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Fünf Sinne – fünf Paragone. Drei Freunde, zwei Welten und eine Magie so vielfältig wie das Leben.
Die 12-jährige Fabuliererin Ella Durand kehrt für das zweite Jahr ans Arkanum zurück. Doch als in dem fantastischen Marveller-Internat über den Wolken eine mysteriöse Krankheit ausbricht, fällt ein böser Verdacht auf die Fabulierer-Gemeinschaft.
Ella und ihre Freunde Brigit und Jason tauchen daraufhin in die Geschichte des Arkanums ein. Sie suchen Erinnerungen, mit denen sie die Fabulierer entlasten und die Vergangenheit entschlüsseln und die Fabulierer entlasten können. Aber mit der unglaublichen Wahrheit, auf die sie dabei stoßen, hätten sie niemals gerechnet!
Ein packendes Lese-Abenteuer, das Fantasy-Fans atemlos zurücklassen wird.
Alle Bände der
Die Marveller
-Reihe:
Die Marveller. Magie aus Licht und Dunkelheit – Das gefährliche erste Jahr (Band 1)
Die Marveller. Magie aus Licht und Dunkelheit – Die Stunde der Erinnerung (Band 2)
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Seitenzahl: 501
Dhonielle Clayton
Die Stunde der Erinnerung
Aus dem amerikanischen Englisch von Doris Attwood
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© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The Conjureverse – The Memory Thieves« bei Henry Holt and Company, einer Trademark der Macmillan Publishing Group, LLC
Text © 2023 by Dhonielle Clayton, Published by Arrangement with ChickenLittle Dhonielle Inc.
Übersetzung: Doris Attwood
Redaktion: Regine Teufel
Umschlagillustration und -gestaltung: Sonja Gebhardt / Nele Schütz Design unter Verwendung von Elementen von Shutterstock.com (© Gleb Guralnyk, rtquest, Arzu Husegnova, ekosuwandono, Victoria Bat, archivector)
Karten copyright © 2023 by ChickenLittle, Dhonielle Inc. All rights reserved.
Innenillustrationen © 2022 by Khadijah Khatib
ah • Herstellung: bo
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-28583-8V003
www.cbj-verlag.de
Für Zoraida Córdova, meine treue Mitstreiterin
und ein Ass in Sachen Verschmitztheit.
Arkanum-Trainingsinstitut für marvelhaftes und mysteriöses Streben
Unterschule
Guten Tag, gute Wünsche und wunderprächtige Grüße,
wir freuen uns sehr, dich für das zweite Jahr deiner marvelhaften Ausbildung erneut im Arkanum-Trainingsinstitut für marvelhaftes und mysteriöses Streben willkommen heißen zu dürfen.
Im vergangenen Jahr hast du das Marvel in dir entdeckt und gezeigt, was nötig war, um für ein weiteres Jahr an unsere glanzvolle Schule zurückkehren zu dürfen. Bitte vergiss nicht, deine Sommeraufgaben noch vor Schulbeginn fertigzustellen. Du benötigst einen Schein von Sakamotos Stapier-Stab-Studio, um die volle Punktzahl erreichen und dich für »Lichtbündeln für Fortgeschrittene« einschreiben zu können. Anbei findest du deinen Stundenplan für die Jahrgangsstufe zwei, eine Liste mit allem, was du brauchst, sowie den Schlafsaal und die Mitbewohnerin, die dir zugewiesen wurden.
Das Institut befindet sich in diesem Jahr über dem Europäischen Nordmeer. Pack dich schön warm ein! Der erste Schnee ist bereits gefallen. Die entsprechenden Koordinaten findest du im Anhang. Die Himmelsfähren legen am 12. September stündlich vom Vellischen Hafen sowie in allen marvellischen Städten ab. Bitte sei vor 18 Uhr WEZ vor Ort.
Alles Licht für dich und die Deinen! Frohes Marveln!
Laura Ruby,
Erste Assistentin von Großmeister MacDonald und
Großmeisterin Rivera, Unterschule
PS: Zeige diesen Brief auf keinen Fall irgendeiner oder -einem Simplen. Nicht, nachdem du es so weit gebracht hast. Du weißt schließlich, was sonst passiert. Oder muss ich dich daran erinnern?
PPS: Auch in diesem Jahr fügen wir diesem Schreiben mehrere Gutscheine bei, als kleine Anregung, unsere bevorzugten marvellischen Läden zu besuchen.
Arkanum-Trainingsinstitut für marvelhaftes und mysteriöses Streben
Handbuch Unterschule
Stundenplan Jahrgangsstufe zwei Ausbildungstutorien
Name:Ella Durand
Zimmergenossin:Brigit Ebsen
Schlafsaal: Azurdrache des Ostens
Erforderliche Grundkenntnisse:
Geschichte des Marvelns und der Marveller in der östlichen und südöstlichen Hemisphäre
Dr. Julie Dao
Lichtbündeln für Fortgeschrittene
Dr. Liya Yohannes
Marvellische Theorie – Der rechte Pfad
Dr. Benjamin Mackenzie
Fabulieren II
Madame Sera Baptiste
Zauber weltweit: Form und Funktion
Dr. Noah Goldblum
Marvelnahe Wesen: Kreaturenstudien
Dr. E-Jun Choi
Elemente der Welt – Feuer und Erde
Dr. Michael Huang
Erforderliche Paragonkenntnisse:
Weissagungen der Zukunft II: Hellsehen in aller Welt
Dr. Nour Al Sayed
Außerschulische Aktivitäten:
Küchenmarvel aus aller Welt
Ort: Küche im Geschmacksturm, Leitung: Meisterkoch Oshiro
Marvellische Monster
Ort: Arkanum-Menagerie, Leitung: Dr. Adam Silvera
Neugierig.
Dies war, neben marvelhaft, das andere Wort, mit dem Ella die Marveller beschreiben würde. Als sie mit ihrer Familie – einschließlich Fabuliergefährten – den Vellischen Hafen betrat, um eine Himmelsfähre in die schwebende Stadt Celastian City zu besteigen und dort alles Notwendige für die Schule zu besorgen, schienen die Leute den Blick gar nicht mehr von ihnen abwenden zu können. Einige winkten ihnen vorsichtig zu. Andere flüsterten ein Dankeschön oder Glückwünsche. Wieder andere grinsten ein wenig überheblich … Und viele von ihnen – mehr, als Ella sich eingestehen wollte – funkelten sie böse an.
Einmal mehr war Ella unfreiwillig berühmt – aber nicht, weil sie als erste Fabuliererin am Arkanum-Institut für marvelhaftes und mysteriöses Streben, der großen magischen Schule in den Wolken, aufgenommen worden war und ihr erstes Schuljahr erfolgreich abgeschlossen hatte, sondern vielmehr, weil sie die Welt vor einer machtgierigen, bösartigen Schurkin namens Gia Trivelino und deren Marvel stehlendem Elixier gerettet hatte.
Dank all der unerwünschten Aufmerksamkeit fühlte Mama sich sichtlich unwohl, doch Papa lachte nur leise in sich hinein. Den ganzen Sommer über hatte die Familie marvellische Nachrichtenreporter vertreiben müssen, die in der Nähe des Hauses herumlungerten oder Granny in der Fabulierapotheke störten, auf der Suche nach einer Exklusivstory zu jener schicksalhaften Nacht vor drei Monaten. Ellas Gesicht war von jeder marvellischen Nachrichtenbox projiziert worden, und selbst Fabulierzeitungen von New York bis Colón und Paramaribo hatten darüber berichtet, was sich hoch in den Wolken ereignet hatte.
Ella selbst machte das Ganze ein wenig nervös, auch wenn sie sich nichts anmerken lassen wollte, um Mama nicht noch mehr zu beunruhigen. Womöglich hätte sie sonst ihre Drohung wahr gemacht, Ella zu Hause zu behalten und wieder auf Madame Collettes Fabulierschule zu schicken. Ella hoffte, wenn sie sich nur tapfer hielt, könnte sie vielleicht auch andere Fabulierende dazu ermutigen, sich im Arkanum einzuschreiben, und dann würde sie in diesem Jahr vielleicht sogar noch mehr neue Freunde finden.
Also lächelte sie weiter den gaffenden Passanten zu, während jedes Mal, wenn sie zu der wunderschönen Kuppeldecke des Vellischen Hafens emporblickte, flackernde Heliogramme ihres Gesichts darauf erstrahlten, direkt neben den vielen Gesichtern der meistgesuchten Verbrecherin der Welt, Gia Trivelino, in ihren zahlreichen Verkleidungen.
Schlagzeilen prangten an der Decke:
ALLESÜBERDIEJUNGEFABULIERERIN, DIESOGARDASASSDERANARCHIEAUSSTECHENKONNTE
AUF DER FLUCHT – BERÜCHTIGTE VERBRECHERIN BEIM VERLASSEN EINES FEEN-TEEHAUSES IN ASTRADAM GESICHTET
ZWEI WAHLKAMPFTHEMEN IM FOKUS: VERBRECHEN UND FABULIERER!
»Der Segen der Sterne für dich«, flüsterte ihr ein Mann ganz in der Nähe zu, als sie durch den Eingang traten. »Du hast uns von diesem hässlichen Dorn befreit.«
Ella schenkte ihm nur ein flüchtiges Lächeln, denn kaum dass sie den Innenhof betraten, funkelte eine untersetzte Frau ihre Familie wütend an. »Die Presse lügt. Das Ganze ist doch nichts als ein ausgeklügelter Plan von euch Fabulierern. Auch noch den ganzen Himmel wollt ihr übernehmen – so sehe ich das. Hmpf!«
»Wie hast du das angestellt?« Eine gertenschlanke Frau blickte mit zusammengekniffenen Augen auf Ella herab. »Was ist dein Fabuliergeheimnis?«
Mama zog Ella ganz nahe zu sich heran, und ihre Stimme flocht sich in Ellas Gedanken: Augen geradeaus, geh weiter. Die Stimmung hier kann ganz schnell umschlagen.
