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Die renommierte engische Journalistin und TV-Moderatorin Teresa Driscoll begeistert in ihrem neuen Roman erneut mit einer hoch emotionalen Geschichte um Schicksal, Freundschaft und die Liebe zwischen Mutter und Kind. Bewegend und zu Herzen gehend erzählt Driscoll von der Annäherung zweier unterschiedlicher Frauen, von Trauer und Glück, von Erinnerung und neuen Anfängen, von alter und neuer Liebe. Als sich Kate und Martha begegnen, spüren sie eine enge Verbindung, aus der eine tiefe Freundschaft entsteht: Dabei trennen die Frauen nicht nur Jahrzehnte. Die eine drängt den Mann, der sie liebt, von sich weg; die andere gab die Liebe ihres Lebens frei, um seiner Karriere nicht ihm Wege zu stehen. Während Kate gerade in ein neues Zuhause gezogen ist, ist Martha heimatlos. Doch die beiden eint derselbe lebensverändernde Schicksalsschlag: Sie haben ein Kind verloren. Erst durch ihre Freundschaft kann für beide die Heilung beginnen und der Weg zurück zur Liebe sich öffnen. "Unterhaltung, wie es sie sonst nur noch einer Cecilia Ahern gelingen würde (...). Zwischen den Buchdeckeln findet man Emotionen pur, und außerdem Erzählkunst in Perfektion. Die britische Autorin schreibt Geschichten, in die man sich einfach verlieben muss." Literaturmarkt.info
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Seitenzahl: 412
Teresa Driscoll
Das Glück der hellen Tage
Roman
Aus dem Englischen von Carola Fischer
Knaur e-books
Als sich Kate und Martha begegnen, spüren sie sofort eine enge Verbindung, aus der eine tiefe Freundschaft entsteht: Dabei trennen die Frauen nicht nur Jahrzehnte. Die eine drängt den Mann, der sie liebt, von sich weg; die andere gab die Liebe ihres Lebens frei, um seiner Karriere nicht ihm Wege zu stehen. Während Kate gerade in ein neues Zuhause gezogen ist, ist Martha heimatlos. Doch die beiden eint derselbe lebensverändernde Schicksalsschlag: Sie haben ein Kind verloren. Erst durch ihre Freundschaft kann für beide die Heilung beginnen und der Weg zurück zur Liebe sich öffnen.
Für Peter, James und Edward
Meine geliebte Martha,
auch heute schreibe ich dir, obwohl ich befürchte, dass diese Zeilen dich nie erreichen werden. Aber was sollte ich sonst tun? Drei Jahre lang habe ich nichts von dir gehört.
Meine Freunde sagen, ich soll aufhören, dir zu schreiben. Aber ich merke immer wieder, dass ich das nicht kann.
Daher werde ich dir weiter Briefe schicken, ich werde hoffen und beten, dass mein Traum in Erfüllung geht und du eines Tages einen dieser Briefe in Händen hältst. Dass du mir vielleicht gar nicht antworten willst, kann ich nicht glauben.
Ich hoffe inständig, dass dies nicht der Grund für dein Schweigen ist …
Wenn du das hier liest, dann bitte glaube mir, dass ich dir schon viele Briefe an die Adresse deines Vaters geschickt habe. Und vor allem – denk nicht, es wäre zu spät.
Wenn ich dich nicht finde, dann komm bitte her und suche mich, Martha.
Ich liebe dich immer noch, und ich werde dich immer lieben. Das ist wahr, so wahr wie alles, was ich je zu dir gesagt habe, das schwöre ich. Denn tief in meinem Herzen tue ich auch heute noch alles in meinem Leben nur für dich.
Ich wäre damals nicht fortgegangen, wenn ich geahnt hätte, dass es so endet. Niemals hätte ich das getan.
Bitte, Martha, gib unsere Liebe nicht auf.
Dein Josef
Aylesborough-on-sea 1976
Ihr Verhalten ist lächerlich. Kate weiß das, aber sie kann nichts dagegen tun.
Noch während sie schnell einsteigt, um den vordersten Platz im Bus zu ergattern, beobachtet sie ihr eigenes Verhalten mit echter Besorgnis. Sie erkennt sich nicht mehr wieder in dieser seltsamen Frau, die ängstlich ihre drei Stofftaschen auf den Nebensitz stellt, damit niemand es wagt, sich dorthin zu setzen. Eine Frau, bei der man die typischen Anzeichen einer Zwangsstörung feststellen kann: Sie nimmt immer an den gleichen Tagen den gleichen Bus und kommt, obwohl kein Andrang herrscht, stets viel zu früh, um sicherzugehen, dass sie denselben Platz bekommt.
Natürlich sollte sie damit aufhören, sie sollte dieses Verhaltensmuster durchbrechen, solange sie noch kann. Aber Kate fühlt sich nur sicher, zumindest eine Zeit lang, wenn sie hier oben in der vordersten Reihe sitzt, hoch über dem Rest der Welt, die Meeresluft einatmet und das Kreischen der Möwen über sich hört.
Sie blickt auf ihre Armbanduhr – noch acht Minuten und achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig Sekunden, bis der Bus abfährt. Sie schlägt die Lokalzeitung auf und seufzt leise.
Sobald der Bus losfährt, sobald knackend eine Stimme aus dem Lautsprecher ertönt, wird sie sich besser fühlen. Dann kann sie entspannen. Ungeduldig wartet sie auf die vertrauten Bemerkungen, die einstudierten Witze.
Heute fährt Kate zum zehnten Mal mit der Open Top Tour Company. Die Fahrkarte hat sie günstiger bekommen, weil sie vorgegeben hat, für ein Buch zu recherchieren.
In ihrer ersten Woche in Aylesborough ist sie zwei Mal mit diesem Bus gefahren, am Montag und am Mittwoch. Inzwischen plant sie alle drei Touren des Winterfahrplans in ihre wöchentlichen Aktivitäten ein. So kann sie zwei angenehme Stunden außer Haus verbringen und muss weder mit jemandem sprechen noch irgendwohin laufen. Zwei Stunden lang ist sie weit weg von den Umzugskartons, weit weg von Toby.
Sie hat ihm diese neue Sucht verheimlicht, hat ihm etwas von Recherche in der Stadtbibliothek für irgendeinen Kurs an der Fernuniversität erzählt. Er hat gelächelt in der Hoffnung, dass ihr ein neues Projekt guttun wird. Das ist toll, Kate, wenn du wieder aus dem Haus gehst. Das ist wirklich toll. Aber so ist es nicht. Beschämt schließt Kate die Augen.
Es ist überhaupt nicht toll, alles nur eine Lüge.
»Sie können wohl überhaupt nicht auf die Tour verzichten, oder?«
Kate ist erleichtert, als sie Mikes Stimme erkennt. Von allen Touristenführern ist er am wenigsten aufdringlich. Er ist lang und dünn mit einer auffallend großen Nase und dunklen Haaren, und er überrascht Kate immer wieder. Alle Führer reden gern und haben die passenden Sprüche parat, alle erzählen weitgehend dasselbe, nur Mike fügt auf jeder Tour etwas Neues hinzu. Ein winziges Detail, auf das er gestoßen ist, oder eine zufällige Bemerkung, die er irgendwo aufgeschnappt hat.
