The Curse of Saints - Kate Dramis - E-Book

The Curse of Saints E-Book

Kate Dramis

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Beschreibung

Als Spionin der Königin hat sich Aya dazu verpflichtet, ihr Reich vor dunkler Magie zu schützen. Doch bei einem feindlichen Angriff entfesselt Aya selbst ungeahnte magische Kräfte, die seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen wurden – ausgerechnet vor den Augen von Will, dem Vollstrecker der Königin und Ayas größtem Konkurrenten. Aya wird mit einer unmöglichen Frage konfrontiert, die ihr die Kontrolle über ihr Leben entreißt: Schlummert etwas Finsteres in ihr, das ihre Heimat vernichten wird? Um herauszufinden, woher ihre Kräfte stammen und wer sie wirklich ist, schließt Aya widerwillig einen Pakt mit Will. Denn ihre Gabe könnte sie in eine Waffe verwandeln und in einen Krieg hineinziehen, von dem sie nicht weiß, ob sie ihn gewinnen kann.

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Übersetzung aus dem Englischen von Vanessa Lamatsch

© Kate Dramis 2023

Titel der englischen Originalausgabe: »The Curse of Saints«, Michael Joseph, Penguin Random House 2023

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Antje Steinhäuser

Karte: Sally Taylor, Artist Partners LTD

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München, nach einem Entwurf von jamespauljones.tumblr.com

Coverabbildung: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Karte

Auszug aus der Conoscenza, Buch von Exousia 23: 14–23

Teil 1

Raubtiere und Beute

1

2

3

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9

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20

Teil 2

Feinde und Verbündete

21

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Vor dreizehn Jahren

40

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48

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Teil 3

Sünden und Heilige

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78

79

Epilog

Glossar

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Für Cassie und Mollie, die jede Version dieser Geschichte gelesen haben, die es je gegeben hat. Ich liebe euch beide über alle Maßen.

Auszug aus der Conoscenza, Buch von Exousia 23: 14–23

Doch nach dem Krieg waren die Götter gnädig. Statt die Visya – diejenigen, die mit Funken von roher, gottgleicher Macht gesegnet waren – zu verbannen, banden sie ihre Affinitäten, sodass kein Visya noch einmal mächtig genug werden konnte, um die Neun Gottheiten herauszufordern. Und so wurden die drei Orden geschaffen:

Der Orden der Corpsoma: Körperliche Affinitäten

Zeluus: Affinität für Stärke

Anima: Affinität für Leben und Tod

Der Orden der Dultra: Elementare Affinitäten

Incend: Affinität zu Feuer

Caeli: Affinität zu Luft

Terra: Affinität zu Erde

Auqin: Affinität zu Wasser

Der Orden der Espri: Affinitäten zu Geist, Gefühlen und Empfindungen

Sensainos: Affinität für Empfindungen und Gefühlen

Persi: Affinität für Überzeugung

Saj: Affinität für Wissen

Lasst uns niemals die Gnade der Götter und von Sankt Evie vergessen, die selbstlos zur Rettung des Reiches ihr Leben geopfert hat.

Wir halten das Gleichgewicht in Ehren, das die Gottheiten verfügt haben.

Wir weisen die Dunkelheit zurück, in Gedenken des Zorns der Götter.

Wir ehren das Opfer, welches das Leben in unserem Reich bewahrt hat, sodass wir eines Tages wahres Leben im Jenseits finden können.

Teil 1

Raubtiere und Beute

1

Langsam entwickelte sich das zu einem schrecklichen Abend, wenn sie sich das Blut an ihren Händen und das Bier auf ihrem Mantel ansah.

»Miststück«, knurrte der Mann, eine Hand an die Nase gedrückt. Das Blut, das zwischen seinen Fingern hervorquoll, schloss sich dem Bier an, das von der Bar tropfte – ein Überbleibsel seines zerstörten Kruges.

Aya rieb lediglich mit den Händen über ihre Lederhose, betrachtete stirnrunzelnd die roten Flecken auf ihren Händen.

Tova würde sie das nie vergessen lassen. Ihre Freundin kommentierte ständig, dass Aya fast jeden Tag bedeckt mit den Körperflüssigkeiten anderer Leute ins Quartier zurückkehrte … und dabei roch, als hätte sie sich in einem Schweinestall gewälzt. Aber überrascht war sie eigentlich nie. Aya, als die Dritte der Königin, hatte schon mehr als ein gerüttelt Maß an Blut gesehen. Man nannte sie »Die Augen der Königin«. Oder »Giannas Oberste Spionin«.

»Fass mich noch mal an, und ich breche dir etwas, was dir viel mehr am Herzen liegt«, flötete Aya. Ihr war der Dreck des Squals nicht fremd, nachdem sie allein dreimal in den letzten zwei Wochen Männer dorthin verfolgt hatte. Aber der betrunkene, übergriffige Kneipengast hatte ihr den letzten Rest mühsam erworbene Selbstkontrolle geraubt.

Niemand hatte auch nur mit der Wimper gezuckt, als sie ihn geschlagen hatte. Der Squal zog den Abschaum der Stadt Dunmeaden und seiner Besucher an – Spieler und Raufbolde und Diebe. Anscheinend fügte Aya sich perfekt ein.

Der Mann stürmte fluchend davon. Aya dagegen schenkte dem Barkeeper ein kokettes Lächeln. Er beäugte sie schon den ganzen Abend – jeden Abend, den sie hier verbracht hatte, um genau zu sein. Jetzt kam er herübergeschlendert, sodass sein breiter Körper das bisschen Licht abschirmte, das hinter der Bar flackerte.

»Gute Haltung«, sagte er mit einem schiefen Grinsen. Er rieb sich mit der Hand über die Glatze. Bei der Bewegung wölbte sich sein Bizeps. Alle Zeluus – diejenigen, die mit außergewöhnlicher Stärke gesegnet waren – waren quasi Riesen. Bei diesem hier passte das Ego zum Rest des Körpers. »Aber das Glas muss ich dir auf die Rechnung setzen.«

Aya löste die Bänder ihres Mantels, warf ihn über den Hocker neben sich und lehnte sich mit der Hüfte gegen die Bar. »Vielleicht können wir einen anderen Weg der Wiedergutmachung finden.«

Bei diesen Worten leuchteten seine Augen auf, dann stemmte er die dicken Unterarme auf den Tresen. »Ich kann übrigens auch ordentlich zuschlagen. Habe ich dir schon erzählt, wie ich mich mit nackten Fäusten zwei Anima gestellt habe?« Sie hatte die Geschichte schon zwei Mal gehört. Beim ersten Mal hatte sich Aya kaum davon abhalten können, die Augen zu verdrehen. Auch wenn die Anima ihre Affinität für Leben und Tod hauptsächlich nutzten, um sich als Heiler zu betätigen, konnten sie doch tödlich sein. Eine kurze Berührung und der Pulsschlag verklang in Sekunden. Selbst ein Zeluus wie der Barkeeper konnte dieser Macht nichts entgegensetzen.

Außerdem war sie sich ziemlich sicher, dass Anima gar nicht an Ringkämpfen teilnehmen durften.

Aya lehnte sich näher an die Bar, setzte eine Miene faszinierten Interesses auf, als er die Geschichte ein weiteres Mal zum Besten gab. Sie lächelte nichtssagend und wand sich immer wieder eine Strähne ihres dunkelbraunen Haars um den Finger, während der Kerl mit wilden Gesten weitersprach.

Vorsichtig rief sie ihre Affinität und schickte sie aus.

Kein Schild. Wunderbar!

»Wie ist ein so starker Kämpfer wie du nur an einem solchen Ort gelandet?«, fragte sie und nippte an ihrem Bier. Sein Blick folgte ihrer Zunge, als sie sich den Schaum von den Lippen leckte.

