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Schillernd, spektakulär, skrupellos – die Revolution um die Macht der Schönheit beginnt!
Camelia, die Favoritin der Belles, ist auf der Flucht. Schnellstmöglich muss sie die kranke Prinzessin Charlotte finden, die spurlos verschwunden ist. Sie soll zur neuen Königin werden und ihre teuflische Schwester Sophia ablösen. Doch Sophia weiß um Camelias Plan und hetzt ihre Soldaten auf die flüchtige Belle. Der treue Rémy weicht Camelia nicht von der Seite, aber da ist auch immer noch Auguste, der ihr einfach nicht aus dem Kopf will - obwohl er ihr das Herz gebrochen hat. Doch Camelia darf nicht der Vergangenheit nachtrauern, denn ihre Feinde lauern überall, sogar an Orten, an denen sie sie am wenigsten erwartet …
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Schillernd, spektakulär, skrupellos – die Revolution um die Macht der Schönheit beginnt!
Camelia, einstige Favoritin der Belles, ist auf der Flucht. Die Intrigen und Machtspielchen am nach außen hin glitzernden und glänzenden Königshof hat sie hautnah miterlebt. Nun muss sie Charlotte finden, die Schwester von Prinzessin Sophia, um Orléans vor deren tyrannischer Herrschaft zu retten. Dabei weiß Camelia noch nicht einmal, ob Charlotte überhaupt noch am Leben ist. Immer an ihrer Seite ist der treue Rémy, aber auch Auguste will ihr einfach nicht aus dem Kopf – obwohl er ihr das Herz gebrochen hat. Doch Camelia darf nicht der Vergangenheit nachtrauern, denn ihre Feinde lauern überall, sogar an Orten, an denen sie sie am wenigsten erwartet …
© Navdeep Singh
Dhonielle Clayton wuchs in Washington, D.C. auf und verbrachte die meiste Zeit mit einem Stapel Bücher unter dem Tisch ihrer Großmutter. Bevor sie vom Lesen zum Schreiben wechselte, arbeitete sie als Lehrerin und Bibliothekarin. Neben der Leidenschaft für Bücher liebt sie das Reisen, vor allem außerhalb der USA. Wenn sie nicht unterwegs ist, lebt sie in New York City, wo sie immer auf der Suche nach dem besten Stück Pizza ist.
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Viel Spaß beim Lesen!
Für all die wütenden Mädchen.Mit euch ist alles in Ordnung.
Schönheit ist Blut und Knochen und Souveränität; ein perfektes Lächeln ist ihre größte Waffe.
Orléanisches Sprichwort
Die Göttin der Schönheit wählte die erste Königin von Orléans. Schönheit suchte nach der einen Frau, die ihr heiligstes Geschenk wertschätzen würde – die Belles. Die Göttin wusste, dass es ihr nicht mehr lange möglich sein würde, zwischen dem Himmel und der Erde hin und her zu reisen. Die Spannungen zwischen den Göttern erforderten, dass sie sich für ein Reich entschied. Sie schuf eine Reihe von Tests – die Schönheitsprüfungen –, um die Frau mit den richtigen Qualitäten zu finden. Diejenige, die niemals eifersüchtig sein würde. Diejenige, welche die Sicherheit der Belles über alles stellen würde. Als Königin Marjorie aus dem Haus Orléans als Siegerin aus den Prüfungen hervorging, schwor sie, dass sie und ihre Nachkommen die Belles für immer als einen Teil der Göttin der Schönheit selbst verehren würden; sie behandeln, als wären sie so zerbrechlich und kostbar wie die Blütenblätter einer immerwährenden Rose.
Aus der Geschichte von Orléans
Maman hat mir nie erklärt, was ich tun soll, wenn die Welt auseinanderfällt wie ein Kleid, das an den Nähten reißt, bis die Perlen daran in weit entfernte Ecken rollen, der Stoff nur noch ein Sturm aus zerrissenen Fetzen, die zerstört und unkenntlich zurückbleiben. Sie hat mir nie gesagt, wie ich mich der Albträume erwehre, die sich einschleichen wie eisige Schatten und hinter den geschlossenen Lidern verweilen. Sie hat mir nie gesagt, was ich tun soll, wenn alle Farben aus der Welt strömen wie Blut aus einer tödlichen Wunde.
Sie hat mir einen Spiegel gegeben, um die Wahrheit zu erkennen. Ich umklammere ihn; das Glas liegt warm in meiner Handfläche.
Doch was passiert, wenn das Spiegelbild, das ich sehe, hässlich ist, und ich nichts anderes will, als alles anzuzünden, und Maman nicht hier ist, um mir zu helfen?
Die letzten drei Tage sind ein chaotisches Durcheinander, wie ein Télé-trope in ständiger Bewegung – der Palast, Sophias Verlies, die erwachende Charlotte, und Arabella, die uns mit falschen Papieren hilft.
»Hörst du mir zu?«, blafft Edel. »Du starrst seit fast einem vollen Stundenglas aus dem Fenster.«
Ich wirbele nicht herum, um mich meiner Schwester in dem kleinen Pensionszimmer zuzuwenden, in dem wir aufeinandersitzen. Ich konzentriere mich auf die Sonne, die gerade hinter einer Reihe von Läden auf der anderen Straßenseite verschwindet und beobachte, wie sie den Himmel in den Farben eines Pfauenschwanzes färbt. Sonnenuntergänge sind so weit im Süden viel schöner. Es fühlt sich an, als lägen die Gewürzinseln am äußersten Rand der Welt und ständen in Gefahr, einfach auf dem Meer davonzutreiben.
Ich drücke meine Nase gegen das eiskalte Glas; der Wind der kalten Jahreszeit versucht, sich seinen Weg durch den Rahmen zu bahnen. Ich wünschte, er würde seine gefrorenen Finger um mich schlingen und mein Inneres kühlen. In der Ferne berühren sich die Inseln fast an der Bay de la Croix, und die Hauptstadt Metairie überstrahlt die Inseln wie eine riesige Hauslaterne draußen auf See, um die Schiffe sicher in ihre Nähe zu lenken. Goldene Brücken verbinden die vier Inseln und leuchten wie Feuerwerk, als die abendlichen Bogenlaternen entzündet werden. Prunkvolle Flusskutschen gleiten unter ihnen übers Wasser. Das Licht glänzt auf ihren vergoldeten Rahmen. Große Gewürzplantagen, auf denen weitläufige, weiße Herrenhäuser über Felder voller Minze, Zitronenmelisse, Lavendel und Salbei hinwegsehen, erstrecken sich in alle Richtungen. Wachstumslaternen gleiten über die Kulturpflanzen wie papierdünne Bienen, gefüllt mit Sonnenschein und Nährstoffen.
Dieser Ort vermittelt mir sogar ein noch seltsameres Gefühl als der Palast – so anders als unser Zuhause. Früher einmal wollte ich jede noch so entlegene Ecke dieser Welt sehen. Doch jetzt denke ich nur darüber nach, wie es wäre, Orléans brennen zu sehen – zu beobachten, wie jede Insel sich in Asche verwandelt, während Wolken dichten Rauches den Himmel und die Sonne verdunkeln und das Meer sich von den verbliebenen Trümmern schwarz färbt. Würden die Götter eingreifen?
Ich sehe auf die Karten hinunter, die auf dem Tisch verteilt liegen. Meine Schaubilder der Handelswinde. Die Grundlagen meiner Theorien, wie weit Prinzessin Charlotte gekommen sein könnte, wenn sie nach Westen in Richtung der Glasinseln geflüchtet oder vielleicht nach Osten um die Reichsinsel herumgesegelt ist.
Von Frust getrieben werfe ich die Kompassrose durch den Raum, die Rémy mir gegeben hat. Sie landet mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden.