Doch Ella hatte ohnehin keine Zeit, sich Sorgen zu machen. Sie drehte sich endlos im Kreis und staunte mit offenem Mund über all die unglaublichen Dinge, während sich ihre Juju-Truhe mit ihr drehte und verzweifelt versuchte, Schritt zu halten. Riesige Fenster gaben den Blick darauf frei, wie die mächtigen Himmelsfähren an den langen, vergoldeten Docks ankamen und ablegten. Dichte Wolkennester spielten Verstecken mit der Morgensonne, deren buttrig gelbe Strahlen den ganzen Hafen in goldenes Licht tauchten. Ella konnte immer noch nicht wirklich begreifen, dass sie in diesem Moment tatsächlich über dem Indischen Ozean schwebten. Die Wände schillerten in immer neuen leuchtenden Farben, eine Sternenkarte löste darauf die andere ab, und die Namen der Sterne und Sternbilder erstrahlten in Hunderten verschiedenen Sprachen.
Sie kamen an einer turmhohen Säule vorbei – eine der Kardinalen. Ella blickte voller Bewunderung empor. Die Kardinale ragte bis zur Decke hoch und war identisch mit der Säule im Innenhof des Instituts. Kleine Kinder warfen Bronze-Soleils in das flache Springbrunnenbecken, das sie umschloss. Ella ging einen Schritt näher, weg von den neugierig starrenden Menschen, und las die Infotafel:
Die Vellische Kardinale
Dieser Turm repräsentiert das Prinzip der Ordnung unserer großen marvellischen Welt.
Nur wenn sich der oder die eine für die vielen opfert, werden wir dank unseres synchronisierten Rhythmus’ alle hoch oben überleben.
Ella spürte ein starkes Ziehen im Herzen – das Dunkelziehen, das sie auch immer spürte, wenn sie mit Papa die Dunkelwelt betrat. Dasselbe war auch im vergangenen Jahr passiert, als sie mit Master Thakur die Arkanum-Kardinale besucht hatte. Und bis jetzt hatte sie noch keine zufriedenstellende Erklärung dafür gefunden.
»Spürt ihr das?« Sie drehte sich zu ihren Eltern um, aber die beiden waren zu sehr damit beschäftigt, sich unnötig wegen dieses ganzen Ausflugs zu sorgen; sie hörten Ella gar nicht.
Sie huschte außer Hörweite, bevor sich die kleine Meinungsverschiedenheit ihrer Eltern – Mama hasste es, in marvellischen Städten einzukaufen – in einen endlosen Streit darüber auswuchs, ob Fabulierende angesichts all der Gefahren und der Tatsache, dass in der Vergangenheit immer wieder einige der Ihren in den Wolken verschwunden waren, überhaupt noch in die marvellische Welt reisen sollten. Ella hoffte inständig, sie würden nicht wieder mit der traurigen Geschichte um das Verschwinden von Tante Celeste, Mamas Zwillingsschwester, anfangen. Jedes Mal, wenn jemand sie erwähnte, wurde Mama ganz steif und zog die Stirn in düstere Falten. Sie war damals ungefähr in Ellas Alter gewesen, und Ella wollte nicht, dass sie diese schmerzhaften Erinnerungen noch einmal durchlebte. Es war inzwischen über zwanzig Jahre her, aber scheinbar fühlten die Wunden sich für Mama noch immer frisch an.
Ella wünschte sich, dass dies für sie alle ein glücklicher Tag wurde. Sie war ohnehin schon nervös, weil alle sie anstarrten, und es sollte nicht noch schlimmer werden. Sie würde schon bald mit ihrem zweiten Jahr am Arkanum beginnen und hatte große Pläne. Es gab viel zu tun, wenn sie wieder dort war. Das neu arrangierte Schulgebäude erkunden, zum Beispiel, und ihrem Mentor, Master Thakur, unzählige Fragen stellen. Ella warf eine Fabuliermünze in das Becken der Vellischen Kardinale und wünschte sich, dass alles gut laufen würde – oder noch besser: außergewöhnlich –, und dass ihr zweites Jahr am Arkanum sogar noch fantastischer werden würde als das erste.
Plötzlich färbte sich das Wasser im Becken schwarz und wurde zäh wie Teer. Ein fauliger Geruch erfüllte die Luft, und Ella rümpfte die Nase.
»O nein!« Sie hob den Blick und sah ein Mädchen in ihrem Alter, das sie anstarrte. Sie hatte eine Phiole in der Hand und schüttete den Rest des Inhalts in den Brunnen. Zwei dunkle Zöpfe umrahmten ihr mürrisches Gesicht, und ihre haselnussbraunen Augen brannten sich förmlich in Ellas. »Was hast du getan!?«
Kälte senkte sich in ihren Magen. Was hatte dieses Mädchen für ein Problem? Warum hatte sie das mit dem Wasser gemacht? Ella wiederholte ihre Frage, aber das Mädchen antwortete ihr nicht, sondern flitzte einfach davon.
Eigenartig, dachte Ella und sah zu, wie das Mädchen in der Menge verschwand.
»Lass uns gehen, Kleines«, zischte Mama. Gumbo, ihr Fabuliergefährte, schlug so energisch mit dem Schwanz auf den Boden, dass Ella richtig erschrak.
»Tut mir leid, Mama!«, rief Ella zurück. Sie warf noch einen letzten Blick auf die Kardinale und legte eine Hand auf ihre Brust.
Das Dunkelziehen ließ nach. Erneut drehte sie sich zu der Kardinale um, konnte jedoch nichts erkennen, was auch nur im Entferntesten etwas mit Fabulieren zu tun haben könnte. Vielleicht musste sich ihre Fabulierkraft ja nur wieder daran gewöhnen, in den Wolken zu sein. Sie würde Mama jedenfalls sicher nichts davon erzählen; es hätte ihr nur einen weiteren Grund dafür gegeben, sie wieder in Madame Collettes Fabulierschule anzumelden.
Ella eilte zu einer der riesigen Anschlagtafeln, die hoch über ihren Köpfen prangten und Dutzende Ziele der Himmelsfähren auflisteten. Glitzernde Bogengänge führten zu den verschiedenen Piers, Fahrkartenschaltern und opulenten Wartezimmern, die Ella sich alle liebend gerne näher angeschaut hätte, hätte sie Zeit dafür gehabt.
»Hier entlang, Kleines.« Papa legte eine Hand auf Ellas Schulter und schob sie in eine andere Richtung. »Wir müssen Geld wechseln. Ich habe nicht genügend Gold-Stellas dabei, um einkaufen zu gehen.« Er holte seine Brieftasche hervor, blätterte durch die pechschwarzen Fabulierdollarscheine und flüsterte: »Wirklich albern, dass sie diese schweren Münzen bevorzugen.«
»Es geht dabei allein um Glanz und Noblesse, Sebastien. Sie wollen das Gewicht ihrer altmodischen aufgedunsenen Geldbörsen spüren und ihre Münzen in prall gefüllten Tresoren horten können.« Mama ahmte den typisch steifen Marveller-Akzent nach: »So lässt es sich leichter prahlen.«
Ella rollte mit den Augen und wünschte sich, Mama würde der anderen magischen Gemeinschaft wenigstens eine winzige Chance geben. Doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt, sie darum zu bitten.
Sie betraten eine offene Halle, folgten dem mit WECHSELSTUBE beschrifteten Bogengang und stellten sich in eine kurze Warteschlange mit anderen Fabulierenden an, die ihnen zur Begrüßung zunickten. Eine Anzeige über ihnen informierte über die Wechselkurse, wobei die Zahlenplättchen alle paar Minuten umklappten, um den aktuell korrekten Betrag anzuzeigen:
MARVELLISCHER STELLA 1
FABULIERDOLLAR $1,82
MARVELLISCHER STELLA 1
SIMPLEN-GELD $1,36
Ella sah zu, wie Mama und Papa ihre Fabulierdollars gegen kleine Beutel mit goldenen Stellas und silbernen Lunaris eintauschten. Winnie quengelte so lange, bis ihr der Schalterbeamte einen Bronze-Soleil zusteckte. Sie hielt ihn hoch, bewunderte, wie die Münze ihre Farbe veränderte, als sie sie drückte, und staunte über ihre beinahe regenbogenbunte Patina.
Eine hallende Ankündigung ertönte: »Die Elf-Uhr-Himmelsfähre zur Sportarena legt an Pier drei ab. Besucher der Marvelmeisterschaft halten beim Einsteigen bitte ihr Ticket bereit.«
Ellas Herz machte vor Aufregung einen Satz. Im neuen Arkanum-Schuljahr würde sie noch mehr über diese marvellische Sportart lernen, den Umgang mit dem Stapier-Stab perfektionieren und sich am Ende sogar um einen Platz im Marvelmeisterschaftsteam der Paragone der Sicht bewerben können. Sie war jetzt schon ganz aufgeregt.
»Hier drüben!« Mama ging ihnen in die Haupthalle voraus und steuerte auf die Passkontrolle zu.
Gut gekleidete Marvellerinnen und Marveller warteten in ordentlichen Reihen, einige mit Aktentaschen oder Marvelkoffern in der Hand, während andere Einkaufswagen schoben und sich langsam auf scheinbar offizielle Personen in Glaskästen zubewegten. Paragon-Anstecknadeln zierten ihre Kragen, und Ella konnte nicht anders, als ihre eigene zu berühren. Insgeheim machte sie sich ein wenig Sorgen, die Nadel könnte irgendwann aufhören, ihr so charmant zuzuzwinkern.
Jede Nacht, bevor sie ins Bett ging, blinzelte sie dem zwinkernden Auge ebenfalls zu und legte die Nadel dann unter ihr Kopfkissen. Sie war nun eine Marvellerin, Paragon der Sicht mit Kartomanie-Marvel – aber sie war auch Fabuliererin. Sie konnte es kaum erwarten, genauer zu studieren, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten es beim Wahrsagen mit Fabulierkarten und dem Marveller-Tarot gab. Vor lauter Vorfreude spürte sie schon seit Monaten ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch.
