Tempel der verhüllten Göttin - Tina Lyr - E-Book

Tempel der verhüllten Göttin E-Book

Tina Lyr

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Beschreibung

Nun gibt es eine exklusive Sonderausgabe – Gaslicht – Neue Edition In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Maras Herz klopfte mit einem Mal wie rasend. Sie war am Ziel, sie hatte das Ende ihrer Pilgerreise erreicht. Hinter diesen natürlichen Mauern würde sie ihre Kirche und ihre unterirdische Stadt finden. Die Frau ließ sich von ihrem ins­tinktiven Wissen leiten. Wie in Trance setzte sie einen Fuß vor den andern. Sie gelangte zu einer Gesteinsfalte, die scheinbar keine Öffnung hatte. Nein, der Eindruck des Undurchlässigen war eine Illusion, eine Schutzvorrichtung. Der öffnungslose, unüberwindbare Felsen war ein Trugbild. Es gab eine Spalte. Sie bildete einen Durchlass, der an einer Felsnische endete. Eine Sackgasse, die nicht weiterführte? Mara rieb sich über die Augen, blinzelte. Die Felsnische hatte die Form eines Dreiecks. Die Frau streckte zögernd die Hand vor. Sie griff ins Leere. Das feste Gestein existierte nicht wirklich. Es war eine weitere Illusion. Die Nische war in Wahrheit ein Tor. Ein dreieckiges Tor. Mara trat andächtig ein.

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Gaslicht - Neue Edition – 19 –

Tempel der verhüllten Göttin

Der Besuch einer alten Kultstätte lässt Mara Morrigan erzittern

Tina Lyr

Maras Herz klopfte mit einem Mal wie rasend. Sie war am Ziel, sie hatte das Ende ihrer Pilgerreise erreicht. Hinter diesen natürlichen Mauern würde sie ihre Kirche und ihre unterirdische Stadt finden. Die Frau ließ sich von ihrem ins­tinktiven Wissen leiten. Wie in Trance setzte sie einen Fuß vor den andern. Sie gelangte zu einer Gesteinsfalte, die scheinbar keine Öffnung hatte. Nein, der Eindruck des Undurchlässigen war eine Illusion, eine Schutzvorrichtung. Der öffnungslose, unüberwindbare Felsen war ein Trugbild. Es gab eine Spalte. Sie bildete einen Durchlass, der an einer Felsnische endete. Eine Sackgasse, die nicht weiterführte? Mara rieb sich über die Augen, blinzelte. Die Felsnische hatte die Form eines Dreiecks. Die Frau streckte zögernd die Hand vor. Sie griff ins Leere. Das feste Gestein existierte nicht wirklich. Es war eine weitere Illusion. Die Nische war in Wahrheit ein Tor. Ein dreieckiges Tor. Mara trat andächtig ein. Sie hatte das Gefühl, nach Hause zu kommen …

Das prachtvoll ausgestattete Studierzimmer hätte so manche reiche Kloster- oder Schlossbibliothek in den Schatten gestellt. In aufwendig geschnitzten Wandregalen reihten sich seltene alte Bücher, für die jeder Liebhaber antiquarischer Kostbarkeiten wenn nicht seine Seele, so doch ein Vermögen gegeben hätte. Die dicken Samtvorhänge an den Fenstern waren zugezogen, um zerstörerische Sonnenstrahlen auszuschließen.

Unauffällige, hinter kunstvollen Stuckornamenten versteckte Beleuchtungskörper verbreiteten gedämpftes goldgelbes Licht. Eine leistungsstarke Leselampe erhellte den Arbeitsbereich. Ihr Schein fiel auf einen hochlehnigen Prunksessel, in dem eine dunkle, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidete Gestalt saß.

Der Mann am Schreibtisch arbeitete fieberhaft. Er las, übersetzte, schrieb Notizen nieder, schlug nach. Vor ihm stapelten sich mittelalterliche Handschriften mit brüchigen Ledereinbänden. Es waren einmalige Manuskripte, das verloren geglaubte Vermächtnis von Alchimisten, Philosophen und anderen Wahrheitssuchern. Gefährliches Ketzerwissen, das fanatische Inquisitoren einst mit Feuer und Folter bekämpften.