Edel hebt sie auf. »Camille, ich muss dir etwas zeigen!« Sie schaut über meine Schulter auf die Karten. »Komm schon. Du weißt nicht mal, ob Charlotte es in dieser Nacht aus dem Palast herausgeschafft hat.«
»Rémy hat gesagt, der private Schoner der Königin wurde gesichtet. Wer sollte das sonst gewesen sein?«
»Ein Dieb? Piraten? Ein paar betrunkene Höflinge, die aufs falsche Boot geraten sind?«
Ich schnaube. »Er hat gesagt, niemand weiß, wer sich darauf befand.«
»Aber du setzt all deine Hoffnungen auf ein Mädchen, das vier Jahre lang bewusstlos war.«
Edel berührt meine Schulter und ich zucke zusammen.
»Deine Haut ist heißer als eine Herdplatte«, sagt sie. »Bist du krank?«
Ich will ihr sagen, dass in meinem Bauch inzwischen unaufhörlich ein Feuer brennt, die Flammen angefacht von meiner Wut.
»Und deine Finger sind kalt wie Eis«, antworte ich.
Ich ziehe ihr den Kompass aus den Fingern und zeichne eine weitere, mögliche Route nach, die Charlotte gewählt haben könnte und die sie nördlich über die Reichsinsel hinausgeführt hätte. »Sie hat gehustet und war im Begriff, aufzuwachen, als Ambra und ich aus dem Raum geeilt sind.«
»Lass uns Charlotte vergessen und den Palast stürmen. Wir könnten Sophia selbst bezwingen.«
»Und was dann? Über Orléans herrschen?«
Edel kaut an ihrer Unterlippe. »Vielleicht.«
»Wenn Charlotte Königin ist, dann kann sie Orléans wieder zu dem machen, was es einmal war. So, wie Königin Celeste es wollte.«
»Ich will nicht zurück. Ich werde nicht noch mal in einem Teehaus arbeiten. Ich werde mich nicht zwingen lassen …«
Ich ergreife ihre Hand und sie schluckt den Rest des Satzes herunter. »Wir müssen hoffen. Wenn wir Charlotte finden und sie in den Palast zurückbringen können, dann kann sie ihre Schwester zur Rede stellen. Sie kann all dem ein Ende bereiten.« Ich ziehe Edel an mich. »Dann werden wir einen anderen Weg finden, wie es weitergeht … ein anderes Leben für uns. Ich verspreche es.«
»Schön, schön«, murmelt Edel leise und löst sich von mir. »Aber ich möchte dir etwas Wichtigeres zeigen … etwas, was uns helfen wird, wenn wir diesen Ort verlassen.« Sie wirkt angespannt und wirft nervöse Blicke zur Tür. »Ich habe abgewartet, bis wir einmal allein sind.«
»Was ist es?« Ich wende mich von den Karten ab.
»Schau her.« Edel schließt die Augen und konzentriert sich so heftig, dass es aussieht, als wolle sie jeden Moment ein goldenes Ei legen. Adern schwellen unter ihrer hellen Haut und Röte breitet sich über ihre Wangen aus. Das fahlblonde Haar an ihren Schläfen wird dunkel vor Schweiß. Tropfen bilden sich auf ihrer Stirn wie Perlen einer Kette. Ihr Haar wird Zentimeter für Zentimeter länger, bis es ihr bis zur Hüfte fällt, dann wechselt es die Farbe zu Mitternachtsschwarz.
Ich schiebe mich nach hinten, bis ich gegen den winzigen Käfig mit den schlafenden Miniatur-Drachen stoße. Sie schnattern alarmiert. »Wir sollen das eigentlich nicht können!« Ich schlage die Hand vor den Mund.
»Ich nenne es das vierte Arcana – Glamour.« Sie ergreift meine zitternden Finger und schiebt sie in ihr Haar. Es ist noch immer so fein wie sonst, doch die Farbe ist vollkommen fremd.
»Unsere Gaben sind für andere …« Mein Herz schlägt wie wild in meiner Brust. Meine Arcana summen unter meiner Haut, voller Eifer, diesen gefährlichen Trick zu erlernen und damit zu experimentieren; tausend Möglichkeiten schießen durch meinen Kopf.
»Nein. Diese Gabe … sie ist für uns. So …«, setzt Edel an.
»Werden wir Sophia und ihre Wachen überlisten«, schalte ich mich ein. »Und Charlotte finden.«
Das Gefühl, dass wir eine Chance auf Erfolg haben, sinkt tief in meine Knochen ein und verbindet sich mit der Wut, die dort lebt. Ich habe mein Leben darauf ausgerichtet, das Unerwartete zu tun und alles zu wollen – die Favoritin zu werden, die talentierteste Belle zu sein, mitzubestimmen, was es in Orléans bedeutet, schön zu sein – und jetzt wird mir die Chance präsentiert, das Unvorstellbare zu tun … begleitet von Gefahren, die vielfältiger sind als alles, was ich mir vorstellen kann. All das facht meinen Ehrgeiz weiter an.
Ein breites Grinsen erscheint auf Edels Gesicht. Sie atmet tief durch und der Mitternachtston ihres Haares hellt auf, als erhebe sich die Sonne hinter jeder Strähne.
»Wie hast du das gelernt?«
Sie wirft einen schnellen Blick zur Tür. »Es war ein Unfall. Madam Alieas hat mich angeschrien … mir all die Dinge aufgezählt, die ich falsch gemacht habe. Sie hat mich angeblafft, dass ich freundlicher sein muss und dass sie sich wünschte, sie hätte statt meiner Valerie bekommen. Ich habe mein Haar um meinen Finger gewickelt.« Sie hebt eine Strähne. »Wurde wütender und wütender, habe an unsere Schwester gedacht, und plötzlich hat die Strähne die braune Färbung von Valeries Haar angenommen.«
»Wie fühlt es sich an?« Erneut streiche ich über Edels Haar und es schrumpft auf seine übliche Schulterlänge.
»Erinnerst du dich, wie wir uns vor dem ersten Schnee aufs Dach geschlichen haben? Unsere Fingernägel haben sich purpur und blau verfärbt. Der Wind ist in unsere Nachthemden gefahren, bis das Gewebe kalt wurde wie Eis.«
Ich nicke, als die Erinnerung in mir aufsteigt. Wir alle auf dem Dach, nachdem Du Barry und unsere Mütter eingeschlafen waren. Wir haben darauf gewartet, dass die Wolken ihre Kristalle freigeben, weil wir die Schneeflocken mit der Zunge auffangen wollten und sehen, wie weiße Akzente auf den Baumwipfeln des dunklen Waldes hinter unserem Haus erscheinen.
»So kalt fühlt es sich an. Zuerst bin ich in Panik verfallen. Ich dachte, es ist nicht real. Ich dachte, meine Arcana-Pegel wären niedrig und meine Augen würden mir einen Streich spielen. Also habe ich mit verschiedenen Bereichen meines Haars experimentiert.« Sie wandert vor mir im Kreis herum. »Habe Locken oder Strähnchen hinzugefügt und getestet, wie lange ich die Veränderung halten kann.«
Mein Magen verkrampft sich. Ungetestete Aspekte des Arcana auszuprobieren, ist, als versuche man, einen Wintersturm in einem Zaumzeug einzufangen. »Bist du krank geworden?«
»Nasenbluten, Kopfweh, Schüttelfrost.«
»Vielleicht sollten –«
Sie hebt eine Hand, wie um meiner Sorge Einhalt zu gebieten. »Das alles hat nachgelassen, als ich stärker wurde. Es braucht nur Übung. Ich bin von meinem Haar zu Aspekten meines Gesichts übergegangen.«
»Schwächt es dich, wie es bei Schönheitsanwendungen der Fall ist?«
»Ja. Ich nutze die Sangsue-Egel. Und Schokolade hilft mir, einen Glamour länger zu halten und mich danach besser zu fühlen.« Edel ergreift meine Hand. »Schnell. Lass es mich dir zeigen.«
Ich lege mich auf die dünne Matratze, die Edel, Ambra und ich uns teilen. Die Sprungfedern bohren sich in meinen Rücken. Mamans Spiegel liegt an seiner Kette ein kleines Stück unter meinem Brustbein. Ich drücke meine Hand darauf, weil ich mir wünsche, seine Wahrheit und seine Weisheit würden auf mich übergehen … mich erfüllen und mir das Gefühl vermitteln, Maman wäre noch hier, bereit, an meiner Seite zu kämpfen. Was würde sie von alledem halten? Den Dingen, die ich getan habe. Den Dingen, die ich tun werde.