Sie faltet die Zeitung zusammen und dreht sich lächelnd zu ihm um. Sie ist sicher, dass er nur schnell ihre Fahrkarte kontrollieren und keine weiteren Fragen stellen wird. Als der Dieselmotor tuckernd anspringt und der Bus losfährt, richtet sie den Blick wieder nach vorn auf die Straße. Ihre Atmung geht langsamer, ihr Herz schlägt ruhig und regelmäßig. Sie wartet auf die Gerüche: Erdnussbutter-Sandwiches wie auf den Busfahrten ihrer Kindheit, Fish and Chips von den Touristen aus dem unteren Deck. Dieselgestank und Abgase vorbeifahrender Autos, und schließlich die wunderbar salzige Meeresluft.
Kate schließt die Augen, um mit dem Schwimmen zu beginnen: ein Armzug, dann noch einer, langsam und zuversichtlich hält sie auf den Leuchtturm in der Ferne zu. Die Vorstellung, wie sie im sicheren Tageslicht Zug um Zug durch das klare, kalte Wasser auf den weiß-roten Turm zuschwimmt, beruhigt sie.
»Natürlich gibt es keinen Leuchtturmwärter mehr. Heutzutage werden die meisten Leuchttürme automatisch betrieben …« Mikes Stimme wird leiser, als sie weiter hinausschwimmt, immer schneller im kühlen Nass auf das Licht zuhält. Die Bewegung ihrer Arme ist gleichmäßig und kraftvoll. Zum Brummen des Motors und dem Rhythmus von Mikes Vortrag pflügt sie durch die Wellen.
»Wenn Sie jetzt bitte nach links schauen möchten, dort sehen Sie die Flügeltüren der alten Seilerei …«
Sie schwimmt immer weiter, träumt vor sich hin und lässt sich treiben. Ab und zu dreht sie sich auf den Rücken und atmet tief durch; einmal erhascht sie einen kurzen Blick über die Hecke auf einen jungen Mann, der draußen im Park im Musikpavillon schläft, dann dreht sie sich wieder auf den Bauch und schwimmt weiter. Linker Arm, rechter Arm, immer im Wechsel. Nachdem der Bus in die Willow Street eingebogen ist, hält er plötzlich mit einem Ruck an.
Kate taucht aus ihren Tagträumen auf und öffnet die Augen, als Mike sich nach einer kurzen Pause bei den Fahrgästen für den Zwischenfall entschuldigt.
»Ein dämlicher BMW-Fahrer – bitte verzeihen Sie meine Ausdrucksweise.«
Der Fahrer versucht, sich in die letzte freie Parklücke am Kai zu quetschen. Kate beugt sich vor, um die Szene besser beobachten zu können. Der BMW steht noch halb auf der Straße, der Fahrer könnte jetzt den Rückwärtsgang einlegen und einparken, aber der Platz zum Rangieren wird von einem weißen Lieferwagen blockiert, der gerade aus einer Seitenstraße eingebogen ist und wegen der nachkommenden Fahrzeuge nicht mehr zurücksetzen kann.
Amüsiert beobachtet Kate, wie beide Fahrer, der des BMWs und der des Lieferwagens, aussteigen und anfangen, sich lauthals zu beschimpfen. Auf der Straße bildet sich eine Menschentraube, und Mike lenkt die Aufmerksamkeit der Fahrgäste auf den kleinen Laden zu ihrer Rechten.
»Minstrel’s Place ist das einzige Gebäude in der ganzen Straße, das nicht bei den Luftangriffen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.«
Aber Kate hört nicht länger hin. Minstrel’s Place interessiert sie genauso wenig wie der lautstarke Streit der Autofahrer, sie hat etwas anderes erspäht.
Aber ein Mann, der gerade eine Pastete isst, versperrt ihr die Sicht, sie muss sich zurücklehnen, um besser sehen zu können. Sehr zu ihrem Ärger macht auch der Mann einen Schritt rückwärts, und jetzt ist sein dicker Bauch im Weg, deshalb beugt sie sich nach vorn. Endlich ist der Blick frei. Dort auf der Parkbank am Hafen sitzt eine seltsame Frau, allein.
Sie strickt.
Behutsam wendet Kate den Kopf, während sie dieses Bild in sich aufnimmt – langsam zoomt sie heran und versucht zu verstehen, warum der Anblick sie so irritiert. Nicht nur das Stricken ist unpassend an diesem stürmischen Novembertag, das ganze Bild wirkt so fehl am Platz, als befände es sich im falschen Rahmen.
Die Frau sieht sehr gut aus – hohe Wangenknochen und eine hübsche, perfekt geformte Nase – und zugleich merkwürdig zerzaust, die ungekämmten Haare sind zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Sie hat einen viel zu großen Mantel an, der in der Taille von einem breiten schwarzen Gürtel gehalten wird, eindeutig ein Herrengürtel, der weder zu der Frau noch zu dem Mantel passt. An den Füßen trägt sie grüne Gummistiefel, und neben ihr auf der Bank liegen drei Plastiktüten.
Diese falsche Stadtstreicherin ist zu jung für ein Leben auf der Straße, aber am merkwürdigsten findet Kate die Strickarbeit in ihren Händen: Es sieht nach einem Babyjäckchen aus. Die Wolle, in einem wunderschönen Zitronengelb, hat sie auf die Tasche neben sich gelegt, damit sie nicht auf das nasse Pflaster fällt. Dieser Widerspruch – der Kontrast zwischen dem hellen Babygelb und der dunklen Schäbigkeit der Frau – ist Kate sofort ins Auge gestochen.
Einen Moment lang hält Kate inne, unentwegt blickt sie auf die klappernden Nadeln und versucht, ihre Reaktion zu analysieren. In ihrem Kopf flüstert ihr professionelles Ich eine erste Warnung: Nein, Kate, tu das nicht. Dann hört sie Toby, seine Stimme ist laut und angestrengt – Du musst dich ausruhen, Kate; du solltest dich mehr schonen –, und schließlich erkennt sie noch den vertrauten, missbilligenden Tonfall ihres Arztes. Doch Kate ignoriert alle inneren Stimmen, sie beißt sich auf die Lippe und trifft augenblicklich eine Entscheidung. In Windeseile hat sie die Zeitung in die Tasche gesteckt, ihre Sachen eingesammelt und rennt die Wendeltreppe hinunter. Von seinem Platz neben dem Busfahrer aus kommentiert Mike gerade den Blick aus dem Fenster.
»Falls es Sie interessiert: Inzwischen muss man zweieinhalb Jahre auf einen Liegeplatz im Jachthafen warten.«
Kate strebt auf die Tür zu, und Mike hebt die Augenbrauen. »Tut mir leid, ich muss gehen …« Dann steigt sie aus dem Bus, stolpert beinahe, gefolgt von den Blicken der sechs erstaunten Fahrgäste im unteren Deck.
Als sie auf der Straße steht und Mikes Stimme nur noch von fern zu hören ist, fühlt sie die vertraute Angst in sich aufsteigen, die ihr Leben in letzter Zeit so oft beherrscht. Sie atmet tief durch, um sich zu beruhigen, und nimmt alle Taschen in die linke Hand, um sich mit der rechten die wehenden Haare aus dem Gesicht hinters Ohr zu streichen.
In ihrem Beruf hat Kate jahrelang Erfahrung gesammelt, wie man auf fremde Menschen zugeht – auch (man könnte sogar sagen, insbesondere) sonderbare Menschen –, aber als sie sich der Gestalt nähert, die auf der Bank mit den Stricknadeln klappert, fühlt sie ihre Zuversicht schwinden. Befürchtungen steigen in ihr auf, und sie spürt einen unerklärlichen inneren Zwang, der sie tief verunsichert.
Die strickende Frau sieht nicht auf, und Kate beschließt, Tee für sie beide zu besorgen, um die Störung zu entschuldigen. Dann hat sie etwas, woran sie sich festhalten kann.