Ein freidenkender französischer Aristokrat hatte die Werke vor der Vernichtung gerettet und in einem geheimen Verlies versteckt. Dort hatten sie die Jahrhunderte der brennenden Scheiterhaufen unbeschadet überstanden. Irgendwann waren die Aufzeichnungen in Vergessenheit geraten. Ein verarmter Adliger hatte sie wiederentdeckt, als er das Schloss seiner Ahnen nach Wertgegenständen durchsuchte. So waren die Bücher auf den Markt gelangt.

Der einsame Forscher hob den Kopf aus seiner Lektüre. Er lächelte breit; seine dunklen Augen glühten vor Triumph. Wieder war er seinem Ziel einen Schritt nähergekommen, einen gewaltigen Schritt. Informationen aus alten Manuskripten hatten sich zu seinen eigenen, bruchstückhaften Erinnerungen gefügt, hatten Lücken in seinem Gedächtnis gefüllt.

Aus vagen Ahnungen war Gewissheit geworden.

Der Schlüssel, der das Tor zum Tempel der Macht öffnete, war endlich gefunden.

Der Mann in Schwarz streifte den rechten Ärmel seines Pullovers zurück. Das kreuzförmige Muttermal, das sich vorher blass und unscheinbar auf seinem Handgelenk abgezeichnet hatte, trat deutlich hervor. Es schimmerte wie flüssige schwarze Tinte.

Der Gelehrte lächelte befriedigt. Das Mal war die letzte Bestätigung, die er brauchte. Es war ein Emblem, ein zweifacher Beweis für seine wahre Identität.

Er selbst war der Schlüssel. Er war Logan, auch wenn er in seinem bürgerlichen Leben anders hieß. Logan war sein Name im Tempel der Macht.

Der Mann in der Studierstube war immer ein Einzelgänger gewesen. Er hatte schon in früher Jugend erkannt, dass er sich von der Allgemeinheit unterschied. Unterschwellig war er sich der gewaltigen Kräfte, die in ihm schlummerten, stets bewusst gewesen. Oft genug war ihm vorgeworfen worden, er litte an krankhafter Geltungssucht, an maßloser Selbstüberschätzung.

Der Mann in Schwarz stieß ein verächtliches Schnauben aus. Er war nicht größenwahnsinnig. Er war Logan, der Hüter des heiligen Schwertes. Seiner Obhut war die verheerendste aller Waffen anvertraut: das Schwert der Verhüllten Göttin. Das Muttermal an seinem Handgelenk symbolisierte kein Kreuz; es stellte ein Schwert dar. Das Schwert der Schwarzen Alten.

Er war Logan, der todbringende Diener der Greisin. Er war Logan, der Vernichter. Er war ein Instrument der Macht.

Ungezügelte Wut wallte in ihm hoch. Seine kühnen, aristokratischen Züge verzerrten sich zu einer dämonischen Grimasse.

SIE hatten seine Priesterschaft widerrufen und ihm den Zugang zum Schwert verwehrt. SIE hatten ihn aus dem Tempel der Macht vertrieben und dann sein wahres Ich ausgelöscht.

Aber SIE hatten ihn unterschätzt. SIE würden noch erfahren, was es hieß, ihn zu demütigen.

Er würde das Schwert wieder an sich bringen. Er kannte die geheimen Worte der Macht. Wie SIE. Er hatte sich erinnert. Er hatte sein Gedächtnis und sein übernommenes Wissen zurückgewonnen.

Das hatten SIE, die ihn für immer hatten ohnmächtig halten wollen, nicht verhindern können. Er hasste SIE, er hasste SIE aus tiefster Seele. Und gleichzeitig liebte er SIE auf sehnsüchtige, verzehrende Weise. SIE waren wie er. Aber SIE hatten ihn verstoßen, geächtet, für alle Zeiten gezeichnet. SIE hatten ihn verflucht. Trotzdem war er IHR Bruder. Ohne SIE war er einsam. SIE hatten ihn nie vergessen, und er hatte sich an SIE erinnert. In mühsamer Kleinarbeit hatte er seine verlorene Identität wiederentdeckt.

Das Schicksal selbst hatte SIE und ihn seit Anbeginn der Zeit zusammengeschmiedet. SIE und er waren eine geschworene Gemeinschaft gewesen, Wächter des heiligen Schreins, Erwählte der Großen Mutter. Nur SIE und er kannten die Göttin, die so viele Formen, so viele Gesichter und so viele Namen hatte. Nun hüteten SIE allein die Insignien der Macht.