Er zuckte mit den Achseln. »So schlecht ist es hier gar nicht. Ich gehöre zum Management, weißt du?«

Aya zwang sich, die Augen aufzureißen. »Wirklich? Also ist das dein Büro, in das du dich immer wieder schleichst?« Sie nickte in Richtung des bewachten Flurs links von der Bar. Sie wusste genau, dass ein Misthaufen wie dieser Laden kein Büro besaß. Aber sie schob langsam die Hand über den Tresen, um mit den Fingern das Corpsoma-Tattoo an seinem Handgelenk nachzuzeichnen – ein Kreis mit einem Strich durch die Mitte. »Vielleicht könnten wir dorthin gehen. Wirkt … abgeschiedener.«

Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Nicht mein Büro.« Er zögerte und sah sich um. »Ich sollte das wirklich nicht sagen, aber …«

Sie schickte mehr von ihrer Affinität aus … und der Mann fuhr fort, ohne zu bemerken, wie sie ihn mit ihrer Überzeugungsmacht dazu brachte, die Information aus seinem Geist zu seiner Zunge fließen zu lassen.

»Zwei Männer kommen seit Wochen regelmäßig her. Aus Trahir, vermute ich, wenn ich mir ihren Akzent so anhöre. Sie geben sich keine Mühe, in meiner Nähe auf ihre Worte zu achten. Aber ich höre zu.« Er sah sich erneut um, bevor er sich zu ihr lehnte und seine Stimme zu einem Flüstern senkte. »Sie kaufen Waffen am Rat vorbei. Ich schätze, ich kann mir einen Anteil dafür sichern, dass ich sie nicht ausliefere.«

»Wirklich?«, hauchte Aya. Als vorrangiger Waffenlieferant für das Reich hatte der Händlerrat von Tala immer darauf geachtet, den Waffenhandel im Blick zu behalten und genau zu überwachen, wie viel sie an andere Königreiche verkauften.

Anscheinend hatte Trahir keine Lust mehr auf Beschränkungen.

Der Barkeeper grinste. »Illegale Käufe sind kein Scherz. Ich habe ein Druckmittel.« Er ließ den Blick langsam über ihren Körper gleiten, wobei er am tiefen Ausschnitt ihres schwarzen Pullovers verweilte. »Vielleicht werde ich mir ein paar Stunden mit dir leisten. Du bist zu hübsch, um im Squal zu arbeiten.«

Aya hielt ihr kokettes Lächeln, als er die Hand ausstreckte, um ihr Kinn zu umfassen und den Daumen über ihre Kieferlinie gleiten zu lassen.

Widerlich. Einfach nur widerlich.

Persi konnten nicht manipulieren. Sie konnten jemanden nur von etwas überzeugen, wozu diese Person bereit war. Aber diese Bereitschaft musste nicht stark sein – besonders, wenn es sich bei der Persi um Aya handelte.

Sie lehnte sich noch ein wenig weiter vor, sodass ihr Atem über seine Lippen glitt. »Ich bin zu teuer für dich.«

Damit schnappte sie sich ihr Glas und zog es ihm über den Schädel. Der Becher zerbrach, während der Barkeeper zu Boden sank.

Aya wirbelte herum und schubste den Gast neben sich heftig genug, dass er, Gesicht voran, gegen die Frau stolperte, die er gerade bezirzt hatte. Mit einem Keuchen packte die Frau mit der Faust sein weißes Haar und schleuderte ihn gegen den untersetzten Gentleman, der hinter ihr Billard spielte und dann …

… brach absolutes Chaos aus.

Aya schnappte sich eines der vergessenen Gläser vom Tresen und leerte es in einem Zug, bevor sie auf den versteckten Flur zuhielt. Sie musste sich beeilen. Die Information des Barkeepers hatte nur bestätigt, was sie schon lange vermutet hatte: Die Königin hatte recht. Trahir deckte sich mit Waffen ein – bereitete sich vielleicht sogar auf einen Krieg vor.

Und angesichts des Chaos’ in der Taverne blieben ihr nur Augenblicke, bevor die Händler verschwanden.

Aya fühlte, wie sich diese eisige Ruhe in ihr ausbreitete – diese Ruhe, die jedes Mal von ihr Besitz ergriff, wenn der nächste Schritt einer Mission klar vor ihr lag. Sie ließ sich davon erfüllen, bis die Empfindung jede Emotion dämpfte, bis Eis durch ihre Adern floss, während sie zwischen den raufenden Gästen hindurchglitt und dank ihrer kleinen Gestalt mühelos Schlägen auswich. Sie duckte sich unter einem fliegenden Stuhl hinweg, ohne ansatzweise langsamer zu werden.

Noch fünfzehn Schritte bis zum Flur.

Zehn.

Fünf.

Endlich bemerkten die Wachen sie zwischen den Kämpfenden. Sie machten Anstalten, ihre Schwerter zu heben, öffneten ihren Mund, um eine Warnung zu rufen. Aber sie waren nicht schnell genug für die Augen der Königin. Sie hatte ihr Messer bereits aus der Scheide an ihrem Schenkel gezogen.

»Die Dyminara senden ihre Hochachtung.«

Damit warf sie sich auf den ersten Wachmann. Ihr Messer glitt unter seinem Schwertarm hindurch und bohrte sich in seine Brust. Er war schon tot, bevor er auf dem Boden aufkam. Aya wirbelte herum und zog dem anderen Wachmann die Klinge über die Kehle. Blut spritzte auf ihr Gesicht, aber sie hielt nicht inne. Stattdessen sprang sie über die zusammengesackten Körper hinweg und rannte zu der ersten Tür links, um sie mit der Schulter aufzustoßen.

Der Raum war eng und dunkel. Der kleine Holztisch und die Stühle waren auf der Flucht zum Ausgang umgeworfen worden. Die offene Tür gab den Blick frei auf eine kleine Gasse. Aya rannte hindurch, drängte sich an Kisten und Paletten vorbei. Ihre Stiefel gerieten ins Rutschen, als sie auf vereiste Pflastersteine traf. Die beiden Männer hatten schon die halbe Straße hinter sich gelassen, entfernten sich eilig von den Docks.

Als wären die Nebengassen sicherer.

Narren.

Diese Gassen bildeten ein Labyrinth, voller plötzlicher Biegungen und Sackgassen.

Sie hielt den Blick auf den wehenden, braunen Mantel des hinteren Händlers gerichtet, als sie den Griff an ihrem Messer veränderte, dann hob sie den Arm, ihre Atmung ruhig und gleichmäßig. Die Klinge flog aus ihrer Hand und grub sich mit einem dumpfen Schlag in die Schulter des Mannes. Schreiend fiel er um.

Sein Begleiter sah zurück, dann stockten seine Schritte, als er das Blut auf ihrem Gesicht bemerkte.

Aya warf ein weiteres Messer in Richtung seines Kopfes – nah genug, um ihm eine kleine Wunde am Ohr zu schlagen.

»Die nächste Klinge gräbt sich in deinen Schädel«, rief sie. »Ich brauche nur einen von euch lebend.« Er stoppte abrupt, hob kapitulierend die Hände und ließ sich langsam auf die Knie sinken. »Kluge Wahl.«

Aya schlenderte zu dem ersten Händler, der auf dem Boden lag und immer noch schmerzerfüllte Schreie ausstieß, die von den Ziegelgebäuden an der Gasse zurückhallten. »Ruhig«, befahl sie, als sie ihn auf die Beine zerrte. »Wie ich schon sagte, ich brauche nur einen von euch.«

Der Mann wimmerte, aber er presste die Lippen aufeinander. Sein Körper zitterte in ihrem Halt. Aya sah in Richtung der Docks. Kein Hinweis auf Ronan, den königlichen Wachmann, der eigentlich in dieser Gasse postiert sein sollte.

Und der Lieferant fehlte ebenfalls.