Am Kai steht ein Imbisswagen, der bei den Fischern sehr beliebt ist, dort stellt Kate sich an. Die ganze Zeit über beobachtet sie die Frau, die nur von ihrer Arbeit aufschaut, als eine Möwe vor ihr entlanghüpft und neben der Parkbank nach Essenskrümeln pickt.
Der Mann im Imbisswagen reicht ihr zwei angeschlagene Steingutbecher, entschuldigt sich damit, dass die Fischer keine Styroporbecher mögen, und bittet sie, die leeren Tassen wieder zurückzubringen. Mit dem Tee in der Hand geht Kate vorsichtig zu der Parkbank. Sie gibt sich Mühe, nichts zu verschütten, aber die Becher sind großzügig bis zum Rand gefüllt und das heiße Getränk schwappt über.
Die Frau hört auf zu stricken, sobald Kate sich hingesetzt hat, und wirft einen neugierigen Blick auf die Becher. Dann sieht sie sich nach der Person um, für die der zweite Tee bestimmt ist.
Kate fährt sich mit der Zunge über die Vorderzähne. »Ich habe mir gedacht, Sie mögen vielleicht eine Tasse Tee, um sich ein wenig aufzuwärmen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen.«
Ein vielsagender Ausdruck huscht über das Gesicht der Frau, bevor sie ihre Augen auf Kate richtet. Ihr Blick ist hart. »Eigentlich mag ich lieber Kaffee«, sagt sie vollkommen sachlich und wartet die Reaktion ihres Gegenübers ab. Kate wird rot vor Verlegenheit, dann ärgert sie sich, aber nicht über die offenkundige Undankbarkeit der Frau, sondern über ihre eigene plumpe Art. Ihr ungeschicktes Vorgehen ist ihr peinlich.
Doch plötzlich, während Kate immer mehr errötet und ihr Gesicht heiß wird, entspannen sich die Gesichtszüge der Frau auf der Bank.
»Leider kann ich Tee nur mit einer Riesenmenge Zucker trinken.« Der Tonfall ist jetzt anders. Sie wendet leicht den Kopf. »Albert vom Imbiss weiß das. Er hätte Zucker in den Tee getan, wenn er gewusst hätte, dass der für mich ist. Zwei gehäufte Löffel voll. Fürchterlich ungesund.«
Ist das ein Friedensangebot? Offenbar. Auf jeden Fall hat sich der Ton ihrer Stimme verändert. Die Frau streckt die Hand nach dem Tee aus, aber Kate hält beide Becher fest, nickt knapp und geht zurück zu dem Imbisswagen. Die zwei Becher balanciert sie in der Hand, die überschwappende heiße Flüssigkeit brennt auf ihrer Haut. Immer wieder wirft sie einen besorgten Blick zurück zur Parkbank, wo ihre Taschen liegen, als erwartete sie, die Frau würde damit fortlaufen. Vielleicht ist die Nummer mit dem Zucker nur ein Trick, den sie regelmäßig versucht.
Kurz darauf sitzt Kate wieder neben der Frau, die nun lächelnd an ihrem Tee nippt. Kates Taschen hat sie nicht angerührt.
»Also, Sie gehören zu diesen Predigern, stimmt’s?«
»Wie bitte?«
»Na ja, normalerweise geht es immer um den großen Mann dort oben, wenn man auf einen Tee eingeladen wird. Sind Sie eine von denen?«
Die tiefe, volle Stimme überrascht Kate, dieser Akzent wurde an einer teuren Privatschule erworben. Unwillkürlich muss sie laut lachen. Ausgerechnet sie soll für Gott werben? Sie, Kate Mayhew, die an gar nichts mehr glaubt?
»Nein, tut mir leid. Mit dem Glauben kann ich nichts anfangen. Was ist mit Ihnen?«
Die Frau schüttelt den Kopf. Kate macht eine ungelenke Bewegung, stößt aus Versehen eine ihrer eigenen Taschen um, und ihr fällt auf, dass jetzt insgesamt sechs Taschen zwischen ihr und der Frau aufgereiht sind – drei Plastiktaschen und drei aus Stoff. Der Anblick ist so befremdlich, dass Kate wieder lachen muss, dann erzählt sie freimütig die Wahrheit. »Eigentlich bin ich Sozialarbeiterin. Aber nicht im Dienst. Um ehrlich zu sein, habe ich zurzeit nicht alle Tassen im Schrank, wenn man den Ärzten Glauben schenken will. Für unbestimmte Zeit krankgeschrieben.«
»Oh.« Die Frau stellt sich als Martha vor. Sie blickt Kate sehr ernst an, als hätte sie ihr gerade ein Verbrechen gestanden. Kate fragt sich, ob das an ihrem Job liegt oder ob Martha sie wegen ihres angeblichen Zusammenbruchs bemitleidet.
Tatsächlich geht es um etwas ganz anderes.
Denn Martha sieht etwas in Kates Gesicht, das sie nicht erwartet hat, sie spürt ein besonderes Band zwischen ihnen und überlegt, welche Frage Kate wohl als Nächstes stellen wird.
Wird Kate fragen, woran sie strickt?
Oder warum sie strickt?
In dem kleinen Musikpavillon im Park wecken die Vögel Matthew auf, ihr Gesang ist viel lauter als der tuckernde Bus.
Matthew hört den Stadtrundfahrtbus hinter der Hecke entlangfahren, nur das offene Oberdeck ist sichtbar. Sofort fällt ihm eine recht seltsame Frau auf, die dort oben in ihren Taschen herumwühlt. Matthew schließt die Augen, als der tuckernde Dieselmotor sich entfernt, und lauscht wieder den Vögeln. Er ist sehr froh, dass ihr Gezwitscher ihn aufgeweckt hat und sein erster Gedanke einer Melodie galt – und nicht der Kälte.
Wie um ihm einen Gefallen zu tun, wiederholen die Vögel ihren Ruf jetzt. Drei Töne, drei Mal nacheinander.
Matthew muss lächeln, als er sie erkennt – nicht die Vögel, sondern die Töne, die er sich auf ein Notenblatt gemalt vorstellt. Unwillkürlich bewegt er die Finger im Inneren des Schlafsacks, als wären dort Klaviertasten.
A – G – Es.
Noch einmal von vorn. A – G – Es. Die letzte Note wird lange gehalten und klingt weich.
Schon als kleines Kind konnte Matthew die Musiknoten nennen, sobald er Töne hörte. So wie die meisten Menschen Farben erkennen. Lange Zeit machte er sich keine Gedanken über diese Gabe und glaubte, alle Menschen könnten Töne so erfassen wie er. Für Matthew war es nicht mehr als eine Laune seiner Gene, so wie er lockige Haare hatte oder helle Augen. Unerklärlicherweise zuckte sein Vater bei seinem Anblick gelegentlich zusammen und wandte sich, wenn er sich nicht gesehen glaubte, sogar ab.
Erst im Alter von acht Jahren erfuhr Matthew, dass seine Fähigkeit einen Namen hatte.
Das absolute Gehör.
Und diese Gabe war selten.
Einer von zehntausend Menschen, erzählte ihm sein Musiklehrer an dem Tag, als er bei der Chorprobe Matthews absolutes Gehör entdeckte. »Weißt du überhaupt, was für ein Glück du hast? Was würde ich dafür geben …«
Matthew erinnerte sich an den Neid in der Stimme seines Lehrers, der ihn immer wieder endlose Notenfolgen benennen ließ, als ob er ihn beim Tricksen erwischen könnte. Als würde Matthew ihm nur einen Streich spielen.
