The Bond - Lynne McTaggart - E-Book

The Bond E-Book

Lynne McTaggart

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  • Herausgeber: Arkana
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Ein neues Verständnis von Sein und Bewusstsein

Was in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Quantenphysik begann, setzt sich seit geraumer Zeit in der Biologie, den Neurowissenschaften, der Psychologie und in den Sozialwissenschaften fort: Neue Forschungsergebnisse stellen die Grundlagen unseres konventionellen Weltbildes nachhaltig in Frage.

Genetiker finden immer mehr Beweise dafür, dass unser Erbgut nicht unveränderlich ist, sondern Umwelteinflüsse unsere Gene ein- und ausschalten können. Neurowissenschaftler zeigen uns, wie Spiegelneuronen die Grenzen zwischen Beobachter und Beobachtetem auflösen, und Sozialwissenschaftler versichern uns, dass unser Bedürfnis nach Kooperation angeboren und nicht anerzogen ist. Lynne McTaggart trägt die wichtigsten Forschungsergebnisse zusammen, die das Weltbild der Quantenphysik auf allen Ebenen bestätigen. Die Theorie ergänzt sie durch eindrucksvolle Fallgeschichten. Ihre revolutionäre Schlussfolgerung lautet: Wir existieren in einem feinstofflichen Energiefeld, das alles miteinander verbindet: The Bond. Die Wahrnehmung der Getrenntheit ist letztendlich eine Illusion.

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Seitenzahl: 526

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Für Bryan

Alles ging zugrunde … Aber es schien, als entstündeetwas Neues. Eine Art von – Verantwortung. Einer für denanderen … Dieses Gefühl müsste ausgestellt und auf die Erdezurückgeholt werden wie ein Denkmal,und jeder würde spüren, wie es da steht, hinter ihm,und es würde ihn verändern.

ARTHUR MILLER

Inhaltsverzeichnis

WidmungPrologEinleitungTeil I - Der Superorganismus
Kapitel 1 - Die Jagd nach dem Ding Kapitel 2 - Der Chefprogrammierer Kapitel 3 - Der Zeitgeber Kapitel 4 - Gemeinsame Schaltkreise
Teil II - Zur Ganzheit hingezogen
Kapitel 5 - Zur Gemeinschaft geboren Kapitel 6 - Zur Übereinstimmung geboren Kapitel 7 - Zum Geben geboren Kapitel 8 - Gegenseitiges Geben und Nehmen
Teil III - Zurück zur Verbundenheit
Kapitel 9 - Der Blick auf das Ganze Kapitel 10 - Sich der Ganzheit ergeben Kapitel 11 - Die neue Nachbarschaft Kapitel 12 - Ein »Schneeballsystem des Glücks«
Dank Anmerkungen Literatur Register Vertiefen Sie Ihre Verbundenheit Copyright

Prolog

Es war ein kühler Samstagmorgen. Ich stand in einem zugigen Auditorium und schaute einer meiner Töchter bei der Kostümprobe für die jährliche Aufführung ihres Schauspielkurses zu. Als talentierte Darstellerin war sie ursprünglich für die Hauptrolle ausgewählt worden, aber einige Wochen vor der Kostümprobe hatte man sie mit einer kleineren Rolle abgespeist. Es war mir nicht gelungen, den Grund dafür herauszufinden – und meine Tochter weigerte sich, darüber zu reden –, bis eine ihrer Freundinnen ausplauderte, es sei geschehen, als ein neuer Regisseur die Produktion übernahm. Eine andere Dreizehnjährige habe diesem damals etwas über ihre Schauspielerfahrung vorgegaukelt, um die Rolle, die eigentlich meine Tochter spielen sollte, selbst zu ergattern – und dieses andere Mädchen war ihre beste Freundin!1

Die Mutter der neuen Hauptdarstellerin war an diesem Tag ebenfalls unter den Zuschauern, und als ich sie taktvoll auf das Thema anzusprechen versuchte, fiel sie mir schulterzuckend ins Wort und meinte völlig ungerührt: »Na ja, so ist das Leben nun mal, oder nicht?«

Ich war sprachlos, musste jedoch einräumen, dass sie nicht völlig unrecht hatte. Ganz sicher ist dies das Leben, das wir Erwachsenen für uns selbst geschaffen haben. Konkurrenz bildet Kette und Schuss im sozialen Gewebe der meisten modernen Industrienationen. Sie ist der Motor unserer Gesellschaft und gilt als die Basis der Mehrzahl unserer Beziehungen – im Geschäftsleben, in der Nachbarschaft, sogar unter engen Freunden. Um jeden Preis der Erste sein zu wollen ist auf irgendeine Weise zur Selbstverständlichkeit geworden: »Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt«, »Der Stärkste überlebt«, »Der Sieger nimmt alles« … Da überrascht es kaum, dass sich extrem konkurrenzorientierte Taktiken auch in die sozialen Beziehungen unserer Kinder eingeschlichen haben und zu großen und kleinen Verstößen führen.

Ich begann über den sozialen Austausch in meiner eigenen Nachbarschaft nachzudenken und darüber, wie sehr das, was Psychologen als »Relativitätsbewusstsein« bezeichnen, in diesem Umfeld überhaupt eine Rolle spielt. »Wie viele Kinder hast du?«, »Welches Auto fährst du?«, »Wie viele Urlaubsreisen kannst du dir dieses Jahr leisten?«, »Welches College besucht dein Kind?«, »Welchen Notendurchschnitt hat es?« … Oder anders gesagt: »Wo stehst du auf der sozialen Leiter?« Sogar die Besten unter uns erleben manchmal innere Momente wie Wallstreet-Yuppie und Investmentbanker Patrick Bateman in dem Roman American Psycho, der sich überwiegend an Äußerlichkeiten orientiert und bei einem Blick auf die edle neue Visitenkarte seines Kollegen denkt: »O mein Gott, sie hat sogar ein Wasserzeichen!«

Aus einer wissenschaftlichen Perspektive erschien mir der Gedanke, dass Konkurrenz ein fundamentales menschliches Bedürfnis ist, jedoch nicht schlüssig. Ich schreibe über Pionierleistungen der Forschung, und die neuesten Erkenntnisse aus vielen Disziplinen – von den Neurowissenschaften und der Biologie bis zur Quantenphysik – sprechen dafür, dass die grundlegendste Triebkraft der Natur nicht der Wettbewerb ist, wie es die klassische Evolutionstheorie behauptet, sondern das Streben nach Ganzheit. Ich hatte viele neue Forschungsergebnisse gesichtet, aus denen hervorging, dass alle Lebewesen einschließlich der Menschen so veranlagt sind, dass die Suche nach Verbundenheit für sie in Wirklichkeit wichtiger ist als jeder andere Impuls – sogar wenn sie persönlich einen Preis dafür zahlen müssen. Gleichwohl beharrt das derzeitige Paradigma der traditionellen Wissenschaft darauf, dass unser Universum ein Ort des Mangels ist, bevölkert von getrennten Subjekten und Objekten, die in Kontraposition zueinander stehen müssen, um zu überleben. Wir alle scheinen einfach davon auszugehen, dass »das Leben nun mal so ist«.

Aber selbst wenn das unser Weltbild wäre, entspräche es beispielsweise ganz gewiss nicht der Sicht des Tieres, das uns am nächsten steht: unser Hund Ollie. In Ollies Umfeld gilt keineswegs die Devise »Hund frisst Hund«. Obwohl er für Menschen nicht viel Zeit erübrigt, ist er doch freundlich zu jedem Artgenossen, den er auf seinen Spaziergängen trifft. Und regelmäßig schiebt er für T-Bone, die Affenpinscherdame unseres Nachbarn, Knochen unter dem Zaun durch und hebt für diese seine Hundefreundin sogar die größten Exemplare auf. Ollies Beziehung zu T-Bone widerspricht jeder gängigen biologischen Beschreibung des Gebotes, egoistisch zu handeln. Da T-Bone sterilisiert ist, zieht Ollie aus seinem Verhalten keinerlei persönlichen Vorteil, denn sie bietet ihm noch nicht mal die Möglichkeit, seine Gene weiterzugeben. Aber wenn seine Freundin ihn besucht, angelt Ollie für sie Hühnchenreste aus der Mülltonne und überlässt ihr anschließend großmütig seinen eigenen Fressnapf, seine Schweineohren und sein Spielzeug. Obwohl T-Bone kleiner ist als Ollie, lässt er sie beim gemeinsamen Spiel oft »gewinnen«, nur damit sie bleibt.