Ella konnte beides sein, auch wenn Mama sich deswegen große Sorgen machte. Alles würde gut gehen. Das würde Ella ihr beweisen.
»Argh! Ich will nicht mehr warten. Warum können wir nicht einfach zurück zum Sternenstaub-Pier?« Winnie zupfte an Papas Mantelsaum, aber er war zu sehr damit beschäftigt, ihre marvellischen Visa für die Passkontrolle vorzubereiten.
»Der ist nur für die Einser. Ich bin jetzt in Stufe zwei, schon vergessen?« Die Worte fühlten sich großartig an, nachdem sie wegen Shannon O’Malleys lästiger Nachtelfen beinahe von der Schule verwiesen worden wäre. Mama konnte noch immer nicht verstehen, warum Ella nach einem Jahr voller Dramen überhaupt ans Arkanum zurückkehren wollte.
Aber Ella hatte dort mit ihren neuen Freunden Brigit und Jason trotz allem die beste Zeit ihres Lebens verbracht. Sie konnte es nicht erwarten, die beiden nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wiederzusehen. Monatelang hatten sie sich Sternenpost hin- und hergeschickt, aber es gab noch so vieles, was Ella ihren Freunden unbedingt persönlich erzählen wollte. Vertrauliche Dinge. Geheimnisse, die sie schon den ganzen Sommer bewahrte.
Master Thakur hatte ihr mehrere streng bewachte Arkanum-Lichtpausen anvertraut. Sie bewiesen, dass die Fabulierenden bereits eine Rolle in der Geschichte des Arkanum-Trainingsinstituts gespielt hatten, lange bevor Ella durch das Schultor geschritten war. Diese Lichtpausen konnten alles verändern.
»Seid vorsichtig.« Ella hob den Blick und sah Mrs. Landry, die nette alte Dame, der Paulettes Pralinenpalast zu Hause im Fabulierer-Viertel gehörte. Sie erinnerte Ella an Granny. Das tiefe Braun ihrer Haut hatte fast denselben Ton, nur versteckte Mrs. Landry ihre Fabulierzeichnungen unter einer Schicht Make-up.
Mama nahm die Hand der Frau. »Sie auch, Ma’am. Ich wünschte, Ihr Enkel hätte Sie den weiten Weg nach hier oben begleitet. Es gefällt mir gar nicht, dass Sie ganz allein sind.«
Mrs. Landry warf Mama eine Kusshand zu. »Ich komm schon zurecht, keine Sorge, Schätzchen. Ich hab einen Aushilfsjob als Köchin angenommen, um meine drei Enkelkinder an der Universität zu unterstützen. Dieses alte Ding hat immer noch ganz schön Feuer in den Adern.«
»Ich würde es jedenfalls bestimmt nicht wagen, mich Ihnen in den Weg zu stellen, wann und wo auch immer.« Mama zwinkerte ihr zu.
»Fabulieren ist gut«, brummte Mrs. Landry.
»Zu jeder Zeit«, antwortete Mama mit der üblichen Wendung.
Papa tippte Ella auf die Schulter. »Wir sind gleich dran.« Er reichte ihr einen kleinen schwarzen Pass. Auf den Einband waren ein von Fabulierrosen und Diamanten gezierter Totenkopf, das Logo des Vereinigten Fabulierer-Kongresses und das Blumensymbol der Amerikanischen Abordnung geprägt. Die Tinte pulsierte unter ihren Fingerspitzen, als sie die Worte GEMEINDE NEW ORLEANS berührte.
Ella entdeckte mehrere andere Fabulierende, vermutlich auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen. Auch sie hielten Pässe in der Hand. Auf den ähnlich aussehenden Ledereinbänden blitzten die Symbole verschiedener Fabulierabordnungen aus aller Welt auf: jeweils mit Totenkopf, Diamanten und den charakteristischen Blumen.
Ella erinnerte sich wieder an ihre große Familienreise nach Brasilien vor zwei Jahren, zur Konferenz des Vereinigten Fabulierer-Kongresses in Bahia. Sie war vollkommen überwältigt gewesen, als sie den dortigen Eingang in die Dunkelwelt mit seinen leuchtend gelben Türen gesehen hatte. Eines Tages wollte Ella in all die verschiedenen Gemeinden reisen und ihre Eingänge in das Land der Verstorbenen sehen.
Mama schien besorgt. »Pass bitte auf. Schlag deinen Pass auf der letzten Seite auf, damit du ihn dem Hafenbeamten zeigen kannst. Du sagst nichts, benimmst dich anständig und machst keine Faxen.« Ihre Stirn lag in tiefen Falten. Ella konnte spüren, dass sie noch immer nicht wollte, dass sie das Institut oder auch nur eine marvellische Stadt besuchte, ganz gleich, wie oft sie in den vergangenen Wochen vorgegeben hatte, kein Problem damit zu haben.
Sie schoben sich langsam weiter vorwärts. Ella schlug ihren Fabulierer-Pass auf. Ein Heliogramm ihres Gesichts leuchtete auf und blickte sie an, umrahmt von ihren persönlichen Daten.
Name: Ella Charlotte Baptiste Durand
Alter: 12
Geburtsdatum: 26. Juni
Geburtsort: Rose Hill, Mississippi
Wohnort: New Orleans, Louisiana, USA
Nationalität: US-Amerikanisch
Klassifizierung: Fabuliererin
Papa nahm seinen Zylinder ab, als er sich dem Hafenbeamten näherte. Seine Fabuliergefährtin Greno hüpfte von seinem Kopf auf seine Schulter und quakte laut. Mama schob Ella, Winnie und Gumbo zusammen mit Ellas Juju-Truhe vorwärts.
Ruhig bleiben. Mamas geflüsterte Warnung kroch in Ellas Gedanken, genau wie in Winnies, und sie nickten ihr beide zu.
Papa setzte ein Lächeln auf. »Guten Morgen.«
»Papiere«, knurrte der Mann. Seine weißen Wangen glühten rot, als er sie erblickte. »Visa sind für alle Kreaturen erforderlich, die in marvellischen Städten ein- oder dort ausreisen.«
Mama biss die Zähne zusammen. Gumbo klatschte mit seinem dicken Schwanz auf den Boden. Die Leute in den anderen Warteschlangen erschraken und begannen, über den skandalösen Anblick eines Alligators im Vellischen Hafen zu tuscheln.
Ella blätterte zur letzten Seite ihres Passes. Ein himmelblauer Sticker leuchtete unter ihren Fingern auf, und das Visum präsentierte sich ganz von selbst.
»Was führt Sie heute hierher?«, fragte der Mann.
Papa räusperte sich. »Wir wollen einkaufen und Mittag essen gehen, bevor –«
»Was ist ihr endgültiges Reiseziel?«, unterbrach der Mann ihn barsch.
Ein unangenehmes Kribbeln jagte an Ellas Wirbelsäule hinunter. Warum war er so unhöflich? Erkannte er sie und ihre Familie nicht? Nicht, dass sie sich selbst für die Krone der Schöpfung, wie Granny es ausgedrückt hätte, hielt, aber ein Heliogramm ihres Gesichts erfüllte just in dieser Sekunde die Kuppeldecke des Vellischen Hafens. Bestimmt wusste er, wer sie war: dieses »Fabulierwunderkind«, wie Die Sternenwoche sie genannt hatte.
»Wir sind auf dem Weg zum Arkanum-Trainingsinstitut. Meine brillante Tochter wird dort ihre Ausbildung fortsetzen.« Grinsend drehte Papa sich zu ihr um, und Ella wurde ganz warm. Es gab nichts Besseres als Papas Lächeln. »Sie haben vielleicht schon von ihr gehört – der einzigartigen Ella Durand.« Er zeigte auf die Projektion hoch über ihnen.
Der Mann zuckte noch nicht einmal mit der Wimper.
Ella winkte ihm zu. Mama seufzte.
»Wie lange wird Ihr Besuch dauern?«
»Ein paar Stunden, dann verschwinden wir mit Freuden wieder«, antwortete Mama und verschränkte die Arme.
Ella schluckte. Hoffentlich bewahrte Mama die Ruhe. Es waren überall Wächter postiert. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war einer von Mamas feurigen Wutanfällen, weit weg von zu Hause.
Papa warf Mama einen entnervten Blick zu.
»Irgendwelche Abstecher auf dem Weg zum Arkanum?«
»Celestian City«, antwortete Papa.
»Unser Glanzpunkt in den Wolken ist aufgrund eines Tsunamis über Polynesien für Besucher geschlossen. Dort können zurzeit keine Himmelsfähren landen.«
»Dann Betelmore.« Papa griff nach Mamas Hand.
»Die Wolkennester von Betelmore werden neu arrangiert, daher kommt es zu kleineren Verspätungen. Wir liegen neunzig Minuten hinter dem Fahrplan zurück. Astradam ist momentan die einzige zugängliche Stadt. Sie befindet sich über der Ägäis. Die nächste Himmelsfähre legt in achtzehn Minuten ab.«
Ella erschrak. Astradam war die Stadt, die Mama wirklich nicht besuchen wollte. Sie hasste zwar alle marvellischen Städte, diese aber besonders. Dort war Tante Celeste verschwunden.
Papa und Ella fingen Mamas Blick ein und warteten auf ein Nicken von ihr. Sie brauchten ihren Segen. Mama holte tief Luft. Möglicherweise würde das hier nicht nur kein guter Tag werden … sondern ein ganz schrecklicher. Vielleicht hätte Ella nicht so sehr auf einen Einkaufsbummel drängen, sondern ihre Schulsachen im Arkanum-Laden bestellen sollen. Vielleicht war es vergebliche Liebesmüh, zu glauben, Mama würde sich in der marvellischen Welt jemals wohlfühlen.
Mama biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf.
»Wir warten, bis Betelmore wieder öffnet«, sagte Papa, während er dem Mann die Reisepässe der Familie durch den Metallschlitz reichte.
Der Kontrolleur stempelte sie ab und gab sie ihm wieder zurück.