Aber es war kein Trick. Matthew wusste nicht, warum er ohne jeglichen Anhaltspunkt die Noten benennen konnte. Er hatte keine Stimmgabel, niemand gab ihm Tipps. Er konnte es einfach.
Ein herzhaftes Gähnen vertreibt die lähmende Müdigkeit aus seinen Gliedern, dann blickt er auf das Gittermuster, das das von oben hereinfallende Licht durch das Holzgerüst des Musikpavillons auf ihn wirft. Es kommt ihm komisch vor, hier an diesem Ort etwas so Schönes zu sehen. Er erinnert sich an eine Ausstellung, die er einst mit seiner Mutter besucht hat – dort wurden Schwarzweißfotos von Bäumen, Stahl- und Telegrafenmasten und deren faszinierenden Schattenbildern gezeigt. Einige Schatten waren überlang, andere gedrungen und verzerrt. Matthew bewegt sich, damit sein eigener Schatten das helldunkle Geflecht verdeckt. Dann streckt er sich, um die Unannehmlichkeiten seines neuen Lebens loszuwerden – seine jungen Knochen üben schon für das Alter, nur seine Nase hat noch mit dem üblen Geruch zu kämpfen.
Matthew verzieht das Gesicht. Der betrunkene Mann fällt ihm wieder ein, der sich vorletzte Nacht direkt neben seinem Schlafsack erleichtert hat und lauthals an zu lachen fing, als Matthew sich über den Gestank entrüstete. Er ist noch neu auf der Straße und stört sich an dem Geruch. Und an der Abscheu in den Augen des Betrunkenen.
Nach dieser Nacht hatte Matthew beschlossen, nicht mehr auf dem Parkplatz zu schlafen. Er will nicht mehr mit den anderen an den üblichen Treffpunkten herumhängen, der Bushaltestelle, dem Durchgang beim Fish-and-Chips-Laden, er pfeift auf den Schutz der Gruppe.
Nach der ersten Nacht im Park ist ihm zwar kalt, aber in dem kleinen Musikpavillon ist er vor den heftigsten Windböen verschont geblieben. Er mag die Einsamkeit.
Und er mag die Vögel.
Matthew blickt sich um, er will sichergehen, dass er nicht beobachtet wird, dann langt er mit einer Hand in den Schlafsack nach seiner Brieftasche, die in der Gesäßtasche steckt. Er besitzt noch fünfunddreißig Pfund, das unterscheidet ihn von den anderen auf der Straße. Das Geld würde sogar noch reichen, um nach Hause zu fahren und nicht mehr auf der Straße herumzulungern. Aber es genügt nicht, um seine Entscheidung rückgängig zu machen.
Die Blätter an den Bäumen zittern im kalten Wind, dann sieht Matthew durch das Laubwerk die Augen seines Vaters, die ihn wütend anfunkeln. Seine Mutter steht einen Schritt hinter ihrem Mann – ihr Blick ist sanft, aber die Augen sind vom Weinen rot umrändert und schauen flehentlich.
»Du hast die Wahl, Matthew.« Sein Vater klingt sehr zornig. »Du und deine verdammte Musik. Wenn du gehst, dann hast du dich ein für alle Mal entschieden, Junge.«
Dann lösen sich ihre Gesichter in den Wolken an dem kalten blauen Himmel auf. Matthew setzt sich auf und legt die Arme um die an die Brust gezogenen Knie; immer noch in den warmen Schlafsack gekuschelt, lauscht er wieder dem Gesang der Vögel.
Zwanzig Jahre lang hat er mit dem absoluten Gehör gelebt und sich niemals gefragt, woher er diese Gabe hat. Aber jetzt liegen die Dinge anders. Und sein Vater hat nicht recht.
Denn Matthew hat keine Wahl.
Du hast doch die Einladung heute Abend nicht vergessen?« Tobys Stimme klingt verzerrt, gefolgt von Gurgeln und Spucken.
Mist. Die Party. Kate schließt die Haustür hinter sich und wirft ihren Schlüsselbund auf den Tisch im Flur. Zu heftig. Hilflos sieht sie zu, wie der Bund über die glänzende Tischoberfläche saust und auf dem Teppich landet. Eigentlich wollte sie noch ihr Kleid für diesen Abend von der Reinigung holen. Durch die offen stehende Küchentür wirft sie einen Blick auf die Uhr. Es ist bereits siebzehn Uhr dreißig, die Reinigung hat geschlossen. In Gedanken geht sie ihren Kleiderschrank durch, als Toby, der mit dem Zähneputzen fertig ist und sich nun mit einem Handtuch die Haare trockenrubbelt, vom oberen Ende der Treppe zu ihr herabschaut.
»Wie war es denn in der Bibliothek?«
»Was?« Kate fühlt, wie sie genervt die Augenbrauen zusammenzieht, als sie sich vorbeugt, um den Schlüsselbund aufzuheben. Im Geist durchkämmt sie immer noch ihren Kleiderschrank.
»Die Bibliothek? Wie war’s denn? Was macht deine Recherche?«
Die friedliche Stille der Seeluft entgleitet ihr, und die vertraute Angst nimmt ihren Platz ein. Sie atmet langsam ein und aus. »Ach, gut war’s. Ich hab ziemlich viel geschafft heute.« Sie wird das rote Kleid anziehen. Das ist sauber und absolut passend für eine Party.
Toby trocknet sich weiter die Haare mit dem Handtuch.
»Ich dachte, du wolltest noch ein Kleid aus der Reinigung holen?«
Um seinem Blick auszuweichen, greift Kate nach dem Stapel Post, der neben ihrem Schlüsselbund auf dem Tisch liegt.
»Ich glaube, Schwarz ist zu förmlich. Ich ziehe das rote Kleid an.«
Die Briefe unter den Arm geklemmt, steuert sie jetzt auf die Küche zu und bahnt sich einen Weg an den drei Umzugskartons vorbei, die sich neben dem Treppenschrank stapeln.
»Ich habe versprochen, dass wir zeitig kommen. Ist das in Ordnung?« Tobys Stimme wird lauter, während er die Treppe herunterkommt und auf sie zugeht. »So um sieben. Soll ich dir ein Bad einlassen?«
»Ich werde duschen.«
Schwarz.
Weiß.
Ja.
Nein.
Toby sieht seine Frau an.
»Gut.«
Sie erwidert seinen Blick nicht. Stattdessen erinnert sie sich an eine längst vergangene Zeit, ein anderes Leben, als ein anderes Bett nach ihren Körpern roch, nach ihrem Schweiß und ihrer beider Sehnsucht. Sie denkt an diese andere Welt und wie er ihr, eng an sie geschmiegt, immer wieder von dem ersten Mal erzählte, als er sie angesehen hat.
Es war auf einer Party in ihrer Wohnung, er stand in einer Ecke und sah ihr fasziniert beim Tanzen zu. Auch ihr war er aufgefallen, und an diesem ersten Abend hatte sie immer wieder zu ihm hinübergeblickt und geglaubt, er bemerke sie nicht. Aber so war es nicht.
Denn vom anderen Ende des Raumes aus hatte er wie hypnotisiert ihre Bewegungen verfolgt – sie tanzte vollkommen in sich versunken mit einem Drink in der Hand und halb geschlossenen Augen, und so fielen ihr seine Blicke nicht auf. Er wusste noch genau, was sie an jenem Abend getragen hatte: dunkle Jeans und ein cremefarbenes Leinenoberteil, das vorne eine Knopfreihe hatte. Als er später mit ihr im Bett lag, fuhr er ihr mit dem Finger vom Hals bis zur Taille und erzählte ihr, wie er auf der Party diese lange Reihe winziger Knöpfe fixiert und davon geträumt hatte, ihren Körper zu berühren. Zugleich hatte er sich gefragt, ob man das Oberteil über den Kopf ziehen konnte oder ob man jeden einzelnen dieser Knöpfe aufmachen musste.
