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Mit ihrem berührenden Debüt-Roman hat die erfolgreiche englische Journalistin und TV-Moderatorin Teresa Driscoll eine zu Herzen gehende Mutter-Tochter-Geschichte vorgelegt. Ihr hoch emotionales Buch verbindet ernste Themen wie Trauer-Bewältigung und Krankheit mit einer bezaubernden Liebes- und Selbstfindungs-Geschichte, in der ein liebevoll gemachtes Erinnerungsbuch mit Rezepten und Lebensweisheiten eine zentrale Rolle spielt. Wie fühlt es sich an, wenn die Mutter ohne Abschied geht? Auch 17 Jahre nach deren Tod ist Melissa zutiefst verunsichert. Gerade hat sie den Heiratsantrag ihres Freundes Sam abgelehnt, obwohl sie ihn innig liebt. Da bekommt sie ein Buch zugestellt. Von ihrer Mutter. Ein Buch, das Melissa lehren kann, sich selbst zu vertrauen und den Menschen, die sie liebt. "Unterhaltung, wie es sie sonst nur noch einer Cecilia Ahern gelingen würde - seit 'P.S. ich liebe Dich' hat es kein so herzzerreißend schönes Debüt mehr gegeben. [...] Zwischen den Buchdeckeln findet man Emotionen pur, und außerdem Erzählkunst in Perfektion. Die britische Autorin schreibt Geschichten, in die man sich einfach verlieben muss." Literaturmarkt.info
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Seitenzahl: 387
Teresa Driscoll
Für alle Tage, die noch kommen
Roman
Aus dem Englischen von Carola Fischer
Knaur e-books
Wie sage ich meinem Kind, dass ich sterben muss? Gar nicht, beschließt Eleanor, als sie von ihrer Brustkrebserkrankung erfährt. Ihre achtjährige Tochter Melissa soll so lange wie möglich eine unbeschwerte Kindheit haben. Stattdessen sammelt Eleanor Gedanken, Erinnerungen und gemeinsame Erlebnisse in einem Buch, das sie bei ihrem Anwalt hinterlegt. Wie fühlt es sich an, wenn die Mutter ohne Abschied geht? Auch siebzehn Jahre danach fühlt Melissa sich unvollständig. Gerade hat sie den Heiratsantrag ihres Freundes Sam abgelehnt, den sie doch innig liebt. Da bekommt sie ein kleines Buch zugestellt – ein Buch, aus dem noch einmal ihre Mutter zu ihr spricht. Es ist voller Rezepte, für die Küche und fürs Leben. Und voller Liebe. Melissa beginnt zu verstehen, was Eleanor für sie getan hat. Sie erkennt, wie sehr sie geliebt wurde. Und sie weiß jetzt, dass sie es auch kann: der Liebe vertrauen.
Für meine Mutter
Melissa Dance hatte zwei Tics.
»Geht es Ihnen gut, Miss Dance?«
Immer wenn sie extrem angespannt war, zuckte ihr rechtes Augenlid. Dieser Reflex löste dann den zweiten Tic aus, eine unwillkürliche Kopfbewegung – und ihr Kinn begann zu zucken, was ihre Umgebung an guten Tagen von dem Unsinn ablenkte, den ihr Augenlid veranstaltete.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?«
Heute war kein guter Tag.
Es war die Handschrift. Sie wirkte auf ihre Muskeln wie ein Betäubungsmittel, nur Augenlid und Kinn bewegten sich weiter, eigenwillig und nervtötend. Ihr Mund hingegen blieb starr.
Nicht ein Wort kam ihr über die Lippen.
Melissa nahm ein Haargummi aus ihrer Hosentasche und band sich einen Pferdeschwanz. Der große Mann ihr gegenüber, der sich als James Hall vorgestellt hatte, goss ihr Wasser ein und schob das Glas zusammen mit dem Buch auf ihre Seite des imposanten Mahagonitisches. Zweifellos fühlte er sich unbehaglich.
Er schien die ganze Zeit auf ihr Auge zu starren. Oder bildete sie sich das nur ein? Dann legte er plötzlich los und redete, viel zu schnell, über die Anweisungen seiner Klientin. Wie genau die seien. Seine Klientin habe ihm erklärt, er müsse mit großer Betroffenheit rechnen, dennoch habe er, im Rahmen der Vereinbarung natürlich, die Pflicht, sie – Melissa Dance – davon zu überzeugen, das Buch an sich zu nehmen. Und sich für diese Entscheidung bitte so viel Zeit zu lassen, wie sie brauche.
Genau so lauteten seine Anweisungen.
Immer noch zuckte ihr rechtes Augenlid, und sie brachte immer noch kein Wort heraus.
Mr. Hall räusperte sich. Er setzte hinzu, seine Klientin habe ihn gedrängt, Melissa bei diesem ersten Zusammentreffen zu versichern, dass dieses Buch ihr Trost spenden, ihr ein Ratgeber sein solle. Das Buch enthalte nicht so viele Rezepte im eigentlichen Sinne, sondern eher Rezepte fürs Leben. Es seien auch Briefe und Fotos darin. Ob sie ihm folgen könne?
Melissa starrte wieder auf den Buchdeckel. Sie schaute so angestrengt, dass sich beide Augen, das zuckende und das nicht zuckende, jetzt mit Tränen füllten.
Die Handschrift. Die schwarze Tinte.
Der Haupttitel REZEPTE war fett vorgedruckt, doch ihr Name war mit der Hand hinzugefügt worden, und Melissa hatte die Handschrift sofort erkannt. Sie blickte in eine Ecke von Mr. Halls Büro und konnte sie dort sitzen sehen, an dem alten Schreibtisch in der Ecke ihres Schlafzimmers. Den Füller in der Hand, schrieb sie in ihrer schönen, schrägen Schrift mit glänzender schwarzer Tinte.
… für Melissa.
Mr. Hall rutschte auf seinem Stuhl herum und fragte, ob er das Buch wieder in den Umschlag stecken solle. Im Kopf antwortete Melissa, das sei ihr egal, doch sie hatte keine Ahnung, ob sie die Worte auch aussprach. Wie auch immer, Mr. Hall verstaute das Buch wieder in dem wattierten Briefumschlag und reichte es ihr.
Ohne Zweifel wusste er, von wem das Buch war. Und Melissa wusste es auch.
Es war die schräge, unvergessliche Handschrift ihrer Mutter.
Ihrer Mutter, die sie seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte …
Grannys Cupcakes
1/4 Pfund Mehl und die entsprechende Menge Backpulver
1/4 Pfund Butter
1/4 Pfund Puderzucker
2 aufgeschlagene Eier
abgeriebene Schale einer Orange (sehr wichtig! … Erinnerst du dich?)
Den Ofen auf 180 Grad vorheizen. Butter und Zucker cremig rühren. Langsam die Eier hinzufügen (sie müssen Zimmertemperatur haben, sonst verbinden sie sich nicht). Nach und nach das Mehl hinzugeben und die Orangenschale unterrühren. Den Teig in Förmchen füllen. 15 bis 20 Minuten im Ofen backen.
Ein großartiges Rezept von Granny … entschuldige bitte die altertümlichen Mengenangaben!