Ein winziger Anflug von Enttäuschung rührte sich in Ellas Brust. Sie hätte so gerne eine der anderen fliegenden Städte erkundet. Außerdem war sie bei ihrem letzten Besuch in Betelmore Gia Trivelino näher gekommen, als ihr lieb gewesen war. Gias böses, hässliches Lachen hatte den ganzen Sommer so hartnäckig in ihren Ohren gedröhnt, dass sie schon befürchtet hatte, es würde sie bis in alle Ewigkeit verfolgen.
»Kommt jetzt, ihr zwei!« Mama stürmte voran, Gumbo trottete hinter ihr her.
Die Familie schob sich durch das Tor an der Passkontrolle und in einen wahren Schauraum der Wunder.
In einem offenen Raum erstreckte sich ein gigantischer Laden vor ihnen, die verschiedenen Abteilungen mit verlockenden Waren und eifrigen Kaufwilligen gefüllt.
Ella wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte. Der ganze Laden glitzerte und funkelte, und die Tische quollen förmlich über vor allen erdenklichen Süßigkeiten: Marveller-Riegel, mit Schokolade und Karamell gefüllte Paragonmünzen, Ingwersterne, Milchdracheneier, Zimtsternbrot, Tornado-Tee mit hicksendem Honig und sogar eine essbare Version des Marvellischen Versammlungshauses mit seinen dicken Säulen und der Glaskuppel. Die Regale erstickten regelrecht in Souvenirs wie kleinen Stapier-Stäben und Stellazitätssphären, Heliogrammpostkarten mit fantastischen Projektionen, Stadtplänen der drei Metropolen, Schals und Flaggen mit den Logos berühmter Marvelmeisterschaftsteams und vielem mehr.
Verkäufer mit üppig bestückten Karren priesen lautstark ihre herrlichen Köstlichkeiten an:
»Bombastische Bocadillos zum Mitnehmen. Die besten Sandwiches in den Wolken!«
»Praktische Pies für unterwegs – ganz ohne Probleme beim Umsteigen!«
»Der beste blubbernde Bubble Tea – kribbelt köstlich auf der Zunge!«
In der Mitte der Verkaufsfläche stand eine Vitrine mit einem breiten Banner darüber: DIE DREIHUNDERTJAHRFEIER – DREI JAHRHUNDERTE MARVELLISCHER INNOVATION UND INDUSTRIE.
Schaubilder informierten triumphierend über die lange marvellische Geschichte und präsentierten prahlerisch die Errungenschaften der Gesellschaft. Eine Nachrichtenbox spielte einen Zusammenschnitt von Filmaufnahmen aus der Zeit ab, als die drei fliegenden Städte und das Arkanum-Institut erbaut worden waren. Damals hatten Marveller aus aller Welt zusammengearbeitet, um in den Wolken leben zu können.
Ellas Herz schlug schneller, als sie näher heranging. Würden die Fabulierenden ebenfalls erwähnt werden?
Zu ihrer großen Enttäuschung wurde in der Ausstellung zur marvellischen Geschichte jedoch kein Wort über die Fabulierenden verloren. Stattdessen gab es detaillierte Berichte über das allererste Einheitsfest, wobei einige noch erhaltene Artefakte besonders hervorgehoben wurden. Ein nicht identifizierbares Objekt, ähnlich einem Klumpen aus Erde und Stein, stach Ella ins Auge. Sie las die Beschreibung: UNBEKANNT, CA. 250 JAHRE ALT.
Sie presste ihr Gesicht an die Glasscheibe. »Was bist du?«, flüsterte sie dem Objekt zu und erwartete beinahe eine Antwort. Und tatsächlich: Es begann zu glühen wie ein verschütteter Stern, dünne Lichtstrahlen drängten aus den winzigen Spalten. Das Dunkelziehen meldete sich erneut in Ellas Innerem, stark und stechend. Wie gerne hätte sie das Objekt gereinigt und genauer unter die Lupe genommen! Ihre Finger kribbelten von dem überwältigenden Verlangen, es zu berühren. Warum fühlte sie sich so sehr davon angezogen?
Ella drehte sich um, um Papa zu rufen – womöglich wusste er eine Antwort darauf. Aber vielleicht war ihre Fabulierkraft vor lauter Nervosität und Neugier auch nur ein wenig durcheinandergeraten.
Mama bedeutete ihr mit einem Winken, wieder zurückzukommen. Widerwillig löste sie sich von dem Ausstellungsstück. »Bleib bitte in unserer Nähe«, flüsterte sie.
»Kannst du kurz mitkommen und dir anschauen –«
»Jetzt nicht«, unterbrach Mama sie.
Winnie, furchtbar aufgedreht, zupfte energisch an Papas Mantelsaum. »Krieg ich einen Fizzler? Nein, warte, ich will einen Marveller-Riegel. Nein, lieber beides, bitte. Und da drüben gibt’s Keks-Stapiere! Die will ich auch. Und, und, und die Bubble-Tea-Bubbles, die wie kleine Bomben platzen. Ich will den größten Tee, den sie haben!«
Ella versuchte, ihre Eltern zu dem Ausstellungsstück zu lotsen, hatte jedoch kein Glück. Winnie stand kurz vorm Hyperventilieren.
»Beruhig dich wieder, Winnie!« Ella nahm ihre kleine Schwester an der Hand. »Komm, wir schauen uns erst mal ein bisschen um.«
Papa zwinkerte ihr zu. »Danke für die Rettung, Kleines. Ich besorge uns die Tickets nach Betelmore.«
»Und ihr bleibt in Sichtweite, hört ihr?«, warnte Mama die beiden und trottete hinter ihnen her.
Winnie zerrte Ella nach links und zeigte ihr ein paar so hell leuchtende Mondtörtchen, dass Ella ihre Augen vor dem blendenden Licht abschirmen musste.
»Leg sie wieder weg. Die sind hier völlig überteuert. Wir gehen später sowieso noch einkaufen.« Mama riss Winnie die Törtchen aus ihren kleinen Händen, was einen erzürnten Aufschrei, Tränen und neugieriges Starren mehrerer Passanten nach sich zog. Ella biss sich auf die Unterlippe, Frustration stieg in ihr auf. Sie ließ Winnies Hand los und huschte durch die Menge davon. Ringsum betrachteten die Leute Heliogrammposter und verfolgten die Reden der Kandidaten, die mitten im Wahlkampf für die nächste marvellische Präsidentschaftswahl steckten. Ella beschloss, sich ein paar Postkarten anzusehen, um sich wenigstens eine kleine Pause von all dem Trubel zu gönnen.
Sie wurde das Gefühl nicht los, dass an diesem Tag nichts nach Plan verlaufen würde. Dabei hatte sie jedes einzelne Detail in ihrem Notizbuch niedergeschrieben, sorgfältig ausgewählt, was ihre Eltern – und Winnie – tragen würden, und für einen sicheren Flug die Reisewurzel von Granny in ihre Tasche gesteckt. Trotzdem hatte es schon jetzt einige Probleme gegeben. Sie hatte sich so sehr gewünscht, ihre Rückkehr ans Arkanum-Trainingsinstitut für marvelhaftes und mysteriöses Streben würde einen perfekten Start in Stufe zwei bedeuten. Genau wie im letzten Jahr.
»Ella!« Ihr Name hallte wie ein Feuerwerk durch die riesige Ladenfläche.
Sie wirbelte herum und stand plötzlich Jason gegenüber.
Ihrer Rettung.
Die Marveller Woche
Alles über die kleine Fabuliererin, die angeblich die Welt gerettet hat!
Profil: Ella Durand
Alter: 12*
Ella Durand hat die Welt der Marveller gerettet … angeblich. Zumindest will man uns dies glauben machen, weil es den heimlichen Plänen der Fabulierer nützen würde. Sie ist die erstgeborene Tochter zweier bekannter Fabulierender – Aubrielle Baptiste und Sebastien Durand. Die Familie ihrer Mutter betreibt Die Fabulierrose, die älteste und berühmteste Fabulierapotheke der Welt. Gerüchten zufolge frequentieren sie auch berüchtigte marvellische Kriminelle. Ihr Vater ist ein prominenter Fabulierer-Politiker, der Hohe Wandler des Lands der Verstorbenen, und hat die mächtigste Position in ihrer Gesellschaft inne, abgesehen von der Vorsitzenden des Vereinigten Fabulierer-Kongresses. Ella hat eine jüngere Schwester namens Winifred. Ihre ebenso von sich überzeugte wie reiche Familie besitzt nicht nur ein, sondern zwei Häuser: eine Villa im Fabulierer-Viertel von New Orleans und das Farmhaus der Durands in Rose Hill, Mississippi. Während unserer Recherchen zu diesem Profil kam uns immer wieder Verdächtiges über die Familie zu Ohren. Erzählt wurden uns diese unglaublichen Geschichten von ihren Nachbarn auf dem Land. Unter der Bedingung, ihre Anonymität zu wahren, berichtete uns eine dieser Quellen, wann immer ein Mitglied der Familie über ihr Land spazierte, würden die Kühe anfangen, Blut statt Milch zu geben, und die Hühner plötzlich leere Eier legen. Ein weiterer Nachbar erklärte, die Bäume auf seinem Grundstück würden sich abwenden und vor Angst zusammenkauern, sobald einer der Durands in der Nähe wäre. Wir sollten niemals vergessen, dass in den Adern dieses Kindes das Blut zweier der mächtigsten Fabulierer-Familien der Welt fließt und wir es lieber nicht mit so offenen Armen willkommen heißen sollten. Bleibt wachsam!
*Da bekannt ist, dass viele Fabulierende ihre Lebensspanne auf unnatürliche Weise verlängern, können wir uns nicht wirklich sicher sein, ob sie tatsächlich noch ein Kind ist.
Was machst du denn hier?« Ella drückte Jason so fest an sich, dass er husten musste. Bis zu diesem Moment war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Sie hatten sich zwar jede Woche Sternenpost geschickt, aber nichts konnte ersetzen, ihn endlich wiederzusehen. Ella wollte alles über seine Abenteuer auf den Reisen mit seinem Vater hören: von den Chimären, mit denen er auf den griechischen Inseln gearbeitet hatte, und von dem Adze, der ihm auf ihrer Forschungsreise von Südostghana nach Hause gefolgt war. Eine Geschichte war schließlich immer besser, wenn sie persönlich erzählt wurde. Und außerdem: Wenn jemand diesen Tag noch retten konnte, dann Jason.