»Eigentlich solltet ihr zu dritt sein«, meinte sie locker und sah zwischen den Händlern hin und her. »Wo ist Euer Lieferant?«

Der kniende Mann schüttelte den Kopf. »Es gibt sonst niemanden.«

Aya seufzte, als sie das Seil löste, das sie an der Seite trug. Sie zerrte den Händler mit dem Messer in der Schulter zu seinem Kumpan; ließ ihn erst los, als sie in die Hocke ging, um die Hände des anderen zu fesseln. Dieser Kerl würde nirgendwo hingehen – nicht mit der Klinge in seinem Körper.

»Lügt mich an, solange ihr wollt«, hauchte sie. »Aber ich warne euch … der Vollstrecker mag so was gar nicht.«

Der Adamsapfel des Mannes hüpfte. O ja, der Zweite der Königin hatte einen Ruf, der ihm weit vorauseilte; selbst Ratsmitglieder aus fernen Ländern wussten, dass mit ihm nicht zu spaßen war.

Aya stand auf, ihre Gelenke steif in der Kälte. Sie zog noch ein Stück Seil heraus und fesselte damit die Hände des zweiten Mannes, dann sah sie erneut Richtung Docks. Immer noch kein Ronan. Vielleicht hatte er den Lieferanten verfolgt.

Sie verdrängte die Unruhe, die in ihr aufstieg, und rief stattdessen ihre Macht.

»Ich vermute, ihr wollt weiterleben?«, fragte sie, während sie die beiden Männer mit schief gelegtem Kopf musterte. Sie wechselten einen wachsamen Blick, bevor sie kurz nickten. Sie ließ ihre Affinität fließen, schlang sie um diesen Überlebenswillen.

»Dann setzt euch in Bewegung.«

2

Zwanzig verdammte Minuten. So lange dauerte es, die zitternden Händler zu dem verlassenen Lagerhaus am Rand der Rouline zu bringen, dem Vergnügungsviertel, das sich um Dunmeadens Hafen zog. Aya hatte gehofft, dort Ronan mit dem Lieferanten vorzufinden, aber sie traf nur auf Liam, einen weiteren Persi in der Dyminara, der wie geplant drinnen auf sie wartete.

»Kein Ronan?«, murmelte er, als er die schwere Holztür hinter ihnen schloss und damit die beiden Händler gefesselt im Innenraum zurückließ.

»Nein«, sagte Aya knapp. Sie rieb sich die Hände, dachte voller Sehnsucht an die Handschuhe, die sie vergeblich in ihrem Zimmer gesucht hatte.

Bei meinem Eid, wenn diese götterverdammte Nacht nicht bald endet …

»Ich dachte, er hätte den Lieferanten verfolgt, aber wenn er immer noch nicht hier ist …«

Liam seufzte. Der helle Schein des Mondes ließ Schatten über seine dunkelbraune Haut und sein schwarzes Haar tanzen, das an den Seiten ausrasiert war. Er rieb sich das kantige Kinn und verzog angesichts der Kälte das Gesicht. »Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Königliche Wache eine Aufgabe in den Sand setzt«, meinte er finster.

Die Königin bestand darauf, dass die Dyminara mit der Wache zusammenarbeiteten, die für den täglichen Schutz und die Strafverfolgung in der Stadt verantwortlich zeichnete. Aber um größere Bedrohungen kümmerte sich nur die Dyminara – die königliche Elitetruppe, die nur aus Visya bestand. Zusammengesetzt aus Kriegern, Gelehrten und Spionen, die alle mit Funken göttergleicher Macht von den Neun Gottheiten ausgestattet waren. Es gab niemanden, der besser für diese Aufgabe geeignet war. Die tiefe Kluft zwischen der Königlichen Wache und der Dyminara erzeugte eine Menge Spannungen. Doch selbst die Wache wäre nicht dumm genug, ihren Vorbehalten laut Ausdruck zu verleihen. Die Dyminara waren tödlich.

In der Ferne hörte sie die Glocken in der Innenstadt 1 Uhr schlagen. Eine Stunde nach Mitternacht. Aya stieß sich von der Tür ab, an der sie gelehnt hatte. »Sie behaupten, es wäre niemand bei ihnen gewesen; dass kein Lieferant anwesend war. Befrage sie dazu, bis er kommt«, befahl sie und deutete mit dem Kinn auf das Lagerhaus. Liam würde die Befragung beginnen – würde seine Überzeugungsaffinität einsetzen, um alle möglichen Fakten einzuholen, bis der Vollstrecker ankam, um die harte Arbeit zu leisten. Wenn irgendwer eine Quelle brechen konnte, dann der Zweite der Königin.

»Möge Saudra mich leiten«, murmelte Liam, halb eine Verabschiedung, halb ein Gebet an ihre Schutzgöttin. Aya nickte zustimmend.

Sie konnten die Hilfe jedenfalls gebrauchen.

Der Wind heulte, als Aya auf den Trampelpfad trat, der sie zur Stadt führen würde, und sie zog schützend den Kopf zwischen die Schultern. Wenn der Ventaleh-Wind seinen Zorn über dem Gebirgszug der Mala entfesselte, war er kalt genug, um selbst puren Granit einzufrieren. Den Legenden zufolge war der Ventaleh eine Warnung der Götter: obwohl die Visya immer einen Funken gottgleicher Gabe besaßen, hielten die Gottheiten die Macht, die Welt zu säubern. Sie hatten es schon einmal fast getan … und sie würden es wieder tun, sollten die Visya sich über ihre zugewiesene Stellung erheben.

Aber momentan fürchtete Aya sich nur vor Erfrierungen. Es gab gute Gründe, warum der Händlerrat wild entschlossen war, die Schaffarmer glücklich zu halten. Wie die Händler so oft verkündeten: Wenn man in Dunmeaden florieren wollte, brauchte man nur Wolle und Waffen. Und auch wenn ihr Pullover dabei geholfen hatte, den Barkeeper zu ködern, half er doch wenig gegen die eisigen Temperaturen.

Sie hätte ihren Mantel mitnehmen sollen.

Aya eilte durch das Zentrum der Rouline, beschleunigte ihre Schritte, als sie sich dem gepflasterten Pfad näherte, der das Ende des Vergnügungsviertels und den Beginn des Händlerbezirks markierte. Je weiter sie sich vom Dock und dem Fluss entfernte, desto besser. Der Loraine, der aus dem Bergen durch das Herz der Stadt und dann hinaus in das Anath-Meer floss, trug den Wind in seiner unerbittlichen Kälte von den Malas in die tiefer gelegenen Gebiete.

Endlich erreichte Aya den Händlerbezirk, wo das Pfeifen des Windes und das Knirschen der Holzschilder über den Läden die einzige Geräuschkulisse bildeten. Sie duckte sich in eine Seitengasse neben dem Eden – dem feinsten Restaurant der Stadt. Licht flackerte hinter den Buntglasfenstern und warf Flecken aus Farbe in die braunen, grauen und schwarzen Schatten der Gasse. Wenn sie die Augen schloss und sich konzentrierte, konnte sie sich fast einbilden, sie könne die Wärme des Kamins im Inneren spüren.

Hin und wieder, wenn die Mahagonitür sich öffnete und Gruppen von Feiernden sich auf die Hauptstraße ergossen, schwappten Lachen und Musik auf die Straße. Niemand sah in ihre Richtung. Sie bezweifelte, dass irgendwer sie auch nur bemerkte. Aya wusste, wie man mit dem Schatten verschmolz. Unsichtbarkeit war ihr immer schon zupassgekommen.

Gerade als die Glocken auf dem Hauptplatz die zweite Stunde nach Mitternacht läuteten, strömte eine große, lärmende Gruppe aus dem Restaurant und schrie sich gegenseitig Versprechen auf lang anhaltende Geschäftsbeziehungen und Frieden für alle Tage zu.