Er hatte nicht daran geglaubt, dass er die Chance bekommen würde, das herauszufinden.
Auf der Party bemerkte ein Freund, wie Toby die tanzende Kate anstarrte, und sagte ohne Umschweife zu ihm: »Die kannst du nicht kriegen.« Er beschrieb Kate als wählerisch und schwierig. In Wahrheit hatte Kate diesem Freund eine Abfuhr erteilt. Später mussten Toby und sie noch oft darüber lachen.
Kate konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie überrascht war, wie wenig Leute sie auf der Party kannte – die meisten Gäste hatte ihre Mitbewohnerin eingeladen. Als sie hinausging, um frische Luft zu schnappen, fiel ihr der große, etwas schüchterne Mann mit den schönen Augen auf, der allein stand.
Später erzählte er ihr, sie erinnere ihn an ein Gemälde. Er schaute auf ihre Haare …
Sie fand ihr Haar kraus, er nannte es präraffaelitisch.
Kate, die Tobys Interesse an ihr nicht gleich bemerkt hatte, wollte eigentlich nur der Hitze in der Wohnung entkommen. Sie holte einen Drachen aus ihrem Zimmer und fragte ihn, ob er ihn mit ihr steigen lassen würde. Noch während sie das sagte, befürchtete sie, diese Frage könnte wie ein Vorwand klingen, dabei mochte sie Drachen wirklich und besaß vier oder fünf Stück. Es waren altmodische Modelle mit Holzrahmen und in leuchtenden Farben. Sie fügte hinzu, in der Nähe gebe es einen schönen Park und der Wind sei perfekt.
»Ich bin Kate.«
»Toby.«
Sie sahen einander an. Zum ersten Mal trafen sich ihre Blicke, und in jedem von ihnen begann Hoffnung zu keimen, dass sie beide gemeinsam …
Toby schaute auf die lange Knopfreihe ihres Oberteils.
Auch jetzt, auf dieser ganz anderen Party, kann sie seine Blicke spüren, auf sich in dem roten Kleid. Aber heute steht in seinen Augen kein Verlangen, sondern er schaut hilflos und besorgt. Inzwischen kennt sie diesen Blick gut, und sie verabscheut ihn.
Sie trinkt zwei, drei Gläser Champagner und weiß, es ist zu viel, denn ihr Lachen ist immer ein klein wenig zu laut.
Als sie ein paar Brocken von dem besorgten Getuschel auffängt, das Tobys Geschäftspartner Mark mit seiner Frau austauscht, holt sie sich ein Glas Wasser und flüchtet damit in den Flur. Erleichtert lehnt sie sich an die Wand und spürt sofort die frische Farbe an ihrer nackten Schulter. Sie streicht mit den Fingern über die Wand und fühlt die weiche, staubige Schicht. Ist das Kalkfarbe? Ja. Sie erkennt die Konsistenz wieder, sie hat selbst einmal in ihrem alten Zuhause mehrere Probeanstriche damit gemacht. Und das Zimmer niemals zu Ende gestrichen …
Sie glaubt sich allein und für einen Moment unbeobachtet. So wie oben im Bus mit den Möwen, dem Touristenführer und ihren vielen Stofftaschen.
Aber dann bemerkt sie Toby, der sie in einem Spiegel am anderen Ende des Flurs betrachtet, und sie hört seine Stimme, das Echo der letzten Nacht, als sie beide im Bett lagen, jeder gefangen in seiner eigenen Traurigkeit, im selben Bett, aber Hunderte Meilen voneinander entfernt.
»Kate, es bringt doch nichts, so zu tun, als wäre es nicht passiert.« Als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkt, durchfährt sie ein unerträglicher Schmerz; es ist die Erkenntnis, dass er genau weiß, was sie tut. An diesem neuen Ort mit diesen neuen Menschen.
Er weiß, wie es ihr geht in dem schicken, neuen Haus mit den drei unausgepackten Kartons im Flur. Oder wenn sie sich auf den Busfahrten vorstellt, wie sie im Wasser schwimmt. Dass sie immer weiter sucht …
»Wir können nicht einfach so tun, als wäre es nicht passiert, Kate. So geht das nicht. Wir können die Vergangenheit nicht einfach wegschließen. Das funktioniert nicht.«
Auf dem Pappbecher mit Kaffee, den Matthew in der Hand hält, steht die Warnung, das Getränk könne sehr heiß sein.
Er schüttelt den Kopf über die Absurdität einer Welt, die sich mehr mit Rechtsstreitigkeiten beschäftigt als mit trinkbarem Kaffee. Dann vertieft er sich wieder in die Zeitung und spielt mit dem Leuchtstift in seiner linken Hand. Die Stellenanzeigen für Service-Personal sieht er zuerst durch. Ob er sich als Koch ausgeben kann? Wahrscheinlich nicht. Und als Kellner, kann er auf die klassische Weise servieren? Sicherlich nur mit Mühe und Not. Tellerwäscher? Das würde gehen. Matthew rahmt zwei aussichtsreiche Anzeigen ein und nimmt einen Schluck Kaffee.
Er muss sich waschen und etwas Sauberes anziehen. Bevor er sich irgendwo vorstellt, will er ins Schwimmbad gehen, um dort zu duschen. Der Gedanke muntert ihn auf. Im Augenblick braucht er schnell einen Job, wo man nicht allzu viele Fragen stellt, und eine Unterkunft muss er auch finden. In der Gastronomie hat er die besten Chancen, auch ein Zimmer gestellt zu bekommen, und sollte das nicht klappen, kann er versuchen, ein billiges Hostel zu finden. Er will nicht länger draußen schlafen, denn er kennt sich mit dem Leben auf der Straße weniger aus, als er dachte. Erst im Gespräch mit den Obdachlosen an der Bushaltestelle ist ihm klargeworden, dass der Park, wo er letzte Nacht geschlafen hat, ein stadtbekannter Treffpunkt ist. Ein paar junge Männer sind dort neulich für Stricher gehalten und übel zugerichtet worden.
Nachdem er alle Stellenanzeigen durchgesehen hat, holt Matthew den Umgebungsplan hervor. Das Gelände hat er schnell gefunden: Das zurzeit leerstehende Millrose Mount Hospital – es soll demnächst in Millrose Mount Village umbenannt werden – liegt etwa zwei Meilen außerhalb des Orts.
Seine Mutter hat ihm nach dem großen Streit davon erzählt. Sag bitte deinem Vater nichts davon. Er würde mich umbringen, Matthew. Ich habe ihm geschworen …
Er starrt auf die Karte und versucht sich vorzustellen, wie früher die Patienten zum Millrose Mount Hospital gebracht wurden. Hat man ihnen Beruhigungsmittel gegeben und sie dann im Transporter dorthin gefahren? Hat man sie gar in Zwangsjacken gesteckt? Er malt sich die schlimmsten Dinge aus, denn er kann die Wahrheit immer noch nicht fassen: dass auch er, seine eigene Geschichte mit diesem Ort verbunden ist.
Matthew faltet die Karte zusammen und beschließt zu laufen, um das Geld für die Busfahrkarte zu sparen. Das Millrose Mount Hospital ist nicht schwer zu finden, es gibt nur einen Weg, der auf den Hügel führt. Während er die lange, steile Zufahrtsstraße hinaufgeht, denkt er nach über das, was er in der Stadtbibliothek über die Klinik gefunden hat. Darunter waren auch die Aufzeichnungen des Architekten, der diesen Komplex entworfen hat. Dann hebt Matthew den Blick und fragt sich, ob das monumentale Eingangsportal den Patienten damals so vorgekommen ist wie ihm jetzt: wie ein riesiger Mund.