»Schulsachen einkaufen, genau wie du vermutlich«, antwortete er.
Nachdem Ella ihn wieder aus ihrer Umarmung entlassen hatte, betrachtete sie ihn von oben bis unten. Er war ein bisschen größer geworden, und auch seine Locs waren gewachsen. Sein breites, strahlendes Grinsen war aber noch immer dasselbe.
»Hab dich auch vermisst.« Er zog an einem ihrer langen Zöpfe. »Mein Dad ist schon mit Beatrice, Allen und Grace in Betelmore. Wes ist mit seinen Freunden losgezogen, um seinen Kram für die Oberschule zu besorgen. Er hasst es, mit der Familie einzukaufen. Also hat es mich erwischt, und ich muss Mom mit den kleinen Plagegeistern helfen.« Er zeigte auf zwei Kleinkinder, Zwillinge, die wie angestochen um seine wunderschöne und furchtbar müde aussehende Mutter herumrannten. Sie war damit beschäftigt, ein zappeliges Baby wieder in die Trage vor ihrer Brust zu stecken. »Aber ganz so schlimm sind sie auch wieder nicht. Das ist Priscilla, und der andere ist Harold. Und die Kleinste, die sich gerade mit Händen und Füßen wehrt, ist Caroline, aber wir nennen sie Cookie.«
Jasons jüngste Schwester gurrte, und aus der Trage lugte eine kleine, an sie geschmiegte Schildkröte hervor. Ella quiekte, als sie das lächelnde Reptiliengesicht sah.
Mrs. Eugene lachte. »Oh, keine Angst vor unserem guten alten Hare. Normalerweise lässt er sich gar nicht blicken. Wahrscheinlich hätte ich ihn zu Hause lassen sollen, aber er führt sich immer auf, als wäre er Cookies Gefährte und nicht meiner. Weicht nicht von ihrer Seite. Wie es scheint, ist sie der neue Liebling des alten Knaben.« Ihr Lächeln fühlte sich an, als würden eine Million Stellar-Lampen auf einmal erstrahlen. Jetzt wusste Ella auch, woher Jason sein Grinsen hatte. Mrs. Eugene hatte ihre mächtige dunkle Haarpracht zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur aufgedreht und trug trotz der Mittseptemberhitze ein weites Kleid mit langen Ärmeln. Ella fragte sich, ob sie damit ihre Fabulierzeichnungen verstecken wollte, genau wie Mrs. Landry.
Als sie Mrs. Eugene das letzte Mal gesehen hatte, waren sie alle aus dem Fabulierer-Viertel geflüchtet, nachdem das Kartenspiel des Todes durchbrochen worden war. Damals hatte sie außerdem erfahren, dass Jason teilweise von Fabulierenden abstammte, dies jedoch vor ihr geheim gehalten hatte. Ella hatte so viele Fragen deswegen, auch wenn sie ihr Bestes tat, niemanden dafür zu verurteilen, dass er es zu verstecken versuchte. Dennoch konnte sie Mamas Stimme in ihrem Kopf nicht abstellen, die grummelte: Fabulierende, die die Ihren verlassen, haben einen hohlen Verstand. Doch nachdem sie Mrs. Eugene begegnet war, war Ella sich sicher, dass noch viel mehr hinter ihrer Geschichte steckte.
Jason tätschelte Hares spitze Nase. »Ella, das ist meine Mom«, sagte er schüchtern. »Mom, das ist Ella.«
»Ah, die Ella Durand! Ich habe mich schon gefragt, wann ich dich endlich richtig kennenlernen würde. Das Mädchen, von dem mein Sohn – und der Rest der Welt – die ganze Zeit spricht. Und wegen dem mein Sternenpostkasten beinahe aus allen Nähten platzte.« Sie grinste Ella an.
Pure Verlegenheit breitete sich auf Jasons Gesicht aus. »Mom! Argh!«
»Freut mich auch, Sie kennenzulernen, Mrs. Eugene. Tut mir leid wegen der vielen Post«, erwiderte Ella und hob den Blick, als sich Mama, Papa und Winnie zu ihnen gesellten. Als Mrs. Eugene Mama erkannte, versteifte sie sich sichtlich.
Papa nahm seinen Zylinder ab und nickte Jasons Mom zu. »Fabulieren ist gut.«
Mrs. Eugene nickte, antwortete jedoch nicht mit der unter Fabulierenden üblichen Erwiderung Zu jeder Zeit.
Ella zuckte zusammen.
Mama schürzte die Lippen. »Schön, dich zu sehen, Barbara.«
»Gleichfalls, Aubrielle«, entgegnete Mrs. Eugene, bevor sie sich abwandte, um einen der Zwillinge einzufangen.
Eine Durchsage rief alle nach Betelmore reisenden Passagiere auf, an Bord zu gehen. Papa schnappte sich den anderen Zwilling und warf ihn sich wie einen kleinen Sack Reis über die Schulter. Lautes Kinderlachen und fröhliches Kreischen ertönten.
»Danke, Sebastien. Ich dachte schon, mit den zwei kleinen Rackern schaffe ich es niemals an Bord.« Mrs. Eugene wischte sich über die Stirn.
Winnie nahm Priscilla an der Hand, und dann machten sie sich alle gemeinsam in die Abflughalle für Betelmore und zu Pier vier auf, um an Bord der Himmelsfähre zu gehen. Ella konnte nicht anders, als immer wieder heimlich über ihre Schulter zu blicken, während ihre Eltern und Jasons Mom sich unterhielten.
Sie fragte sich, ob Mrs. Eugene jemals offen zeigen würde, dass sie Fabuliererin war – und ob Mama ihr jemals wirklich eine Chance geben würde, falls nicht.
Zentimeter um Zentimeter näherten sie sich gemeinsam mit den anderen Wartenden der Himmelsfähre. Die Marvellischen ringsum wandten den Blick von den Projektionen der Nachrichtenboxen oder ihrer Lektüre ab, um sie zu beobachten. Ella entdeckte einige andere Lehrlinge aus dem Arkanum, vermutlich waren sie ebenfalls auf dem Weg zum Einkaufen. Viele von ihnen glotzten Gumbo unverhohlen an – was nicht wirklich überraschte, schließlich war ein wohlgenährter Alligator in einer Himmelsfähre ein ziemlich ungewöhnlicher Anblick. Einige winkten Ella zu, andere riefen Hallo, und wieder andere vermieden auf Drängen ihrer Eltern jeglichen Blickkontakt. Ella lehnte sich vor und legte eine Hand um Jasons Ohr. »Ich hab eine seltsame Frage … und eine ziemlich neugierige«, flüsterte sie.
Seine Augen weiteten sich interessiert. »Ja?«
Während es in kleinsten Schritten weiter vorwärts ging, flüsterte Ella in Jasons Ohr: »Ich hätte nicht gedacht, dass deine Mama einen Fabuliergefährten hat.«
»Na ja, sie ist Fabuliererin, und die haben schließlich alle einen, richtig?«
Natürlich, dachte Ella, peinlich berührt. Sie hatte noch nie Fabulierende getroffen, die keinen Gefährten hatten. Selbst wenn sie es versteckt, ist sie trotzdem eine.
»Haben deine Geschwister auch welche? Wirst du einen haben?«
»Die meisten von ihnen schon, aber die Chancen stehen fifty-fifty. Mein Dad ist total neidisch, weil einfach keine Gefährtin für ihn auftauchen will. Er schaut immer noch an jedem Geburtstag aus dem Fenster und wartet, obwohl er gar kein Fabulierer ist.«
»Aber ich hab Wes noch nie mit einem Gefährten gesehen«, erinnerte Ella sich. Vielleicht hatte Jasons älterer Bruder ja keinen? Oder versteckte er ihn in seinem Schlafsaalzimmer? Fabulierende hielten es jedoch ohne die Nähe ihrer Gefährten nicht sehr lange aus. Irgendwann wurden sie davon sogar krank.
»Wes hat eine schwarze Zornnatter namens Panzer. Normalerweise wickelt sie sich um seinen Arm, versteckt sich in seinem Ärmel oder schläft in seiner Mantelkapuze. Er lässt nicht zu, dass jemand sie sieht. Er belegt sie sogar mit Schleierzaubern, um ganz sicherzugehen. Allen hat keinen Gefährten gekriegt. Er behauptet, er wollte auch keinen. Bea hat ihre Hummel, Stich. Sie schläft immer in dem Kamm in ihrem Haar. Falls Grace einen kriegt, hat die ganze Familie eine Wette laufen, dass es eine Fledermaus wird, weil sie immer die ganze Nacht aufbleibt.«
Ella wusste so viel über Jasons Familie – und doch so wenig. Bevor sie ihm begegnet war, hatte sie keine Ahnung gehabt, ob Marvellische und Fabulierende jemals gemeinsam eine Familie gründen würden und ob oder wie sich ihre Gaben dadurch vielleicht veränderten. Nun wusste sie, dass es in solchen Familien keine Garantie auf einen Gefährten gab. Trotzdem hatte sie noch so viel zu lernen.
»Man hat uns gesagt, wir sollten sie verstecken. Sie als marvellische Haustiere ausgeben«, gab Jason zu, als sie sich auf zwei Fensterplätze plumpsen ließen, während Winnie sich beschwerte, weil sie auf der anderen Seite des Gangs neben Mama und den Zwillingen sitzen musste.
»Danke, dass du’s mir gesagt hast«, flüsterte Ella ihm zu.
Seine Augen weiteten sich und wirkten von Sorge erfüllt. »Ich will nicht, dass du dich seltsam fühlst, weil … Du weißt schon … Weil ich es dir eigentlich schon letztes Jahr hätte sagen sollen … und …«
Ella schenkte ihm ihr breitestes, strahlendstes Lächeln, damit er sich nicht noch mehr Sorgen machte. »Schon okay. Jetzt weiß ich es ja. Und dadurch bist du nur umso mehr mein bester Freund.«
Er lächelte zurück.