Aya verdrehte die Augen, nachdem sie genau wusste, dass dieselben Leute morgen schon wieder über Tarife und Handelsrouten und alles andere diskutieren würden, was ihnen mehr Geld in die Taschen spülte, als sie verdient hatten.

Arschlöcher. Allesamt.

Die Leute verabschiedeten sich, dann brach ein Großteil der Gruppe in Richtung ihrer Anwesen und schicken Hotels am Rand des Bezirks auf. Ein paar wanderten Richtung Rouline – wahrscheinlich, um den Abend mit ein wenig Ausschweifung ausklingen zu lassen. Und dann war nur noch einer übrig: ein junger Mann, der mit lässigen Schritten auf die Stadtmitte zuhielt.

Aya hielt sich in den Schatten, als sie ihm folgte, blieb mehrere Schritte hinter ihm, um sicherzustellen, dass ihnen sonst niemand folgte. Der Mann war hochgewachsen. Auch seiner schweren Wolljacke gelang es nicht, die Linien seines muskulösen Körpers zu verbergen. Sein Haar war vom Wind zerzaust, gerade lang genug, um hinten auf seinen Kragen zu fallen.

Aya konnte sein Selbstbewusstsein quasi spüren, als er die Hauptstraße entlangging, seine Schritte locker und lässig, als hätte er keine Sorgen auf der Welt.

Sehr gefährlich bei einem nächtlichen Spaziergang allein.

Aya schloss zu ihm auf und wartete, bis er in eine gewundene Gasse abgebogen war – eine Abkürzung, die den Aufstieg ins Quartier begann –, bevor sie sich lautlos hinter ihm einreihte.

Eine schnelle Bewegung, und er presste sie mit einem Arm gegen die Steinmauer. Mit der anderen drückte er ein Messer gegen ihre Kehle.

»Gut zu wissen, dass du tatsächlich auf deine Umgebung achtest«, presste sie hervor.

»Verdammt, Aya!« Will senkte das Messer, Wut in seinen grauen Augen. Mit geröteten Wangen knurrte er: »Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dich nicht umgebracht habe.«

»Und du kannst dich glücklich schätzen, dass ich uns nicht allen einen Gefallen getan und dich getötet habe, als du nach Hause stolziert bist.«

Wills Arm presste sie mit zusammengebissenen Zähnen fester gegen die Wand, nur um dann die Nase zu rümpfen, als ein Windstoß durch die Gasse glitt.

»Du riechst, als hättest du in Bier und Pisse gebadet.«

»Ist das der Charme, der dir den Weg in so viele Damenbetten ebnet?«

»Willst du es herausfinden?«, meinte er mit einem hinterhältigen Lächeln, dann trat er noch näher an sie heran und musterte sie unter seinen langen Wimpern hervor.

Aya stieß ihn heftig von sich. »Ich würde mich lieber in meinen eigenen Dolch stürzen.«

Will fing ihre Hand ein und ließ den Daumen über das Blut gleiten, das dort klebte. »Ich sehe, du hast Chaos angerichtet – mal wieder.«

Schon einen Wimpernschlag später hatte sie sich seinem Halt entzogen. Er knallte mit einem dumpfen Schlag auf den Boden, als sie ihm die Beine unter dem Körper wegtrat.

»Fass mich noch einmal an, und wir werden herausfinden, ob du genauso heftig blutest wie er.«

Will lachte, leise und finster. Das Geräusch hallte von den rauen Wänden der Gasse wider. »Wie immer überwältigst du mich mit deinem Liebreiz. Die Götter mögen jedem beistehen, der dich sieht und vermutet, du wärst so sanft, wie du wirkst«, schnurrte er förmlich, als er wieder aufstand. »Hast du irgendetwas Nützliches zu sagen? Falls ja, spuck es aus. Mir ist kalt, und tatsächlich wartet eines dieser warmen Betten auf mich. Und du brauchst dringend ein Bad.«

Aya biss sich auf die Lippen, um die scharfe Antwort zurückzuhalten, die ihr auf der Zunge lag. Sie konnte sich, ohne mit der Wimper zu zucken, in eine Kneipenschlägerei stürzen, aber Will …

Will war es immer gelungen, ihr unter die Haut zu gehen; er hatte gestichelt und sie verhöhnt, bis die Kette, mit der sie ihr Temperament zügelte, nicht nur lockerer wurde, sondern tatsächlich riss.

Sein Vater, Gale, war der erste Visya in der Geschichte von Dunmeaden, der im Händlerrat von Tala saß. Er hatte geholfen, Talas Handelsmacht zu stärken, obwohl Königreiche wie Trahir mit ihren vielseitigen Köstlichkeiten mehr zu bieten hatten.

Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er und sein Sohn die zwei größten Scheißkerle waren, die Aya je getroffen hatte. Sie hatte sie von dem Moment an verabscheut, als Will vor dreizehn Jahren mit der Nachricht vom Tod ihrer Mutter auf einer von Gales Reisen auf ihrer Türschwelle erschienen war.

Ganz zu schweigen von dem einen Mal, als Will Aya fast ihren Platz in der Dyminara gekostet hatte.

Aber in Bezug auf die Kälte hatte er recht. Und auch was das Bad anging. Und wenn es darum ging, wer ihm das Bett wärmte … das war das Unglück der betreffenden Dame.

»Wenn man bedenkt, dass du im Lagerhaus gebraucht wirst, wird dein Vergnügen warten müssen. Sie sind hinter Waffen her. Die Käufer sitzen im Lagerhaus, aber der Lieferant ist verschwunden, bevor ich in den Raum gekommen bin. Ronan ist nicht aufgetaucht.«

Will hielt inne, dann fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar und knurrte: »Was meinst du mit Ist nicht aufgetaucht?«

Trotz der Hölle, durch die Ronan sie heute Abend geschickt hatte, ließ ihre Frustration ein wenig nach, als sie den gefährlichen Unterton in seiner Stimme hörte. Das war kein gutes Zeichen für die Person, die sich Wills Zorn stellen musste.

Als sie noch jünger und einfach Mitschüler gewesen waren, war es ihr leichtgefallen, zu vergessen, dass Wills Sensainos-Affinität – seine Fähigkeit, die Gefühle und Empfindungen anderer zu fühlen und zu manipulieren – sich auch auf Angst und Verzweiflung erstreckte; sogar auf Schmerz. Seine Attraktivität verbarg das gut. Sein schwarzes Haar war dicht und lockig, seine helle Haut hatte einen olivfarbenen Grundton, sodass er immer sonnengeküsst wirkte. Und mit seinen scharfen Gesichtszügen und seiner maßgeschneiderten Kleidung wirkte er wie der perfekte, junge Adelige. Alle hatten damit gerechnet, dass er das Handelsimperium seines Vaters übernahm.

Aber dann hatte sich Will stattdessen der Dyminara angeschlossen – wo offensichtlich wurde, dass sein wahres Talent nicht darin lag, für die Königin den Händlerrat von Tala zu überwachen, sondern als ihr Vollstrecker zu dienen.

Dunmeadens dunkler Prinz.

Diejenigen, die gesehen hatten, wie er Strafen austeilte, hatten genug Geschichten verbreitet, um dafür zu sorgen, dass ihm leise Furcht überallhin folgte.

»Ronan sitzt wahrscheinlich betrunken in irgendeiner Bar«, murmelte Aya schließlich.

»Also hast du versagt«, antwortete Will langsam. »Der Lieferant ist entkommen.«

Aya ignorierte den Impuls, nach ihrem Messer zu greifen, als sie Will unverwandt anstarrte. »Vielleicht hätte ich ihn noch erwischen können, wenn du nicht darauf bestanden hättest, mich zu einem Botenmädchen zu machen«, zischte sie. Die Tatsache, dass sie ihm ihre Erkenntnisse berichten musste, als wäre sie ein Schoßhündchen, sorgte dafür, dass sie auf etwas einschlagen wollte.