Ich begann mir eine grundlegende Frage zu stellen: Muss es so sein, dass wir ständig miteinander konkurrieren? Ist es uns tatsächlich bestimmt, so miteinander umzugehen, wie wir es tun? Wie ist es dazu gekommen? Und wenn es nicht unser Schicksal ist, was ist uns stattdessen bestimmt?

Seit jener Kostümprobe denke ich, dass wir irgendwann den »Gesellschaftsvertrag« zerrissen und vergessen haben, wie man zueinanderfindet. Irgendwann und irgendwo haben wir die Erinnerung daran verloren, wie wir sein sollen.

Aber so muss es nicht bleiben. Als ich für dieses Buch zu recherchieren begann und mir die neuesten Entdeckungen aus vielen Fachgebieten ansah – allgemeine Biologie, Physik, Zoologie, Psychologie, Botanik, Anthropologie, Astronomie, Chronobiologie und Kulturgeschichte –, erkannte ich immer klarer, dass die Lebensweise, für die wir uns entschieden haben, nicht zu dem passt, was wir eigentlich sind. Ich habe entdeckt, dass viele andere Gesellschaften zum Teil völlig unterschiedlich zu uns leben und dass ihre Weltsicht eher mit den neueren Erkenntnissen der aktuellen Wissenschaft in Einklang steht. Diese Kulturen nehmen das Universum als unteilbares Ganzes wahr, und ihre Kernüberzeugung hat eine völlig andere Weltsicht und einen anderen Umgang mit der Welt zur Konsequenz als unsere. Sie glauben, dass sie zu allem, was lebt, in Beziehung stehen – sogar zur Erde selbst. Wir sehen das Objekt, das einzelne Teilchen; sie sehen den Klebstoff zwischen den Teilchen – das, was sie zusammenhält. Für diese Gesellschaften ist nicht das Individuum wesentlich, sondern die Beziehung zwischen Individuen, in der sie ein »Ding« ganz eigener Art sehen.

Sie haben verstanden, dass die grundlegende Natur der Menschheit eine Zusammenkunft ist – eine Kommunion –, und das hat in der Regel ein glücklicheres Leben, niedrigere Scheidungsraten, weniger gestörte Kinder, weniger Kriminalität und Gewalt und eine stärkere Gemeinschaft zur Folge.

Sie haben sich für eine bessere Lebensweise entschieden, eine authentischere Seinsweise – und zwar eine solche, von der ich meine, dass sie ursprünglich auch Ihnen und mir zugedacht war. Und sie leben auf diese Weise, weil sie sich an einer anderen Geschichte orientieren, an einem anderen Bild davon, wer wir sind und warum wir hier sind, einem Bild, das sich grundlegend von dem unterscheidet, das unsere Kultur und vor allem unsere konventionelle Wissenschaft vertreten.

Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu beweisen, dass wir nach überholten Regeln leben. Ich will zeigen, dass die wissenschaftliche Geschichte darüber, wer wir sind, sich drastisch verändert hat und dass wir uns mit ihr verändern müssen, wenn wir überleben wollen. Der Wettbewerbsimpuls, der jetzt noch ein wesentlicher Teil unseres Selbstbildes ist und die Unterströmung unseres gesamten Lebens bildet, ist genau die Denkweise, welche jede einzelne der großen globalen Krisen hervorgebracht hat, die uns jetzt zu zerstören drohen. Wenn wir wieder zur Ganzheit in unseren Beziehungen zurückfinden, dann werden wir meiner Meinung nach beginnen, unsere Welt zu heilen.

Ich hoffe, dass Ihnen die Lektüre dieses Buches zu einer besseren Nachbarschaft verhelfen wird – zu sozialen Beziehungen, in denen der konkurrenzorientierte Vergleich und das Übervorteilen wie das »Stehlen« von Rollen nicht mehr zu den Spielregeln gehören.

Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass dieses Buch keine Apologetik des Kommunismus oder des Sozialismus ist und auch kein neues ökonomisches oder politisches Modell propagiert. Ich genieße die Freiheiten der Demokratie genauso, wie Sie es wahrscheinlich tun, wenn auch nicht die jüngsten Exzesse des ökonomischen Modells, das sie hervorgebracht hat; und in den vielen Jahren, die ich nun in Großbritannien lebe, habe ich die Mängel der früheren, mehr sozialistisch ausgerichteten Politik am eigenen Leib erfahren. Die in diesem Buch vorgestellten Ideen sollen weder die Wissenschaft als Profession noch die Entdeckungen der großen Genies wie Isaac Newton oder Charles Darwin herabwürdigen. Ich gehöre ausdrücklich nicht zu den Kreationisten. Gleichwohl ist die Wissenschaft eine endlose Abfolge von Entdeckungen. Kein einzelner ihrer Protagonisten schreibt die für alle Zeiten endgültige Welterklärung. Während neue Forschungsergebnisse ans Licht kommen, verändern oder ersetzen neue Kapitel frühere Fassungen der Geschichte. Seit geraumer Zeit erleben wir eine radikale Revision unseres Selbstbildes und unseres Weltbildes. Viele Theorien, die uns heilig waren, darunter auch die ursprüngliche Evolutionstheorie, werden in dem Maße verfeinert, wie mehr Informationen über unsere Welt zugänglich werden.

Ich hoffe, dass ich Ihnen eine erste Orientierung für das Leben nach dieser neuen wissenschaftlichen Geschichte anbieten kann. Ich möchte Ihnen einen frischen Blick auf die Welt aus einer umfassenderen Perspektive eröffnen, neue Möglichkeiten der Beziehung mit anderen Menschen zeigen, ein neues Gefühl von Gemeinschaft, einen neuen, authentischen Lebenssinn vermitteln – etwas, was besser ist als der Neid auf die Visitenkarte mit Wasserzeichen, die Ihr Nachbar vielleicht sein Eigen nennt.

Ich möchte Ihnen zeigen, wie einfach es ist, ein ganzheitliches Leben zu führen, und dass winzige Veränderungen ausreichen, um unser Dasein und das der Menschen in unserem Umfeld zu revolutionieren.

Das Leben muss nicht so bleiben, wie es ist. Keinen einzigen Tag länger.

Lynne McTaggartim Dezember 2010

Einleitung

Immer mehr Menschen spüren, dass wir am Ende einer Ära angekommen sind. Seit einiger Zeit diskutieren Blogger und Zeitungskolumnisten eifrig darüber, was die scheinbar unablässigen Krisen unserer modernen Zeit für uns alle bedeuten: Bankenkrise, Terrorismuskrise, Staatsschuldenkrise, Klimakrise, Umweltkrise – verursacht durch menschliches Handeln oder auf andere Weise.

»Die Welt, wie wir sie kennen, geht den Bach runter«, sagte ein Wallstreet-Broker Reportern im September 2008, als Morgan Stanley nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers unverzüglich dasselbe Schicksal drohte. »Das ist das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen«, erklärte Filmemacher Michael Moore, als der amerikanische Autogigant General Motors Insolvenz angemeldet hatte. »Das ist das Ende des Euro«, warnten europäische Kolumnisten, nachdem mehrere südeuropäische Staaten im Mai 2010 unter der Schuldenlast ihrer öffentlichen Haushalte kurz vor dem Zusammenbruch standen. »Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen erstickt unseren Planeten«, verkündete Präsident Barack Obama, nachdem die Ölplattform Deepwater Horizon explodiert war, und er bezeichnete die »grüne Wende« als nationale Mission. Sogar das Ende der Welt im Jahr 2012 wurde im sogenannten Maya-Kalender suggeriert.

Aber die Krisen, mit denen wir es an vielen Fronten zu tun haben, sind Symptome eines tiefer gehenden Problems mit sehr viel größeren potenziellen Auswirkungen als irgendeine einzelne Katastrophe. Sie sind lediglich ein Maß für die Diskrepanz zwischen unserer Definition von uns selbst und unserem wahren innersten Wesen. Über Jahrhunderte hinweg haben wir gegen die Natur gehandelt, indem wir unsere innere Verbundenheit ignoriert und uns selbst als getrennt von der Welt definiert haben. Jetzt haben wir den Punkt erreicht, an dem wir nicht mehr nach diesem unrealistischen Selbstbild leben können. Was endet, ist die Geschichte, die wir uns selbst bis heute darüber erzählt haben, wer wir sind und wie wir leben sollten – und aus jenem Ende ergibt sich der einzige Weg in eine bessere Zukunft.