»Schließ die Augen«, weist Edel mich an.
Ein Zittern läuft durch meinen Körper.
Edel schiebt mir die Locken aus der verschwitzten Stirn. Fühlen sich unsere Kunden so auf unseren Behandlungstischen? Klein, entblößt, verletzlich?
Sie hält meine zitternde Hand. »Hast du Angst?«
»Ich bin wütend.«
»Gut. Das wird dich stark machen.« Ihre weichen Finger gleiten über meine Augenlider, um sie zu schließen. »Jetzt denk daran zurück, wie wir kleine Mädchen waren und zum ersten Mal den Umgang mit unserem zweiten Arcana gelernt haben. Du Barry hat uns dazu gebracht, uns unsere Kunden wieder und wieder wie Gemälde oder Skulpturen vorzustellen. Erinnerst du dich?«
»Ja.«
»Versuch stattdessen, dich selbst zu sehen.«
Du Barrys Warnungen meiner Kindheit hallen scharf in meinem Kopf wider: »Belles dürfen niemals eitel sein, weil die Göttin der Schönheit diejenigen bestraft, die ihre Geschenke horten. Die Arcana sind Gefälligkeiten der Göttin der Schönheit, um zu ihren Diensten eingesetzt zu werden.«
Ich verdränge ihre Worte, vergrabe sie zusammen mit dem Rest der Lügen tief in mir.
Edel drückt meine Schulter. »Geh zurück in die Maison Rouge. Du wirst sehen.«
Ich atme tief durch, entspanne meine Muskeln. Edel beschreibt das Zuhause, in dem wir unser gesamtes Leben verbracht haben, bis wir letztes Jahr sechzehn geworden sind. Die fahlweißen Bäume, die aus dem Bayou aufragen wie Knochen, die Gitter in Rosenform vor den Fenstern, die in Purpur und Gold tapezierten Wände, die zu den Unterrichtsräumen führen, die Altersgemächer mit ihren Terrarien voller sterbender Blumen und den Schalen voller verrottender Früchte, die Aura-Räume mit ihren Behandlungstischen und Belle-Produkten, die Kinderstube voller weinender Babys, der schwarze Wald – ein Schatten hinter unserem Haus.
»Du verspannst die Muskeln«, sagt Edel und streichelt mir über die Wange. »Lass die Arcana erwachen. Konzentrier dich ganz darauf.«
Bei der Erwähnung des Wortes Arcana spüre ich die Macht in mir pulsieren. Sie hebt sich, um meinem Verlangen zu folgen. Alle drei Gaben – Auftreten, Aura und Alter – sind Fäden in mir, fähig, bereit und eifrig darauf bedacht, gezogen und nach meinem Willen geformt zu werden.
Die Adern in meinen Händen schwellen unter meiner Haut an. Meine Nerven prickeln vor Energie.
»Stell dir dein eigenes Gesicht vor«, flüstert Edel. »Dein lockiges Haar und deine hohe Stirn. Deine vollen Lippen. Deine Haut hat die braune Farbe der Mondpasteten mit Mandeln, die Rémy uns heute Morgen zum Frühstück gebracht hat.«
Wenn ich Kunden zur Schönheitsarbeit empfing, breitete sich immer eine vertraute Wärme in mir aus, als hätte jemand eine Kerzenflamme über meine Haut geführt. Doch jetzt erfüllt mich allumfassende Kälte. Meine Zähne klappern und meine Muskeln zittern.
»Es ist in Ordnung. Mach weiter«, sagt Edel. »Ändere deine Haarfarbe, bis sie sich einer der scharlachroten Bellerosen im Wintergarten unseres Zuhauses anpasst – die mit Blütenblättern so groß wie Teller.«
Die Blume erscheint neben dem Bild meines eigenen Gesichts in meinem Kopf. Ihre Farbe geht auf meine Strähnen über, windet sich um die einzelnen Haare wie Bänder aus Blut. Kopfschmerz pulsiert in meinen Schläfen. Meine Atmung kommt stoßweise, als wäre ich gerade eine Wendeltreppe hinaufgelaufen.
»Es funktioniert«, sagt sie.
Ich setze mich auf.
»Verlier nicht die Konzentration.«
»Wieso fühlt es sich so an?«, frage ich atemlos.
»Ich weiß es nicht. Aber du schaffst es.« Edel kramt in der Schönheits-Caisse herum, die Arabella uns mitgegeben hat, zieht einen kleinen Spiegel heraus und drückt ihn mir in die Hände. »Schau!«
Ich sehe hinein. Die krausen Locken um meinen Kopf zeigen ein leuchtendes Rot … wie bei Ambra, wie bei Maman. Ich spiele mit einer Locke und winde sie um meinen Finger, um sie genauer zu betrachten.
»Wie lang hält es?« Ich verziehe wegen der Kälte das Gesicht. Sie erfüllt meine Knochen, ein ausstrahlender Schmerz, der mein Inneres zerreißt.
»So lange, wie du das Bild in deinem Kopf halten kannst und deine Arcana-Pegel stabil bleiben. Wenn ich ausgeruht und konzentriert bin, ist es mir gelungen, die Veränderungen fast fünf Stundengläser lang zu halten«, prahlt Edel. »Aber ich weiß, wenn ich mich richtig anstrenge oder Bellerosen-Tee oder -Elixier trinke, könnte ich noch länger durchhalten.«
»Ich kann mich nicht länger konzentrieren.«
Das Rot verblasst und das gewohnte Braun erscheint. Ich sacke auf dem Bett zusammen.
Die Tür wird aufgerissen. Ambra marschiert in den Raum, ihre Gegenwart wie ein Erdbeben. Rote Haare spähen unter ihrer Kapuze hervor.
Edel steht auf. »Du bist früh zurück.«
»Es waren zu viele Wachen unterwegs und ich kann die Maske nicht finden, die du mir gegeben hast«, erklärt Ambra, dann lässt sie den Blick durch den Raum schweifen. »Was ist los?«
»Edel hat mir beigebracht, wie …«, setze ich an.
»Wie wir unsere Arcana schnell erfrischen können.« Edel starrt mich streng an.
Ich schürze die Lippen und schenke ihr einen verwirrten Blick.
»Wo ist Rémy?«, fragt Edel, als sie nach einer Porzellanschüssel auf einem nahe stehenden Tisch greift und zwei zuckende Sangsues herauszieht. Sie legt einen Egel wie ein Armband um mein Handgelenk und sagt leise: »Erzähl ihr nichts.«
»Er macht seine Runde, bevor er nach oben kommt.« Ambra eilt zum Drachenkäfig und hebt die Decke. Die Tiere liegen ineinander verschlungen da. Sie erinnern mich an juwelenbesetzte Armbänder aus Perlen, Smaragden, Saphiren, Rubinen und Gold. »Ich habe ihnen ein wenig Schweinefleisch gebracht. Und ich habe diese schönen Halsbänder gefunden.« Sie lässt die Bänder von ihren Fingern baumeln, bevor sie sie vor den Käfig legt.
»Wieso hast du Geld darauf verschwendet?«, blafft Edel. »Du solltest Haarfarbe für uns alle kaufen.«
»Das habe ich.« Sie zieht zwei dickbäuchige Krüge aus ihrer Manteltasche und wirft einen davon Edel zu.
Edel fängt ihn.
»Sie hatten nur noch Grün.«
»Das hilft uns sicher dabei, nicht aufzufallen«, antwortet Edel sarkastisch.