Will bog auf den gewundenen Weg Richtung Quartier ein und sah erwartungsvoll zu ihr zurück. Mit schlurfenden Schritten reihte sie sich neben ihm ein, ließ den heulenden Wind das Schweigen zwischen ihnen füllen. Sie hatte gehofft, er würde direkt zum Lagerhaus gehen und sie den Heimweg in Frieden antreten lassen.

Zuhause. Für einen Moment reichte der Gedanke an die Wärme des Quartiers – des kleinen, palastartigen Heims der Dyminara – aus, um ihr fast ein Stöhnen abzuringen. Ihr Körper war wund von der Kälte und der Prügelei in der Taverne. Hoffentlich hatte Elara noch Chaucholada im Speisesaal stehen. Das warme, mit Honig verfeinerte Getränk wurde traditionell serviert, wenn der Ventaleh heulte. Um die Geister fern- und das eigene Fleisch intakt zu halten, sagte die Küchenchefin der königlichen Küche immer, den Blick auf die benachbarten Spitzen der Malas gerichtet. Der Ventaleh unterwirft sich niemandem, nicht einmal den Dyminara.

»Vielleicht werden unsere Freunde aus dem Westen großzügig ihre Informationen über den Lieferanten teilen, und ich kann dir die Mühe sparen, die Person aufzuspüren«, murmelte Will schließlich, den Blick auf den Pfad vor ihnen gerichtet. Aya nahm die Drohung, die in seinen Worten mitschwang, durchaus wahr. »Wie ist es dir gelungen, zu bestätigen, dass sie Waffen kaufen?«

Sie sah ihn an, aber sein – immer noch nach vorne gerichteter – Blick wirkte kalkulierend, nicht herablassend.

»Der Barkeeper war der Einzige, der das Hinterzimmer betreten durfte. Ich musste ihn nur in die richtige geistige Verfassung bringen … und dann für Ablenkung sorgen.«

Will stieß ein bellendes Lachen aus. »Also hast du ihn mit deiner Schönheit betört, hast ihn überzeugt, dir all seine Geheimnisse zu verraten, und dann seinen Laden zerstört.« Er musterte ihre mit Bier und Blut verklebte Kleidung. »Unglaublich!«

»Du bist unerträglich.«

»Das habe ich schon öfter gehört. Das beruht auf Gegenseitigkeit, Aya-Schatz.«

Auch drei Jahre, in denen sie Seite an Seite in der Tría der Königin gearbeitet hatten – der Rang, der nur den drei vertrauenswürdigsten Dyminara der Krone zugestanden wurde –, hatten nicht ausgereicht, um die Bitterkeit zwischen ihnen zu tilgen.

Aya ignorierte ihn, konzentrierte sich stattdessen auf das Palastgebäude, dem sie sich näherten. Das Quartier lag im hinteren Teil der Königlichen Anlage, die sich in ein Waldgebiet höher am Berg schmiegte, ein wenig über der Stadt.

»Ich vermute, ich werde Ronan einen Besuch abstatten müssen, sobald ich mit den Händlern fertig bin«, seufzte Will.

Aya hob eine Augenbraue, als sie durch das eiserne Palasttor traten und auf den gepflasterten Weg abbogen, der sie zum Quartier bringen würde. »Wieso bist du noch nicht auf dem Weg zum Lagerhaus?«

Will grinste schief. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich ein Bett zu wärmen habe.« Er lachte über ihren angewiderten Gesichtsausdruck. »Götter, dieser Blick! Entspann dich, ja? Ich will mich umziehen.« Er machte eine Geste in Richtung seines zweireihigen Jacketts und der schwarzen Hose. »Ich hasse diese noblen Gewänder.«

Sie dachte darüber nach, ihm mitzuteilen, dass von allen Dingen, die er an sich selbst verabscheuen sollte, seine Kleidung sicherlich ganz unten auf der Liste stand. Aber sie hielt die Worte zurück, als sie an den Stallungen vorbeistapften und einer Kurve folgten, bis der Pfad sich auf eine große Lichtung öffnete, in deren Mitte das Quartier stand.

Das Gebäude war viel kleiner als der Palast der Königin, aber trotzdem atemberaubend, mit grauer Steinfassade und Buntglasfenstern, die durch das Licht im Inneren funkelten.

Sie eilten durch den Torbogen, der das Gelände der Dyminara von denen der Königin trennte, dann folgten sie dem Pfad zu dem Gebäude, das an die aufwendigen Gärten anschloss. Im Licht der Fackeln, die immer noch in ihren Haltern brannten – was sie zweifellos den Incendi zu verdanken hatten, deren Flammen dem Ventaleh trotzen konnten –, waren gerade so die weißen Winterrosen zu erkennen.

Sie schoben die große Eichentür auf und traten in die Haupthalle. Auch wenn es ein großer Raum war, dessen steinerne Wände hoch aufragten, um die gewölbte Holzdecke zu stützen, wirkte er trotzdem warm. Einladend. In der Mitte der großen Bodenfläche lag ein scharlachroter Teppich, und darauf stand ein langer Holztisch. Zur Rechten lag die Holztür, die ins Speisezimmer führte, und links erhob sich ein riesiger, steinerner Kamin, in dessen Tiefen immer noch langsam verlöschende Flammen flackerten.

Aya eilte sofort zum Kamin und hielt die Hände über die Glut, um ihre Finger zu wärmen. Ein Blick zum Tisch sorgte dafür, dass sie die Stirn runzelte. Der Behälter mit Chaucholada war bereits gründlich geleert worden.

»Gab es im Squal irgendwelche Beobachter, vor denen wir uns in Acht nehmen müssten?«, fragte Will, als er neben sie trat.

Aya unterdrückte ein Schnauben, als sie an das Chaos zurückdachte, das in der Bar ausgebrochen war. »Nein. Wenn irgendwer überhaupt aufgepasst hat, dann dürften sie davon ausgehen, dass Mathias’ Gilde für die Verwüstung verantwortlich zeichnet.«

Mathias herrschte mit festem Griff über die Unterwelt von Dunmeaden. Seine Diebe und Meuchelmörder waren berüchtigt. Es war ein Segen, dass die Königin sie nicht aus der Stadt geworfen hatte. Dank ihnen fiel es leichter, bestimmte Arten von Aufmerksamkeit von der Krone abzulenken.

»Und ich habe mich um die Wachen gekümmert«, fügte sie hinzu.

Als sie die Worte aussprach, schlug eine Welle von Erschöpfung über ihr zusammen.

Gewalt war Aya nicht fremd. Die Visya hatten von den Göttern die Aufgabe übertragen bekommen, das Reich und die Menschen, die darin lebten, zu beschützen und ihnen zu dienen – und die Dyminara waren die wahrhaftigste Manifestation dieses Auftrages. Nicht alle Visya dienten auf diese Art, aber Aya … sie war für genau das geboren worden, in mehr als nur einer Hinsicht. Aber sie erfreute sich nicht an den Momenten, in denen sie gezwungen war, Leben zu beenden. Vielleicht machte sie sich schlicht nichts aus den Erinnerungen, die dadurch aufstiegen.

Wills Augen blieben auf ihre Hände gerichtet, starrten das Blut auf ihren Fingern an, wie er es schon in der Gasse getan hatte. »Du hast im Namen unseres Königreichs gehandelt«, sagte er schließlich leise.