(Die Cupcakes schmecken auch wunderbar mit einer Frischkäsecreme + ein paar Erdbeeren oder noch mehr Orangenschale. Für die Creme Frischkäse und weiche Butter zu gleichen Teilen mischen, dann Puderzucker hinzufügen, bis die Masse die richtige Konsistenz hat und angenehm süß ist. Entschuldige, dass ich so vage bin.)
Ach, mein liebes Mädchen. Du wirst schockiert sein. Stimmt’s? Schon während ich dieses erste Rezept und ein Foto in das Buch klebe, kann ich deine Bestürzung spüren.
Ich bin pausenlos auf und ab gelaufen, der Papierkorb ist bis oben hin voll mit zusammengeknüllten Blättern. Immer wieder habe ich von vorn angefangen. Ich habe Angst, es nicht richtig zu machen. Ich will unbedingt das Richtige schreiben.
Ehrlich gesagt bin ich jetzt so nervös geworden, dass ich befürchte, heute ist nicht der rechte Tag, um das Buch anzufangen. Aber was soll ich sonst tun? Es auf morgen verschieben? Oder auf übermorgen?
Immer wenn ich so aufgedreht bin, habe ich diesen wirklich nervigen Tic. Mein Augenlid zuckt. Das ist sehr peinlich und völlig lächerlich. Jetzt zuckt es gerade. So was Dummes. Ich nehme mir ständig vor, das mal vom Augenarzt anschauen zu lassen. Dein Vater behauptet steif und fest, dass er es nicht sehen kann, dass es niemand außer mir bemerkt, doch ich kann das kaum glauben. Ich komme mir deswegen schon wie eine Irre vor. Verstehst du, das sind genau die Dinge, über die ich mit dir, auf dem Bett liegend, reden würde, ein Gespräch unter Erwachsenen, hätte ich nur die Gelegenheit dazu bekommen. Und genau darum tue ich das hier, ich schreibe dir.
Wie auch immer.
Ich habe aufgehört, Blätter in den Papierkorb zu werfen. Keine Überarbeitungen mehr. Ich werde einfach nur … weitermachen. Meine Gedanken aufschreiben, wie sie mir durch den Kopf schießen. Während ich hier sitze und darüber grübele, ob ich das Buch vielleicht an einem falschen Tag begonnen habe, kann ich dich nur inbrünstig bitten, Melissa, doch erst einmal tief durchzuatmen. Verzeih mir, dass ich dich so erschreckt habe, und lass dich – möglichst unvoreingenommen – auf das Buch ein. Und versuch zu verstehen, warum ich so lange gewartet habe, um mit dir auf diese Weise zu sprechen.
Ich weiß schlicht und einfach nicht, was ich sagen kann, um dich zu trösten. Außer dass es sich, zumindest für mich, richtig anfühlt, was ich getan habe.
Dass ich gewartet habe, meine ich.
Ich beginne dieses Buch am 17. August 1994. Du wirst besser als ich wissen, was das bedeutet. Fairerweise muss ich dir gestehen, dass dein Vater und ich uns in dieser Sache überhaupt nicht einig sind. Damit meine ich jetzt nicht das Buch, denn davon weiß er nichts. Ich meine alles andere.
Du musst mir nicht sagen, was für ein fabelhafter Mann er ist. Ich habe keine Angst, dich in seinen liebevollen Händen zu lassen. Doch auch er steht unter Schock, und noch weiß er nicht, dass er ganz wunderbar ohne mich zurechtkommen wird.
Er will, dass wir eine »Erinnerungskiste« machen und zur Familienberaterin gehen. Irgendeine Beratungsstelle, wo es Bärchen und Ballons gibt. Ich weiß, das sind alles Experten, sie haben studiert, sie sind alle sehr, sehr klug und sie meinen es furchtbar gut, aber das ist einfach nicht mein Weg. Wenn du das Buch gelesen hast, wirst du wissen, wie furchtbar starrsinnig ich sein kann.
Ich habe beschlossen, dass du nicht das Geringste über den ganzen Mist erfahren sollst, der zurzeit mein Leben bestimmt. Du bist acht Jahre alt – du schläfst in deinem Prinzessinnenschlafanzug im Nebenzimmer, das Feenkostüm achtlos auf den Boden geworfen. Ich kann dir das einfach nicht antun.
Ich möchte noch etwas Zeit mit meiner süßen Tochter haben, mir in meinem und deinem Leben etwas Schönes bewahren, einen Ort, wo ich so tun kann, als würde alles wieder gut werden, ganz und gar.
Ist das egoistisch? Womöglich. Wahrscheinlich ist es das. Ich weiß nicht, wie du später darüber denken wirst. Aber wäre es wirklich weniger schmerzhaft gewesen, wenn du es gewusst hättest? Wenn du vorgewarnt gewesen wärst?
Max ist davon überzeugt. Vielleicht wirst du das auch so sehen.
Falls es so ist, wird ein »Tut mir leid« nicht reichen.
Aber mein Gefühl sagt mir, dies ist mein Weg, die für mich beste Art und Weise. Ich kann nicht für andere sprechen, und ich möchte die Beratungsstellen und die Menschen, die etwas anderes empfehlen, nicht kritisieren. Vielleicht haben sie recht. Vielleicht auch nicht.
Aber auch wenn ich alles falsch gemacht habe und du total böse auf mich bist, dann bitte wandere doch wenigstens – im Zweifel für die Angeklagte – mit mir zusammen durch diese Erinnerungsbilder und diese Gedanken. Und wenn nicht jetzt, dann sehr bald.
Bitte tu das für mich.
Ich habe darüber nachgedacht, ob ich es dir sagen, dich ein klein wenig darauf vorbereiten soll. Doch gestern Abend sah ich dich an, als du schliefst – so wunderschön und friedlich –, und ich dachte: wozu? Du wirst bestürzt sein und traurig und wütend, egal, ob du es vorher wusstest oder nicht. Wenn ich es dir jetzt schon sage, wirst du nur früher traurig sein.
Egal. Es ist zu spät. Ich kann es nicht mehr ändern.
Deshalb mache ich dieses Buch für dich. Eigentlich wollte ich nur Rezepte von meiner Mutter und meiner Großmutter aufnehmen, die ich an dich weitergeben möchte. Sie sind nicht besonders ausgefallen oder aufwendig. Es sind einfache, solide Speisen, die ich früher mit meiner Mutter zubereitet habe und sie wiederum mit ihrer – und die du, so hoffe ich, eines Tages mit deinen Kindern kochen und backen wirst. Die Mengen wirst du umrechnen müssen. Ich fand es ganz schön, sie in den alten Maßeinheiten zu belassen. Dann kam mir die Idee, neben jedes Rezept ein Foto von dir und mir beim Kochen einzukleben – und noch etwas dazuzuschreiben. Ein paar Gedanken, die dir vielleicht helfen können, nun, da du ganz erwachsen bist.
Jetzt muss ich erst einmal tief durchatmen.
Du bist inzwischen fünfundzwanzig. Und du wirst dich fragen, warum gerade jetzt? Warum habe ich so lange gewartet? Ach, Melissa, natürlich habe ich an die üblichen Meilensteine im Leben gedacht. Achtzehn? Oder einundzwanzig? Aber dann erinnerte ich mich, wie furchtbar durcheinander ich mit achtzehn war und dass ich mich auch mit einundzwanzig noch überhaupt nicht erwachsen fühlte.