»Die ganze Stadt leidet an einem Mangel von Belle-Produkten, seitdem die Teehäuser geschlossen wurden. Und die Verkäuferin hat mir einen Nachlass auf die Halsbänder gegeben. Die Drachen brauchen Leinen für ihr Training.« Ambra reicht mir einen zerknitterten Zettel. »Habe ich auf dem Tisch im Foyer gefunden.«
Meine Augen spähen zu mir auf. Mein Blick wirkt gehetzt. Das animierte Porträt zeigt nacheinander meine bekanntesten Aufmachungen: Mit meinem Haar im typischen Belle-Dutt voller Kamelienblüten, ein weiteres Bild, wo ich mein Haar in einer großen, lockigen Wolke offen um meinen Kopf trage, und ein letztes, in dem die Locken geglättet sind und auf meinen Schultern aufliegen. Der Text darunter nennt uns gefährlich, verschlagen und erklärt uns zu Verrätern an der Krone. Sophia hat 850.000 Leas und 275.000 Spintria für unsere Ergreifung ausgesetzt. Diese Summe würde jemanden sofort zu einer der reichsten Personen in ganz Orléans machen, bereit, sich dem Kreis der Oberschicht des Königreichs anzuschließen.
GESUCHT: LEBEND UND IN GUTEM ZUSTAND.
VERWENDUNGSFÄHIG.
Was soll das bedeuten? Sind wir Vieh, das auf dem Weg zu den Schlachthäusern auf der Insel Quin ist?
Ambra stellt frisches Essen in den Käfig der Miniatur-Drachen, dann lässt sie sich auf einen der Holzstühle fallen. »Ich hasse diesen Ort.«
Edel fängt an zu husten. »Ich brauche Wasser«, sagt sie.
»Bist du krank?«, fragt Ambra.
»Durstig«, antwortet Edel. »Könntest du etwas holen?«
»Wieso kannst du das nicht selbst machen?« Ambra zieht misstrauisch die Augenbrauen hoch.
»Du holst immer das Wasser. Du weißt, wie die Hauspumpen funktionieren.« Sie starren sich an. »Außerdem bin ich nicht angezogen und du schon.«
»Ambra, bitte. Die Drachen brauchen auch etwas«, füge ich hinzu.
Mit einem Schulterzucken verlässt sie den Raum.
Sobald die Tür sich geschlossen hat, hört Edel auf zu husten und wendet sich mir zu. »Erzähl ihr nicht vom Glamour.«
»Warum?«, frage ich. Edels Misstrauen gegenüber Ambra trifft mich wie ein Schlag.
»Sie ist im Moment zu schwach, um es zu probieren. Wir sollten warten, bis wir genau wissen, wie es funktioniert. Wir waren beide immer stärker und experimentierfreudiger als sie.«
»Aber wir müssen es ihr bald zeigen.« Ich mustere Edel.
»Natürlich«, antwortet Edel, doch ohne mir dabei in die Augen zu sehen. »Wenn die richtige Zeit gekommen ist.«
Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, als ich vorsichtig aus dem Bett gleite und mich anziehe, um auszugehen. Rémy dreht eine seiner nächtlichen Wachrunden. Ich spare mir die Mühe, das kalte Wasser in unserer Waschschüssel zu verwenden, weil ich fürchte, Ambra und Edel zu wecken. Ich gewöhne mich langsam an den Schmutz. Die Erinnerungen an Onsen voller löwenfüßiger Badewannen und Seifen in Rosenform und süßen Ölen und Honig-Peelings, während Parfüm-Zeppeline duftende Spuren durch den Raum ziehen und Schönheitslaternen uns mit perfektem Licht bescheinen, erinnern an Wolken, die aufs Meer hinausziehen, um nie wieder gesehen zu werden.
Ich lege die Augenfolien ein, die Arabella uns gegeben hat, und blinzele, bis sie ihren Platz finden und ich den Raum wieder sehen kann. Wir haben einen synchronisierten Lebensrhythmus entwickelt, wie die tanzenden Koi-Karpfen, die in unserem Springbrunnen in der Maison Rouge lebten: Ambra holt jeden Morgen Wasser von den Hauspumpen und schnorrt sogar kleine Stücke Limonenseife, damit wir zumindest versuchen können, uns zu säubern; Edel hält den Raum sauber, indem sie jeden Nachmittag den Besen der Hausdame stiehlt; Rémy beobachtet jede Bewegung in und außerhalb der Pension; und ich kümmere mich um die Miniatur-Drachen, bringe ihnen bei zu fliegen und besorge unser Abendessen.
Manchmal fühlt es sich an, als könnten wir ewig so weitermachen, wenn wir das wollten. Von Pension zu Pension ziehen, um den königlichen Wachen zu entgehen. Uns umeinander kümmern. Mit der normalen Bevölkerung von Orléans verschmelzen und unentdeckt leben. Doch mein Verlangen, Sophias Niedergang herbeizuführen, ist ein geflüsterter Refrain in meinem Kopf, der mich ruhelos macht – als wüssten meine Glieder und mein Herz, dass dies nicht der Ort für uns ist. Dass ich mich Sophia stellen muss. Dass ich dafür sorge, dass sie für das, was sie getan hat, bezahlen muss. Dass ich tun muss, was Königin Celeste gewollt hätte.
Ambra und Edel liegen immer noch in einem Knäuel aus Gliedern und Decken auf dem Bett, das wir uns teilen. Mir bleiben nur ein paar Augenblicke, um durch die Vordertür der Pension zu gleiten, bevor Rémy zurückkehrt. Ich schleiche die Treppe nach unten, wobei ich sorgfältig darauf achte, die quietschenden Holzbohlen auszulassen. Das ist das dritte Mal, dass ich mich seit unserer Ankunft hier nach draußen schleiche.
Im Hauptsalon gleiten ein paar Nachtlaternen über den Boden. Drei Miniatur-Katzen wandern auf der Suche nach Krümeln über die Tische. Eine miaut mich an.
»Shhh«, flüstere ich. »Bring meinen Plan nicht durcheinander.«
Ich binde die Bänder der Maske, die Edel mir gegeben hat, am Hinterkopf zusammen. Sie besteht aus dickem, schwarzen Samt mit Spitze daran und legt sich um die Konturen meines Gesichts und Halses wie ein weicher Handschuh. Schützt garantiert jedes Make-up vor den Wettereinflüssen der kalten Jahreszeit. Und die Maske schützt auch die Identität. Die Winde aus Süden machen solche Masken hier sehr beliebt und schaffen so die perfekte Voraussetzung, sich zu verstecken.
Ich öffne den Riegel der Vordertür und schließe sie sanft hinter mir.
Ein morgendlicher Nebel bedeckt die Stadt, hüllt die Gebäude in einen Schleier. Am Tag, nachdem Maman gestorben war, sah die Welt vor den Fenstern der Maison Rouge genauso aus. Durch die rosenförmigen Gitter beobachtete ich, wie der dunkle Wald Regenwolken einfing und sie vom Himmel nach unten zog. Ich habe mir die Tropfen immer als die Tränen der Göttin der Schönheit vorgestellt – vergossen, weil ein weiteres ihrer Geschenke an die Welt gestorben war. Ich wollte aus der Hintertür laufen und tiefer in den Wald eindringen, als es uns je erlaubt worden war, wollte schreien, dass Maman zurückgebracht werden sollte, und darauf warten, dass die Göttin der Schönheit mir antwortete.
Ich sehe zum erwachenden Himmel auf. Die pflaumenblaue Dunkelheit bricht auf wie ein Ei, aus dem Bänder aus Orange und Gelb und allen Farben dazwischen herausdringen.
»Bist du dort oben, Schönheit?« Ich warte darauf, ihre Stimme vom Himmel hallen zu hören. »Warst du jemals dort? Oder bist auch du eine Lüge?«
Nichts.
Eine Milchverkäuferin schiebt ihren Wagen über die Straße, in einem Lärmteppich aus klirrenden Gläsern. »Frische Becher zu Euren Morgenpasteten! Holt sie Euch hier!«
Ihr Ruf treibt mich zur Eile an. Als ich das letzte Mal nach draußen geschlichen bin, waren die Straßen leer.