Die Lautsprecher über ihnen knisterten. »An alle Reisenden: Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein, legen Sie den Sicherheitsgurt an und bereiten Sie sich auf den Start vor. Wir werden in fünf Minuten ablegen.«
Ella und Jason grinsten einander an. Ella schnappte sich einen Betelmore-Reiseführer aus der Seitentasche an ihrem Sitz und breitete ihn zwischen sich und Jason aus. Sie drückte auf sämtliche Heliogramme, sah sich Ausschnitte aus den verschiedenen Shows an, die zurzeit im Unterhaltungsviertel aufgeführt wurden, und schaute Werbeclips für die neuesten Stapier-Stäbe: den Säbelblitz 2.0 und den Duellux 4. Die winzigen Projektionen ließen Ellas Finger hell glühen, und ihr Magen kribbelte vor Aufregung.
Nachdem die Himmelsfähre abgelegt hatte, schlängelten sich Bedienungen durch die Gänge und boten Fizzler und Ingwersterne an. Ella und Jason leerten gierig ihre Getränke, stopften sich den Mund mit den süßen Keksen voll und rülpsten, bis sie trotz der scharfen Blicke ihrer Mütter prusteten vor Lachen.
»Ich nehme einen für Brigit mit. Sie liebt die Dinger.« Ella ließ einen Ingwerstern in ihren Beutel fallen. »Das einzige marvellische Essen, über das sie nicht meckert.«
»Hast du was von ihr gehört?«, fragte Jason, während er einen weiteren Keks knusperte. »Sie hat nicht auf meine letzte Sternenpost geantwortet. Ist schon, na, gut zwei Wochen her.«
»Bei mir auch. Hab seit August nichts mehr gehört. Sie war nach dem Sommerkurs im Arkanum-Ferienlager. Aber ich weiß, dass sie heute Abend da sein wird. Wir teilen uns wieder ein Zimmer.« Ella grinste in sich hinein, als sie an das letzte Schuljahr zurückdachte und daran, wie Brigit sich einen Fallschirm gebastelt und versucht hatte, aus dem Arkanum wegzulaufen. Ella war jedoch zuversichtlich, dass ihre Freundin inzwischen nicht mehr so empfand, auch wenn sie sich fragte, wie sie mit dem Geheimnis, dass Gia Trivelino ihre Mutter war, zurechtkommen würde. »Ich muss euch beiden …« Sie schaute nach links und rechts, lehnte sich näher zu Jason und flüsterte: »… Du-weißt-schon-was zeigen, wovon ich erzählt hab.« Sie hatte ihm den ganzen Sommer über praktisch in Codesprache von den Lichtpausen und all den Entdeckungen berichtet, die sie und Reagan in der Grioterie gemacht hatten. »Ich hab auch versucht, meine Eltern danach zu fragen. Aber sie haben getan, als hätten sie keine Ahnung, wovon ich rede.«
»Hast du sie ihnen gezeigt?«, wollte er wissen.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte zu viel Angst, sie würden sie mir wegnehmen. Aber weißt du noch, was Master Thakur bei meiner Disziplinar-Anhörung wegen des Fabulierer-Architekten gesagt hat? Sie können sich beide nicht mehr daran erinnern.«
»Überhaupt nicht?« Jason klappte die Kinnlade herunter.
»Jedes Mal, wenn ich davon anfange, wird Mama nur wütend und will nicht darüber diskutieren. Sie glaubt, ich hätte mir das alles nur ausgedacht.« Ella hatte das Gefühl, dass sie dieses Rätsel am dringendsten lösen mussten. Informationen wie diese konnten alles verändern.
»Vielleicht sind sie –?«
»Hey, Ella! Hi, Jason!«
Ihre Klassenkameradinnen Anh und Luz standen im Gang. Anhs schwarzes Haar war lang gewachsen, und Luz’ Locken hüpften wild um ihren Kopf. Ella erkundigte sich, wie die beiden den Sommer verbracht hatten, und lauschte aufmerksam, als sie lustige Geschichten aus dem Sommerlager und von Ausflügen in die Simplen-Städte Ho-Chi-Minh-Stadt und Rio de Janeiro erzählten. Sie hatte das Gefühl, ihre eigenen Ferien wären im Vergleich dazu furchtbar langweilig gewesen.
»Kannst du uns von Gia erzählen?« Luz’ leuchtende Augen wurden so groß wie Stella-Münzen.
»Wie war sie denn so?«, flüsterte Anh. »Alle wollen es wissen.«
Ein Schauer jagte an Ellas Wirbelsäule hinunter. Sie wechselte einen angespannten Blick mit Jason. Brigits Geheimnis hing schwer zwischen ihnen.
»Böse«, antwortete Jason und erschauderte.
»Und war dort wirklich ein Leviathan?«, bohrte Luz nach. »Die Marvellische Zeit hat von nichts anderem mehr berichtet.«
»Ich hab’s im Sternenboten gelesen.« Anh zog eine Ausgabe von Mr. Jays Leviathan-Taschenführer hervor. »Ich bin total besessen von ihnen. Sie sind sehr einfühlsame Kreaturen, wisst ihr?«
Jason setzte sich kerzengerade auf und grinste über Anhs Taschenführer.
»Sein Name ist Poco.« Ella hatte sich nach allem, was passiert war, Sorgen um den Leviathan gemacht. Sie hatte die Berichte in den marvellischen Nachrichtenboxen auch gesehen, dabei besonders nach Informationen zu Gias Versteck im Commedia Close gelauscht und gehofft, sie würden Poco erwähnen. Aber das hatten sie nicht.
»Ich hab gehört –«, begann Luz.
Der Lautsprecher knisterte: »Wir legen in zehn Minuten an. Bitte kehren Sie zur Landung auf Ihre Plätze zurück, schnallen Sie sich an und verstauen Sie herausgenommene Gegenstände wieder.«
Ella und Jason winkten Anh und Luz nach, als die beiden zu ihren Plätzen zurückeilten. Drei Erwachsene gingen vorbei und starrten neugierig auf Ella herab.
»Ist es eigenartig?«, fragte Jason.
»Was?«
»Berühmt zu sein.«
»Ich bin ja nicht berühmt berühmt«, widersprach Ella. »Also, nicht wirklich.«
»Doch, irgendwie schon.«
Ella nahm an, dass er damit wohl recht haben mochte, und sie beschloss, ihre Ängste nicht vor ihm zu verstecken. Doch bevor sie etwas erwiderte, warf sie Mama einen verstohlenen Blick zu. Mama tupfte sich mit einem Taschentuch ihre verschwitzte Stirn ab.
Ella hasste es, sie so gestresst und nervös zu sehen. Mama war für sie stets wie eine unerschütterliche Eiche gewesen: die Wurzeln fest in der Erde verankert und in der Lage, jedem Sturm und allen Schwierigkeiten zu trotzen.
»Es gefällt mir nicht«, flüsterte Ella schließlich extra leise, damit Mama sie nicht hören konnte.
»Schaut mal!«, schrie Winnie plötzlich, sehr zum Missfallen der Mitreisenden. »Wir sind da! Wir sind da!«
Vor dem Fenster teilten sich die Wolkennester, und die große Stadt Betelmore erstrahlte wie eine Stella-Münze. Leuchtende Reklametafeln projizierten Werbefilme sowie Heliogrammausschnitte von Theateraufführungen und Konzerten, und grelle Stellar-Lampen erhellten den Himmel. Luftseilbahnen schwebten an glitzernden Kabeln aufwärts, unterwegs in eine Million verschiedener Richtungen. In den Straßen ragten Sternfruchtbäume auf, und Blumenkästen quollen vor Mondblumen über. Vor Aufregung spürte Ella ein Kribbeln im Magen. Nun, da sie Betelmore bei Tageslicht sah, kam es ihr völlig unbekannt vor, dabei war sie nicht zum ersten Mal hier.
Die Himmelsfähre landete lautlos am Dock. Alle standen Schlange, um auszusteigen.
Als sie in den warmen Septembertag hinaustraten, legte Mama eine Hand auf Ellas Schulter, die andere auf Winnies.
Eine Stimme schlich sich in Ellas Gedanken: Hört mir gut zu, meine Mädchen. Solange wir in dieser gottverlassenen Stadt sind, folgt ihr mir aufs Wort. Bleibt in der Nähe. Wir sind sehr weit fort von zu Hause. Ich will kein Chaos, habt ihr mich verstanden?
»Ja, Ma’am«, antworteten Ella und Winnie einstimmig.
Papa zwinkerte ihnen zu, während Mama voranging. Ella bemerkte ein winziges Zittern in Mamas für gewöhnlich so ruhigen Händen.
Ella nahm ihre Hand. »Uns passiert schon nichts.«
Mama erwiderte: »Weil meine beiden Mädchen auf mich hören und wir flink wie die Wiesel alles Notwendige besorgen werden und sofort wieder von hier verschwinden.«
Ella klebte sich ihr bestes falsches Lächeln ins Gesicht und nickte. Sie würde tun, was immer nötig war, damit der Rest des Tages ohne weitere Probleme verlief.
Mrs. Eugene und Jason gingen den anderen vom Dock durch die Betelmorer Himmelsfährenstation voran und mieteten für alle gemeinsam einen Wagen. Sie stiegen in einen wunderschönen Achtsitzer, der sie umschloss wie ein Samtkissen. Stellar-Lampen tauchten das Innere in warmen Glanz und ließen die vielen Goldakzente und weichen Polster erstrahlen. Gumbo streckte sich auf dem Boden aus, und die Zwillinge spielten mit seinem Schwanz.
Das Taxi sauste durch die Straßen, bis sie das Einkaufsviertel erreichten. Die Fahrerin ließ sie am Rand der Oberstadt aussteigen.