Und der Sinn dieses Buchs, das, worauf es mir wirklich ankommt, ist vollkommene Offenheit. Ich möchte ein Gespräch von Frau zu Frau mit dir führen. Deshalb habe ich mich für das Alter entschieden, in dem ich selbst richtig erwachsen wurde. Fünfundzwanzig. Als ich dich zur Welt brachte, Melissa.
Ich wünsche mir so sehr, ich könnte dich sehen. Wünsche mir, ich wäre auch nur ein kleines bisschen gläubig, würde an den Himmel glauben oder überhaupt an irgendetwas.
Wie auch immer. Was auch immer. Ich habe mir das alles sehr genau überlegt, falls du dich das fragst. Das Buch wird in der Obhut eines sehr guten Anwalts bleiben, der den Auftrag hat, zu prüfen, ob es euch beiden, dir und Dad, gutgeht, bevor er es dir aushändigt. Auf diese Weise kann ich sicher sein, dass du das, was ich schreibe, nur liest, wenn du damit auch umgehen kannst.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich dich mit kürzeren Haaren. Hast du sie dir abgeschnitten? Insgeheim hoffe ich, nein, doch ich denke, dir steht jede Frisur. Es ist egal, wie du die Haare trägst, du hast so ein Gesicht …
Oje, jetzt schweife ich schon ab.
Also, ich habe mich für fünfundzwanzig entschieden, mein Alter, als unsere gemeinsame Geschichte begann. Und das Alter, in dem du, so hoffe ich, bereit bist für die Dinge, die ich dir sagen muss.
Die Ehrlichkeit der Erwachsenen.
Ist das nicht seltsam? Ein Gespräch von Frau zu Frau, während du nebenan schläfst. Du bist jetzt acht Jahre alt. Dein linkes Bein hängt aus dem Bett, dein rechter Arm umklammert Elizabeth. Hast du sie noch? Das wäre schön. So eine hübsche Puppe, und du liebst sie von ganzem Herzen.
Schon wieder schweife ich ab. Entschuldige.
Konzentrier dich, Eleanor. Also, was ist der erste, wirklich wichtige Rat, den ich dir geben möchte? Jetzt klingt es nach einer Predigt, und das soll es nicht sein. O Melissa. Es gibt einfach noch so viel, was ich dir sagen will!
Einfach noch so viel!
Was du daraus machst, ist deine Sache. Ich werde auf mein Bauchgefühl hören und mit dem einfachsten, aber wichtigsten Rat beginnen, meine liebe Tochter.
Der da wäre: Jeden, wirklich jeden einzelnen Tag meines Lebens wünsche ich mir mehr als alles andere auf der Welt …
Eleanor 1994
Eleanor hörte Max die Treppe heraufkommen und verstaute das Buch eilig in der obersten Schublade ihres Schreibtischs.
»Du bist schon zu Hause?« Etwas außer Atem küsste er sie auf die Stirn und setzte sich dann neben dem Schreibtisch aufs Bett. Der Schreibtisch diente zugleich als Frisierkommode – ein gemütliches Durcheinander aus Papier und Umschlägen und den alten Tintenfässern, die sie auf Flohmärkten und in Trödelläden erstanden hatte. Unzählige Farben und verschieden geformtes dickes Glas, das in den Sommermonaten die Strahlen der Morgensonne einfing und in funkelnden Mustern an die Wand warf, was Eleanor sehr mochte.
»Wie ist es gelaufen?« Er ließ seinen rechten Fuß sehr schnell hin und her baumeln, unentwegt. Er hatte sie heute unbedingt begleiten wollen, doch das hatte sie rundheraus abgelehnt.
»Was ist denn?«
Eleanor verzog den Mund, und während sie die Kappe wieder behutsam auf den Füller schob, wandte sie ihm den Kopf zu.
Ihr Ehemann sah immer noch aus wie ein Junge, und das lag an seinen Haaren. Unbändige Locken, die nie gelernt hatten, sich zu benehmen. Sie betrachtete ihn in letzter Zeit häufig und versuchte, diese Eindrücke in ihr Gedächtnis zu brennen, damit sie die Bilder aufs Geratewohl hervorkramen konnte, wenn er bei der Arbeit war. Die verrückten Haare. Wie er mit seinen Händen herumspielte, wenn er nervös war.
»Die Beraterin, Eleanor. Der Medikamententest. Haben sie dich genommen?«
Er spielte mit seinem Ehering, schob ihn am Finger rauf und runter.
Erst in diesem Augenblick ging ihr auf, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Sie hatte die Angelegenheit so wichtig werden lassen. Dabei war es nur ein winziger Hoffnungsschimmer. Sie hatte sich die größte Mühe gegeben, das Mantra der »Aussichtslosigkeit« zu singen, die »Außenseiterchance« zu betonen. Ständig hatte sie sich selbst daran erinnert, wie unwahrscheinlich es war, dass ihr Fall für den Medikamententest in Frage kam.
Und so war es ja tatsächlich auch gekommen.
Sie schüttelte schnell den Kopf, kämpfte gegen den stechenden Schmerz in den Augen an, und schloss die Lider, weil sie seinem Blick nicht begegnen wollte.
»Mist!« Er atmete lange aus, stand auf und begann, hin und her zu laufen. Immer quer durch den Raum, von links nach rechts. »Dann gehen wir dagegen vor. Ja? Irgendeinen Weg muss es doch geben. Eine zweite Meinung vielleicht? Sie können doch bei so etwas auf keinen Fall eine einzelne Person Gott spielen lassen?«
Es war die letzte Möglichkeit gewesen, ein Fünkchen Hoffnung. Nun war es vorbei. Die Antwort lautete nein.
Allen tut es so leid, Mrs. Dance, aber Sie kommen als Probandin für diesen Test nicht in Frage …
Sie hatte gewusst, dass Max die Entscheidung nicht akzeptieren würde.
Als sie die Augen schließlich wieder öffnete, saß er auf der Fensterbank und knetete mit Daumen und Zeigefinger unablässig seine Unterlippe. Dort, wo kein Blut zirkulierte, wurden seine Lippen ganz weiß.
»Mach das nicht. Es tut dir nur weh. Keine Chance auf Widerspruch.«
Er knetete weiter die Lippe. Plötzlich sprang er auf und ging in das angrenzende Badezimmer, wo er sich Wasser ins Gesicht spritzte.
In Windeseile war er wieder zurück, lief abermals unruhig durchs Zimmer.
»Amerika. Ich habe irgendwo gelesen, dass es in Amerika neue Medikamente gibt. Lass uns dorthin fahren. Ich kann mir freinehmen …«
»Hör auf, Max. Bitte. Ich nehme Melissa nicht mit nach Amerika. Setz dich hin.«
Sie klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich.
Er hielt inne und fummelte an seiner Gürtelschnalle herum, bevor er sich auf einem breiten hölzernen Hocker vor dem Schreib- alias Frisiertisch niederließ und den Kopf auf ihre Schulter legte, so dass sie sich im Spiegel ansahen. Peinlich berührt von seinem Anblick, versuchte er, seine Haare glatt zu streichen.