Mit diesem Buch begebe ich mich auf eine gewagte Mission: Ich will Ihre Lebensweise revolutionieren. Das Buch wird die wissenschaftliche Geschichte umschreiben, die man Ihnen darüber erzählt hat, wer Sie sind, denn die derzeitige Version hat uns auf unseren kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert. In ebendiesem Augenblick leben Sie wahrscheinlich das genaue Gegenteil Ihrer wahrhaftigen innersten Natur. Ich hoffe, dass ich Ihnen dabei helfen kann, sich Ihr Geburtsrecht zurückzuerobern, das nicht nur durch die moderne Gesellschaft, sondern sehr viel grundlegender durch die moderne Wissenschaft sabotiert worden ist. Ich möchte Sie zu dem Menschen erwecken, der Sie wirklich sind, nichts Geringeres tun, als Sie zu Ihrem authentischen Selbst zurückzuführen.

Das Leitmotiv der Geschichte, die bis heute unser Leben bestimmt, ist der Held, der allein gegen alle steht. Wir halten es für selbstverständlich, dass unser Lebensweg als Kampf vorgezeichnet ist. Folglich sind wir ständig auf der Hut, bereit, mit sämtlichen Ungeheuern zu ringen – zu Hause, bei der Arbeit, unter Bekannten und Freunden –, die unseren Weg kreuzen. So angenehm unser Leben auch sein mag, die überwiegende Mehrheit von uns bleibt immer in Habtachtstellung und sieht in jeder Begegnung eine Art Kampf, der ausgetragen werden muss: gegen Kollegen, die sich unseren Job unter den Nagel reißen oder an unserer statt befördert werden wollen, gegen Studenten, die die Messlatte höherlegen, nach der wir beurteilt werden, gegen Leute, die uns den Sitzplatz in der U-Bahn wegnehmen, gegen Verkäufer, die uns übers Ohr hauen wollen, gegen die Nachbarn, die einen Mercedes haben, während wir uns mit einem VW begnügen müssen, oder sogar gegen den Partner oder die Partnerin, der oder die so dreist ist, auf einer Meinung zu beharren, die sich von unserer unterscheidet.

Diese Vorstellung, »Wir gegen die Welt«, hat ihren Ursprung in unserem Grundverständnis, dass unser ureigenes Selbst – das, was wir unser »Ich« nennen – als getrennte Einheit existiert, eine einzigartige Schöpfung des genetischen Codes, die von allem anderen »dort draußen« abgesondert lebt.

Die nachhaltigste Aussage, die wir über unsere menschliche Verfassung treffen, die zentrale Tatsache unserer Existenz, ist unsere Einsamkeit, unser Gefühl, von der Welt getrennt zu sein. Wir halten es für selbstverständlich, dass wir als unabhängige, isolierte Einheit existieren und unser individuelles Drama ausleben, während alles andere – andere Atome, andere Zellen, andere Lebewesen, die Landmassen, die Planeten, sogar die Luft, die wir atmen – sich von uns unterscheidet und völlig getrennt von uns lebt.

Obwohl schon unser Leben damit beginnt, dass sich zwei Geschöpfe vereinigen, sagt uns die Wissenschaft, dass wir auf unserem weiteren Weg ganz und gar auf uns selbst angewiesen sind. Die Welt ist das unbestreitbar andere, das teilnahmslos weitermacht, mit oder ohne uns. Unser Herz, so glauben wir, schlägt letztendlich auf schmerzhafte Weise allein.

Dieses Paradigma des wettbewerbsorientierten Individualismus bietet uns ein metaphorisches Bild des Lebens als eines heldenhaften Kampfes um die Herrschaft über feindliche Elemente und einen Anteil an streng begrenzten Ressourcen. Es gibt »dort draußen« nicht genug für alle, und andere sind vielleicht fitter als wir, sodass wir alles daransetzen müssen, die Objekte unserer Begierde als Erste in die Hand zu bekommen.

Zahllose Einflüsse – religiöse, politische, ökonomische, wissenschaftliche und philosophische – prägen die Geschichte, an der wir unser Leben ausrichten. Doch die meisten großen Ideen über das Universum und was es heißt, ein Mensch zu sein, leiten sich aus drei Revolutionen ab: der wissenschaftlichen Revolution, die sich im sogenannten Zeitalter der Aufklärung vollzog, und den beiden industriellen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, welche die kulturellen und sozioökonomischen Bedingungen des Westens zu dem gemacht haben, was wir heute als unsere moderne Welt kennen. Diese Bewegungen haben weitgehend unsere aktuellen Vorstellungen von Individualität geprägt, indem sie unser Bild vom Universum als ein harmonisches, wohlwollendes und miteinander verbundenes Ganzes in eine Ansammlung von beziehungslosen Einzelteilen, die miteinander ums Überleben konkurrieren, verwandelt haben.

Die wissenschaftliche Revolution hat einen endlosen Marsch zur Atomisierung in Gang gesetzt, denn die Wissenschaftler glaubten, sie könnten das Universum als Ganzes verstehen, indem sie seine Einzelteile untersuchten.

Mit der Veröffentlichung seiner Philosophiae Naturalis Principia Mathematica beschrieb Isaac Newton, der Vater der modernen Physik, 1687 ein Universum, in dem alle Materie sich nach bestimmten festen Gesetzen innerhalb einer dreidimensionalen Zeit und eines geometrischen Raums bewegte. Newtons Gesetze der Bewegung und Schwerkraft stellen das Universum im Kern als Maschine dar, ein riesiges Uhrwerk aus Einzelteilen, auf deren vorhersagbares Verhalten man sich immer verlassen kann. Nachdem die Newton’schen Gesetze gezeigt hatten, dass man die Flugbahn praktisch aller Objekte auf eine mathematische Gleichung reduzieren konnte, von den Planetenbewegungen bis zu jedem Gegenstand auf der Erde, gelangten die Menschen zu einem mechanistischen Weltbild. Newtons Gesetze zeigten außerdem, dass die Dinge unabhängig voneinander existierten, völlig eigenständig nach ihren jeweils eigenen unberührten Grenzen. Die Haare auf unserer Haut markierten die Grenze unseres Körpers, und genau an dieser Stelle begann der Rest des Universums.

An diesem Gefühl einer grundsätzlichen Trennung des Menschen vom Universum orientierten sich auch die Theorien des französischen Philosophen René Descartes, der jede Art aktiver und holistischer Intelligenz aus der Natur verbannte und durch eine Philosophie ersetzte, die das Universum als unbeweglich und korpuskular beschrieb. Sogar unser Körper befindet sich außerhalb unseres bewussten Selbst als das nicht reduzierbare andere: eine weitere gut geölte und überaus zuverlässige Maschine.

Bestärkt wurde das Newton’sche mechanische Paradigma durch die Erfindung der einflussreichsten aller Maschinen, der Dampfmaschine. Dampfkraft und die Entwicklung von Maschinen, die damit betrieben werden konnten, veränderten nicht nur die Erzeugung von Nahrung, Brennstoffen, Heizung, Produktionsverfahren und Transportwesen. Sie wirkten sich auch nachhaltig auf den Menschen aus, indem sie ihn von der natürlichen Welt und ihren organischen Kreisläufen trennten. Das Leben wurde in jeder Hinsicht auf regelmäßige Abläufe heruntergebrochen. Die Arbeitskräfte waren nur noch ein weiteres Rädchen im Getriebe. Zeit wurde im Minutentakt gemessen. Sie folgte nicht mehr den alljährlichen Abläufen von Aussaat und Ernte, sondern richtete sich nach dem Schlag der Uhr. Die große Mehrheit der Menschen, die in Fabriken arbeiteten, orientierte sich nicht mehr an den Rhythmen der Natur, sondern am Rhythmus einer Maschine.

