füchse oder, Gott bewahre, Ratten darin herumstöbern.
Ich halte inne und blicke zu den Bäumen hinüber, die jenseits des Gartens am Hang stehen und sich dahinter zu einem Wald verdichten. Letzte Nacht habe ich wieder die Eulen rufen gehört und frage mich, was wohl die Mutter des Jungen ist. Schleiereule oder Waldkauz? Ich weiß es nicht. Aber ich stelle mir vor, wie sie zusieht, und frage mich, ob Vögel Trauer empfinden können. Tut ihnen der Verlust weh, oder sind sie darauf programmiert, einfach mit der natürlichen Ordnung zurechtzukommen? Das Überleben der Stärkeren.
Vor allem frage ich mich aber, was zum Teufel hier wirklich vorgeht.
Im nächsten Moment nehme ich einen Schatten hinten im Garten wahr. Zu groß für eine Katze. Ich beobachte ihn eine Weile, und er scheint sich zu bewegen, aber ich kann es nicht richtig erkennen. Ein Fuchs? Ein Dachs? Nein. Etwas Größeres. Ich schaue mich um, frage mich, ob es eine Täuschung des Lichts war. Der Gedanke, die Eule könnte nach ihrem Baby suchen, lässt mich erschaudern. Ich laufe ins Haus zurück, um mir die Hände zu waschen.
»Hab die Tür gehört. Alles okay?«, flüsterst du, während du in Shorts die Treppe herunterkommst und dir dabei ein hellblaues T-Shirt über den Kopf ziehst. Dein Oberkörper ist von der Sonne gestern bereits ein wenig goldbraun geworden.
»Nein, eigentlich nicht. Schon wieder ein totes Eulenküken.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Nein. Wieder auf der Fußmatte.«
»Aber wie kann das sein? Ich begreife das nicht. Wir haben alle Fenster gecheckt.«
»Ich weiß. Es macht mich so wütend.« Ich mache mich daran, den Wasserkocher aufzufüllen. Du bist sofort dabei und öffnest den oberen Schrank, um Kaffee in die French Press zu füllen. Zwei gehäufte Löffel.
»Wir haben wohl etwas übersehen«, sagst du. »Ich frage mich, ob es durch einen der Schränke in der Waschküche einen Weg herein gibt. Alte Rohrleitungen oder so.«
Mir fällt deine Nachricht auf dem Anrufbeantworter wieder ein. »Hast du eigentlich eine Antwort von der Agentur bekommen?«
»Nein. Nichts.«
Ich wasche meine Hände und trockne sie ab, warte, bis das Wasser kocht, und fülle es in die French Press. Dann setze ich mich an den Tisch und ziehe mein Handy heraus. »Ich schreibe ihnen eine E-Mail. Ich meine, das ist doch nicht in Ordnung, oder? Hier Urlaub zu machen und mit so etwas konfrontiert zu werden.«
Du siehst zu, wie ich anfange zu tippen. »Was willst du ihnen schreiben?«
»Ich schreibe ihnen, dass es eine schreckliche Erfahrung ist. Im Owl Cottage zu wohnen, weil ich – welch Überraschung! – Eulen zufällig liebe. Und dann tote Babyeulen auf der Fußmatte vorzufinden … Wie erklären Sie sich das? Wie kann eine Katze hier reinkommen? Ist das hier schon mal passiert?«
Ich tippe weiter. »Außerdem finde ich, dass sie auf deine Nachricht hätten antworten sollen. Ich meine, wir haben für diese Woche einen Wucherpreis bezahlt. Irre, wie die Preise seit Covid explodiert sind. Wenn wir keine Fenster offen lassen können, wird es hier drin total stickig. Wir können es ja nicht mal offen lassen, wenn wir zu Hause sind. Das Mindeste, was sie tun können, ist zu antworten.«
Du machst den Kaffee fertig und gießt ihn in zwei Tassen. Blau mit weißen Streifen. Meine stellst du vor mich hin.
»Danke.« Wieder denke ich daran, wie ich vorhin an deiner Tür vorbeigekommen bin. Wie ich mich besser gefühlt habe – in Bezug auf dich, auf uns. Meine Wut auf die Vermietungsagentur hingegen wächst. Ich beende die E-Mail mit dem Hinweis, dass wir eine kleine Tochter haben, die sehr tierlieb ist. Sie wird untröstlich sein, wenn sie die Eulenküken sieht. Was schlagen Sie vor? Wie halten wir die Katze draußen?
Ich klicke auf Senden, lege das Handy auf den Tisch und greife nach meiner Tasse. Dabei ertappe ich mich, wie ich an meine Fahrt zur Tankstelle denke. Die seltsamen Kommentare. Die noch seltsameren Blicke. Ich frage mich, ob ich dir gegenüber die Facebook-Gruppe erwähnen soll. Das schlechte Gefühl. Aber du wirst sagen, das geht uns nichts an. Dass ich mich hineinsteigere. Dass ich Dinge sehe, die gar nicht da sind.