Er war ein Verbannter, ein Wurzelloser. Er gehörte nicht mehr zu IHNEN und auch nicht zu den Menschen, die nichts von den Mysterien der Verhüllten Göttin wussten. Sein Name stand gleichbedeutend für Verrat.

Rache! Rache für entgangenes Glück! Rache für den Verlust des Ichs! Rache für aufgezwungene Blindheit!

Die Augen des Mannes glänzten wie im Fieber.

Er, der Ausgestoßene, würde herrschen. Macht war ein guter Ersatz für das Gefühl von Gemeinschaft.

Bald würde er am Ziel seiner Wünsche angelangt sein. Er würde sich holen, was ihm für immer verweigert werden sollte.

Es gab nur zwei Menschen auf der Welt, die ihn daran hindern konnten. Ihnen musste er zuvorkommen.

Die Zeit drängte.

Der Mann, der seinen wahren Namen wiederentdeckt hatte, rief seine Anhänger zu sich. Er hatte sie sorgfältig ausgewählt und geschult: ehrgeizige Studenten, sportlich, skrupellos und vom Dämon Karrieresucht besessen. Sie würden, wenn es ihrem Zweck diente, über Leichen gehen.

»Haltet euch bereit!«, befahl Logan. »Ich weiß jetzt, was wir tun müssen, um das Schwert der Vernichtung an uns zu bringen.« Seine Stimme bekam einen lockenden Unterton. »Bald sind wir die Herren der Welt. Wir werden die Menschheit das Fürchten lehren. Nichts und niemand wird uns aufhalten.«

Auf den jungen Gesichtern malte sich naive Vorfreude, Begeisterung. Die Studenten hielten das Unternehmen für eine Art Sonntagsausflug.

»Wie werden wir vorgehen?«, erkundigte sich ein drahtiger Bursche in schwarzer Lederkleidung.

»Lasst das meine Sorge sein«, antwortete Logan ausweichend. »Wichtig ist nur, dass wir schnell sind. Wir müssen die Wächter in einem Blitzangriff überwältigen.«

Ein untersetzter Machotyp, der die Statur eines Preisboxers hatte, winkte lässig mit der Hand ab. »Ich werde euch verraten, wie man mit einer Schar seniler Tattergreise umspringt«, sagte er feixend. »Pustet die Grufties scharf an, dann fallen sie tot aus ihren Pantoffeln.«

»Das meinst du!«, dachte Logan. Er verzog die Lippen zu einem geringschätzigen Lächeln. So sprach nur einer, der nie mit Magie in Berührung gekommen war. Einer, der mehr Muskeln als Hirn besaß.

SIE waren alt und gebrechlich, aber alles andere als hilflos. SIE brauchten keine Muskelkraft. SIE kannten die magischen Worte der Macht und wussten sie anzuwenden.

SIE hüteten die Insignien der Göttin seit Anbeginn der Zeit. SIE kannten die tiefsten Geheimnisse des Unsiversums und seine Gesetzmäßigkeiten. SIE waren beständig und unbesiegbar.

Kein Uneingeweihter konnte IHRER Zauberkraft widerstehen.

SIE herauszufordern war reine Vermessenheit.

Logan dachte nicht daran, seine Helfer über das Risiko, das sie eingingen, aufzuklären. Es war ihm gleichgültig, was mit ihnen geschah. Sie waren seine Werkzeuge, weiter nichts. Wenn sie blindlings in ihr Verderben rannten, war es ihr Problem.

Nur er, Logan, war IHNEN ebenbürtig. Er würde IHNEN mit IHREN Waffen entgegentreten. Seine Anhänger sollten ihm lediglich die Schmutzarbeit abnehmen, dann hatten sie ihren Zweck erfüllt. Seine Hände mussten frei von Blut sein, sonst konnte er das heilige Schwert nicht berühren.

Er hatte an alles gedacht. Sein Plan war perfekt.

Nachdem die Studenten nach Hause gegangen waren, schloss Logan sich in seiner Bibliothek ein. Er musste herausfinden, ob die magischen Fähigkeiten, die er einst besessen hatte, nach wie vor funktionierten.

Probehalber streckte er seinen Zeigefinger vor und formulierte in Gedanken eine Zauberformel. Funken sprühten. Aus dem Finger schoss ein weißlicher Energiestrahl, der so stark war, dass er im gegenüberliegenden Wandregal ein Brandloch verursachte. Ein sengriger Geruch verbreitete sich im Raum.

Ein kleines Missgeschick, aber für den Anfang nicht schlecht.