Die zweite industrielle Revolution, die zur Entwicklung der modernen Stahl- und Ölindustrie und zum Aufstieg der Mittelklasse führte, bahnte den Weg für den modernen Kapitalismus und die Förderung des Individuums und seiner persönlichen Interessen. Diese Ideen finden sich in den Schriften des schottischen Philosophen Adam Smith. Sein 1776 veröffentlichtes Buch An Inquiry into the Nature and Cause of the Wealth of Nations (Der Wohlstand der Nationen) gilt als eine der Grundlagen der modernen Wirtschaftstheorie des Laisser-faire. Smith argumentiert darin, dass die »unsichtbare Hand« des Marktes, erzeugt durch Angebot und Nachfrage und die Konkurrenz zwischen Individuen, die ihren persönlichen Profit maximieren wollen, auf natürliche Weise der Gesellschaft am besten dient. Smith glaubte fest daran, dass wir das Beste für andere tun, wenn wir unserer fundamental eigennützigen Natur ihren Lauf lassen und danach streben, der Erste zu sein: »Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert [der Einzelne] oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.« 1

Charles Darwins Theorien der natürlichen Auslese haben zweifellos den größten Einfluss auf unser aktuelles Weltbild. Bei seiner Ideensammlung für sein Werk, das schließlich unter dem Titel Die Entstehung der Arten veröffentlicht wurde, war der junge Darwin nachhaltig von den Überlegungen beeinflusst, die Reverend Thomas Robert Malthus über die Bevölkerungsexplosion und die begrenzten natürlichen Ressourcen 2 geäußert hatte, und so kam er zu dem Schluss, weil das Vorhandene nicht für alle reichte, müsse sich die Evolution des Lebens durch den von ihm so bezeichneten »Kampf um die Existenz« vollziehen. Darwin schrieb: »Da daher mehr Individuen erzeugt werden, als möglicherweise fortbestehen können, so muss in jedem Falle ein Kampf um die Existenz eintreten, entweder zwischen den Individuen einer Art oder zwischen denen verschiedener Arten, oder zwischen ihnen und den äußeren Lebensbedingungen.« 3

Darwin legte großen Wert auf den Hinweis, dass sein Schlagwort vom »Kampf um die Existenz« nicht nur wörtlich, sondern in umfassender Weise zu verstehen sei – von Pflanzen, deren Wurzeln nach Wasser suchen, bis zu den Tieren, die sich im Rudel aufeinander verlassen. Es war der britische Philosoph Herbert Spencer, der zuerst den Ausdruck »Überleben des Stärksten« prägte, nachdem er begeistert Darwins Entstehung der Arten gelesen hatte. Darwin ließ sich schließlich überreden, den Begriff zu übernehmen, 4 ergänzte ihn aber später noch durch den Untertitel Or The Preservation of the Favoured Races in the Struggle for Life (Oder Die Erhaltung der bevorzugten Rassen im Kampf um die Existenz).

Malthus hatte Darwin eine zentrale Metapher gegeben, mit deren Hilfe er die Mechanismen hinter dem natürlichen Trieb, sich fortzupflanzen und zu gedeihen, erklären konnte, und als unabwendbare Konsequenz ließ Darwin seinerseits eine Metapher auf die Welt los, die zum Ausdruck menschlicher Erfahrung werden sollte: das Leben als Krieg. Ein Individuum oder eine Gruppe kann nur auf Kosten anderer gedeihen. Obwohl Darwin den Begriff sehr großzügig auslegte und differenzierte, blieb doch fast augenblicklich die engere Bedeutung hängen und bildete den wissenschaftlichen Rahmen für die verschiedenen sozialen und ökonomischen Bewegungen, die damals aufkeimten. Die meisten späteren Interpretationen von Darwins Werk, sogar noch zu seinen Lebzeiten, förderten eine Vorstellung aller Aspekte des Lebens als Kampf um knappe Ressourcen, bei dem nur die Stärksten und Entschlossensten überleben konnten.

Der englische Biologe Thomas Huxley, der Richard Dawkins seiner Zeit, der als lautstarkes Sprachrohr Darwins den Spitznamen »Darwins Bullenbeißer« bekam, übertrug die Sicht des gnadenlosen Konkurrenzkampfes auch auf die Evolution der Kultur, der Ideen – und sogar des menschlichen Geistes. Huxley war überzeugt, dass es in der Natur des Menschen liegt, die jeweils eigenen Interessen über die aller anderen zu stellen. 5

Dank der kurz zuvor erfundenen Telegrafie und der Fortschritte beim Buchdruck verbreiteten sich Darwins Ansichten rasch in aller Welt: Das »Überleben des Stärksten« passte perfekt zum aufgeklärten Konkurrenzverhalten der Marktteilnehmer, wie es der Theorie von Adam Smith entsprach. Aber Darwins Theorien dienten nicht nur dazu, den westlichen Kapitalismus zu rechtfertigen, sondern auch die chinesische Revolution und die Unterwerfung der uransässigen lateinamerikanischen Kultur durch Menschen und Ansichten europäischer Herkunft. 6 Autoren wie die in Russland geborene Ayn Rand veröffentlichten Romane, die nur eine oberflächlich getarnte Polemik sind, um einem Prozess Beifall zu spenden, bei dem jeder von uns versucht, sich das größte Stück vom Kuchen einzuverleiben.

Die Metapher vom Leben als einem Wettlauf zur Ziellinie ist als intellektuelle Rechtfertigung für viele Aspekte der modernen Industriegesellschaft benutzt worden, die Wettbewerb als perfekten Aussonderungsmechanismus betrachtet, um die ökonomisch, politisch und sozial Schwachen von den Starken zu trennen. Die Sieger haben dabei das Recht, sich alles zu nehmen, weil die menschliche Rasse insgesamt angeblich davon profitiert.

Die letzte wichtige Prägung erhielt unser modernes wissenschaftliches Selbstbild 1953, als die Molekularbiologen James Watson und Francis Crick das »Geheimnis des Lebens« lüfteten, indem sie die Desoxyribonukleinsäure (DNS) entschlüsselten, den genetischen Code im Kern einer jeden Zelle. Danach gelangten Wissenschaftler zu der Überzeugung, dass in der gewundenen Doppelhelix die lebenslange Blaupause eines jeden Individuums gespeichert ist. Jede unserer Zellen, ausgestattet mit einem vollständigen Satz von Genen, würde ihre programmierte Zukunft ausleben, während wir als Geiseln gehalten würden und nichts anderes tun könnten, als die Entfaltung des Dramas zu beobachten. Wie jede andere Materie hatte man damit auch den Menschen in seine Einzelteile zerlegt – und ihn gewissermaßen auf eine mathematische Gleichung reduziert.

Die heutigen Interpreten Darwins, die sogenannten Neodarwinisten, haben den Wettbewerb und den Kampf ums Dasein in die neuesten Theorien unserer biologischen Ausstattung eingebaut, indem sie die These vertreten, dass jeder Teil von uns egoistisch handelt, um zu überleben. Unsere Gene – sogar unsere Ideen – konkurrieren mit anderen Genpools und Gedanken um Vorherrschaft und Langlebigkeit. 7 Es gibt tatsächlich Wissenschaftler, die den Genen die Macht zuschreiben, jeden Aspekt unseres Lebens zu kontrollieren, wobei sie den Körper lediglich für das zufällige Nebenprodukt einer größeren evolutionären Bestrebung halten. 8

Die moderne Evolutionstheorie hat der Natur auch den letzten Rest von Moral und Güte geraubt: Die Natur hat kein Interesse an Kooperation und Partnerschaft, sondern nur an Siegern jeder Art. Die Vorstellung eines sinnvollen und harmonischen Ganzen wurde ersetzt durch eine blinde evolutionäre Kraft, bei der menschliche Absichten keine Rolle mehr spielen.

Viele Psychologen haben die Gelegenheit beim Schopf gepackt, um ihre These zu erhärten, dass Konkurrenzverhalten angeboren ist, ein natürlicher biologischer Drang, mit dem wir genauso auf die Welt kommen wie mit unserem Überlebenswillen. Wenn wir nicht mehr um Nahrung, Wasser und Sexualpartner kämpfen, dann stehen wir im Wettbewerb um kurzlebigere Preise: Reichtum, Grund und Boden, Status und neuerdings auch Ruhm.

Folglich wurde unser Weltbild seit mehr als dreihundert Jahren durch eine Geschichte geprägt, die beschreibt, wie isolierte Wesen auf einem einsamen Planeten in einem gleichgültigen Universum ums Überleben konkurrieren. Die moderne Wissenschaft definiert das Leben im Kern als rücksichtslos, egoistisch und einsam.