»Du weißt, wie ich entschieden habe. Bitte, Max.«
Nun war es an ihm, die Augen zu schließen.
»Nein, Eleanor. Wenn du mit allem aufhörst … Wenn du die Chemo abbrichst und auch alles andere …«
»Der ganze Blödsinn, das ändert doch nichts mehr.«
»Aber wenn du mit allem aufhörst …«
»Du weißt, was sie gesagt haben. Ein Monat mehr, höchstens zwei. Was bringt das?«
Wieder knetete er seine Lippe.
Sie nahm seine Hand, um ihn zur Ruhe zu bringen, und verschränkte ihre Finger in seinen.
»Ich bin müde, Max. Ich will einfach noch ein bisschen Normalität. Für Melissa.«
Er schaute zum Fenster, dann wieder zu ihr.
»Sie bekommt keine Normalität … Eleanor. Das weißt du. Sie kriegt nur einen Riesenhaufen Mist.«
»Dann lass den Misthaufen noch warten. Irgendwann kommt er sowieso.« Sie küsste ihn auf die Stirn und neigte dann den Kopf zur Seite, so dass sie seine Wange leicht berührte.
»Es ist das Einzige, was ich ihr noch geben kann. Ein bisschen Normalität. Bitte tu das für mich. Und für Melissa.« Ein leeres Blatt Papier kam ihr in den Sinn. Keine Briefe mehr, keine weiteren Anträge. Keine Geheimnisse mehr vor Melissa – sie würde keine Übernachtungsbesuche mehr arrangieren müssen, damit Melissa sie nicht gleich nach den Behandlungen sah. »Ich will nicht mehr, Max.«
Er blickte sie nicht an. Er starrte auf die Wand, ließ sein Bein immer schneller und schneller hin und her baumeln, bis sie die Hand nach seinem Kinn ausstreckte und sein Gesicht wieder zu sich drehte. In seinen Augen las sie, dass er sich irgendwo auf einem anderen Planeten befand, Flugtickets nach Amerika kaufte, Briefe an Berater und Gesundheitsbehörden schrieb und brillant formulierte Anträge auf Teilnahme an undurchsichtigen Medikamententests …
»Bitte, Max.«
Langsam kehrte er zu ihr zurück. Sein Blick erfüllte sie und brach ihr im selben Moment das Herz. Letztendlich konnte er ihr diesen Wunsch nicht abschlagen.
Würde ihn ihr nicht abschlagen.
Melissa 2011
Du willst doch nicht im Ernst diesen Koffer nehmen?«
»Wieso? Was ist denn falsch an diesem Koffer?«
»Muss ich dir das wirklich sagen?«
Sie runzelte die Stirn.
»Sieh ihn dir doch mal an! Er ist zu groß, Melissa. Viel zu groß.«
Melissa sah erst den Koffer an, dann Sam und zog den Kopf zwischen die Schultern.
»Und mach das bitte nicht.« Er lächelte. »Du siehst aus wie eine Schildkröte.«
Normalerweise würde sie sich sofort rächen, ihm die Zunge rausstrecken. Aber heute tat sie nichts dergleichen.
»Er passt nicht ins Auto, Mel.«
»Red keinen Unsinn. Natürlich passt er ins Auto. Wie, glaubst du, habe ich ihn nach Hause bekommen?« Melissa fuhr fort, ordentliche Kleiderstapel auf das Doppelbett zu legen – ein Stapel T-Shirts, ein Stapel Jeans und ein dritter mit sorgfältig zusammengelegten Kleidern. Jetzt breitete sie die Kleider auf dem Bett aus und legte sie erneut zusammen. Sie wusste nicht, warum sie das tat.
»Ich meine nicht unser Auto. Auch nicht das von deinem Vater. Ich meine den Mietwagen dort unten.«
Melissa wandte den Kopf, um den grau glänzenden Koffer noch einmal in Augenschein zu nehmen. An den Mietwagen hatte sie nicht gedacht. Wie ärgerlich. Sie versuchte, sich den Kofferraum eines Clio vorzustellen. Oder war es ein Fiesta?
»Das wird schon gehen. Immerhin bringen wir in dem Koffer alle unsere Sachen unter, deine und meine.«
Sam sah sie unschlüssig an. »Warum können wir nicht einfach zwei Reisetaschen nehmen, so wie immer?«
Melissa unterbrach das Zusammenlegen der Kleider. Sie errötete und zog das Gummi ihres Pferdeschwanzes nach. Es entstand eine unangenehme Pause, beide wandten den Blick ab. Sie musste schon wieder an das Buch denken.
»Ah, jetzt verstehe ich.« Sams Gesichtsausdruck veränderte sich, jetzt war der Groschen gefallen. »Du willst mich damit beruhigen?«
»Wie bitte? Ich weiß nicht, was du meinst.« Sie wusste es genau.
Und dann schauten sie beide wieder auf den Koffer.
»Du musst das nicht machen, Melissa.«
»Was denn?«
»Solche Gesten. Wir haben das doch neulich Abend alles besprochen. Wir sind damit durch. Ich dachte, uns geht’s gut.«
»Uns geht’s auch gut.«
»Genau. Gut. Du bist nicht sauer, dass ich dir einen Heiratsantrag gemacht habe. Und ich bin nicht sauer, dass du eine Panikattacke bekommen hast.«
Melissa presste die Lippen zusammen.
»Du weißt, dass ich das nicht jetzt gleich meinte. Dass ich nicht sofort heiraten wollte. Mir ist vollkommen klar, dass du noch zu jung bist. Ich wollte mich nur mit dir verloben, für die Zukunft planen. Ganz ehrlich, ich wollte dir keinen Druck machen. Nicht …«
Keiner von beiden löste den Blick vom Koffer.
»Hör zu, Sam, ich habe ihn mir von Lou ausgeliehen. Wenn du ihn wirklich nicht mitnehmen willst, bringe ich ihn zurück. Ich dachte nur, so wäre es bequemer. Du weißt schon – ein Koffer für uns beide. Es ist wirklich kein Problem. Wenn du lieber für dich allein packst, so wie immer, dann machen wir das.«
Beide schwiegen, nur ihr Atmen war noch zu vernehmen. So lief es schon seit zwei Tagen. Seit dem katastrophalen Geburtstagsessen.
Die Schachtel mit dem Ring.
Melissa hatte sehr, sehr schlecht reagiert, und es tat ihr unendlich leid. Seit sie ins Restaurant gekommen war, völlig außer Atem wie schon am Morgen im Büro von James Hall, hatte alles, was sie sagte, falsch geklungen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Überhaupt nicht, und das war, wie sie jetzt feststellte, sehr naiv gewesen. In Ordnung – nun wusste sie also, dass er sie liebte. Er hatte sich damals sofort in sie verliebt. Aber inzwischen war sie doch auch in ihn verliebt. Schon während des ganzen Studiums und jetzt auch noch.
Sie sah Sam an und erinnerte sich, wie er früher ausgesehen hatte. Längere Haare, ein bisschen ausgeblichen von der Sonne. Abgeschnittene Shorts. Das schiefe Lächeln eines Teenagers, aber perfekte Zähne. Sie spürte dieses Kribbeln im Bauch – das merkwürdige Gefühl, das sie jedes Mal empfunden hatte, wenn sie um eine Ecke bog und ihn überraschend vor sich sah.