Ein riesiger, schreiender Mund.
Gegenüber dem Millrose Mount Hospital entdeckt Matthew eine Telefonzelle. Er schaut auf seine Armbanduhr und geht kurz entschlossen hinein. Während er wartet, dass abgehoben wird, klopft er ungeduldig mit einem Fuß auf den Boden und hofft inständig, dass nicht sein Vater ans Telefon geht.
»Hallo, Mum, bist du das?«
»Matthew! Matthew, bist du es wirklich, Junge?«
Er hört, wie etwas klappernd zu Boden fällt, und denkt sofort an eine Flasche Möbelpolitur. Sicherlich hat sie auch ein Staubtuch in der Hand, denn sie wischt immer Staub …
Es piept laut. Das ungeduldige Telefon will mehr Geld – und zwar sofort. In der Aufregung fallen Matthew die Münzen aus der Hand. Beinahe wird die Verbindung unterbrochen, als er auf dem Boden kriechend nach dem Geld sucht, dann gelingt es ihm, eine Münze in den Schlitz zu werfen.
»Hallo? Hallo? Matthew … bist du noch da?«
»Ja, Mum. Alles in Ordnung. Hör zu, ich wollte dir nur kurz sagen, dass es mir gutgeht.«
Vom anderen Ende der Leitung hört Matthew ein Schniefen. Er kann sie sich genau vorstellen, wie sie sich mit der geballten linken Faust gegen das Kinn klopft.
»Liebling, kommst du nach Hause? Bitte. Komm nach Hause.« Er sieht sie vor sich, wie sie in der Hand ein Staubtuch zu einer kleinen, festen Kugel zusammenknüllt, während ihre Stimme immer schriller klingt.
Schon wieder ertönt der Piepton. Dieses Mal steckt Matthew drei Münzen in den Schlitz.
»Ist er da? Ist Dad zu Hause?«
»Nein, er ist weggegangen.«
»Hat er sich inzwischen beruhigt?«
Am anderen Ende der Leitung herrscht Schweigen.
»Er wird seine Meinung ändern, Matthew. Wenn du nur nach Hause kommst, Junge.«
Matthews Unterlippe zittert, er beißt sich auf die Unterlippe, so fest, dass es wehtut.
Er möchte immer noch wütend auf sie sein. Er will sie nicht so vermissen. Und er muss diese verdammte Angst loswerden.
»Sag mir, wo du bist, Liebling. Ich bin völlig verrückt gewesen vor Sorge. Wir holen dich ab, einverstanden?«
Matthew kann den Schmerz in ihrer Stimme kaum ertragen. Einen Augenblick lang steht sie direkt vor ihm, zieht ihm die Krawatte zurecht. Dann küsst sie ihn auf die Stirn und fährt mit den Fingern durch seine Locken. Seine Stirn ist feucht von ihrem Kuss, aber er wischt nicht drüber.
Er würde ihr gern erzählen, wie sich das anfühlt. Wenn man nicht weiß, wer man ist. Wenn man in den Spiegel blickt und sich unsichtbar fühlt, wie ein Geist. Er möchte sie gerne ganz offen fragen, wie sie das tun konnte.
Wie sie ihn die ganzen Jahre über anlügen konnte.
Es piept wieder. Matthew sieht den Ton vor sich, ein eingestrichenes C. Piep, piep, piep.
C.C.C.
»Ich melde mich wieder …«
Sie ist weg. Die Frau, die nicht seine Mutter ist. Nicht seine leibliche Mutter. Matthew weiß nicht, was er fühlen soll – die Note des Wähltons wird lange gehalten und klingt nun schrill.
Gis.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Als Matthew aus der Telefonzelle tritt und zum Baubüro hinübergeht, steht dort ein Mann in der Tür, die Hände auf die Hüften gestemmt. Er trägt einen weißen Schutzhelm mit dem Logo von Millrose Mount Village, der ihm ganz offensichtlich nicht richtig passt. Der Helm sitzt zu hoch auf dem Kopf, und das sieht lächerlich aus. Sein gut geschnittener Anzug verrät, dass der Mann kein Bauarbeiter ist.
»Ich wollte mich nur mal umsehen, wenn das erlaubt ist.«
»Wie bitte?« Der Mann blickt ihn besorgt an. Matthew überlegt, ob er wohl schnell im Kopf nachrechnet und feststellt, dass sein Gegenüber zu jung ist. Zu jung, um ein früherer Patient zu sein.
»Meine Eltern möchten gern in diese Gegend ziehen. Ich komme bald aufs College. Wir haben uns gefragt …«
»Sie könnten also eventuell Interesse haben, hier etwas zu kaufen?« Schlagartig verändert sich der Gesichtsausdruck des Mannes. Jetzt sind sie die besten Freunde.
»Ja. Sie haben mich gebeten, Informationsmaterial zu besorgen.«
»Ach so, in Ordnung. Kommen Sie doch herein. Bitte sehr, kommen Sie nur.«
Der Mann im Anzug nimmt Matthew mit in sein Containerbüro und drückt ihm einen Hochglanzprospekt in die Hand. Er fragt nach der Adresse seiner Eltern, damit er ihnen sämtliche Informationen zu den Kaufobjekten zuschicken kann, sobald sie fertig gedruckt sind. »Sie müssten jetzt jeden Tag eintreffen.«
Matthew verspricht, dass seine Eltern persönlich vorbeikommen werden, und fragt, wie lange der Umbau noch dauern wird. Er blickt aus dem Fenster auf den Bauzaun und die Container. Ein Stück entfernt stehen zwei Bagger neben einem großen Kieshaufen.
»Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis die gesamte Infrastruktur fertig ist, aber sicher wollen einige Käufer ihre Immobilie auch selbst gestalten, ihre eigenen Ideen verwirklichen. Da gibt es unzählige Möglichkeiten.«
»Und gibt es schon viele Interessenten? Stören sich die Leute nicht an der Geschichte dieses Orts? Wir haben uns gefragt, ob sich vielleicht manch einer bei dem Gedanken unbehaglich fühlt. Sie wissen schon, weil das früher einmal eine psychiatrische Klinik war.«
Der Mann grinst. »Glauben Sie mir, eines Tages wird das normal sein. Dann wird sich niemand mehr darüber den Kopf zerbrechen. Hier hat man die Chance, Erster zu sein und sich einzukaufen, bevor die Preise in die Höhe schnellen. In zehn oder zwanzig Jahren wird man überall im Land alte Gebäude wie dieses hier umbauen. Und eins ist sicher: Man findet nirgendwo einen so beeindruckenden Bau wie diesen hier. Diese Architektur war ihrer Zeit wirklich weit voraus.«
Matthew lächelt. Mit keiner Silbe verrät er, was er schon alles über das architektonische Erbe dieses Gebäudes weiß. Aber die Architektur interessiert ihn gar nicht. Er blättert die Broschüre durch. Nirgendwo könne man so viel Wohnraum für so wenig Geld erwerben, steht dort. Er überfliegt die Seiten auf der Suche nach mehr Informationen zu dem Gebäude, nach der wahren Geschichte des Millrose Mount Hospital. Den Tee, der ihm angeboten wird, lehnt er ab. Als er die letzte Seite umblättert, ist er kaum überrascht, dass er nichts Neues über die einstige psychiatrische Klinik erfahren hat.