Und da fühlte sie es, seine Affinität, die gegen ihren Körper brandete und die Last unter der Oberfläche aufspürte. »Ich brauche deine Gnade nicht«, murmelte sie. »Halte dich einfach aus meinem Kopf raus.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe mich nur gefragt, warum so tiefe Falten dieses schöne Gesicht verunzieren. Außerdem … deine Schuldgefühle machen dich angreifbar. Dann ist dein Schild am schwächsten. Das habe ich schon vor langer Zeit gelernt.«

»Meine Schuldgefühle bedeuten, dass ich mich noch nicht in ein Monster verwandelt habe.«

Eine weitere Lüge auf ihrer langen Liste.

Will verspannte sich, und ein Muskel an seinem Kiefer zuckte. »Wie ich«, beendete sie ihren Satz kühl. »Wenn du mich beleidigen willst, Aya, dann erweise mir wenigstens die Höflichkeit, es auch durchzuziehen.«

Sie war zu müde, um mit ihm zu diskutieren. Ihre Erschöpfung war stärker als die Wärme des Feuers, die langsam in ihren Körper eindrang. Sie brauchte Schlaf – besonders vor der Begegnung mit der Königin.

»Wir treffen uns direkt nach Sonnenaufgang«, murmelte Aya. »Versuch, bis dahin etwas Nützliches herauszufinden. Und pass auf dich auf. Du wirst dich noch umbringen, wenn du so durch die Straßen stolzierst.«

Wills Augen glitzerten im Feuerschein. Die Flammen betonten die grünen Flecken im Grau seiner Iris. Er legte den Kopf schief, als er sie musterte, und die Bewegung sorgte dafür, dass ihm die Haare in die Stirn fielen. »Wüsste ich es nicht besser, Aya-Schatz, würde ich sagen, das interessiert dich tatsächlich.«

»Bilde dir nur nichts ein«, gab sie zurück. Wenn überhaupt, war seine Existenz eine ständige Erinnerung an den Hochmut der Händlerklasse, den sie so verabscheute. Aber selbst Aya konnte nicht leugnen, dass Wills Macht und Durchtriebenheit in dem Konflikt von Nutzen sein würden, der mit Trahir dräute. Sowohl in Ratssitzungen als auch – die Götter mochten das verhüten – auf dem Schlachtfeld. »Ich denke eher an Tala. Wenn die Situation sich verschlimmert, fehlt uns die Zeit, dich zu ersetzen.«

Er presste sich spöttisch eine Hand an die Brust. »Ich fühle mich unendlich geehrt, dass du mich so sehr schätzt.«

Mit finsterer Miene wanderte sie der Treppe zu, die am anderen Ende des Saals nach oben führte.

»Vergiss nicht, ein Bad zu nehmen«, rief er ihr hinterher. »Ich kann dich selbst hier noch riechen.«

Sie zeigte ihm über die Schulter den Mittelfinger. Sein Lachen jagte sie über die Stufen nach oben, als sie ihn zurückließ. Mit langsamen Schritten schlurfte sie in ihr Zimmer. Das Blut an ihren Händen und auf ihrem Gesicht fühlte sich immer schwerer an, je länger es an ihrer Haut klebte.

Es war eine Ehre, ihren Göttern und ihrem Königreich zu dienen, erinnerte sie sich selbst.

Und für jemanden wie Aya war es vielleicht auch ein Akt der Sühne.

3

Aya schrie.

Das Geräusch zerriss ihr die Kehle, als sie über den Rand des Walls starrte. Dort unten lag sein zerstörter Körper. Seine Schmerzensschreie durchschnitten die Luft, als er seinen gesplitterten Arm umklammerte, dessen weiße Knochen unter der Haut zu sehen waren.

Sie hatte das nicht gewollt.

Sie hatte das nicht gewollt.

Sie hatte das nicht gewollt.

Es spielte keine Rolle. Denn das war Blut, das aus Wills Wunde floss und in beängstigendem Tempo das Gras verfärbte.

Aya rannte den Pfad entlang, folgte zitternd dem Verlauf des Walls. Zwei Arme schlangen sich von hinten um ihre Taille, so eng, dass die Luft aus ihrer Lunge gepresst wurde, dann wurde sie nach hinten gezerrt. Eine Heilerin mit rabenschwarzem Haar, fahler Haut und kobaltblauen Augen zog Aya mit grimmiger Miene wieder von Will weg.

Wills Kopf sank zur Seite, und seine grauen Augen, die Aya anstarrten, wurden leer.

Sie schrie schon wieder.

Aya kämpfte gegen den Halt der Heilerin; kämpfte darum, ihn zu erreichen, um zu beweisen, dass er nicht tot war; zu beweisen, dass sie nicht das Monster war, von dem sie fürchtete, es zu sein.

Ein gleißend heller Blitz schoss über den Himmel, und plötzlich waren die Arme der Heilerin verschwunden. Aya wirbelte gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie der Körper der Frau mit einem scheußlichen, dumpfen Knall zu Boden fiel. Und dann …

Dunkelheit.

Aya erwachte abrupt. Ihre Finger fanden sofort die kleine Klinge auf ihrem schmiedeeisernen Nachttisch.

Ein Traum. Es war ein Traum.

Aber ihr Herz raste trotzdem, und kalter Schweiß durchtränkte den weichen Baumwollstoff des Nachthemdes, das sie bei ihren letzten Rendezvous Elias gestohlen hatte – dem attraktiven, jungen Adeligen aus der Stadt. Sie ließ den Blick über die vier Ecken ihres Schlafzimmers gleiten, unfähig, das Gefühl abzuschütteln, dass etwas in den Schatten lauerte.

Die Phanmata, würde ihr Vater in der Alten Sprache sagen – der Sprache der Götter. Die verweilenden Geister deiner Albträume können dir nichts anhaben, mi couera.

Mein Herz. Ein Kosename, der bis zu ihrem Tod ihrer Mutter vorbehalten gewesen war.

Langsam sanken Ayas Schultern nach unten. Sie gab die Klinge frei und ließ sich wieder in die Kissen sinken, zwang sich, langsam und ruhig zu atmen.

Es war ein Jahr vergangen, seit die Heilerin sie das letzte Mal im Schlaf besucht hatte. Der Albtraum begann immer gleich, mit einer Erinnerung, bei der sich ihr Magen hob. Und dann verwandelte er sich in etwas vollkommen anderes.

Die Königin, die ihr einen Platz in der Dyminara verweigerte.

Will, der sie umbrachte, weil sie ihn überzeugt hatte, den Sprung zu wagen.

Saudra, die Göttin der Überzeugung, die ihr ihre Affinität nahm.

Aber am schlimmsten waren die Albträume wie heute Nacht, in denen er sich nie vom Boden erhob und Aya innerhalb von Minuten zwei Leben nahm.

Sie schloss die Augen und atmete noch einmal tief durch, flehte diese unsichtbaren Finger der Angst an, ihr Herz freizugeben. Aya hatte ausgiebig mit Galda gearbeitet, der Trainerin der Dyminara, um ihre Kräfte zu kontrollieren. Sie hatte mit acht Jahren angefangen – genau an dem Tag, an dem sie vom Tod ihrer Mutter erfahren hatte.

Ihre Mutter war, wie die meisten Caeli, mit der Fähigkeit geboren worden, das Flüstern des Windes zu verstehen. Ayas Vater hatte immer gesagt, dass sie deswegen für die Händler reisen musste – sie musste dem Ruf des Windes folgen, weil sie sonst ihre Seele verraten hätte. Aber Aya hatte gehört, wie ihre Eltern vor dieser schicksalhaften Reise diskutiert hatten. Hatte gehört, wie Pa sie angefleht hatte, wegen des wechselhaften Herbstwetters nicht zu fahren, hatte gehört, wie ihre Mutter gestanden hatte, dass Gale nicht einfach nur ihren Lohn zurückhalten, sondern Entschädigung für nicht geleistete Arbeit fordern würde und dass sie sich das einfach nicht leisten konnten.

Und sie konnte immer noch hören, wie Gales Bote Elizas Namen von der Liste der Menschen und Güter vorgelesen hatte, die im Schiffbruch verloren gegangen waren … als besäßen Gegenstände denselben Wert wie menschliches Leben.