Na gut – sie hatte länger gebraucht als er, bis sie es begriffen hatte und an ihre Beziehung glaubte. Es war wie bei unzähligen anderen Paaren, die zusammen aufgewachsen waren; all die Jahre lang hatte er sie immer auf dieselbe Art angelächelt. Doch inzwischen liebte Melissa Sam aufrichtig, und diese Tatsache war paradox und machte ihr unerklärlicherweise Angst. War es wirklich so schlimm, dass sie nicht heiraten wollte? Ihn nicht und auch niemand anderen. Sie hatte sich so bemüht, ihm das an dem Abend im Restaurant klarzumachen. Warum konnten sie einander nicht einfach lieben? Wozu brauchten sie einen Trauschein? Es hatte nichts mit ihm persönlich zu tun.
»Nicht mit mir persönlich, Melissa? Du willst mich nicht heiraten – nicht jetzt und auch nicht später – und du glaubst, das wäre nichts Persönliches?« Er war am Boden zerstört gewesen.
Sie fand nicht die richtigen Worte, um ihre Haltung zu erklären, denn sie konnte es ja selbst nicht verstehen.
Und jetzt vermochte Melissa sich nicht mehr dagegen zu wehren. Sie sah den wattierten Umschlag vor sich. Ihre Mutter am Schreibtisch.
Schwarze Tinte …
»Was wollte denn der Anwalt von dir?« Sam gab sich alle Mühe, fröhlicher zu klingen. Sie sah ihn an, als er bewusst das Thema wechselte und eine gelassene Miene aufsetzte, und da fühlte sie es. Dieses heftige Ziehen im Unterleib.
»Bitte?« Sie wandte sich jetzt ab, um ein T-Shirt glatt zu streichen und noch einmal zusammenzulegen und hoffte, er würde nicht bemerken, dass ihre Hand dabei etwas zitterte.
»Du hast gesagt, der Termin beim Anwalt wäre heute. Der geheimnisvolle Brief, was war damit? Ging es um eine Nachlassermittlung, so, wie du dachtest?«
»Ja, es war ein Nachlassermittler. Aber ich bin es nicht, wir sind die falsche Familie. Ganz schön schwierig, ein bestimmtes Mitglied einer bestimmten Familie in Amerika zu finden.«
Melissa hatte keine Ahnung, warum sie Sam nichts von dem Buch erzählen wollte. Sie hatte bisher nur zwei Seiten gelesen. Und war von ihren Gefühlen völlig überwältigt.
Zumindest eines hatte ihre Mutter ganz richtig vorhergesehen. Melissa stand völlig unter Schock, sie musste jetzt unbedingt die Pause-Taste drücken.
Sie wollte in diesem Urlaub eine schöne Stelle finden, einen Ort, wo sie darüber nachdenken konnte, wie es mit Sam weitergehen konnte – und über all den anderen Mist. Wie sie diesem wunderbaren und herzensguten Mann klarmachen konnte, dass sie ihn dennoch liebte, auch wenn sie vom Heiraten nichts wissen wollte – jetzt nicht und auch in Zukunft nicht. Wenn sie ehrlich war, war das der Grund, warum sie diesen Koffer vom Ausmaß eines Kleinstaats ausgeliehen hatte. Es war dumm von ihr gewesen, ein hilfloser, panischer Versuch der Wiedergutmachung.
»Wenn du willst, bringe ich den Ring zurück.«
»Ach, Sam.« Im Restaurant hatte sie um Bedenkzeit gebeten und ihn angefleht, deswegen nicht gekränkt zu sein.
»Das ist schon in Ordnung. Mir geht’s gut damit, Melissa.«
»Ehrlich?« Als sie sich aufs Bett setzte, schlug eine neue Welle der Schuld über ihr zusammen.
»Ja, ganz ehrlich.« Er drehte sich um und sah ihr in die Augen. Es ging ihm gar nicht gut. »Ich bin übers Ziel hinausgeschossen. Tut mir leid.«
»Sam, du weißt, dass mir sehr viel an dir liegt?«
Er nickte schnell – auf eine Art, die auf keinen Fall ja bedeutete.
Melissa stand wieder auf und war für einen Moment sehr, sehr still – ihr Herz zog sich zusammen, ein vertrautes Gefühl. Verzweifelt suchte sie nach Worten, die in ihm dasselbe Glücksgefühl auslösen konnten, wie er es so mühelos in ihr hervorrief. Doch wenn sie zögerte, so wie jetzt, wenn sie erst überlegte, was sie, um alles wieder in Ordnung zu bringen, fühlen oder sagen sollte, wurde es nur noch schlimmer. Sie fühlte sich so unzulänglich, so schuldig. Es kam ihr vor, als würde tief in ihr etwas festklemmen. Genau, das war es.
Etwas in ihr klemmte.
Sie wandte sich wieder den Kleidern zu, die sie mitnehmen wollte, und stapelte sie ordentlich aufeinander.
Melissa hatte sich schon immer sicherer und wohler gefühlt, wenn um sie herum perfekte Ordnung herrschte. Ihre gesamte Kleidung befand sich nach Farbe und Länge sortiert in den verschiedenen Fächern des Kleiderschranks.
Dunkle Sachen auf der rechten Seite, helle und bunte Sachen auf der linken.
»Also, dann fahren wir beide jetzt wie geplant in den Urlaub, okay? Wir feiern unseren Geburtstag in der Sonne. Wir werden braun. Und wir haben ganz viel Sex? Ja?« Sie sprach viel zu schnell, das tat sie immer, wenn sie angespannt war. »Das ist nämlich der wahre Grund, warum ich denke, die Ehe wird überbewertet«, alberte sie weiter. »Weil es statistisch bewiesen ist, dass Verheiratete nicht mehr miteinander schlafen.«
Er sagte nichts.
»Riesige Schlüpfer, Streit darüber, wer die Spülmaschine ein- oder ausräumt, und überhaupt kein Sex mehr. Bist du sicher, dass du dir das für uns wünschst?« Sie wandte sich zu ihm und zog ihre Trainingshose so weit über die Hüfte, bis sie aussah wie ein Liebestöter.
»Mach das nicht, Melissa.«
»Was?«
»Hör auf damit.«
»Womit denn?«
»Mach keinen Witz daraus. Das tust du immer, wenn du nicht richtig mit mir reden willst.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Doch, du weißt es. Es ist noch zu früh. Ich bin verletzt. Das klappt einfach nicht.«
»Doch, tut es.« Sie schnitt eine Grimasse und drückte den Hosenbund noch weiter von ihren Hüften weg, bis er sich ein Lächeln nicht mehr verkneifen konnte. Dann wandte sie sich von ihm ab und atmete tief durch. Mit aller Kraft versuchte sie, nicht an die Ringschachtel zu denken und auch nicht an die Entscheidung über ihre berufliche Zukunft, die sie in diesem Urlaub treffen sollte.
Und vor allem nicht an das Buch.
An den wunderschönen Füller. Das klickende Geräusch seiner Kappe. Und die Erinnerung an einen seltsamen chemischen Geruch, den sie bis heute Morgen vollkommen vergessen hatte.