»Herrlicher Kaffee. Danke.« Ich sehe durch die geöffnete Tür hinüber ins Wohnzimmer, und ein neuer Gedanke schießt mir durch den Kopf. »Ich glaube, ich schaue mal ins Gästebuch. Auf dem Tisch lag eins, als wir gekommen sind, oder? Vielleicht hat jemand erwähnt, dass eine Katze Ärger gemacht hat.« Ich nehme noch einen Schluck und lasse den Blick schweifen. Versuche, mich daran zu erinnern, wohin wir das Buch gelegt haben. Insgeheim frage ich mich, ob vielleicht auch jemand von irgendwelchen Auseinandersetzungen mit den Einheimischen berichtet hat.
»Willst du immer noch die Bootsfahrt auf dem Helford machen? Morgen vielleicht?« Deine Augen weiten sich, als du das sagst, und ich erkenne den Ausdruck darin. Und die Taktik.
»Ja. Ich finde, das ist eine großartige Idee.« Beim Sprechen beobachte ich dich aufmerksam, mir ist bewusst, dass du das Thema absichtlich gewechselt hast. Ich habe der Therapeutin gesagt, dass mich das wütend macht, aber du hast Jessica erzählt, du würdest es tun, um mich zu beruhigen. Um mir zu helfen. Wenn ich mich aufrege. Mich hineinsteigere.
Rege ich mich auf?
Ich hole langsam und tief Luft; drücke innerlich die Pausetaste. »Lily freut sich auf das Schiff.«
Tatsächlich freue auch ich mich darauf. Im Internet habe ich alle Details über den Helford gefunden. Offenbar kann man mit einem Wassertaxi zu einem Pub rüberfahren. Das klingt bezaubernd und so weit weg von unserem Leben in Hampshire. Ich möchte Lily dort verschiedene Dinge zeigen; das Beste aus dem Urlaub an der Küste machen.
Schweigend nippen wir beide eine Zeit lang an unserem Kaffee, und dann siehst du mir direkt in die Augen. Hältst meinen Blick, ohne zu blinzeln. Eine Seltenheit in diesen Tagen.
»Du warst großartig mit Lily am Strand, Sam.«
»Schöner Ort. Hervorragend ausgesucht, Mumma.«
Ich spüre, wie ich ein wenig aufblühe, als du mein Kompliment erwiderst. Die kleine Bucht, die wir an unserem ersten Abend aufgesucht haben, ist zwar schön, besteht aber überwiegend aus Kies. Es gab nur ein kleines Stück Sandstrand, an der Lily graben konnte. Für unseren gestrigen Ausflug habe ich deshalb alle lokalen Strände herausgesucht und mich dann für einen größeren mit Parkplatz und einem ordentlichen Café entschieden.
Ich bin überrascht, als mein Handy mir eine neue E-Mail ankündigt.
Die Vermietungsagentur.
Die Nachricht ist entschuldigend. Sie haben die Berichte überprüft und nichts über Probleme mit Katzen oder ihrer Beute im Owl Cottage gefunden. Es täte ihnen sehr, sehr leid, dass wir so verstörende Erfahrungen gemacht hätten. Sie stimmen zu, dass das alles entsetzlich klingt, können es aber nicht verstehen.
»Es ist die Vermietungsagentur.« Ich scrolle nach unten, während du mich mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtest. Und nun runzle ich die Stirn.
Zudem steht in der Mail, dass es ihnen leidtue, dass wir so spät eine Antwort erhalten. Sie hätten den Anrufbeantworter mehrmals überprüft und mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesprochen. Niemand wüsste etwas von einer Nachricht von uns. Sie schreiben, dass sie Lamellenjalousien für die Küche in Erwägung ziehen, damit wir Luft hereinlassen können, wenn wir zu Hause sind, ohne dass eine Katze hereinkommen kann. Ob es in Ordnung wäre, wenn sie am Dienstag vorbeikämen, um sie anzubringen? Bis dahin sollen wir aus Sicherheitsgründen nur die Fenster im Obergeschoss offen lassen, wenn wir weg sind.
»Sie sagen, sie hätten deine Nachricht nicht erhalten.«
Ich blicke auf und sehe deinen Gesichtsausdruck, der schwer zu deuten ist.
»Typisch«, sagst du. »Faule Ausreden.« Du streichst dir durchs Haar und blickst nach rechts oben.
»Du hast sie doch angerufen?« Ich weiß nicht, weshalb ich das frage. Vor einem Jahr hätte ich das nicht getan. Ich hätte dich beim Wort genommen und wäre, ohne nachzudenken, auf deiner Seite gewesen. Vor einem Jahr hätte ich niemals Blick nach rechts gegoogelt, um herauszufinden, ob dies ein »verräterisches Zeichen« ist.
Für Unehrlichkeit.
»Ich hab dir gesagt, dass ich sie angerufen habe.« Deine Miene verhärtet sich. Eindeutig. »Bezichtigst du mich gerade einer Lüge, Hannah?«
Ich erwidere nichts. Blicke dir nur weiterhin ins Gesicht. Plötzlich brennen mir Tränen in den Augen.
So weit sind wir also schon wieder.