Matthew blickt auf seine Armbanduhr.
»Meine Eltern werden sich auf jeden Fall sehr bald melden«, sagt er entschuldigend. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, fügt er, als er schon in der Tür steht, hinzu: »Was ist denn eigentlich mit der Vergangenheit dieses Ortes? Ich nehme mal an, dazu gibt keine Unterlagen, oder? Haben Sie jemanden an der Hand, der hier früher einmal gearbeitet hat?«
Das Lächeln des Mannes verschwindet, er beißt sich auf die Unterlippe und mustert Matthew noch einmal eindringlich.
»Sie sind doch nicht etwa Journalist, oder?«
»Meine Güte, nein. Ich hab mir nur gedacht, das wäre doch vielleicht interessant. Wenn meine Eltern und ich eines Tages hier wohnen, meine ich.«
»Ich glaube, in der Stadtbibliothek findet man etwas über das Millrose Mount Hospital. Zumindest über den Architekten Samuel Cribbs. Soweit ich weiß, werden dort seine Tagebücher aufbewahrt. Die könnten Ihnen weiterhelfen.« Der Tonfall des Immobilienmaklers ist vorsichtiger, seine Hoffnung auf eine Provision wird geringer.
Matthew nickt dankend und versichert, dass er seinen Eltern die Broschüre und die Visitenkarte des Maklers geben wird.
»Ich werde dafür sorgen, dass sie Sie anrufen.«
Das gezwungene Lächeln des Mannes zeigt ihm, dass er seinen Worten nicht länger traut.
Martha lächelt, als Kate eilig das Café am Kai betritt – sie macht einen gehetzten Eindruck. Zwei Mal schon haben sie sich am Kiosk getroffen und draußen auf der Parkbank Tee und Kaffee getrunken. Sie können es sich nicht erklären, aber beide, sowohl Martha als auch Kate, sind insgeheim überrascht, wie gut sie sich verstehen. Heute hat Kate vorgeschlagen, sich im Café zu treffen. Sie möchte Martha zu einem ordentlichen Frühstück mit Eiern und Speck, Toast und Marmelade in gemütlicher Atmosphäre einladen.
»Martha, es tut mir so furchtbar leid. Hast du schon bestellt?«
Dann bemerkt Kate die frischen Eier- und Ketchup-Flecken und die Brotkrümel auf dem weißen Teller. Sie ärgert sich, dass sie den Verkehr nicht richtig eingeschätzt hat, denn sie wollte das Frühstück bezahlen. Schließlich ist es ihre Idee gewesen.
»Wirklich, es tut mir unendlich leid. Ich übernehme die Rechnung. Und ich hole uns noch Tee, einverstanden?«
Martha schüttelt den Kopf. »Mach dir keine Gedanken, Kate. Das ist alles schon geregelt. Du musst dir nur dein Frühstück besorgen.«
Kate schaut sie fragend an und runzelt die Stirn, als eine rundliche Frau hinter der Theke hervorkommt, sich an ihr vorbeidrängt und auf den Platz neben Martha plumpst. Fast gleichzeitig landet das Fotoalbum in ihrer Hand mit einem lauten Knall auf dem Tisch. Die Frau ist verschwitzt und ein wenig außer Atem, aber sie lächelt übers ganze Gesicht. Sie drückt Marthas Schulter und schlägt das Fotoalbum auf.
»Sieh nur, Martha. Die ist so wunderschön! Wie kann ich dir nur dafür danken?« Ihre Stimme ist warm und freundlich, genau wie ihre Augen, und sie spricht mit einem starken italienischen Akzent.
Kate beugt sich vor, um einen Blick auf die Fotos zu erhaschen, es sind Bilder einer Familie am Taufbecken, das Baby ist in eine lange weiße Decke gewickelt. Angesichts ihrer Einmischung kneift die Frau fragend die Augen zusammen.
»Oh, entschuldige bitte. Ich muss euch noch vorstellen.« Martha lächelt. »Das ist Kate, eine neue Freundin von mir. Kate, das ist Maria, eine sehr alte und liebe Freundin.«
Die beiden Frauen nicken sich höflich zu.
»Martha hat die Taufdecke meiner Enkelin gestrickt.« Maria dreht das Album herum, damit Kate die Bilder besser sehen kann. Eine wunderschöne, aufwendig gefertigte Arbeit, die einer Häkelei ähnelt. Plötzlich versteht Kate, warum Martha nicht für ihr Frühstück bezahlen muss.
»Gern geschehen, Maria. Ich bin froh, dass sie euch gefällt. Wie geht es dem Baby?« Martha strahlt über das ganze Gesicht.
»Die Kleine ist entzückend.« Maria legt eine Hand auf die Brust und stößt einen Seufzer aus. »Natürlich schläft sie nicht. Aber diese jungen Mütter heute, die erwarten einfach zu viel. Dio mio!« In diesem Moment bemerkt sie die lange Warteschlange an der Theke und drückt schnell noch einmal Marthas Schulter, bevor sie sich wieder um ihre Gäste kümmert.
Martha nimmt einen Schluck Tee, als Kate sich endlich hinsetzt.
»Dann bist du also Stammgast hier, Martha? Als du dieses Café vorgeschlagen hast, war mir nicht klar …«
Jetzt nimmt Kate Martha noch einmal in Augenschein. Sie trägt neue Kleider, die abgetragen, aber sauber sind. Ihre offenen Haare sind frisch gewaschen, was sie sehr viel jünger aussehen lässt. Kate wird klar, dass Martha nicht viel älter sein kann als sie, Ende dreißig, höchstens vierzig.
»Das stimmt. Maria und ich kennen uns schon eine Weile. Im Winter bin ich meistens hier in Aylesborough. Die Leute sind sehr freundlich zu mir und kümmern sich um mich.«
»Und du hast einen Platz zum Schlafen gefunden, ja?«
»Im Wohnheim, danke. So wie immer.« Sie zieht eine Grimasse und schaut schnell auf ihre Armbanduhr. »Mist.«
»Ist etwas?«
»Nichts Schlimmes, ich muss nur weg.« Sie trinkt ihren Tee aus. »Wenn du magst, kannst du mitkommen. Oder willst du lieber hierbleiben und in Ruhe frühstücken?«
»Nein, muss ich nicht. Ich esse später etwas.«
»Na, dann komm.« Martha zwinkert ihr verschmitzt zu.
Wenige Minuten später versteht Kate, warum Martha ihr Angebot, sie im Auto zu ihrer Verabredung zu fahren, lachend ausgeschlagen hat. Marthas Ziel, Wendys Wollladen, befindet sich nur zwei Häuser weiter. Von dem stilvollen Erkerfenster aus hat man einen beneidenswert schönen Blick auf den Hafen, und Kate findet die gesamte Innenausstattung einfach traumhaft.
Der Laden riecht nach Vergangenheit, als ob die Zeit angehalten worden wäre; es duftet nach Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Bienenwachs, aber auch etwas Zitroniges. Überall herrscht tadellose Ordnung. In den Regalen reihen sich Wollknäuel aneinander, nach Farbe und Garnstärke sortiert. Die Preise stehen gut lesbar in Schwarz auf kleinen weißen Karten.
»O Martha, wie schön, dich zu sehen! Wirklich schade, dass ich nicht da war, als du angekommen bist.« Martha und die Frau hinter der Verkaufstheke umarmen sich herzlich. »Ich wünschte so sehr, ich hätte noch ein Zimmer für dich übrig. Das weißt du doch, oder?«
»Das Wohnheim ist vollkommen in Ordnung. Mach dir keine Sorgen um mich.«
Dann tritt die Besitzerin des Wollladens einen Schritt zurück und hält Martha auf eine Armlänge Abstand, um ihre Kleidung zu begutachten. Kate bleibt mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen im Hintergrund.