Den Geruch von Tinte.
Eleanor 1994
Haben wir sie zu sehr verwöhnt?«
»Natürlich haben wir sie verwöhnt! Warum auch nicht?«
»Du weißt, was ich meine. Zu sehr. Übertreibe ich? Ist das alles zu viel für sie?«
»Eleanor, wir sind in Disneyland Paris. Das ist kaum der richtige Ort, um sich Sorgen zu machen, ob man seine Kinder verzieht.«
Weihnachten war es auch schon so gewesen. Sie hatte zu viel gekauft und dann in einem Anfall von Panik einen Teil der Geschenke auf dem Dachboden versteckt.
»Du hast recht. Du hast absolut recht.« Eleanor betrachtete Melissa in ihrem Schneewittchenkostüm.
Natürlich war es zu viel. Das Hotel sah aus wie ein rosa Märchenschloss, und morgen würden sie mit einer Maus im Frack Croissants frühstücken.
»Mummy, ich dachte, man kann Micky Maus nur an seinem Geburtstag treffen! In der Schule hat Sophie gesagt …«
»Nein, man muss nicht immer Geburtstag haben.«
»Du siehst müde aus, Eleanor.«
»Mir geht es gut.« Das war eine Lüge. »Obwohl, ehrlich gesagt, ich könnte eine Pause brauchen. Ich habe Melissa gesagt, ich muss zur Toilette. Könntest du bitte noch ein wenig mit ihr hierbleiben, und wir treffen uns mittags im Restaurant? Ich leg mich etwas hin.«
»Bist du sicher, dass wir nicht mitkommen sollen?« Er beugte sich vor und sah sie prüfend an. »Deine Augen sind leicht gerötet.«
»Nein, nein, bleibt ihr nur. Melissa ist gerade so begeistert. Sie möchte den Drachen im Märchenschloss sehen. Ich bin nur müde, und ihr könnt mich jederzeit anrufen. Keine Sorge, Melissa macht das bestimmt nichts aus. Wenn ich etwas brauche, rufe ich die Rezeption an.«
»Versprichst du mir das?«
»Ja. Hast du das Blatt mit den Attraktionen – die für ihr Alter geeignet sind, meine ich?«
Er klopfte auf seine Brusttasche, und das Papier raschelte bestätigend.
In ihrem Hotelzimmer legte Eleanor sich aufs Bett und fiel erstaunlicherweise sofort in einen tiefen Schlaf. Vierzig Minuten später erwachte sie mit einem heftigen, ziehenden Schmerz im Unterleib. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Auf dem Nachttisch lagen noch die starken Schmerztabletten. Sie schob zwei davon in den Mund, trank einen Schluck Wasser und schloss die Augen. Krampfhaft versuchte sie, die Tabletten hinunterzuschlucken. Seit zwei Tagen war das schon so, es fiel ihr schwer, die Tabletten hinunterzubekommen. Langsam machte sie sich Sorgen, dass ihr nicht mehr genügend Zeit blieb, das Buch zu beenden.
Sie hatte es mitgebracht – es lag gut verborgen in einer weichen Reißverschlusstasche, die sonst nur Krimskrams für Melissas Haare enthielt, Haarbänder und Gummis für ihren Pferdeschwanz.
Eleanor schlug das Buch auf der Seite mit dem ersten Foto auf. Sie hatte es vor zwei Tagen aufgenommen, als sie mit Melissa die Cupcakes nach dem Rezept ihrer Mutter gebacken hatte. Die eine Hälfte der Törtchen hatten sie mit Frischkäsecreme und Erdbeeren verziert, die andere mit einem Zuckerguss, der genauso rosa war wie das Hotel hier.
Eleanor fragte sich, ob Melissa sich an die Bedeutung der Orangenschale erinnern würde und woran sie denken würde, wenn sie dieses Foto sah. Oder das ganze Buch.
Blieb ihr noch genügend Zeit? War es richtig, was sie tat?
Sie nahm ihren Füller aus der Handtasche und atmete tief durch, bevor sie sich wieder an die Arbeit machte.
… Jeden, wirklich jeden einzelnen Tag meines Lebens wünsche ich mir mehr als alles andere auf der Welt …
… dass ich etwas mehr wie dein Vater wäre. Verständnisvoll und nachsichtig. Vermutlich weißt auch du inzwischen, was ich schon wenige Wochen nach unserer ersten Begegnung erkannt habe: Max ist wahrscheinlich der großherzigste Mann, der dir je über den Weg laufen wird. Nein, vergiss das. Denn ich hoffe, das stimmt nicht. Ich hoffe, du wirst dein Leben mit jemandem teilen können, der genauso großherzig ist wie dein Vater. Da ich aber natürlich voreingenommen bin, denke ich, das wird eine schwere Entscheidung.
Ich möchte dir etwas anvertrauen, worauf ich nicht gerade furchtbar stolz bin – ich habe sehr lange gebraucht, um von ihm zu lernen. Bevor ich deinen Vater traf, Melissa, habe ich so oft das Falsche getan, das Falsche gedacht und das Falsche gesagt. Niemals habe ich jemandem absichtlich weh getan, und ich glaube nicht, dass ich ein schlechter Mensch bin. Jedenfalls hoffe ich das. Doch ich habe mich häufig einfach aus allem rausgehalten. Ich habe es versäumt, meinen Beitrag zu leisten. Die Zeit mit Max hat mich verändert … ich habe gelernt, innezuhalten und nachzudenken. Max hat mir die Augen geöffnet.
Und nun, in der schrecklichsten Zeit meines Lebens, fallen mir oft Situationen ein, in denen ich mich hätte anders verhalten sollen. Dinge, die passiert sind, lange bevor etwas von deinem Dad auf mich abfärbte. Ich muss immer an dieses Mädchen in der Schule denken. Sie hieß Monica und war außergewöhnlich intelligent, aber auch furchtbar dünn und sehr schüchtern. Versteh mich bitte nicht falsch, ich war niemals unfreundlich zu ihr. Ich lächelte ihr zu und versuchte, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Doch sie blieb immer eine Außenseiterin, und ich wusste nicht, wie ich mit ihr umgehen sollte. Mit dreizehn oder vierzehn begriff ich dann, dass es mehr als nur Schüchternheit war. Ihre Haare wurden dünn, und sie fing an, sie zu färben, als wollte sie sich hinter dem dramatischen Rot, dem kühlen Blond verstecken. Aber ich sprach sie nicht darauf an. Irgendwann bemühte ich mich dann auch nicht mehr, mit ihr zu reden, hielt mich raus. Einige Jahre später sah ich sie als Gast in einer Fernsehtalkshow. Sie litt an Magersucht, schon ihr ganzes Leben lang. Sie erzählte, wie sie einmal fast gestorben wäre und wie furchtbar einsam sie immer gewesen war. Kurz danach war das Thema Essstörung in allen Zeitungen. Wie schrecklich musste es für Monica all die Jahre in der Schule gewesen sein, als sie jeden Tag mit dieser tiefen Traurigkeit lebte, über die man damals so wenig wusste. Und ich wünschte, Melissa, ich bekäme die Chance, doch noch mit ihr zu reden, die Möglichkeit, ein klein wenig verständnisvoller zu sein.