Diese Metaphern – die mechanistische Sicht des Universums und unser Selbstbild als »blutrünstige« Raubtiere – durchdringen unser Bewusstsein und jeden unserer Tage. Unser heutiges Paradigma fürs Leben basiert auf der Grundannahme, dass Wettbewerb die wesentliche Visitenkarte der Existenz ist. Jedes moderne Lebensrezept leitet sich aus unserer Vorstellung ab, dass wir einen individuellen und einsamen Kampf führen, bei dem der Wettbewerb aller gegen alle unauflöslich zum Dasein gehört. Unser gesamtes Modell der westlichen Ökonomie gründet sich auf die Vorstellung, dass Konkurrenz in einer freien Marktwirtschaft die entscheidende Voraussetzung für herausragende Leistungen und Wohlstand ist. In unseren Beziehungen erheben wir unser angeborenes Recht auf individuelles Glück und Selbstverwirklichung über alles. Wir ermutigen unsere Kinder, mit ihren Altersgenossen zu konkurrieren und sie zu übertrumpfen. In den meisten modernen Wohngebieten mit zwei Autos in jeder Garage geht es vor allem um Vergleiche und die Kunst, anderen um eine Nasenlänge voraus zu sein. Die Welt ist, wie Woody Allen es einmal ausgedrückt hat, »eine einzige große Cafeteria«.

Dieser individualistische Zeitgeist, der dem Sieger das Recht auf alles gibt, trägt die Schuld an vielen Krisen in unserer heutigen Gesellschaft, allen voran die Exzesse auf den Finanzmärkten, wo man meint, dass die Profite alljährlich um jeden Preis wachsen müssten. Bevor er für seine Beteiligung an den betrügerischen Machenschaften des Energiekonzerns Enron ins Gefängnis geschickt wurde, prahlte CEO Jeffrey Skilling damit, sein Lieblingsbuch sei Das egoistische Gen des Neodarwinisten Richard Dawkins, und er habe in regelmäßigen Abständen alle Mitarbeiter gefeuert, die zu den untersten zehn Prozent mit den schlechtesten Ergebnissen gehörten, um auf diese Weise die »Fitness« seiner gesamten Belegschaft zu erhöhen. 9 Diese Einstellung ist verantwortlich für die Flut von Täuschungen, die jetzt alle Bereiche der Gesellschaft überschwemmt, von den nachweislich 50 Prozent der Studenten, die bei ihren Prüfungen pfuschen, über Doktorarbeitsplagiate bis hin zum Betrug in Konzernen, sogar in Bereichen, in denen es ausdrücklich um öffentliche Interessen geht. Inzwischen geht man davon aus, dass bis zu drei Viertel aller in der medizinischen Literatur veröffentlichten Studien über Medikamente von PR-Firmen im Dienst der Pharmaindustrie geschrieben wurden, wobei ernste und potenziell tödliche Nebenwirkungen routinemäßig verharmlost werden oder unter den Tisch fallen. 10

Die unserem derzeitigen Weltbild innewohnende Gefahr zeigt sich in seinen extremen Auswüchsen und in der Art und Weise, wie es als Rechtfertigung für soziopathisches Verhalten benutzt wird, vom Massenmord im Dritten Reich und der Eugenik im 20. Jahrhundert bis zu modernen ethnischen Säuberungen und Serienmorden. So trug beispielsweise Eric Harris ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Natürliche Auslese«, als er gemeinsam mit Dylan Klebold am 20. April in die Columbine High School schlenderte und das Feuer eröffnete – bewaffnet mit zwei jeweils zehn Kilo schweren Propangasbomben, einer Sammlung von Molotowcocktails, einer abgesägte Pumpgun, zwei halbautomatischen Pistolen, einer Tec-9 und einer doppelläufigen abgesägten Schrotflinte. 11

Obwohl unsere Newton’sche Weltsicht uns die technologische Meisterschaft über unser Leben beschert hat, zeigen etwa die Finanzkrise des Jahres 2008 mit dem Zusammenbruch unseres globalen Wirtschaftsmodells wie auch die gegenwärtige ökologische Krise, die drohende Verknappung von Wasser und Nahrung und das Austrocknen der Ölquellen, dass unserer Weltsicht enge Grenzen gesetzt sind, die jetzt vielleicht unseren Planeten mit der Auslöschung bedrohen und viele von uns auf der persönlichen Ebene mit einem Gefühl der Leere zurücklassen, als hätten wir etwas Grundlegendes – eben genau unsere Menschlichkeit – in unserer Konkurrenzbesessenheit draußen vor der Tür gelassen.

Wir brauchen dringend eine neue Geschichte, an der wir unser Leben orientieren können.

Seit ich vor etwa fünfzehn Jahren begonnen habe, über die Bedeutung vieler topaktueller Entdeckungen in der Physik und anderen Zweigen der Naturwissenschaft nachzudenken, 12 überrascht es mich immer wieder, wie viele der vorherrschenden wissenschaftlichen Theorien – und mit ihnen unser Modell davon, wie die Welt funktioniert – derzeit in Rauch aufgehen. Mit jeder neuen wissenschaftlichen Erkenntnis wird ein weiteres Stück unseres geschätzten Selbstbildes über den Haufen geworfen. In vielen Disziplinen taucht eine völlig neue wissenschaftliche Geschichte auf, die unsere grundlegenden Annahmen des Newton’schen und darwinistischen Weltbildes und vor allem die wichtigste Grundvoraussetzung unserer Geisteshaltung ins Wanken bringt: die Vorstellung, dass alle Dinge als getrennte Einheiten ums Überleben konkurrieren. Die neuesten Erkenntnisse der Quantenphysik sprechen für die außergewöhnliche Möglichkeit, dass alles Leben in einer dynamischen Beziehung der Kooperation existiert. Den Quantenphysikern ist jetzt klar, dass das Universum keine Sammlung getrennter Einzelteile ist, die im leeren Raum herumwirbeln. Vielmehr existiert alle Materie in einem ausgedehnten Quantennetz der gegenseitigen Verbundenheit, und jedes Lebewesen ist im Kern ein Energiesystem, das einen ständigen Informationstransfer mit seiner Umgebung vollzieht. Statt einer Ansammlung individueller und unabhängiger Atome und Moleküle versteht man das Leben jetzt zutreffender als einen dynamischen und vielgestaltigen Prozess, in dem die Teile eines Objektes und die Teile eines anderen permanent die Plätze tauschen.

Diese Revolution beschränkt sich nicht auf die Physik. Außerordentliche neue Entdeckungen in der Biologie und den Sozialwissenschaften haben unsere Sicht von Beziehungen zwischen Lebewesen und ihrer Umgebung grundlegend geändert. Progressive Biologen, Psychologen und Soziologen haben durch ihre Arbeit belegt, dass einzelne Objekte weit weniger individuell bzw. autark sind, als wir bisher angenommen haben. Zwischen den winzigsten Partikeln unseres Daseins, zwischen unserem Körper und seiner Umgebung, zwischen uns selbst und allen Menschen, mit denen wir in Kontakt stehen, zwischen allen Mitgliedern jeder gesellschaftlichen Gruppe gibt es eine Verbindung, die so wesentlich und grundlegend ist, dass man vielfach keine klare Grenzlinie mehr ziehen kann, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Im Kern funktioniert die Welt nicht durch die Aktivitäten einzelner Objekte, sondern durch die Konnexionen zwischen ihnen – gewissermaßen innerhalb des Raums zwischen den einzelnen Objekten.

Der wichtigste Aspekt des Lebens ist nicht das isolierte Detail, sei es nun ein subatomares Teilchen oder ein voll entwickeltes Lebewesen. Es ist die Beziehung per se: eine untrennbare, nicht reduzierbare Verbindung. Diese Verbindung – der Raum zwischen den Objekten – enthält die Schlüssel zum Leben eines jeden Organismus, vom subatomaren Teilchen bis zu großen Gesellschaften, und das ist gleichzeitig der Schlüssel zu unserer überlebensfähigen Zukunft.