Schwarze Trauerlaternen treiben herum und werfen dämmriges Licht auf die Pflastersteine. Porträts der verstorbenen Königin Celeste blicken von Bannern und Straßentafeln. Der Anblick ihres wunderschönen Gesichts verkrampft mir das Herz. Wie aufgebracht sie über das wäre, was geschehen ist. Ihre Warnungen in Bezug auf Sophia erscheinen im Rückblick prophetisch. Zeppeline schieben sich zwischen hohen Türmen hindurch und Postballons sausen um die größeren Flugobjekte herum. Ihre gewölbten Formen ziehen Dunkelheit und Schatten über das Pflaster.
Eine Frau tritt aus einem Laden.
Mein Herz schlägt wie wild gegen meine Rippen.
Eine Warnung, umzukehren.
Ich ducke mich in eine Gasse, um abzuwarten, bis sie an mir vorbei ist. Sie wird langsamer und hält an, um in meine Richtung zu sehen. Sie trägt eine seltsame Maske, die ihr gesamtes Gesicht, ihren Hals und ihre Brust umschließt und an eine vergoldete Gussform für eine Büste oder Statue erinnert. Das Mondlicht bringt die dünnen Eisenränder und feinen Muster der Maske zur Geltung.
Ich drücke mich tiefer in die Schatten.
Der Lärm der Milchverkäuferin erregt die Aufmerksamkeit der Frau. Sie vergisst ihre Neugier in Bezug auf mich und verschwindet.
Ich sollte in die Pension zurückkehren, doch ich zähle bis zwanzig, um dann mein Versteck zu verlassen und weiterzugehen. Ich biege auf die Reichsmeile ein, die von Metairies königlichen Herrenhäusern ausgeht und an einem der vielen Punkte endet, wo sich die Brücken der Stadt treffen. Schmale Bogenlaternen werfen goldene Lichtstreifen. Ich habe mir unter Rémys Anleitung jede Straße, Allee und Gasse in der Nähe der Pension eingeprägt, unterstützt von seinen hervorragenden Karten. »Du musst wissen, wie du ohne mich hier rauskommst«, sagte er, kaum dass wir angekommen waren. »Sollte irgendetwas geschehen, muss ich wissen, dass du dich zurechtfinden kannst.«
Die Straßentafeln leuchten so früh am Morgen noch nicht, weil meine einsame Anwesenheit nicht ausreicht, sie zu aktivieren. Orléans berühmteste Sängerin starrt mit leuchtenden Augen, einem gefrorenen Grinsen und glänzender, hellbrauner Haut wie Haselnussbutter auf mich herunter. In den Läden hängen Geschlossen-Schilder und ausgebrannte Nachtlaternen schweben über ihren Türen wie unheilvolle Sturmwolken. In ein paar Stunden werden diese Straßen vor Menschen nur so wimmeln.
Ich biege nach rechts ab, in eine Straße, an deren Ende sich ein Parfümladen befindet. Ein Trio exzentrischer pinkfarbener Blüten leuchtet im Schaufenster. Ich bin fast da.
»Hast du dich verlaufen, Liebes?«, zischt eine Stimme.
Ich wirbele herum. Rote Augen leuchten unter einer Kapuze zu mir auf. Die Gris-Frau fletscht ihre gelben, schiefen Zähne zu etwas, was wohl ein Lächeln sein soll, aber eher bedrohlich wirkt.
»Nein«, sage ich so ruhig wie möglich.
Die graue Haut der Frau leuchtet förmlich im Mondlicht. »Hast du Leas übrig?«
»Tut mir leid, ich habe nichts.«
»Du siehst aus, als hättest du Spintria. Die nehme ich auch.«
Ich wünschte, ich hätte etwas für sie. Früher einmal waren meine Taschen voll mit Schönheitsmarken und ich besaß genug Spintria-Beutel, um mühelos tausend Safes damit zu füllen. Doch ihre Worte überraschen mich. Uns wurde gesagt, dass viele der Gris sich entscheiden, so auszusehen, dass der Wahnsinn sie an den Rand der Gesellschaft führt und jedes Verlangen auslöscht, genug Spintria zu verdienen, um sich dem Rest der normalen Gesellschaft anzuschließen.
»Ich habe nichts«, sage ich und eile weiter. Doch sie folgt mir, wirre Worte murmelnd. Angst kribbelt auf meiner Haut. Ich erinnere mich an die erste Gris-Frau, die ich je gesehen habe. Meine Schwestern und ich waren gerade dreizehn geworden und die älteren Mädchen übten in den Unterrichtsräumen die Verwendung ihrer Arcana. Hana und ich haben uns in die Aura-Gemächer geschlichen und uns unter den Behandlungstischen versteckt, als Frauen so grau wie der sturmgepeitschte Himmel in den Raum geführt wurden. Wir haben unsere Gesichter gegen die Tischhussen aus Spitze gepresst, als die Frauen sich über uns legten, ihre Schreie von Mundbandagen unterdrückt. Die abgehakte Melodie ihrer zuckenden Körper wurde durch dicke Lederbänder unterbunden, die sie festhielten, während eine Phiole Belle-Elixier nach der anderen angewendet wurde, in dem Versuch, sie zu beruhigen.
»Nur Spinnen sind so früh unterwegs«, sagt sie und eilt vor mich.
»Lass mich in Ruhe«, flüstere ich scharf.
»Jenseits der Sperrstunden unterwegs«, kreischt sie und wedelt mit einem knorrigen Finger vor mir herum.
»Geh weg.« Ich versuche, mich an ihr vorbeizudrängen. Panik erfüllt meine Adern, als wolle sie die Arcana ersetzen.
Sie schlägt mich ins Gesicht und verschiebt so meine Maske.
Ich beeile mich, sie wieder zurechtzurücken. Mit Mühe unterdrücke ich den schmerzerfüllten, schockierten Schrei, der in meiner Kehle aufsteigt.
»Ich kenne dich. Ich habe dich schon gesehen.«
Die schweren Tritte von Soldatenstiefeln hallen in der morgendlichen Stille wider.
Sie packt mein Handgelenk, gräbt lange Fingernägel in meine Haut. »Du bist die, nach der sie suchen.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Mein Herz rast.
Ihr kehliges Kichern geht in ein Keuchen über. »Wen willst du täuschen?« Sie deutet mit dem Finger auf mich, als ich so weit wie möglich vor ihr zurückweiche. »Wachen! Wachen!«, schreit sie. »Ich werde belohnt werden. Die Reporter haben uns gesagt, dass wir unsere Sterne ändern können, wenn wir angestrengt nach den Flüchtlingen Ausschau halten. Ich habe ihnen nicht geglaubt. Sie erzählen so viele Lügen. Aber jetzt ist es wahr geworden.«
Trotz der kühlen Luft rinnt mir Schweiß über den Rücken. Ich schubse die Frau, doch sie packt mich nur fester. Wir stolpern gegen einen Fensterkasten mit Blumen für die kalte Jahreszeit. Die Arcana zischen förmlich unter meiner Haut. Eine instinktive Erinnerung. Ich rufe die Fasern der Stechpalme, zwinge sie, zu wachsen wie Haar. Die Wurzeln brechen durch die hölzernen Planken der Kiste und ergießen sich auf die gepflasterte Straße. Sie winden sich um die Arme und Beine der Frau, reißen sie von mir weg. Ihre roten Augen bohren sich in meine und sie schreit.
Ich zwinge die Blätter zu wachsen und ihren Mund zu bedecken, um ihren Protest zum Schweigen zu bringen. Sie kämpft, bis sie mit dem Kopf gegen die Wand stößt und das Bewusstsein verliert.
Mein Herz wird schwer. Was habe ich getan?
Ich berühre ihr Gesicht. Kalt. Klamm.
Der Lärm der Soldaten wird lauter. Sie laufen in unsere Richtung.
Sie wollte nicht aufhören, erkläre ich mir selbst.
Ich musste es tun.
Ist sie tot?
Mein Puls rast. Ich biege links von der Reichsmeile ab und laufe den Rest der Allee entlang. Nur bei einem einzigen Laden leuchtet eine Morgenlaterne über dem Glasfenster – das Signal, dass er geöffnet hat. Auf glitzernden, rosenfarbenen Laternen leuchtet das Apotheken-Symbol – eine Schlange, die sich um einen Mörser mit Stößel schlingt. Der Wind wirft sie hin und her wie Ballons.