Logan löschte das magische Feuer kraft seines Geistes. Dann richtete er seinen Blick auf die Stehlampe. Die Glühbirne zerbarst in tausend winzige Splitter.

Auch das war keine Bravourleistung.

Der Mann in Schwarz ging zu einem Fenster und zog die schweren Vorhänge zurück. Auf der Straße spazierte engumschlungen ein verliebtes Paar. Der einstige Hüter des Schwertes sandte ihnen eine Suggestion: das Bild einer wütenden schwarzen Dogge. Jäh lösten sich die jungen Leute voneinander. Während die junge Frau sich erschrocken in eine Hausnische drückte, rettete sich ihr Freund mit einem wilden Satz auf die Straße und nahm Reißaus. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich an seine Begleiterin erinnerte. Zögernd machte er kehrt.

Der einsame Beobachter am Fenster warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Ein Held bist du nicht, mein Freund«, kommentierte er spöttisch. Abermals brach er in Gelächter aus.

Er befand sich in Hochstimmung. Seine Fähigkeiten waren noch vorhanden. Ihm fehlte nur die Übung. Sobald er seine Kräfte besser kontrollieren konnte, würde er anfangen, sie zu steigern.

Mit boshaftem Vergnügen betrachtete Logan den schmalen Platinring an seiner rechten Hand. Lange Zeit hatte er sein Verlöbnis für romantische Verblendung gehalten, für eine unwillkommene Ablenkung, auf dem Weg zur Macht. Nun entpuppte es sich als genialer Schachzug. Dem Schicksal war manchmal eine besondere Art von Spott zu eigen. Es spielte mit den Menschen Katz und Maus. Aber die Fäden, die es wob, waren unzerreißbar, ewig. Sie galten für alle Existenzen. Kein Mensch konnte seinem Karma entfliehen. Es ließ sich nicht abschütteln wie Wassertropfen auf dem Gefieder eines Vogels.

Jähe Traurigkeit überkam den Mann. Er liebte seine Braut mit jeder Faser seines Seins. Sie gehörten zusammen. Sie waren füreinander bestimmt.

Logan spürte eine bittere, verzweifelte Qual in seinem Herzen. Um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen, musste er die geliebte Frau täuschen. Er musste sie belügen, benutzen, ihren Geist vergewaltigen, ihren freien Willen ausschalten. Sie war eine Tochter der Mondgöttin. In ihr schlummerte das Wissen, wo der Tempel zu finden war. Er, Logan, musste sie zwingen, ihm den Weg zu weisen. Die Geliebte war sein Opfer auf dem Altar der Macht. Er hatte keine Wahl.

Lohnte sich der Einsatz?

Die Frage war falsch.

Er war Logan, der Verräter. Er würde seine Braut ohnedies verlieren. Sie würde ihn verlassen, sobald sie herausfand, wer er war. Und wer sie war.

Sie hatte sich einmal von ihm abgewandt. Sie würde es wieder tun.

Der Mann in Schwarz stählte sich innerlich für das Kommende. Er ballte seine rechte Hand zur Faust. »Ich werde mir holen, was mir zusteht«, schwor er laut. »Nichts und niemand soll mich davon abhalten, und sei es die Göttin selbst.«

Tausende von Kilometern entfernt erwachte eine Priesterin aus dem Schlaf. Sie wurde Zeugin des blasphemischen Eides.

*

Die Frau trug das schlichte schwarze Gewand einer Priesterin. Ihr langes dunkles Haar fiel wie ein Schleier um ihre Schulter. Das schmale Gesicht wirkte ruhig und konzentriert. Der Blick war nach innen gerichtet. Auf der hohen weißen Stirn schimmerte geheimnisvoll das sichelförmige Mondzeichen.

Die Frau war Ana, die Seherin. Sie war die Rabin, das erwählte Sprachrohr der Göttin. Sie sah die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Gemessen trat Ana an den Rand der Orakelquelle, die tief im Innern der unterirdischen Höhle entsprang. Sie sprudelte aus dem Schoß der Erde in den verborgenen Tempel.

Geheimnisvolle Dämpfe wallten vom Boden auf, erfüllten das Gewölbe mit schweren, aromatischen Düften. Die Priesterin verschmolz mit dem silbrigen Nebel.