Diese Entdeckungen lassen den Schluss zu, dass die Idee des Individuums als eines individuellen Objektes, das sich von anderen Objekten unterscheidet, letztlich ein Irrtum ist. Nichts – von unseren subatomaren Molekülen bis zu unserem gesamten Sein – lässt sich mit irgendeiner Gewissheit im Sinne eines vollständig getrennten Körpers definieren, der isoliert und eingezäunt werden kann. Das »Individuum« ist lediglich die Summe einer unbegrenzten Zahl ungenau definierter Teile, und diese Teile, so weit wir sie gegenwärtig verstehen, verschieben und verwandeln sich ständig. Individuelle Objekte verbringen ihr Leben in jeder Hinsicht unauslöschlich mitein»ander« verbunden. Der grundlegendste Impuls der Natur richtet sich nicht auf den Kampf um die Vorherrschaft, sondern ist ein steter und nicht zu unterdrückender Trieb nach Ganzheit.

Was uns die neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse offenbaren, ist eine Umkehrung des Prozesses der Atomisierung, der mit dem Zeitalter der Aufklärung begann. Die neue Geschichte, an der rund um den Globus geschrieben wird, bildet in ihrer Summe nichts weniger als die Anfänge einer Wiederbelebung unseres holistischen Selbstbildes, das uns in einer unauslöschlichen Verbindung mit allem zeigt, was uns umgibt.

Diese Entdeckungen implizieren nicht nur weitreichende Folgen für die Entscheidung, wie wir uns selbst definieren wollen, sondern auch für die Überlegungen, wie wir unser Leben gestalten sollten. Sie legen den Schluss nahe, dass alle unsere gesellschaftlichen Einrichtungen, die so wettbewerbsorientiert und von der Vorherrschaft des Individuums geprägt sind, dem Kern unseres Wesens völlig zuwiderlaufen – dass ein Drang nach Kooperation und Partnerschaft, nicht nach Dominanz, die Grundlage der Physik des Lebens und der Biologie aller Lebewesen bildet. Das hat zur Folge, dass die meisten Menschen in der entwickelten Welt nicht im Einklang mit ihrer wahren Natur leben. Die Tatsache, dass wir ständig von aller Materie beeinflusst werden und sie unsererseits beeinflussen, weil alles dauerhaft mit allem verbunden ist, fordert eine drastische Veränderung der Art und Weise, wie wir mit uns selbst und allen anderen Lebewesen umgehen.

Wir brauchen neue Lebensregeln und eine andere Art zu »sein«.

Dieses Buch bietet Ihnen eine völlig andere Metapher zur Lebensorientierung. Es weist das zentrale Dogma der orthodoxen Wissenschaft zurück, dass Materie, sogar subatomare Materie, isoliert und vollständig für sich existiert. Stattdessen vertrete ich hier die These, dass der Tanz des Lebens kein Solo, sondern ein Pas de deux ist – und dass jeder Teil von Ihnen durch eine unentbehrliche und unauflösliche Beziehung mit der Welt verbunden ist. Meiner These nach ist jeder von uns so eng mit der Welt vernetzt, dass wir nur dann auf ein authentisches Leben hoffen können, wenn wir unser Verhalten an einem völlig anderen Bild orientieren.

Wir brauchen eine ganz neue Definition dessen, was Menschsein bedeutet. Wir müssen unser Universum mit neuen Augen betrachten. Der Versuch, diese neuen Entdeckungen auf jeden Aspekt unseres Lebens anzuwenden, erfordert nichts Geringeres als eine Selbsterneuerung.

Dieses Buch postuliert letztlich eine alternative Zukunft, ein neues Paradigma für das Leben, das die Metapher vom Kampf durch eine von Partnerschaft und Verbundenheit ersetzen soll. Ich hoffe, dass ich Ihnen ein Verständnis davon vermitteln kann, wer Sie sind und was Ihr Platz in dieser Welt ist, nicht als deren Meister oder Rivale, sondern als kooperativer Partner.

Diese neue Vision beginnt mit dem Verständnis – schockierend angesichts der umfassenden Implikationen –, dass nichts in der Welt voneinander getrennt ist. In Wirklichkeit, im elementarsten Sinn, gibt es kein »Ding«, das ein »Ding« wäre.

Teil I

Der Superorganismus

Die Krankheit unserer Zeit ist für mich einfach dieseverdammte Sache, dass alles kleiner und kleinerund immer weniger wichtig wird …Wir werden alle so armselig und klein und belanglos,und wir alle sind von der Auslöschung bedroht.

NORMAN MAILER

Kapitel 1

Die Jagd nach dem Ding

Auf einer Bank, so groß wie zwei Geländewagen, haben Graham Fleming und seine Kollegen vom Fachbereich Biologie an der University of California in Berkeley das wissenschaftliche Äquivalent eines Flippergeräts aufgestellt. Zahlreiche Präzisionslaser, die in Millionsteln einer milliardstel Sekunde pulsierendes Licht aussenden können, sind an verschiedenen strategischen Punkten aufgestellt, ausgerichtet auf einen Hinderniskurs von Spiegeln und Glaslinsen, die sie zu einer einzelnen kleinen schwarzen Box lenken. Sobald die Laser eingeschaltet sind, werden die ultraschnellen Lichtstrahlen von allen Spiegeln und Linsen abprallen, bevor sie ins Innere der Box gelangen und deren Inhalt beleuchten: eine winzige Probe einer grünen Schwefelbakterie. Das Laserlicht soll die Sonne imitieren, denn diese Bakterienart verhält sich wie eine Pflanze und verfügt über die außergewöhnliche Fähigkeit, in ihren Zellen Energie aus Sonnenlicht zu erzeugen.

Indem er beobachtet, wie ein rudimentäres Lebewesen die Kraft der Sonne in eigene Lebensenergie umwandelt und dabei Sauerstoff als Nebenprodukt abgibt, hofft der sechzigjährige Brite Fleming, ein zentrales Geheimnis von Pflanzen zu lüften – ihre unglaubliche Effizienz. Das Wunder ist nicht nur die Tatsache, dass die Pflanze überhaupt zur Photosynthese fähig ist, sondern dass sie dabei auch noch das letzte Photon nutzt, dessen sie habhaft werden kann.

Nicht einmal die raffinierteste Maschine dieser Welt kann mit der Energieumwandlung einer Pflanze mithalten. Jede auch nur halbwegs vergleichbare menschliche Entwicklung wie beispielsweise die Erzeugung von elektrischem Strom verliert beim Umwandlungsprozess mehr als 20 Prozent der ursprünglichen Energie. Wenn Menschen lernen könnten, die Sonnenenergie auch nur annähernd auf die gleiche Weise zu nutzen wie Pflanzen, wäre die Energieversorgung der Menschheit für immer gesichert.

Der andere Aspekt des Rätsels ist elementarer: Wie kann ein schlichtes Lebewesen wie eine Pflanze Sauerstoff und Kohlenhydrate durch eine Reaktion erzeugen, deren elektrische Antriebskraft sie im Wesentlichen aus Licht gewinnt?

Um diesen außerordentlichen Prozess näher zu untersuchen, muss man den Weg der Elektronen im Inneren des Proteingerüstes der Zelle verfolgen, wo die sogenannten Chlorosomen, die äußeren Solarzellen des Bakteriums, die das Sonnenlicht einfangen, mit den Reaktionszentren im Herzen der Zelle verbunden sind – dem winzigen Schmelztiegel, in dem das Wunder der Umwandlung stattfindet.

Flemings Experiment dauert nur den Bruchteil eines Augenzwinkerns. Sobald das gepulste Laserlicht auf das Protein trifft, setzt es Elektronen in Bewegung, die nun an ihrem winzigen Proteingerüst entlang den direktesten Weg zu den Reaktionszentren finden müssen. Das ist eine komplexe und potenziell zeitaufwändige Aufgabe, denn es gibt viele mögliche Wege und Endpunkte, die das Elektron nach den Vorstellungen der konventionellen Physik der Reihe nach suchen und eliminieren müsste.