Und Gale, dieser Feigling, hatte zusätzlich seinen Sohn ausgesandt, um die Nachricht zu überbringen. Ein Kind, um die Aufgabe eines erwachsenen Mannes zu erledigen. Und Will, der damals noch ein dürrer Zehnjähriger gewesen war, hatte einfach nur Aya angestarrt, als ihr Vater zusammenbrach; hatte sie mit gerunzelter Stirn und schief gelegtem Kopf gemustert. Als ob …

Als ob er die schrecklichen Dinge sehen könnte, die sie vor Elizas Aufbruch zu ihrer Mutter gesagt hatte. Als frage er sich, wieso sie nicht ebenfalls zusammenbrach, wenn doch so viel Schuld in ihr brannte.

Jahre später hatte Will seine eigene Mutter verloren – und Aya fragte sich, ob man ihm die Höflichkeit erwiesen hatte, in Frieden trauern zu dürfen. Ob die Reichen sich so etwas vielleicht leisten konnten.

Es war Galda, die Aya in dieser Nacht in den Wäldern gefunden hatte, als Ayas Trauer ihre Macht so heftig an die Oberfläche gerufen hatte, dass sie bewusstlos geworden war. Und es war Galda, die ihr die eine Sache angeboten hatte, die Aya, selbst mit acht Jahren, dringender gebraucht hatte als alles andere: Kontrolle.

Aber wenn der Vorfall am Wall Aya irgendetwas gelehrt hatte, dann dass Kontrolle nicht konstant war.

Dafür war Disziplin nötig.

Fokus.

Wachsamkeit.

Genau die Qualitäten, die ihr in den letzten dreizehn Jahren eingebläut worden waren.

Denn sie hatte nicht vorgehabt, das zu tun. Hatte keinen Moment über die Worte nachgedacht, die sie Will an diesem Tag auf dem Wall entgegengeschleudert hatte, nachdem er sie verspottet hatte.

Du hasst mich, das ist offensichtlich. Aber ich glaube, da ist noch etwas anderes, nicht wahr, Aya-Schatz? Etwas, was du lieber nicht genauer erkunden willst.

Ihre Mutter hatte immer erklärt, dass Hepha, die Schutzgöttin der Incendi, Aya vielleicht nicht mit ihrer Flamme gesegnet hatte, aber doch auf jeden Fall mit ihrem Stolz.

Will war ihr unter die Haut gegangen, hatte sie weit genug getrieben, dass sie die Kontrolle verloren hatte. Und als das geschehen war … hatte es alles zwischen ihnen zerstört, was nicht Bitterkeit und Abscheu war.

Sie ist zu gefährlich.

Aya hatte sich an diesem Abend zum Stadthaus ihres Vaters geschleppt, um nach ihm zu sehen; hatte im Flur gewartet und gelauscht, während Will in seinem Zimmer mit Galda diskutierte; sie drängte, Aya aus der Qualifikation für die Dyminara zu nehmen, bevor sie noch jemanden verletzen konnte.

Er hatte Galda erklärt, dass Aya ihn hätte töten können; dass es in der Dyminara keinen Platz gab für jemanden, der sich so wenig unter Kontrolle hatte.

Ihr einziger Traum. Ihre einzige Chance, sicherzustellen, dass ihr Vater in kalten Wintern ausruhen konnte und nicht länger darum kämpfen musste, für sich selbst zu sorgen. Der eine Ort, an dem sie Gutes tun konnte.

Er hatte versucht, ihr das alles zu nehmen.

Das hatte sie ihm nie verziehen.

Sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er versucht hatte, ihr ihre Zukunft zu nehmen. Aber auch nicht, welchen Einfluss er auf sie hatte. Wie es ihm gelungen war, das Kribbeln unter ihrer Haut freizusetzen, das sie so streng zu beherrschen gelernt hatte; die mangelnde Selbstkontrolle, die sie über die Jahre tiefer und tiefer in sich vergraben hatte, bis sie sich selbst davon überzeugen konnte, dass sie allein ihre Affinität beherrschte.

Es war, als hätte seine Dunkelheit die ihre gerufen; als hätte sie der Versuchung nicht widerstehen können, zu antworten.

Und dafür hasste sie ihn.

Stirnrunzelnd musterte Aya das fahlgraue Licht, das durch die Bogenfenster fiel und den herannahenden Sonnenaufgang ankündigte. Es wäre unmöglich, noch einmal Schlaf zu finden. Ihr Blick fiel auf die Conoscenza – das Buch der Götter – auf ihrem Nachttisch. Der abgegriffene, lederne Einband war geöffnet, und das Gebet der Sicherheit an Sage, die Göttin der Weisheit, starrte von der dünnen Papierseite zu ihr auf. Letzte Nacht hatte sie Trost in seinen Versen gefunden. Ihre Gedanken waren ruhelos gewesen, hatten jede Information aufgerufen, die sie darüber entdeckt hatte, dass Trahir am Händlerrat vorbei Waffen erwarb.

Bevor Aya erneut nach der Conoscenza greifen konnte, öffnete sich knirschend ihre Tür, und ein Kopf voller weißblonden Haars spähte in den Raum.

Tova grinste. »Du siehst schrecklich aus«, erklärte sie, als sie den Raum betrat, zwei dampfende Tassen Chaucholada in den Händen.

»Das höre ich immer wieder.« Aya warf einen Blick in den Spiegel gegenüber dem Bett. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sich aus dem langen Zopf gelöst, sodass dünne Strähnen um ihr Gesicht tanzten. Sie wirkte noch fahler als gewöhnlich – der olivbraune Schimmer, der sich als Erbe ihres Vaters im Sommer über ihre Wangen ausbreitete, dank der kalten Monate lange verschwunden; und die Bleiche noch verstärkt von ihrer ruhelosen Nacht. Die dunklen Ringe unter ihren Augen ließen die eisblauen Augen, von denen Will immer erklärte, sie würden perfekt zu ihrem Charakter passen, noch heller leuchten.

Sie hätte ein paar Stunden mehr Schlaf gebrauchen können. Aber zumindest hatte sie sich das Blut vom Körper gewaschen.

Tova reichte ihr eine Tasse, um sich dann auf den Bettrand sinken zu lassen und mit einer kurzen Handbewegung das Feuer im Kamin auf der anderen Seite des Zimmers zu entzünden. Aya liebte ihre Freundin aus tiefstem Herzen, aus mehr Gründen, als sie aufzählen konnte. Sie beide waren schon unzertrennlich, seitdem sie Laufen gelernt hatten. Und während ihres Trainings für die Dyminara wurde klar, dass man mit und niemals gegen Tova kämpfen wollte. Sie war aus gutem Grund die Generalin der Königin.

Und auch wenn Aya wahrscheinlich am meisten ihre Loyalität und ihre Wildheit schätzte, folgte doch direkt danach Tovas Fähigkeit, im Winter einen Raum zu wärmen.

»Ich habe gehört, du hattest einen interessanten Abend.« Tova hob eine perfekte Augenbraue und nippte an ihrem Getränk. Der Feuerschein tanzte über ihr fahles Gesicht mit den immer pinken Wangen – als lauere die Wärme ihres Feuers als Incend immer direkt unter der Oberfläche. »Schön zu sehen, dass du den Dreck abwaschen konntest.«

»Unser Verdacht, dass Trahir unsere Handelsabkommen bricht, hat sich bestätigt, aber er tratscht nur über eine Kneipenschlägerei. Jämmerlich. Wann hat er dir das überhaupt erzählt?«

»Heute Morgen«, antwortete sie und warf ihr langes Haar über die Schulter nach hinten. Aya sah für einen kurzen Moment die Tätowierung eines auf dem Kopf stehenden Dreiecks unter ihrem Ohr, das von drei Linien in vier Teile zerschnitten wurde. Manche Visya ließen sich das Zeichen ihres Ordens tätowieren, andere ehrten ihre Zugehörigkeit auf schlichtere Art – wie Ayas Mutter, die dasselbe auf dem Kopf stehende Dreieck – als Zeichen des Ordens der Dultra, der Elementare – an einer silbernen Kette getragen hatte, die sie niemals abnahm. Auch diese Kette lag jetzt irgendwo auf dem Grund des Anath-Meeres.