Meine Nervosität flattert in mir wie winzige Schmetterlinge. Vielleicht deswegen, weil ich erkannt worden bin. Vielleicht, weil ich die Arcana eingesetzt habe. Vielleicht, weil ich das erste Mal direkt mit einer Gris-Person interagiert habe. Vielleicht, weil ich jemanden verletzt habe.
Ich sehe durch das goldumrahmte Fenster. Drei Apotheken-Birnen schwanken und leuchten in verschiedenen Schattierungen zwischen Ozeanblau und Smaragdgrün. Spinnweben umhüllen sie und glitzern im Licht. Tageslaternen schweben durch den Laden. Die Wände sind erfüllt von Farbe, weil auf den Regalen ungezählte Glasphiolen leuchten wie eingefangene Sterne. Ein wunderschönes Schild hängt über dem Türrahmen und verkündet in kursiven Buchstaben: Claibornes Apotheke.
Ich werfe einen Blick über die Schulter auf die leere Straße, bevor ich mich in den Laden schleiche. Der Duft eines knisternden Feuers und medizinischer Pastillen steigt mir in die Nase. Die Mahagoni-Schränke im Raum ziehen sich über drei Stockwerke, unterbrochen von fein geschwungenen, schmiedeeisernen Balkonen und mehreren Wendeltreppen. Auf den Flaschen kleben handgeschriebene Etiketten und Zettel mit Preisen. Viele der Mittel und Essenzen erkenne ich vom Sehen – Fingerhut, Belladonna, Mohn, Lorbeer. Auf anderen Regalen stehen Giftflaschen aus blauem Glas, Gläser mit Bei-Puder, metallene Instrumente – Sägen, Scheren, Messer, Lanzetten – und frei verkäufliche Medikamente, die versprechen Fieber, Geschwüre und andere Krankheiten zu heilen.
Monsieur Claiborne, korpulent und kurz davor, sein Augenlicht zu verlieren, taucht hinter einem Vorhang auf. Seine hellbraune Haut ist mit Sommersprossen und Muttermalen bedeckt, und ich frage mich, warum er sich entschlossen hat, so viele zu tragen. »Bist du das, kleine Blume?«, fragt er. Der Klang seiner Stimme beruhigt mich.
»Was, wenn ich Nein sage?«, antworte ich.
»Ich würde sagen, dass jemand in deiner Haut herumläuft. Du besitzt ein natürliches Parfüm. Anders als unseres. Du solltest dir überlegen, ob du es mit Duftkugeln überdeckst. Le Nez sollte bald die neuen Düfte für dieses Jahr veröffentlichen. Wenn du das nicht tust, könntest du von einem Soldaten mit feiner Nase erwischt werden.« Seine Lippen heben sich zu einem Lächeln. »Aber keine Sorge, ich habe mehrere neue Rezepte, wenn du sie dir mal ansehen willst.«
»Ihr hättet mich schon vor Tagen ausliefern können«, sage ich.
»Wieso sollte ich das tun?«
»Die Belohnung«, halte ich dagegen und nehme meine Maske ab.
»Ich brauche keine Leas. Mein Vater hat mir Geld und diesen Laden hinterlassen. Was ich brauche, ist eine Herausforderung – und die hast du mir geliefert. Das ist eine einmalige Chance zur Forschung. Zusätzlich würde meine Ehefrau – wenn sie wach wäre – das niemals zulassen. Sie hat sich immer danach verzehrt, mehr Zeit mit den Belles zu verbringen. War von eurer Art immer fasziniert. Ich glaube, jede Person auf der Welt glaubt irgendwann einmal, dass sie gerne mit euch allen tauschen würde.«
»Nur, weil sie die Wahrheit nicht kennen.«
»Was ist schon noch Wahrheit – mit Zeitungen, die von Lügen profitieren und Menschen, die versuchen, sich gegenseitig zu übertrumpfen? Die Wahrheit ist, was auch immer man als solche verkauft.« Er dreht sich pfeifend um. Sein Miniatur-Pfau stolziert über den Tresen und legt goldene Leas-Münzen in die Schalen einer Waage. »Gute Arbeit, Sona. Gut gemacht«, lobt Claiborne.
Ich rolle meine Ärmel hoch, bevor er mich darum bitten kann. »Ihr müsst Eure Fensterbirnen abstauben. Sie sind voller Spinnweben.«
»Spinnen sind hier immer willkommen«, sagt er. »Nun … zum Grund deines Besuches.« Er gräbt in einem der Schränke unter dem Tresen herum und zieht eine kleine Holzkiste hervor. Er öffnet sie, sodass die Nadeln darin im Licht glänzen. »Ich habe ein paar nicht so gute Neuigkeiten für dich, kleine Blume. Ich liebe dieses Rätsel, doch es ist schwer zu lösen.«
Ich seufze enttäuscht.
»Nun … es ist eine Herausforderung meiner Präzision … und ich war immer präzise. Die Gegenstände in meiner Apotheke halten Versprechen und ich will, dass dieses Tonikum deinen Wünschen gerecht wird. Ich habe Nachtschatten und Schierling – sogar ein wenig Strychnin-Extrakt – mit deinem Blut gemischt und festgestellt, dass unser Elixier weiterhin instabil ist. Zu wenig von meinem Tonikum und es hat keinen Einfluss auf die Arcana-Proteine in deinem Blut. Zu viel und es tötet sie und jedes andere gesunde Protein in der Nähe.«
»Was sollen wir tun?« Ich versuche, die Verzweiflung aus meiner Stimme herauszuhalten, als ein Teil meines Plans zu einem Postballon wird, der in die falsche Richtung davonfliegt und sich nicht mehr einfangen und neu verschicken lässt.
»Lass mich dir erst das Rätsel zeigen.« Er klemmt ein Monokel in sein linkes Auge, dann zieht er ein Optiskop von einem Regalbrett in seiner Nähe. Der Apparat erinnert an ein großes Glorioskop – ein schlankes Ende, um hineinzuschauen, während sich das andere Ende verbreitert wie ein mit Glas gefülltes Horn. »Bereit?«
Ich nicke.
Er sticht die Nadel in meine Armbeuge und zieht eine Phiole voll Blut, träufelt ein paar Tropfen davon auf eine kleine Glasplatte und schiebt sie unter das Optiskop.
»Schau in den Oculus«, weist er mich an.
Ich drücke mein Auge an die schmale Spitze. Mein Blut. Das Blut, von dem Arabella gesagt hat, es besäße die Stärke, die nächste Generation von Belles heranwachsen zu lassen. »Es sieht aus wie ein glitzerndes Netz aus Blütenblättern einer Rose.«
»Was für eine Poetin du bist«, antwortet er. »Diese länglichen Objekte – die Blütenblätter, wie du sie nennst – sind das, woraus dein Blut besteht. Das Netz ist dein Arcana. Wenn du einen Blick auf mein Blut werfen würdest, würden die Fäden nicht leuchten. Das ist dein Geschenk von der Göttin.«
»Ein Fluch.«
Er schnaubt amüsiert. »Ich nehme an, jetzt stimmt das.« Er zieht den Korken aus einer kleinen Flasche und benutzt eine Metallpipette, um etwas von dem Inhalt herauszuholen. »Jetzt pass genau auf. Ein perlengroßer Tropfen …« Er drückt das Ende der Pipette zusammen, ein großer Tropfen fällt auf das Glas und vermischt sich mit dem Blut. Die Fäden des Arcana-Netzes verhärten sich wie Knochen, dann zerbrechen sie in Stücke.
Ich keuche.
»Schau weiter hin. Ein wenig mehr …« Er fügt noch einen halben Tropfen hinzu und die roten Kreise vertrocknen und werden dunkel wie Rosinen. »Zu viel davon und jemand könnte sterben.« Er sieht auf und klopft gegen das Oculus, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. »Du musst sehr, sehr vorsichtig sein, meine Blume.«
Seine Warnung umschließt mich und scheint mir die Luft aus dem Körper zu pressen.