Was Fleming entdeckt hat, ist nicht weniger als ein gewaltiger Riss im Denkgebäude der heute akzeptierten Biologie. Denn die Elektronen erreichen ihr Ziel nicht auf einem einzigen Weg, sondern indem sie simultan verschiedene Routen ausprobieren. Erst wenn die endgültige Verbindung hergestellt und das Ende des Weges erreicht ist, entscheidet sich das Elektron rückwirkend für die effizienteste Alternative, und die Energie folgt diesem einzelnen Pfad. Es sieht so aus, als würde die optimale Route im rückwärts gerichteten Zeitablauf gewählt – nachdem alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Man könnte es mit einer Person vergleichen, die sich in einem Labyrinth verirrt hat, alle möglichen Wege gleichzeitig auszuprobieren versucht und, nachdem sie endlich den richtigen Weg zum Ausgang gefunden hat, sämtliche Spuren ihrer Fehlversuche auslöscht.

Fleming hat die völlig unerwartete Antwort auf seine Fragen entdeckt: Die Pflanze ist so effizient, weil die Energie, die ihre Messenger-Elektronen erzeugen, mehr als einen Ort gleichzeitig besetzen kann.

Fleming unternimmt einige der ersten zaghaften Vorstöße in einen Bereich, den man »Quantenbiologie« nennt – er liefert die ersten Beweise, dass irdisches Leben von der Quantenphysik angetrieben wird –, und seine Experimente sind zwangsläufig noch nicht besonders ausgereift. Laserlicht ist sein Ersatz für echtes Sonnenlicht, und seine Versuche laufen bei Temperaturen von 70 Kelvin (oder minus 203 Grad Celsius), also in einer Umgebung, die für das Überleben der meisten Pflanzen viel zu kalt ist.

Dennoch weiß Fleming mit seinem Hintergrund in der Physik und in der Chemie natürlich, wie wichtig seine Beobachtungen sind. Wie die Begründer der Quantentheorie Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckten, sind subatomare Partikel wie Elektronen oder Photonen als solche noch kein wirkliches Etwas. Der dänische Physiker Niels Bohr und sein brillanter Protegé, der deutsche Physiker Werner Heisenberg, haben gezeigt, dass Atome keine kleinen Sonnensysteme aus Billardkugeln sind, sondern eine ziemlich chaotische kleine Wolke aus Wahrscheinlichkeiten. Sie existieren an vielen Orten gleichzeitig als reines Potenzial – oder »Superposition«, wie es in der physikalischen Fachsprache heißt –, die Summe aller Wahrscheinlichkeiten. Ein subatomares Teilchen wie jene in Flemings Bakterien existiert simultan an verschiedenen Orten und experimentiert gleichzeitig mit diesem und jenem Weg, bevor es sich für den optimalen Weg zum Ort der Reaktion entscheidet.

Eine der Schlussfolgerungen aus der Kopenhagener Deutung, so benannt nach dem Ort, wo Bohr und Heisenberg erstmals die unausweichlichen Schlüsse aus ihren mathematischen Entdeckungen ausgearbeitet haben, ist die Vorstellung der Unbestimmtheit – die Tatsache, dass man nie wirklich alles über ein subatomares Teilchen wissen kann. Wenn man beispielsweise misst, wo es sich befindet, kann man nicht gleichzeitig feststellen, wohin oder mit welcher Geschwindigkeit es sich bewegt. Bohr und Heisenberg erkannten auch, dass ein Quantenteilchen sowohl als Teilchen existieren konnte (erstarrt und einer Kugel gleichend) wie auch als »Wellenfunktion« (eine große, verschmierte Region aus Raum und Zeit, in der das Teilchen eine beliebige Ecke einnehmen kann).

In einem Quantenzustand existiert ein Teilchen als Ansammlung aller Möglichkeiten seines zukünftigen Selbst zur gleichen Zeit, so wie eine endlose Kette von Anziehpuppen. Dass ein Elektron »wahrscheinlich« existiert, können Wissenschaftler nur behaupten, wenn sie es festgenagelt und gemessen haben, denn in diesem Moment fallen die zahlreichen Möglichkeiten seines Selbst zusammen, und das Elektron lässt sich in einem einzigen Seinszustand nieder.

Wenn sich die Untersuchungsergebnisse von Fleming als richtig erweisen – und andere Forscher haben das Experiment jetzt erfolgreich an echten Pflanzen bei Raumtemperatur durchgeführt –, dann müssen wir daraus schließen, dass der für das Leben auf der Erde verantwortliche fundamentalste Prozess im Universum durch einen Mechanismus angetrieben wird, der eigentlich gar nichts ist, zumindest gemessen an unserer üblichen Definition von Dingen. Das Elektron, das den gesamten Mechanismus der Photosynthese antreibt, ist ein Irrlicht, das man unmöglich festnageln oder genau lokalisieren kann.1 Flemings Experiment offenbart außerdem eine sehr viel weitreichendere Möglichkeit: dass alles Leben durch etwas so Flüchtiges geschaffen und erhalten wird, dass wir nicht einmal identifizieren können, was es wirklich ist, und noch viel weniger in der Lage sind, es präzise zu lokalisieren.

In ihren Konsequenzen zwar atemberaubend, ist Graham Flemings Entdeckung für einen Quantenphysiker doch nicht besonders aufschlussreich. Viele Vertreter dieser Disziplin haben erfolglos versucht, »das Ding« zu finden – das kleinste Teilchen, das alle anderen Objekte in der Welt erzeugt. Viele unserer heutigen Annahmen über unser materielles Universum beruhen auf der Überzeugung, dass Leben sich aus Dingen zusammensetzt, die ihrerseits wieder aus kleineren Dingen bestehen, und dass wir die großen verstehen können, indem wir die kleinen suchen und ihnen einen Namen geben.

Seit ein muslimischer Physiker namens Ibn al-Haytham vor über tausend Jahren die wissenschaftliche Methode entwickelt hat, haben Wissenschaftler versucht, das Universum auseinanderzunehmen, als sei es ein riesiges Radiogerät, und die Einzelteile zu untersuchen. Während der letzten etwa hundert Jahre waren sie mit der Jagd nach dem kleinsten Baustein beschäftigt. 1909 entwickelte der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete neuseeländische Chemiker Ernest Rutherford gemeinsam mit seinen Kollegen an der University of Manchester das Rutherford-Modell des Atoms, ein winziges Sonnensystem ordentlich kreisender Elektronen. Zuvor hatten sie entdeckt, was man anfangs für die Sonne dieses Systems und den kleinsten Baustein der Welt hielt: den Kern. Rutherfords Modell bekam einen kleinen Dämpfer, als ein anderer Kollege aus Cambridge, der britische Physiker James Chadwick, das Neutron entdeckte, ein noch kleineres Teilchen im Inneren des Atomkerns.

Chadwick behauptete, die Bestandteile eines Atoms, die Protonen, Elektronen und Neutronen, seien die grundlegendsten Einheiten unserer Welt – bis man schließlich entdeckte, dass sich im Inneren dieser Teilchen, wie bei einer russischen Puppe, noch kleinere Teilchen befanden.

Als 1969 das Quark entdeckt wurde, gratulierten sich die Naturwissenschaften kurz zur Isolierung dessen, was sie für den wichtigsten Baustein unseres Universums hielten – bis in den folgenden Jahrzehnten eine Buchstabensuppe weiterer Partikel gefunden wurde: Myonen und Tauonen, Positronen und Gravitonen, Teilchen mit und ohne Energie, Upsilon-Teilchen, Tau-Neutrinos und schließlich die neuesten Entdeckungen: Skyrmionen und Goldstinos, Dyonen, Pomeronen und Luxonen sowie stark interagierende »zusammengesetzte Teilchen« wie Hadronen und sogar hypothetische Teilchen, hervorgegangen aus Supersymmetrie-Theorien.

Um all das in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, entwickelten die Physiker das Standardmodell, den Rosettenstein der modernen Teilchenphysik, der Hunderte verschiedener Partikel und unvorstellbar komplizierte Interaktionen zu drei Familien mit ihren grundlegenden Eigenschaften und Interaktionen zusammenfasste: Sechs Arten von Quarks, sechs Leptonen und eine Vielzahl von Bosonen oder Kraftteilchen, zu denen auch die winzigste Einheit von Licht – das Photon – gehört, außerdem Gluonen, sogenannte Eichbosonen, Gravitonen und das Higgs-Boson, wobei man die Existenz der beiden Letztgenannten vermutet, sie aber noch nie gesehen wurden.