Max hätte das besser gemacht. Du weißt das, und ich weiß es auch.
Du kommst vermutlich mehr nach ihm als nach mir – das hoffe ich jedenfalls. Doch dieses Buch soll von Ehrlichkeit handeln, und deshalb werde ich ganz offen sein.
Sei freundlich, meine liebe Tochter. Bemühe dich immer, ein guter Mensch zu sein. Das klingt so abgedroschen, und ich weiß, du würdest niemals absichtlich etwas Böses tun, doch manchmal muss man einfach etwas tun, anstatt die Hände in den Schoß zu legen. Klinge ich verrückt? Oder wie eine schreckliche Betschwester? Oder verstehst du, was ich dir sagen will?
Eleanor überflog die letzten Zeilen. Predigte sie zu viel? Würde Melissa das als Kritik empfinden? Sie blies sacht über die Tinte und biss sich auf die Unterlippe. So schwierig hatte sie es sich nicht vorgestellt, als sie beschloss, nichts mehr zu überarbeiten, sondern direkt in das Buch zu schreiben. Eine kurze Panik durchfuhr sie.
Dann erschrak sie, weil das Telefon klingelte.
»Hallo, Liebling. Ich bin gerade aufgewacht. Das Telefon hat mich aus dem Schlaf gerissen.«
»Das tut mir leid. Wie geht es dir?«
»Gut, ich fühle mich besser. Von wo aus rufst du an?«
»Wir sind in der Eisdiele.«
»O schön. Wie war es bei dem Drachen?«
»Frag lieber nicht. Das war leider zu realistisch für ein achtjähriges Mädchen.«
»Oje!«
»Danach braucht man eine ganze Menge Himbeereis.«
Eleanor lachte. »Soso, sie wickelt dich also wieder um den kleinen Finger?«
»Mich?«
»Dann müssen wir das Mittagessen also verschieben?«
»Nein, nein. Halb eins passt. Du kennst doch Melissa, sie hat immer Hunger.«
Eleanor sah auf ihre Armbanduhr – es war kurz nach zwölf. »Ich treffe euch im Restaurant. Ich hoffe, es ist so beeindruckend, wie die Kritiken behaupten. Überall Lampions und Boote, die auf einem richtigen Fluss mitten durch das Restaurant fahren. Auf dem Foto sah es gigantisch aus.«
»Wir wollen sie ja nicht zu sehr verwöhnen.«
»Sei still und sag ihr, dass ich gleich komme.«
»Sag es ihr selbst. Melissa, komm ans Telefon. Mummy ist dran.«
Der Telefonhörer wurde weitergegeben, und ein unverständliches, verärgertes Tuscheln drang an ihr Ohr. Los, mach schon. Mummy ist dran.
»Ich habe keine Angst gehabt.«
»Wie bitte?«
»Der Drachen. Ich habe keine Angst vor dem Drachen gehabt. Keine Ahnung, warum Daddy so was sagt. Das stimmt nicht.«
Eleanor zog die Schultern hoch und schloss die Augen.
»Dummer Daddy. Natürlich hattest du keine Angst. Du bist doch mein tapferes Mädchen.«
Melissa 2011
Sie konnte es nicht fassen, dass das Schnarchen eines einzelnen Mannes solchen Lärm verursachte. Zum Teil war das ihre Schuld, sie hatten viel zu viel Rotwein getrunken.
Melissa warf einen Blick auf den Wecker – kurz nach vier –, dann schaute sie Sam an. Sie wusste, es tat ihr nicht gut, ihn so oft zu betrachten, während er schlief. Zu grübeln und ihm in Gedanken etwas zuzuflüstern, was sie nicht laut auszusprechen wagte.
Sie schloss die Augen, legte den Kopf zurück aufs Kissen und bemühte sich, sehr ruhig zu atmen. Wenn sie nicht einschlafen konnte, schlich sie normalerweise auf Zehenspitzen in die Küche und machte sich einen Tee, aber die Tür quietschte und musste erst geölt werden, und sie wollte Sam nicht aufwecken. Deswegen nahm sie jetzt ihre Handtasche vom Stuhl neben dem Bett und ging leise durch das Zimmer in das angrenzende Bad. Sie betätigte den Schalter und zuckte kurz zusammen, als das grelle Licht anging. Dann schaute sie nach, ob sich etwas im Bett bewegte. Nichts. Nur das Schnarchen war zu hören. Sie musste lächeln.
Ich schnarche nicht, Melissa.
Sie klappte die Klobrille und den Deckel zu und setzte sich. Während sie vorsichtig das Buch ihrer Mutter aus der Handtasche hervorholte, schob sie die Tür zu, ließ sie aber angelehnt. Sie las den Buchtitel noch einmal genau, und wieder machte sich dieses dumpfe Gefühl in ihrem Bauch breit. In der vertrauten schrägen Handschrift stand dort ihr Name.
Melissa holte langsam tief Luft. Dann blätterte sie die Titelseite um und betrachtete das Foto neben dem ersten Rezept. Sie trug ein grün gestreiftes Oberteil. Seltsamerweise konnte sie sich sehr gut an den Pullover erinnern, doch überhaupt nicht an den Moment, als das Foto gemacht worden war. Beinahe konnte sie die weiche, grün-beige geringelte Wolle fühlen. Auf dem Foto hielt sie ein Backblech mit Cupcakes in den Händen, zur Hälfte waren sie mit einer Frischkäsecreme bestrichen und mit Erdbeeren belegt, und die übrigen Törtchen waren mit leuchtend rosa Zuckerguss und kleinen Silberperlen verziert. In diesem Augenblick änderte sich das Gefühl in ihrem Bauch, ihre Finger zuckten …
Verteil die Perlen ganz vorsichtig, Liebling. Nimm so viele du willst …
Melissa wandte den Blick ab und kniff die Augen zusammen. Der Holzlöffel fiel ihr wieder ein. Sie erinnerte sich, wie kühl die kleinen Silberperlen gewesen waren, als sie sie aus dem Behälter nahm. Und den Löffel hatte sie ablecken dürfen. Melissa spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog, und ein Lufthauch streifte ihre Wange. Sie hatte ihre Mutter angestrahlt, als das Foto aufgenommen wurde, und doch war der Moment aus ihrer Erinnerung verschwunden. Warum? Sie hatte weder den Holzlöffel noch die Silberperlen vergessen, warum dann diesen Augenblick, als ihre Mutter sie fotografierte? Plötzlich war sie unsicher, ob das echte Erinnerungen waren – der Löffel und die Verzierungen – oder ob sie sich nur wegen des Fotos daran zu erinnern glaubte. Weil sie sich das wünschte.
Warum war ihr die Szene nicht schon früher eingefallen?
Sie überflog die Seite. An einer Stelle blieb sie hängen und las die Worte ihrer Mutter noch einmal genau …
Aber auch wenn ich alles falsch gemacht habe und du total böse auf mich bist, dann bitte wandere doch wenigstens … mit mir zusammen durch diese Erinnerungsbilder und diese Gedanken. Und wenn nicht jetzt, dann sehr bald.
Bitte tu das für mich.