»Von der Heilsarmee? Der Herrgott möge mir verzeihen, aber das können wir besser. Ich habe ein paar Sachen zur Seite getan, sie sind hinten.«
Martha gibt Kate ein Zeichen, zu ihr an die Theke zu kommen, und stellt sie, wie vorhin im Café Maria, nun Wendy vor.
»Dann bist du also neu hier in Aylesborough, Kate?«
Kate, die diese Frage schon kennt, antwortet genauso wie immer. Ihr Ehemann sei Architekt und habe sein Büro hierherverlegt, sie wollten schon lange ans Meer ziehen, das sei doch ruhiger und auch gesünder … Kate merkt, dass Wendy sich kaum auf ihre Worte konzentrieren kann, und sobald sie kurz innehält, wendet sich die Ladenbesitzerin wieder Martha zu. Mit einem breiten Lächeln eilt sie nach hinten und erscheint kurz darauf mit zwei großen Tüten in den Händen. In einer Tasche sind Wolle und Zettel mit Notizen, in der anderen verschiedene Kleidungsstücke. Eine Weile unterhalten sich die beiden Frauen über gemeinsame Bekannte und darüber, welche Wolle gerade sehr gefragt ist und welche nicht.
»Ziemlich viele Bestellungen.« Wendy stöbert in der Tasche mit der Wolle und den Zetteln herum. »Mehrere Pullunder und Westen, tut mir leid.« Sie verzieht das Gesicht. »Die sind leider gerade groß in Mode. Sind immer knifflig, ich weiß, aber schau doch bitte mal, was du machen kannst. Die Aufträge sind nicht eilig.«
Dann treten zwei Kundinnen mit Mustern für Pullunder an die Theke. Wendy errötet und umarmt Martha noch einmal, die ihre Tüten eilig zur Seite nimmt, um Wendy zu den Kundinnen durchzulassen.
Sie überlassen Wendy ihrer Arbeit, aber in der Tür dreht sich Martha noch einmal zu Wendy um, und etwas von der heiteren Atmosphäre schwindet.
Wendys Stimme ist sehr leise, als sie sagt: »Martha, es tut mir leid, aber es sind keine Briefe gekommen. Ich habe überall für dich gefragt. Nichts.«
Dann sitzen Kate und Martha wieder auf der Parkbank, wo sie sich zum ersten Mal getroffen haben, und trinken Tee aus angeschlagenen Bechern. Kate ist ziemlich verwirrt.
»Du strickst also auf Bestellung, richtig?«
»Manchmal. Wendy überredet mich immer wieder, und es macht mir auch Spaß. Außerdem kann ich etwas Geld damit verdienen, wenn es gerade keine andere Arbeit für mich gibt.«
»Aber wirklich viel wirst du für das Stricken doch nicht bekommen, oder?« Sie hat den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da schämt sie sich schon für ihren Tonfall. »Entschuldige bitte. Das sollte nicht so herablassend klingen. Bitte verzeih mir.«
Martha nimmt einen Schluck Tee, und eine Weile lang blicken die beiden aufs Wasser hinaus, wo ein Fischer auf seinem Boot die Netze reinigt, inmitten von aufmerksam kreisenden Möwen. Das Boot schaukelt sanft hin und her, und der Mann steht breitbeinig, um bei der Arbeit nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Ich weiß, es geht mich nichts an, aber darf ich dich fragen, warum du jeden Winter hier verbringst, Martha? Warum kommst du jedes Jahr nach Aylesborough zurück?«
Im Grunde brennt sie darauf, Martha nach den Briefen zu fragen. Welche Briefe, Martha?
»Und darf ich dich dann auch anlügen, so wie du eben Wendy angelogen hast?« In Marthas Stimme schwingt kein Missfallen mit, nur eine Offenheit, die Kate überrascht, ihr aber auch guttut. Still sitzt sie da und überlegt, was sie sagen könnte. Soll sie zugeben, dass sie insgeheim froh ist, ertappt worden zu sein? Dass es sie freut, wenn Martha sie durchschaut?
Der Fischer wirft gerade ein paar Reste aus einem großen Eimer über Bord, und wild kreischend stürzen sich die Möwen darauf. Die beiden Frauen sehen sich einen Moment lang in die Augen; wieder spürt Kate dieses seltsame Einvernehmen, das sie noch nicht ganz begreift. Ihre Aufmerksamkeit wird von einem Mann abgelenkt, der vor sich hin murmelnd auf die Stadtbibliothek direkt neben dem Wollladen zugeht. Unter seinem Arm klemmt eine große schwarze Mappe, die das Logo des Bauprojekts oben auf dem Hügel trägt: Millrose Mount Village. Das Logo ist Kate schon öfter auf Werbeflächen aufgefallen, wo es manchmal mit witzigen, meist aber vulgären Graffiti übermalt war.
Kate beobachtet, wie der Mann in der Stadtbibliothek verschwindet. Sie will Martha gerade fragen, woher sie wusste, dass sie in Wendys Laden gelogen hat, aber Martha sieht so entspannt aus. Kate kann nicht den Anflug einer Schuldzuweisung erkennen und überlegt es sich anders.
Sie sagt gar nichts dazu.
Meine geliebte Martha,
immer wieder sage ich mir, dass dies mein letzter Versuch sein wird, mit dir in Kontakt zu treten. Aber dann ändere ich meinen Entschluss. Und schreibe erneut einen Brief an dich …
Meine Freunde sagen mir oft, ich hätte schon vor langer Zeit aufhören sollen, dir zu schreiben.
Haben sie recht?
Ich bin immer noch in Moskau und probe für die nächste Tournee. Wir spielen die Cellosonate von Debussy, und ich finde dieses Stück immer so schwierig … Erinnerst du dich noch, als ich sie im Haus deines Vaters das erste Mal für dich gespielt habe?
Ich werde das sicherlich niemals vergessen.
An manchen Tagen frage ich mich, ob diese Briefe Russland überhaupt je verlassen. Oder ich stelle mir vor, dass dein Vater die Briefe abfängt und vielleicht sogar vernichtet.
Wenn ich nachts wach im Bett liege, beschleicht mich der schlimmste Gedanke: Könnte es sein, dass meine Freunde recht haben und dir mein Verhalten heute nur noch peinlich ist?
Noch schlimmer ist nur noch die Ungewissheit.
Das ist wirklich die Hölle, Martha. Mit dieser Ungewissheit kann ich nicht leben. Ich denke an dich, und ich weiß nicht, ob du überhaupt jemals noch an mich denkst.
Dein Josef
Sein dritter Tag in Aylesborough. Matthew wirft einen Blick auf seine Armbanduhr und kratzt sich am Kopf. Es war keine gute Idee, sich mit dem Duschgel des Schwimmbads die Haare zu waschen. Obwohl er den Kopf lange unter fließendes Wasser gehalten hat, sind seine Haare matt und stumpf. Und die Kopfhaut juckt unerträglich. Er klopft sich die Schultern ab und dreht sich unwillkürlich zum nächsten Schaufenster, um nochmals sein Aussehen zu überprüfen. Jetzt hat er das Kinn angehoben und den Kopf zur Seite gedreht; in dem veränderten Winkel spiegelt die Scheibe nicht mehr, sondern er blickt durch das Glas hindurch.
Augenblicklich schließt Matthew die Augen. Nein, er glaubt nicht an Schicksal. Und er hat auch gar keine Zeit für so etwas.
Nein, Matthew.