So elegant das Standardmodell als Theorie auch sein mag – immerhin können die Physiker damit Dutzende von Elementarteilchen in mathematische Gleichungen fassen –, lautet das Fazit doch, dass es nicht möglich ist, eine einzige Struktur zu isolieren und mit Sicherheit zu behaupten, dass sie die kleinste Münze des Universums ist, die letzte individuelle Einheit, aus der sich unsere Welt zusammensetzt. Die meisten der nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckten Partikel gelten heute nicht mehr als Elementarteilchen, sondern als zusammengesetzte Partikel, aber niemand weiß, ob es je gelingen wird, eins dieser Teilchen in seine Bestandteile aufzuspalten.

Die Physiker nehmen an, dass bestimmte Partikel elementarer sind als andere – dass Quarks beispielsweise elementarer sind als Nukleonen oder Pionen. Gleichwohl hat der amerikanische Nobelpreisträger und Teilchenphysiker Stephen Weinberg einmal geklagt: »Wir können zu keiner endgültigen Aussage darüber kommen, wie elementar die Quarks oder Gluonen selbst sind.«2

Auf der Grundlage des Standardmodells haben sich die Wissenschaftler mit einer nicht genau festgelegten Hierarchie des Seins zufriedengegeben – einem verschwommenen Näherungswert, der mit der letztendlichen Wahrheit des Lebens vielleicht so viel zu tun hat wie ein Roboter mit einem Menschen. Das Standardmodell wird sich wahrscheinlich nur als vage Angleichung an eine sehr viel grundlegendere Theorie erweisen, zu der man erst dann finden kann, wenn es eines Tages bessere Teilchenbeschleuniger gibt – dann wird man vielleicht entdecken, dass das winzigste dieser Elementarteilchen doch nicht die kleinste russische Puppe ist, sondern noch weitere Puppen in seinem Inneren birgt.

Ein Grund für die anhaltenden Schwierigkeiten, das kleinste Teilchen des Universums zu lokalisieren, könnte ganz einfach die Tatsache sein, dass letzten Endes nichts isoliert und unabhängig existiert. Zwar halten wir Materie für isolierbar und definierbar, aber in Wirklichkeit lässt sie sich nicht in irgendetwas Eindeutiges zerlegen. Und so mag es sich als unmöglich erweisen, eine einzelne Einheit wie ein Elementarteilchen von seinen Nachbarn zu trennen, mit einem Zaun zu umgeben und definitiv zu sagen, wo es beginnt und wo es endet. Für alles, was kleiner ist als ein Atom, also für irgendein subatomares Teilchen, können wir nicht feststellen, ob es sich aus weiteren Elementen zusammensetzt oder nicht.

Je genauer die Wissenschaftler hinsehen, desto mehr entdecken sie, wie untrennbar alles mit allem zusammenhängt. Werner Heisenberg hat diese Tatsache als »die wichtigste experimentelle Entdeckung der letzten fünfzig Jahre« bezeichnet. Heisenberg hat auch festgestellt, dass sogar die Frage, woraus Elementarteilchen »bestehen, keine rationale Bedeutung mehr hat«: »Ein Proton könnte beispielsweise aus einem Neutron und einem Pion bestehen oder auch aus einem Lambda-Hyperon und einem Kaon oder aus zwei Nukleonen und einem Anti-Nukleon. Am einfachsten wäre es zu sagen, dass ein Proton aus zusammenhängender Materie besteht, und alle diese Aussagen wären gleichermaßen richtig oder gleichermaßen falsch. Der Unterschied zwischen Elementarteilchen und zusammengesetzten Teilchen ist somit im Grunde verschwunden.«3 Eigentlich ist sogar der Ausdruck »Teilchen« falsch gewählt, denn er suggeriert eine getrennte und materielle Realität. Wenn Teilchenphysiker sich der innersten Schicht der Materie zuwenden, befindet sich dort in Wirklichkeit gar nichts. Obwohl das Rutherford-Modell im Physikunterricht der Schulen immer noch gelehrt wird und man dabei nach wie vor so tut, als seien Atome eine Gruppe winziger Billardbälle, die in geordneter Formation um einen Kern kreisen, gleichen subatomare Partikel mehr einer winzigen Energiewolke – ein verwischtes, vibrierendes Nichts.

Vlatko Vedral, Professor für Quantenphysik an der Oxford University, hat einmal angemerkt, es sei richtiger, ein Partikel als Stimulierung einer Welle oder Anregung von Energie zu bezeichnen – ein kleiner Knoten von Energie in einem sehr viel größeren Energiefeld, ähnlich wie Knoten in einem Seil. Und Stephen Weinberg ergänzt: »Wir werden die Frage, welche Teilchen elementar sind, erst dann endgültig beantworten können, wenn wir eine endgültige Theorie über Energie und Materie haben. Dann werden wir vielleicht feststellen, dass die elementaren Strukturen der Physik gar keine Teilchen sind.«4

Obwohl wir alles im Universum als getrennt und individuell klassifizieren, existiert auf der rudimentärsten Ebene keine Individualität.

Die Welt muss dankbar dafür sein, dass Werner Heisenberg ein geschädigtes Immunsystem hatte, das zu extrem hohen Histaminausschüttungen neigte. Während einer heftigen Heuschnupfenattacke im Mai 1925 zog er sich auf Helgoland zurück, die Insel vor der deutschen Nordwestküste, deren Name »Heiliges Land« nicht nur mit ihrem ungewöhnlich milden Klima zu tun hat – eine seltsame meteorologische Laune in der Nordsee –, sondern auch damit, dass es auf dem unwirtlichen Gelände praktisch keine Pollen gibt. Sobald er wieder besser Luft bekam, konnte Heisenberg auch ungestört über die schwierigen Fragen nachdenken, die sich aus den neuen Entdeckungen über die Quantenstruktur der Materie ergaben.

Er und sein Mentor Niels Bohr hatten auf ihren Wanderungen durch die Berge in der Nähe von Bohrs Haus in Kopenhagen oft und lange über die Unvereinbarkeit dieser neuen Ideen mit der konventionellen physikalischen Theorie diskutiert, und Heisenberg hatte viele Stunden mit dem Versuch zugebracht, beide zusammenzuführen. Auf der baumlosen Insel ohne jede Ablenkung arbeitete er nun endlich die wunderbar eleganten Gleichungen der Quantenmechanik aus, die es für alle Zeiten überflüssig machten, die neuen Entdeckungen über Quantenphysik in die klassische Mechanik zu zwängen.

Heisenbergs Ideen reduzierten sich auf eine simple Binsenweisheit: Jede Theorie über das physikalische Universum sollte sich nur mit dem beschäftigen, was tatsächlich in Experimenten beobachtet werden kann. Er hatte auf alle Annahmen über subatomare Teilchen verzichtet – beispielsweise die Vorstellung, dass sie wie Planeten um die Sonne kreisen. Statt mit einzelnen Ziffern spielte er mit einer Ansammlung von Zahlen herum, welche das Spektrum von Zuständen repräsentierten, die offen für eine subatomare Einheit waren, und auf diesem Weg fand er schließlich die mathematischen Mittel, das merkwürdige Doppelwesen von Quantenpartikeln darzustellen.

Aufs Festland zurückgekehrt, zeigte Heisenberg seine Arbeiten Bohr und seinem anderen Mentor, dem Physiker Max Born, die ihm halfen, daraus die erste konsistente Theorie der Quantenphysik zu formulieren.

Bei Heisenbergs Gleichungen, die ansonsten so erfolgreich waren, blieb eins merkwürdig: Sie ließen sich nicht vertauschen. Anders als in der normalen Algebra war x + y nicht gleich y + x. Ein Jahr später formulierte Heisenberg seine Unschärferelation, die schließlich zu der ungeheuerlichen These führte, dass Materie letztlich unbestimmbar ist. Indem er sich auf die Reinheit der Mathematik beschränkte, hatte er eine Möglichkeit entdeckt, das zu demonstrieren, was ihm und Bohr allmählich dämmerte. Sie hatten etwas über die materielle Welt entdeckt, das so bizarr war und jeder Intuition widersprach, dass viele moderne Physiker, durchdrungen von der Newton’schen Physik, weiterhin ihre Schwierigkeiten haben, es zu akzeptieren: So etwas wie ein Ding gibt es nicht; es existiert keine allem zugrunde liegende solide Realität, sondern nur der Raum dazwischen – die untrennbaren Beziehungen zwischen Dingen.

ENDE DER LESEPROBE