Er tätschelt meine Hand. »Ich werde es dir mit genauen Anweisungen einpacken, während du meine Frau besuchst.«
»Ist sie aufgewacht?«, frage ich, als ich noch ein Mal in den Oculus schaue. Inzwischen erinnern die roten Ovale an schwarze Kiesel.
»Nur kurz. Aber ich bin mir sicher, dass sie bald wieder erwachen wird. Hin und wieder fällt sie in diese Tiefschlafphasen. Ich muss sie stabilisieren und mit meiner Medizin gelingt mir das auch. Mir und meiner treuen Assistentin Sona hier.« Er streicht über die Federn des Pfaus. »Wir werden schon eine Lösung finden. Wenn sie für längere Zeit aufwacht, wird es sie freuen, dass ihre Schönheit erhalten wurde. Ich lass dich das nur ihr zuliebe tun, verstehst du? Mir ist egal, wie sie aussieht, solange sie sich erholt.«
»Ich verstehe.«
»Aber deine Behandlung wird sie kräftig genug halten, um sich vollständig zu erholen. Und vielleicht vermeiden wir so die Dinge, die sie in erster Linie in diese Schlafanfälle verfallen lassen.«
Ich nicke ihm zu.
»Sona, würdest du unseren Besuch führen wie eine gute Gastgeberin?« Er stellt den Pfau auf den Boden und hebt den Vorhang, der den Laden vom Wohnhaus trennt. »Stör dich nicht an der Unordnung, kleine Blume. Ich war beschäftigter als gewöhnlich.«
Der kleine Vogel trottet einen langen Flur entlang. Nachtlaternen werfen weiches Licht auf ihr Gefieder und bringen das satte Blau ihres Pfauenschwanzes zum Strahlen. Ich folge ihr und trete in eine Welt aus Kommoden, auf denen Flaschen in jeder Form und Farbe stehen – mit Flüssigkeiten in den Farben von Honig, Bernstein und Lakritz, bauchigen Phiolen und Vasen seltsamer Gestalt, und Regalbrettern, auf denen Gläser mit eingelegten Dingen, Glasinstrumente und Stapel getrockneter Kräuter ruhen.
Wir steigen die gewundene Treppe in den ersten Stock hoch. Heillaternen treiben schwankend durch den Raum und werfen Kegel von himmelblau gefärbtem Licht. Madam Claibornes lange Gestalt lässt das zu kleine Bett unter ihr fast verschwinden. Ihre Arme und Beine hängen über die Ränder wie die toten Äste eines Baums am Ende der windigen Jahreszeit, und ihre Haut kämpft darum, den Alabasterton zu halten, den ich ihr vor zwei Tagen verliehen habe. Das Grau drängt hindurch und ihre Adern erinnern an fadenscheiniges Garn, das sich jeden Moment auflösen kann. Glattes Haar ruht auf ihrer Brust wie Strähnen aus Mitternacht und ihr Körper zeigt die wunderbaren Rundungen eines Stundenglases. Stark, sehnig und wohlgeformt.
Das Aussehen, das ich ihr verliehen habe, ist eine Mischung aus Hana und Valerie. Mein Herz verkrampft sich bei dem Gedanken daran, was die beiden vielleicht gerade durchmachen – was all meine anderen Schwestern durchleben müssen. Die Nachrichtenbänder berichten, dass die Belles aus meiner Generation als Geiseln gehalten werden. Hana auf den Glasinseln, Valerie in der Maison Rouge und Padma in der Seidenbucht. Ein wütender Knoten verengt sich in meiner Brust. In mir kämpft das Verlangen, sie zu befreien, mit dem Drang, Prinzessin Charlotte zu finden.
Die handgefertigte Schönheits-Caisse, die Monsieur Clairborne für mich gefertigt hat, ruht auf dem Nachttisch neben den Trauertafeln für Königin Celeste. Belle-Produkte stehen auf Étagèren – winzige Hautpasten-Tiegel und Rougestäbe und Bei-Puder. Glänzende Stangen liegen auf einem Baumwollsamtkissen wie Zylinder aus Silber und Gold.
Ich lasse meine Finger über sie gleiten, dann wende ich mich dem Bett zu.
»Madam Claiborne«, sage ich. »Hier ist Camille. Könnt Ihr mich hören?«
Ihre Brust hebt und senkt sich in langsamem Rhythmus. Das lässt mich an Charlotte denken. Ich erinnere mich an das Zucken ihres Körpers und die Geräusche ihres Hustens. Ich halte das Bild in meinem Herzen wie ein kostbares Juwel, das ich nicht verlieren will. Sie ist irgendwo dort draußen.
Ich verteile den Bei-Puder über Madam Claibornes Arme und schließe die Augen. Die Arcana folgen meinem Ruf. Ich berühre sie wieder und denke an Königin Celeste. Ich vertiefe die Färbung ihrer Haut, bis sie dem leuchtenden Schwarz unserer verstorbenen Königin gleicht, dann bringe ich ihr Haar zum Glänzen.
Monsieur Claiborne betritt den Raum. »Sie wird den Look lieben, den du ihr verliehen hast.« Er sieht auf sie herunter. »Danke.«
»Ihr helft mir, schon vergessen? Das ist das Mindeste, was ich tun kann.«
Er hebt einen Samtbeutel. »Es ist fertig. So fertig, wie es sein kann.«
Mein Herz macht vor Erleichterung einen Sprung.
»Also, kleine Blume, dieses Tonikum ist letztendlich ein Gift.« Er legt den Beutel in meine Hand. »Bist du dir sicher, dass du das willst? Du warst nicht ganz ehrlich bei deiner Erklärung, warum du es haben willst.«
»Ich muss mir sicher sein, dass ich, falls ich je gefangen genommen werde, nicht benutzt werden kann. Dass ich die Arcana in meinem Blut abtöten kann.«
Er beißt die Zähne zusammen, nickt aber gleichzeitig. »In der Matrand-Dynastie, in den Perioden der Unruhe, besaßen mächtige Häuser kleine Armeen, um ihr Land zu beschützen. Vielen der Soldaten wurden kleine Giftkugeln ausgehändigt, die sie schlucken sollten, wenn sie gefangen genommen wurden. Um gewisse Informationen in ihrem Besitz um jeden Preis zu schützen.« Er schließt meine Finger um den Beutel. »Aber bitte setz es nur ein, wenn es nicht anders geht. Ich würde dich gerne wiedersehen, wenn das alles vorbei ist. Und ich weiß, dass meine Frau dich gerne unter anderen Umständen richtig kennenlernen würde.«
Ich senke den Blick auf die geschwollenen Adern unter meiner Haut, die pulsieren wie grüne Schlangen, weil die Arcana-Proteine durch meinen Blutkreislauf jagen. Ich denke an all die Dinge, die sie tun können: andere schön machen, Belles heranwachsen lassen, mich verändern.
Wenn alles gut läuft, werde ich nie gefangen oder benutzt werden, werde sein Gift nie schlucken, dieses Risiko nie eingehen müssen … doch trotzdem empfinde ich Beruhigung, als ich die Phiole in meine Tasche schiebe.
Ihr Gewicht trägt das Versprechen auf Freiheit in sich.
Ich kehre durch die Straßen einer erwachenden Stadt zu unserer Pension zurück. Der warme Schein von Metairies vergoldeten Laternen wirft Sommersprossen in Form goldener Blätter auf die salzweißen Gebäude, als sie für den Morgen erleuchtet werden. Die Hafenglocke erklingt und die ersten Schiffe gleiten in die Bucht.