Betelmore sah bei Tag vollkommen anders aus. Ella wünschte sich, über ein Zeit-Marvel zu verfügen und die Uhren langsamer laufen lassen zu können, um jedes einzelne Detail genau auszukundschaften. Sie wollte in allen Restaurants essen, ihr Gesicht an jedes Schaufenster drücken, bevor sie hineinging, durch sämtliche Gänge schlendern und all die seltsamen Marvellerinnen und Marveller beobachten, wie sie hierhin und dorthin eilten.
Es gab Läden, die Schreibwaren und Griffel verkauften, und solche, die Kaminsimse anboten. Sie sah mit Paragon-Accessoires und den neuesten marvellischen Modekreationen gefüllte Schaufenster, vor den Geschäften ausgestellte fliegende Marvelkoffer und traumhaft schöne Nachrichtenboxen mit den topaktuellsten Berichten sämtlicher großer Zeitungen. Kurzum: Hier gab es alles, was das Marvellerherz begehrte.
Eine zuckrige Prise entwich aus Jacksons Lolli & Pops, als sich die Drehtür in Bewegung setzte und Kinder mit Schokoladenschnurrbärten und Taschen voller Süßigkeiten herausstürmten.
»Wow!« Winnie blieb der Mund offen stehen, und Mama klappte ihr Kinn hastig wieder nach oben.
»Sonst fängst du noch Fliegen«, sagte sie. »Das hier ist auch nichts anderes als unser Fabulierer-Viertel. Du musst deswegen nicht so aus dem Häuschen sein.«
Aber es war anders. Zu Hause teilten sie sich das Viertel mit den Simplen, deshalb mussten alle Fabulierläden mit einem angemessenen Schleier und Schutz ausgestattet werden, damit sie in Sicherheit waren und nicht entdeckt wurden, nur für den Fall, dass ein Simpler hereinspazierte und zu neugierig wurde. Hier wurde jedoch nichts versteckt. Marveller mussten nicht nach links und nach rechts schauen, bevor sie einen Laden oder ein Restaurant betraten. Niemand musste erst den filigranen Goldfaden finden, der sich durch die Gehwege der Stadt flocht, oder das Fabuliersymbol über einer Tür, um zu wissen, dass es sicher war. Hier fand Ella alles wunderbar laut und bezaubernd.
Sie bogen um eine Hausecke.
Ein Kiosk der Marvellischen Zeit verschlang einen Teil des Gehwegs. In den Regalen standen glänzende Nachrichtenboxen und Körbe voller Morgen- und Mittagsausgaben mit den aktuellsten Entwicklungen.
»Abonniert die Marvellische Zeit. Alle Zeitungsabonnements umfassen eine hochmoderne Nachrichtenbox gratis«, rief ein Zeitungsverkäufer. »Ihre wichtigste Nachrichtenquelle zur bevorstehenden Wahl! Die aktuellsten Informationen zum Aufenthaltsort der meistgesuchten Verbrecherin, dem Ass der Anarchie. Erfahren Sie es hier zuerst!«
»Schaut mal! Gia hat jetzt ein neues Gesicht!« Jemand zeigte auf eine der Projektionen.
Ein greller Nachrichtenticker verkündete, dass Gia Trivelino vor Kurzem in einer Betelmorer Unterstraße gesichtet worden war und nicht lange danach bei einer Matinee im Unterhaltungsviertel. Ihr grinsendes Gesicht flackerte unter dem Wort GESUCHT.
Bei ihrem Anblick kroch ein eiskalter Schauer über Ellas Haut. Geflüster schwappte durch die wachsende Menge. Die ersten Schaulustigen entdeckten Ella. Panik stieg in ihr auf.
»Das ist das Mädchen, das sie aufgehalten hat.« Ein Zeitungsreporter deutete auf Ella, während ein anderer mit einer Kamera auf sie zueilte. »Könnten wir ein Zitat für die Abendausgabe bekommen? Oder ein Autogramm?«
Sie schwärmten um Ella herum und bombardierten sie mit Fragen:
»Wie war das Ass der Anarchie wirklich?«
»Hast du die anderen Asse auch gesehen? Sind sie aus ihren Verstecken gekrochen?«
»Weißt du, was sie mit diesen gestohlenen Marveln vorhat?«
Ella wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Plötzlich so im Zentrum des Interesses zu stehen, fühlte sich an, als würde Stellazität durch ihre Adern rauschen.
Jason erstarrte neben ihr zu einer Statue. Seine nervöse Angst war beinahe greifbar.
Mama wurde wütend. »Nein, nein, nein. Weg von meinem Kind!« Sie schlug mit ihrer Handtasche nach den Reportern, während Gumbo laut fauchte, seine scharfen Zähne fletschte und wie wild mit dem Schwanz wedelte. Die Leute schrien auf und sprangen aus dem Weg. Das Durcheinander rief mehrere nahe Wächter auf den Plan, die sofort herbeistürmten, allzeit einsatzbereit.
Papa hob die Hände in die Luft. »Genug!« Sein funkelnder Blick ließ alle erstarren.
Ella sah, wie sich die Nacken sämtlicher Zeitungsreporter und Wächter versteiften. Sie wusste, sie wollten am liebsten den Blick abwenden, konnten es jedoch nicht, weil Papa über jene Art von Fabuliergaben verfügte, die Gehorsam forderte.
»Wir sind hier, um einzukaufen. Bitte, respektieren Sie diesmal unsere Privatsphäre.« Er schob Mama, Ella und Winnie direkt hinter Mrs. Eugene, den Zwillingen und Jason um die nächste Hausecke. Die Zeitungsreporter und Wächter rührten sich nicht, bis ihre ganze Gruppe außer Sichtweite war.
Ella und Jason wechselten einen verängstigten Blick. Ellas Herz hämmerte wie wild. Sie konnte Mamas Besorgnis richtig spüren, es war wie ein winziges Erdbeben.
»Geht es allen gut, ja?« Mrs. Eugene legte eine warme Hand beruhigend auf Ellas Wange. »Hier entlang. Wir sollten uns erst mal ein bisschen sammeln, meint ihr nicht auch?« Mrs. Eugene zwinkerte Ella zu und bugsierte dann alle in eine Ecke mit mehreren Süßwarenläden.
Schweiß strömte über Mamas Gesicht, und sie hatte Mühe, ihn wegzuwischen.
»Sollen wir uns setzen, Mama? Ist dir nicht gut?«, fragte Ella.
Papa schlang einen Arm um Mamas Taille. »Wir bleiben hier draußen und schnappen ein bisschen frische Luft, Aubrielle. Die anderen können sich solange was Süßes holen.«
»Ich kann meine Kleinen nicht einfach allein lassen –«
»Ich bin bei ihnen und passe gut auf sie auf.« Mrs. Eugene trat mit Winnie, Harold und Priscilla im Schlepptau vor. »Ich werde sie nicht aus den Augen lassen. Versprochen. Wir gehen nur in diese Eisdiele und werden uns nicht vom Fleck rühren, bis du so weit bist, zu uns zu stoßen.« Die kleine Cookie gurgelte in ihrer Trage, als wollte sie Mama ein wenig aufheitern.
Mama und Mrs. Eugene wechselten einen langen, bohrenden Blick. Ella hatte das Gefühl, ihr würde das Herz stehen bleiben, als sie darauf wartete, dass Mama etwas erwiderte. Sie sah ihren angespannten Kiefer, spürte ihr Misstrauen. Welche Geschichte verband die beiden wohl?
»Nur für eine Minute. Wir sind gleich wieder bei euch.« Papa tippte an seinen Zylinder und führte Mama und Gumbo ein Stück die Straße hinunter. Ella hielt den Blick starr auf ihre Eltern gerichtet. Ihr kam der Gedanke, dass Mama in Papas Arm aussah wie eine Stoffpuppe.
»Geht’s ihr gut?«, fragte Jason.
»Sind nur die Nerven.« Ella kaute auf ihrer Unterlippe herum und spürte, wie die Last ihrer Sorgen schwerer wurde. Eine Woge der Schuldgefühle rauschte heiß durch ihren Körper. Sie hatte so vehement darauf bestanden, einkaufen zu gehen – und nun war das passiert! »Mama hatte eine Schwester, eine Zwillingsschwester. Sie ist in Astradam verschwunden, als sie noch Kinder waren. Seitdem hasst sie marvellische Städte.«
»Die Verlorenen«, murmelte Jasons Mutter. »So viele wurden von den Wolken verschluckt und nie wiedergefunden.«
Ella wollte Mrs. Eugene so gern ein paar Fragen stellen. Zum Beispiel, warum sie keine Angst hatte und ob dies der Grund war, warum sie ihre Fabulierwurzeln versteckte. Sie wusste jedoch, Mama würde nicht wollen, dass sie so neugierig war und Mrs. Eugene am Ende noch aus Versehen beleidigte.
»Aber nicht alle, die verloren sind, bleiben für immer verschwunden«, fügte Jasons Mom hinzu.
Ella wollte gerade nachhaken, was sie damit meinte, als eine Stimme den Lärm der geschäftigen Straße übertönte.
»Habt ihr mich vermisst?«
Ella und Jason wirbelten herum und sahen Brigit vor sich, ihr blondes Haar zu einem langen Zopf zusammengefasst, die Nase von Sonnenbrand gerötet. Sie umklammerte fest ihre Stricknadeln. Die drei fielen einander in die Arme. Unzählige Fragen sausten zwischen ihnen hin und her, und keine wurde wirklich beantwortet.
»Jetzt atmen wir alle erst mal ganz tief durch!«
Ella hob den Blick und sah eine Frau, der sie noch nie zuvor begegnet war. Sie war wunderschön und eher rundlich, ihr dunkles Haar war wie eine verdrehte Eistüte hochgesteckt. Ihre weißen Wangen glänzten rötlich, genau wie Brigits.
»Das ist Ms. Mead, meine Vormundin«, stellte Brigit sie vor.
Die Frau lächelte. »Hallo, Brigits beste Freunde«, sagte sie, und ihre Stimme klang tief und warm.
Auch Feste steckte den Kopf aus Brigits Beutel, um Hallo zu sagen. Ella und Jason drückten ihn an sich, bevor er es sich wieder in der Tasche gemütlich machte.