Melissa brauchte ein Weile, um zu begreifen, dass sie sich so unwohl fühlte, weil sie die ganze Zeit die Luft anhielt. Sie atmete aus und noch einmal ganz langsam ein und aus.
Dann schloss sie die Augen und lehnte sich gegen die Badezimmerwand.
Sams Schnarchen war leiser geworden, um sie herum war es still. Melissa stand auf und betrachtete einen Moment lang ihr Gesicht im Spiegel. Als sie die großen, dunklen Ringe bemerkte, kniff sie die Augen zusammen. Sie setzte sich wieder auf den Toilettendeckel. Neue Erinnerungen stiegen in ihr auf, und sie versuchte, sie zurückzudrängen. Die Rektorin der Schule.
Mir geht es gut. Wirklich, Mrs. Pritchard. Ich möchte nur nicht darüber reden, bitte.
Pluto, der Hund von Micky Maus, mit seiner langen Zunge in Disneyland. Frische scones mit clotted cream und Marmelade, die es in Cornwall zum Tee gab. Eine Diskussion darüber, ob man zuerst die Marmelade oder die clotted cream auf das Gebäck strich. Auch da wusste sie auf einmal nicht mehr, ob das wirklich so geschehen war oder ob sie sich diese Erinnerungsbilder anhand der Fotos im Album ihres Vaters zurechtgebastelt hatte. Waren sie wirklich echt?
Sie fühlte, wie eine tiefe Traurigkeit den Raum durchdrang und Panik in ihr hochstieg. Diese geballte Wut war ihr wohlvertraut. Erneut schloss sie die Augen, aber die Wut war immer noch da. Plötzlich stieg etwas in ihr auf, die Erinnerung, wie sie um sich trat und schrie. Etwas fiel zu Boden. Eine Puppe?
Ihr wurde ein wenig schwindelig, und sie beschloss, jetzt doch in der Küche etwas zu trinken. Süßen Tee vielleicht. Zucker, Melissa, wenn …
»Aaaahhhhh!«
»Was zum Teufel …«
»Meine Güte, Sam!« Ihr Herz raste von dem Adrenalinstoß – sie konnte gerade noch verhindern, dass ihr das Buch von den Knien rutschte. Die Tür stand jetzt halb offen. »Du hast mich zu Tode erschreckt.«
»Entschuldige, tut mir leid. Was tust du hier, Melissa? Es ist vier Uhr morgens. Ist dir das klar? Und was ist das?«
Er starrte durch den Türspalt auf das Buch. Sie schlug es eilig zu und steckte es zurück in ihre Handtasche.
»Nichts Wichtiges. Nur ein paar Notizen aus der Arbeit. Ich hatte da was vergessen, das hat mich die ganze Zeit beschäftigt.«
»Arbeit? Um diese Zeit?«
»Ja, entschuldige. Ist schon erledigt. Du kennst mich ja, ständig zerbreche ich mir über irgendwas den Kopf. Ich konnte nicht schlafen.«
Sam fuhr sich mit der Zunge über den Mund und schaute zurück zum Bett, neben dem ein Wasserglas stand. Er sah besorgt und müde aus.
»Geht es dir wirklich gut, Melissa? Du kommst mir irgendwie komisch vor.«
»Ich bin nur müde, hatte wohl zu viel Wein. Entschuldige. Ich wollte dich nicht aufwecken.«
»Hör mal, ich brauche jetzt etwas zu trinken. Willst du auch ein Glas Wasser?«
»Ich mach mir lieber einen Tee.« Melissa stand auf. Sie hielt ihre Tasche fest umklammert und ging eilig durchs Schlafzimmer in die Küche. Die Tür quietschte, als sie Sam über die Schulter hinweg zurief: »Wir trinken schnell einen Tee, dann sollten wir unbedingt noch ein bisschen schlafen.«
Max 2011
Max Dance lief um sein Leben. Er lief für seine Gesundheit und seinen Kollegen zuliebe. In der Arbeit war es ein Insider-Witz: Wenn er einen Tag nicht lief, stand er vollkommen neben sich.
»Heute waren Sie nicht laufen, oder, Professor?«
Max wusste, dass das nichts mit Endorphinen zu tun hatte, aber sehr viel mit der blödsinnigen Zwangsneurose, die auch seine erwachsene Tochter dazu brachte, die Becher nach Farben geordnet auf dem Küchenregal aufzureihen.
»Wir sind zwei echte Freaks, ist dir das klar?«, sagte er öfter, wenn er sie dabei beobachtete, wie sie während eines gemeinsamen Abendessens so lange mit dem Besteck hantierte, bis es vollkommen gerade lag. Bis alle Winkel und Abstände exakt ihrer Vorstellung entsprachen.
»Ja, ich weiß, Dad – aber es funktioniert. Du läufst, ich räume auf. So ist das eben. Warum sollten wir etwas ändern, wenn alles in Ordnung ist?«
Alles in Ordnung?
Max hatte nie daran gezweifelt, dass sie beide sich nahestanden. Er sah Melissa sehr viel häufiger, als das bei vielen seiner Freunde und ihren erwachsenen Kindern der Fall war. Nur das eine Tabuthema bereitete ihm Sorgen.
Deine Mutter hätte das hier geliebt.
Einmal im Monat trafen sie sich in einem italienischen Restaurant, das beide mochten, und bei jedem Essen sprach Max immer wieder davon, ließ hier und da eine Bemerkung fallen.
Deine Mutter liebte Meeresfrüchte.
Melissa leistete Widerstand. Sie versuchte, ihn abzulenken, indem sie witzige Bemerkungen machte.
Nur ein einziges Mal hatte er sie bedrängt: »Warum kann ich in deinem Beisein nicht einmal ihren Namen erwähnen, ohne dass du vehement abwehrst? Warum muss sich immer so eine unangenehme Stimmung ausbreiten?«
»Glaubst du wirklich, es hilft, wenn wir ständig in der Vergangenheit kramen?«
»Findest du, ich lebe in der Vergangenheit?«, hatte er Sophie neulich gefragt. »Tue ich das? Schwelge ich in Erinnerungen an Eleanor?«
Nicht nur sein zwanghaftes Laufen bereitete Max Sorgen, sondern auch seine Beziehung zu Sophie.
Sophie war Künstlerin, sie besaß ein außergewöhnliches Auge für Farben und eine höchst ungewöhnliche Sicht auf die Welt. Seit fünf Jahren traf Max sich einmal im Monat mit ihr zum Abendessen, und anschließend schliefen sie miteinander – eine unverbindliche Liaison (das war Sophies Bedingung), die in den von ihr gesteckten Grenzen gleichzeitig perfekt und absolut verheerend war.
Max hatte den Wecker auf sechs Uhr dreißig gestellt, um noch laufen zu können, bevor er Melissa und Sam an diesem Morgen zum Flughafen brachte. Er hatte Melissa erst überreden müssen, sein Angebot anzunehmen. Doch wozu hatte er sich zum Dekan seiner Fakultät hochgearbeitet, wenn er sich nicht einmal um eine Vorlesung drücken konnte?
In Wahrheit fand Max es schrecklich, dass seine Tochter ihren Geburtstag nicht mehr mit ihm feierte. Schon eigenartig, dass Melissa und Sam am selben Tag Geburtstag hatten. Doch so war es nun mal.