Feierlich beugte die Rabin sich vor und schöpfte mit der hohlen Hand das kristallklare Wasser. Mit ritueller Geste benetzte sie Stirn, Augen und Mund, um ihre Gedanken, ihren Blick und ihre Stimme für das Mysterium zu öffnen. Schließlich trank die Seherin drei Schlucke des heiligen Wassers. Es war ein Akt der Reinigung, der die Frau zu einem Gefäß der Göttin machte.

Lange stand Ana reglos vor dem magischen Spiegel. Im Wasser erschienen Gesichter, Gestalten. Sie verschwammen, formten sich zu neuen Bildern. Schließlich wurde die Quelle dunkel. Die schimmernden Dunstschwaden lösten sich auf.

Ana dankte der Göttin für die Offenbarung. Dann schritt sie, noch halb in Trance, zu ihren Schwestern und Brüdern.

Die Hüter des heiligen Schreins warteten geduldig in einem unterirdischen Refektorium, das von bunt bemalten Säulen getragen wurde. Die Männer und Frauen stammten aus verschiedenen Ländern der Erde. Ihre ruhigen Gesichter zeugten von Reife, von Weisheit und einer großen inneren Gelassenheit, wie sie nur der Wunschlosigkeit entspringen kann. Mit Resignation, die das Alter oft mit sich bringt, hatte das nichts zu tun. Ungebrochene Vitalität ging von diesen Menschen aus. Sie waren Kämpfernaturen, belastbar und unbestechlich.

Mit zeremonieller Gebärde hob Ana die Arme, eine hoheitsvolle dunkle Gestalt. »Wir müssen die junge Hohepriesterin rufen«, verkündete sie mit getragener Stimme.

Ein weißhaariger alter Mann im grauen Priestergewand zuckte unmerklich zusammen. Ein Anflug von Betroffenheit erschien auf seinen faltigen Zügen.

»Amira wird sich also nicht mehr erholen«, stellte er bekümmert fest.

Die Rabin sah ihn teilnahmsvoll an. »Sie wird die Nacht der Sommersonnenwende nicht überleben«, bestätigte sie traurig.

Renzo fuhr mit der Hand über seine brennenden Augen. Ihn schmerzte die bevorstehende Trennung von der Frau, die seit über einem halben Jahrhundert seine Gefährtin war. Sie liebten sich. Sie hatten drei Kinder großgezogen und ihre Pflichten in der Gesellschaft draußen erfüllt. Später waren sie dem Ruf gefolgt, um gemeinsam der Göttin zu dienen: er, Renzo, als Bewahrer der Weisheit, und Amira als Hohepriesterin. So wie es ihnen seit Anbeginn der Zeit bestimmt war.

Der Greis senkte demütig den Kopf. »So sei es also«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Aus der Mutter sind wir geboren, zur Mutter werden wir zurückkehren. Ich wünschte nur, Amira und ich dürften den Weg gemeinsam antreten.«

»Sei unbesorgt, Bruder. Ihr werdet den Weg gemeinsam gehen.«

»Der Göttin sei Dank.« Das runzlige Gesicht leuchtete auf. Der alte Priester fühlte sich getröstet, glücklich. Er fürchtete den Tod nicht. Der Tod war nichts Endgültiges. Er war lediglich der Übergang zu einem neuen Leben. Das Rad der Wiedergeburten drehte sich endlos weiter.

»Wir werden auch den jungen Bewahrer der Weisheit rufen«, ergänzte die Rabin mit ruhiger Stimme. »Ich sehe Gefahr. Er, dessen Namen wir aus unseren heiligen Büchern getilgt haben, hat sich erinnert.«

Im Refektorium herrschte betroffenes Schweigen.

»Er wird kommen, um das heilige Schwert der Göttin zu rauben«, verkündete die Seherin weiter. »Er will Kriege entfachen, die Menschen mit Angst und Gewalt erpressen.«

Unter den Wächtern machte sich Zorn breit.

»Er ist wahnsinnig.«

»Seine Machtgier hat ihn abermals verführt.«

»Er versucht, die kosmische Ordnung zu stören.«

»Seine Strafe war zu mild. Der Frevler verdient das härteste Urteil.«

Der Bewahrer der Weisheit meldete sich zu Wort. »Er, dessen Namen wir nicht nennen, wird den Weg zum Tempel nicht finden«, gab er zu bedenken. »Die Erinnerung daran wurde für alle Zeiten aus seinem Gedächtnis gelöscht. Alle seine Versuche, das Schwert zu holen, werden scheitern.«