Während sie in Hirayas Halo-Halo-Hafen stürmten, erzählten sich Ella, Jason und Brigit, was sie den Sommer über so getrieben hatten, obwohl sie sich gegenseitig mit wöchentlicher Sternenpost auf dem Laufenden gehalten hatten.
Sie häuften süße rote und weiße Bohnen, Jackfrucht, Ube-Eiscreme und Kokosnuss auf ihre kleinen Eisberge und ertränkten die Köstlichkeit anschließend in Kondensmilch.
Brigit las das Schild an der Wand laut vor: »›Halo-Halo innerhalb von zwanzig Minuten essen, sonst macht das Eis, was es will. Ihr seid hiermit gewarnt. Wir übernehmen keine Verantwortung. Guten Appetit!‹«
Das ließ Ella sich nicht zweimal sagen und tauchte ihren Löffel genüsslich in die Leckerei.
Brigit kämpfte grummelnd mit dem winzigen Schneeball aus Kokosnuss und Eiscreme, der sich bereits in ihrer Schüssel bildete, als wollte er sie jede Sekunde angreifen.
Mama und Papa betraten den Laden. Ella fand, dass Mama schon ein wenig besser aussah. Eine Welle der Erleichterung schwappte durch sie hindurch, und sie hoffte, der heutige Tag würde vielleicht doch noch ein versöhnliches Ende nehmen. Mama zwinkerte ihr zu, bevor sie Mrs. Eugene half, die Kleinsten in eine nahe Tischnische zu bugsieren.
Jason holte seine Einkaufsliste hervor. »Seid ihr bereit für den Stapiertest?«
»Wofür?«, fragte Brigit.
»Den Bündeltest für Jahrgangsstufe zwei. Ihr müsst beweisen, dass ihr euer Licht bündeln könnt, um einen Stapier-Stab für den Unterricht zu bekommen«, erklärte Jason. »Sie haben deswegen allen einen Brief geschickt.«
Ella hatte ihre Sommeraufgaben gewissenhaft erledigt und fleißig geübt, ihr Marvellicht in ihre Stellazitätssphäre zu bündeln, bis es die Form einer perfekten Zwielichtkugel annahm. Sie wollte nicht zu den wenigen Lehrlingen gehören, die in Marvellicht-Bündeln für Fortgeschrittene nicht richtig am praktischen Teil des Unterrichts teilnehmen konnten.
»Das musste ich beim Sommerkurs jeden Tag machen. Schätze, ich weiß noch, wie das geht.« Brigit rollte mit den Augen, legte die Hände aneinander und schnitt eine Grimasse. Eine winzige Kugel aus flackerndem Licht tauchte in ihren Handflächen auf.
Es war noch gar nicht so lange her, dass Brigit dieses Licht verloren hatte. Ella erinnerte sich lebhaft daran, wie Brigit das schreckliche Elixier des Asses der Anarchie getrunken und dadurch beinahe ihr Zeitsicht-Marvel, dieses wunderschöne Licht, verloren hätte. Schnell blinzelte sie dieses Bild weg.
Sie grinste, von tiefem Stolz erfüllt. Sie waren beide bereit.
Der Nachmittag verging wie im Flug, nun, da sie alle zusammen waren. Ella und Brigit kauften ihre Glückstagebücher und Prophezeiungsstifte in Fannys Famoser Fügungsfestung, während sich Jason seine Stimmgabeln und Verwandte-Seelen-Handschuhe in Samuelssons Sound-Shop besorgte. Außerdem bekamen sie alle ihre neuen Mäntel für Jahrgangsstufe zwei, und selbst Mama machte Ella ein Kompliment, wie gut das Orange zu ihrem Hautton passte.
Alle benötigten Bücher kauften sie bei Cárdenas Coliseo de Libros und spekulierten darüber, wie das Arkanum-Institut in diesem Jahr wohl aussehen würde. Ihre Feuergläser und Vivarien besorgten sie sich bei Woodfolks Wunderbaren Waren, ihre Beschwörungsblöcke bei Idahosas Inselmarkt, bevor sie ihr letztes Ziel ansteuerten.
Der Laden ragte hoch über ihnen auf – vier, vielleicht sogar fünf Etagen voller Stapier-Stäbe. Silberne Buchstaben erstreckten sich über das Schaufenster: SAKAMOTOS STAPIER-SHOP. Die Mitte des Schaufensters nahm eine riesige Stellazitätssphäre aus goldenen Ringen ein, die einen leuchtend blauen Kern umschlossen.
Ella versuchte, alles in sich aufzunehmen. Die Stellazitätssphäre war sogar noch größer als ihr sehr großer, sehr breitschultriger Papa. In zwei kleineren Fenstern waren die neuesten Stapier-Modelle ausgestellt: Der Säbelblitz 3.0 und das Flitzflorett 3.5 duellierten sich miteinander, ihre Klingen so hell, dass sie Ella richtig blendeten.
Beim Näherkommen öffnete sich die Ladentür. Im Inneren wimmelte es nur so von Arkanum-Lehrlingen aus Stufe zwei, einige bereits in ihren neuen orangefarbenen Mänteln. Sie spekulierten darüber, welches Bündelmedium sie wohl bekommen würden, und schlossen sogar Wetten miteinander ab.
Mehrere Glasvitrinen priesen Kaufinteressierten das komplette Stapier-Stab-Sortiment des Ladens an. Es gab die für ihre Geschwindigkeit bekannten Fluchsklingen-Modelle und die für ihre Strategie berühmten Duellux-Stäbe. Powerschneiden waren besonders stark, Flexschwerter außergewöhnlich vielseitig. Ella konnte sich nicht mehr erinnern, welche Modelle ihnen in Jahrgangsstufe zwei erlaubt waren. Einige der langen Klingen glühten stellazitätsblau oder in goldenen Gelbtönen, je nach Hersteller und Modell. Die Griffe verfügten über verschiedene Greifmechanismen und clevere Extras.
Die Angestellten im Laden versuchten, die aufgeregte Kundenschar mit deutlichen Anweisungen zur Ruhe zu bringen. »In einer Reihe aufstellen! In einer Reihe! Alle, die wegen ihres Universalbündlers für Stufe zwei hier sind, müssen sich ein Ticket holen und dann bei Mr. Khorram hinten im Laden ihren Test ablegen.«
Als Ella Jason durch die Menge folgte, sah sie, wie ihm beim Anblick der Exponate vor lauter Aufregung beinahe die Augen überquollen.
»Schau mal«, sagte er, »das neue Flitzflorett ist angeblich der beste Stapier-Stab aller Zeiten –«
»Denk noch nicht mal dran!«, rief Mrs. Eugene ihm zu. »Du kennst die Anweisungen: nur Säbelblitze aus der 1.5er-Reihe. Aber schaut euch ruhig schon mal um, während ich Tickets für alle besorge.«
Ella nickte und schaute sich nach ihren Eltern um. Papa versuchte, Winnie im Zaum und die Zwillinge davon abzuhalten, auf Gumbo zu reiten, und Mama stand mit verschränkten Armen in einer Ecke und kaute auf ihrer Unterlippe. Wieder bekam Ella Schuldgefühle. Sie hatte geglaubt, Mama ginge es inzwischen ein wenig besser, aber vielleicht hatte sie sich zu früh gefreut. Als Jason ihr jedoch völlig aus dem Häuschen und ohne Luft zu holen erklärte, die Fluchsklingen gäbe es auch mit speziellen Griffen für Linkshänder wie ihn, ließ sie sich von seiner Begeisterung anstecken.
»Nummer 230 bis 240, bitte aufstellen«, verkündete ein Mitarbeiter des Ladens.
Brigit kam mit Ms. Mead den Gang heruntergerannt. »Das sind wir!«
Ella, Jason und Brigit stellten sich in der Schlange an. Papa nickte Ella zu und tippte an seinen Hut, dabei hielt er eine wild nach einem weiteren Ausstellungsstück grabbelnde Winnie hinten an ihrem Trägerkleid hoch.
Viel Glück, Kleines. Papas melodische Stimme schwebte durch ihren Kopf. Sie blies ihm eine Kusshand zu und wartete dann aufgeregt, während zuerst Jason und dann Brigit für ihren Marvellicht-Stapiertest in ein spezielles Zimmer gerufen wurden. Ella war bereit. Sie schloss die Augen und erinnerte sich wieder daran, wie sie im Sommer geübt hatte. Jeden Morgen, bevor sie sich mit Granny in die Fabulierapotheke aufgemacht hatte, hatte sie sich auf ihre Bettkante gesetzt, tief eingeatmet und gesungen, bis eine winzige Kugel aus Zwielicht in ihren Handflächen erschienen war. Das kleine schwarzviolette Licht hatte wie eine in Mondlicht getauchte Pflaume geleuchtet.
»Nummer 239!«
Ella erschrak richtig, als ihre Nummer aufgerufen wurde.
Mama tauchte an ihrer Seite auf, nahm Ellas Hand und küsste sie. »Bist du bereit?«, fragte sie heiser.
Ella konnte spüren, wie aufgewühlt Mama noch immer war. Sie brachte es nicht über sich, den Blick zu heben und ihr in die Augen zu schauen.
»Du musst nicht mit mir kommen«, flüsterte Ella.
»Glaubst du, ich lasse dich aus den Augen?«, erwiderte Mama mit hochgezogenen Augenbrauen, und Ella wusste, sie würde sie nicht wieder loswerden.
Sie reichte dem Ladenmitarbeiter ihr Ticket.
Als er ihren Namen las, weiteten sich seine Augen. Er hob den Kopf und durchbohrte sie, Mama und Gumbo förmlich mit seinem Blick. Ella glaubte beinahe, er könnte direkt in sie hineinschauen.
Mama gab ein tss, tss, tss von sich.
»D-Du … kannst jetzt zu deinem Test reingehen«, stammelte er. »Mr. Khorram erwartet dich.«
Mama öffnete vorsichtig die Tür. »Hallo?«, rief sie.