Kutschen beginnen, Alleen und Straßen zu füllen. Aus vielen steigen gut gekleidete Passagiere aus. Frauen stolzieren in wogenden Gewändern aus Pelz und Wolle herum, Hüte auf ihren Köpfen. Sie bieten die verschiedensten Objekte zum Kauf an. Männer tragen Gehröcke mit Schwalbenschwänzen, die so lang sind, dass sie hinter ihnen über schneebestäubten Straßen schleifen. Hitzelaternen folgen den Leuten wie winzige Sonnen. Manche verschwinden in edlen Läden und andere halten an Süßigkeiten-Pavillons an, an denen Köstlichkeiten der kalten Jahreszeit angeboten werden: gewürzte Teekuchen, Marzipan in Chrysanthemen-Form, Schneemelonen-Baiser, heiße Krapfen mit einer dicken Schicht aus Zucker, Bourbon-Pasteten. Winzige Dampfwolken steigen von heißen Tassen voller flüssigem Karamell und geschmolzener Schokolade auf.
Die Mienen der Passanten wirken grimmig, ihre Lippen geschürzt, die Stirn gerunzelt, als königliche Soldaten sich durch die Menge drängen und immer wieder zufällig ausgewählte Personen befragen. Sie scheuchen Händler auf und vertreiben Gris-Bettler. Ihre schweren Schritte erzeugen eine schreckliche Melodie und ihre schwarze Rüstung glänzt im Licht der blauen Marktlaternen und wirkt so belastend wie ein Schwarm Krähen.
Ich habe mich zu lange in der Apotheke aufgehalten. Ich eile an Verkäufern vorbei, die durch schlanke Sprachrohre Slogans rufen.
»DIE GEWÜRZINSELN TRAUERN. KAUFEN SIE DIE BESTEN TRAUER-CAMÉEN VON IHRER MAJESTÄT KÖNIGIN CELESTE.«
»STRAHLENDE SCHALS, DIE DIE FARBE WECHSELN – SEIDE, BAUMWOLLE, SOGAR SAMT. NUR HIER!«
»KAUFEN SIE EINE EIGENE REPLIK VON KÖNIGIN CELESTES TODESTAFELN FÜR IHREN FAMILIENALTAR.«
»UNSICHTBARE POSTBALLONS – FÜR DIE GRÖßTMÖGLICHE PRIVATSPHÄRE. WIR GARANTIEREN RÜCKERSTATTUNG BEI UNZUFRIEDENHEIT. ZUM BESTEN PREIS!«
Ich rücke die Maske über meinem Gesicht zurecht. Schweiß ist in den Samt und die Spitze eingezogen.
Ein Trio von Wachen tritt mir in den Weg.
Ich weiche ihnen aus, indem ich nach links auf einen schäbigeren Teil des Marktes abbiege – den Bereich, vor dessen Betreten uns Rémy gewarnt hat. Gris-Frauen und -Männer halten Schilder hoch, auf denen sie um Essen, Leas-Münzen und Spintria betteln. Andere, bei denen das Grau erst an die Oberfläche dringt und unter deren Hüten Haar wie Stroh heraussteht, stehen um zerfranste Körbe herum und bieten minderwertige Waren zum Verkauf an. Die Besitzer von Läden und Ständen vertreiben sie, um die Wege für ihre Kunden freizuhalten.
»Gebt den Weg frei für den Orléans-Pressekorps«, ruft jemand. »Die Morgenberichte sind angekommen.«
Reporter schwärmen über den Markt wie ein plötzlicher Schneeschauer. Sie wedeln mit ihren Zeitungen in der Luft herum, sodass die animierte Tinte Mühe hat, die Schlagzeilen zu halten. Ihre Schreie attackieren meine Ohren.
»Aus der Orléanischen Zeit«, ruft einer. »Drei Stunden nach Sonnenuntergang müssen alle im Haus sein! Königliche Ausgangssperre vorverschoben, bis die gefährlichen Flüchtlinge festgesetzt werden!«
»Der Gewürzinsel-Blick stellt die Frage, was alles noch für einen Sinn macht, wenn auch die Armen schön sein können! Schönheitslobbyisten erbitten Spintria-Erhöhung von neuer Königin«, brüllt ein anderer.
Ich presse mir die Hände auf die Ohren, als ich mich durch die Menge dränge, doch ich kann den Lärm ihrer Sprachrohre nicht ausblenden.
»Trianon Matin exklusiv: neues königliches Gesetz direkt vom Justizminister und Ihrer Majestät. Jede Person, die mit Schönheitsarbeit ertappt wird, die dem Look der Verbrecherinnen gleicht, muss eine Strafe zahlen und wandert ins Gefängnis.«
»Der Imperiale Spiegel hält die lukrativste, reichsweite Lotterie ab«, prahlt einer. »Geben Sie Ihren Tipp ab! Erraten Sie den Tag, an dem die geflüchteten Belles festgenommen werden. Der Gewinn beträgt zwanzigtausend Spintria für den besten Tipp. Ein Bonus von fünftausend für den Ort der Festnahme.«
»Die Chrysanthemen-Chronik exklusiv – Königin Sophias Hochzeit mit dem jüngsten Sohn des Meeresministers, Auguste Fabry, wird am ersten warmen Tag des neuen Jahres stattfinden!«
Der Klang seines Namens trifft mich wie ein Schlag in die Brust.
Ich bleibe stehen. Leute rempeln mich an.
»Aus dem Weg!«, beschwert sich ein Mann.
»Geht weiter«, sagt eine Frau.
»Hier wird nicht herumgestanden«, blafft ein dritter.
Erinnerungen an Auguste – das clevere Lächeln in seinen Augen, wie sein zu langes Haar immer dem Knoten entkam, in dem er es trug, der Geschmack seiner Lippen – fluten meinen Körper und sammeln sich als Ring um mein Herz, wo die Wärme sich verhärtet wie ein Glas, das kurz vorm Zerbrechen steht.
Ich erinnere mich an seine Berührung. Ich höre, wie er meinen Namen flüstert. Ich kann ihn quasi in der Menge vor mir stehen sehen: Die Schulter arrogant zurückgenommen, seine Stimme voller Selbstvertrauen, sodass alle sich umdrehen, um auf jedes Wort zu lauschen, das er spricht.
Diese Gedanken erfüllen mich mit Wut.
»Weg von meinem Stand«, kreischt eine Kardamom-Händlerin und erschreckt mich damit. »Ihr blockiert meine Kunden.« Sie schlägt mit einem Gewürzlöffel aus Metall auf meine Schulter und ihre scharfe Stimme vertreibt Augustes Bild, als hätte sie eine Kerze ausgepustet.
Ich trete zurück in die Menge. Eine zweite Welle aus Reportern strömt auf den Markt.
»Wir haben die Lieblingszeitung Ihrer Majestät, die Orléans-Zeitung. In acht Tagen, am ersten Tag unseres neuen Jahres, wird die Königin den Körper ihrer geliebten Schwester, Prinzessin Charlotte, dem Hof und den Menschen von Orléans präsentieren. Ein Signal für den Beginn ihrer Krönungsfeier. Die verstorbene Prinzessin wird in Ehre und liebevoller Erinnerung ruhen.«
Mein Herzschlag setzt aus. Aber Charlotte ist nicht tot! Welche Leiche will Sophia ausstellen? Eine Doppelgängerin? Wie will sie die Identitätstätowierung an Charlottes Hals fälschen? Oder hat Sophia ihre Schwester gefunden, bevor mir das gelingen konnte, und hat sie umgebracht?
Nein. Ich weigere mich, das zu glauben. Das ist nur eins von Sophias Spielchen. Wir müssen sofort aufbrechen und Charlotte finden, bevor diese Lüge zur Wahrheit wird.
Ich eile die Straße entlang, in der Pruzeans Pension liegt. Diese Schlagzeile blubbert in meiner Brust, bereit, aus mir herauszuströmen. Ein Zeppelin schwebt über meinen Kopf hinweg, mit flatternden Seidenschirm-Bannern, auf denen Porträts von den Gesichtern meiner Schwestern leuchten, ebenso wie mein Gesicht und das von Rémy. Sie glitzern und blinken, als hätte man Blitze auf Pergament eingefangen, und die Himmelskerzen erschaffen sogar im Tageslicht leuchtende Bilder.
Soldaten verstopfen fast alle Alleen. »Aus dem Weg!«, brüllen sie.
»Es gab eine Sichtung der Flüchtigen!«, ruft jemand.