Als Tova Aya vor drei Jahren in die Tätowierbude gezogen hatte, hatte Aya kurz erwogen, sich zwei konzentrische Kreise aufs Handgelenk tätowieren zu lassen, als Symbol für die Espri – die Manipulatoren von Geist, Gefühlen und Empfindungen. Aber die Narbe auf ihrer linken Handfläche – ein Überbleibsel ihres Bluteides zur Dyminara – hatte noch gebrannt, und wann immer sie den weißen Strich sah, wallte Stolz in ihr auf.

Die Dyminara war ihr neuer Orden. Ihr Zuhause. Ihre Art, zu ehren, was Saudra ihr gegeben hatte, indem sie genau das tat, was die Götter von den Visya verlangten: das Reich beschützen.

Sie brauchte kein anderes Symbol als dieses.

»Er war ziemlich früh auf und hat darauf gewartet, dass Elara die Chaucholada bringt«, sagte Tova. »Und wirkte dabei genauso müde wie du. Als hätte er die gesamte Nacht mit jemand Besonderem verbracht.«

»Hat nach einem produktiven Abend wahrscheinlich Marie einen Besuch abgestattet«, murmelte Aya. Vor ihrem inneren Auge stieg ein Bild der liebenswerten Brünetten auf, die sie letzte Woche mit Will hatte speisen sehen. »Die Götter mögen ihr beistehen.«

Tova schnaubte in ihre Tontasse. »Ich vermute, es gibt schlimmere Leute, mit denen man die Nacht verbringen könnte.«

»Wirklich?«

Tova zuckte mit den Achseln. »Seine Arroganz verbirgt nicht sein Aussehen. Nicht, dass er deswegen erträglicher würde, wenn er den Mund aufmacht. Wäre er doch nur nicht so gut in seinem Job, dann wären wir nicht gezwungen, ihn zu ertragen.« Ihre großen, haselnussbraunen Augen glitzerten schelmisch, als sie Aya anstieß, die wachsam das schwappende Getränk in Tovas Tasse im Blick behielt. »Also hast du dich nicht mit einem Sieges-Techtelmechtel belohnt?«

Aya verdrehte sie Augen. Tova wusste, dass Elias viel zu schicklich war, um zu solch später Stunde ins Quartier zu kommen. Oder vielleicht auch feige. Wieso er zugestimmt hatte, sich mit Aya einzulassen, ging über ihren Verstand – besonders, nachdem sie beide wussten, dass eine echte Verbindung zwischen ihnen unmöglich war. Elias brauchte eine Adelige. Und Aya …

Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sie sich solche Ablenkungen sowieso nicht leisten konnte.

Tova stellte ihre Tasse auf den Nachttisch und griff nach der Conoscenza, blätterte geistesabwesend durch die Seiten, bevor sie das Buch auf das weiße Laken warf. Aya biss sich in die Wange. Tova war ein stetiger Quell von Chaos, schnappte sich ständig Dinge und ließ sie dann an Orten liegen, an denen sie nichts zu suchen hatten. Ihre Freundin liebte es, das sorgfältige Gleichgewicht ins Wanken zu bringen, das Aya in ihrem Leben errichtet hatte.

Aya liebte Ordnung. Struktur. Kontrolle. Es hatte etwas Beruhigendes, genau zu wissen, dass die Dinge sich dort befanden, wo sie sie hingelegt hatte. Sie liebte die Vorhersehbarkeit, etwas auf eine bestimmte Weise zu ordnen und diese Ordnung dann aufrechtzuerhalten – egal, was um sie herum auch vorging.

»Liest du jemals etwas Gutes?«, beschwerte sich Tova.

»Mit ›gut‹ meinst du diese schrecklichen Liebesromane, von denen du nicht genug bekommen kannst?«

»Du sagst schrecklich, ich sage leidenschaftlich.«

Aya grinste. »Tova ist eine blutrünstige Generalin am Tag, eine hoffnungslose Romantikerin in der Nacht.«

Tova zuckte nur mit einer Schulter. »Wir können nicht alle ständig ernst und stoisch sein.«

»Ich habe Spaß.«

Ihre Freundin bedachte sie mit einem vielsagenden Blick. »Deine Vorstellung von Spaß ist es, ein Stück Holz zu schnitzen. Ich schwöre, an deinen Händen sind quasi Klingen festgewachsen. Vielleicht solltest du dir ein Hobby suchen, das nichts mit Waffen oder Götterverehrung zu tun hat?«

Aya ließ sich mit verschränkten Armen in die Kissen sinken. »Ich war vor zwei Tagen mit dir aus.«

»Ja.« Tova seufzte dramatisch, als sie nach der Decke griff. »Und du hast es gehasst.«

Sie hatte es nicht gehasst. Sie hatten sich mit ein paar Anima getroffen, die in den allgemeinen Streitkräften der Königin dienten. Tova hatte viel mit ihnen gelacht. Sie war auf eine Weise mit ihnen vertraut, die Aya niemals erreichen würde und auch nicht wollte. Für Aya reichte es, sich in der Nähe aufzuhalten. Sie war nie diejenige gewesen, die vor Leben sprühte; nicht wie Tova, deren wilde Leidenschaft alle anzog. Tova war eine geborene Anführerin, und die Krieger, die sie befehligte, liebten und respektierten sie tief. Aya bevorzugte es, sich am Rand zu halten, unsichtbar und unbemerkt zu bleiben. Schweigen kam ihr entgegen.

»Also«, meinte Tova und riss sie damit aus ihren Gedanken, »was steht heute auf dem Terminkalender, abgesehen davon, Trahirs bevorstehendes Verhängnis mit Gianna zu diskutieren?«

»Die Vorbereitungen für die Dämmerung.«

Mit einem Stöhnen ließ Tova sich nach hinten aufs Bett fallen. »Hepha helfe mir. Meine Mutter tickt wahrscheinlich bereits völlig aus. Erinnerst du dich, wie viele Girlanden wir letztes Jahr aufhängen mussten? An meinen Fingern klebt immer noch Harz.«

Beim Winterfestival wurde Sankt Evie geehrt. Ihr Opfer vor Hunderten von Jahren, in dem Krieg, der den Schleier zwischen dem Reich und dem Jenseits zerrissen hatte und die Götter rief, um die Decachiré zu bannen: die gefährliche Affinitätsmanipulation, mit der machtgierige Visya versucht hatten, sich selbst in den Rang von Göttern zu erheben, indem sie ihre Macht ins Unendliche steigerten.

Auch wenn die Visya-Macht vor dem Krieg roh war – fähig, zu jeder der neun Affinitäten geformt zu werden, statt an eine gebunden zu sein –, war sie doch limitiert; eingeschlossen in etwas, was als der »Brunnen« einer Person bekannt war und begrenzte, wie weit Visya gehen konnten, bevor sie ganz ausbrannten.

Aber die Praktizierenden der Decachiré hatte mit den Begrenzungen der Brunnen experimentiert, hatten sie mehr und mehr erweitert, um mehr Macht zu erlangen. Sie kannten keine Grenzen.

Es reichte ihnen nicht, von den Göttern gesegnet zu sein. Sie wollten selbst Götter werden. Manche hatten versucht, Menschen Macht zu verleihen, in dem festen Glauben, dass es keinen besseren Hinweis auf göttergleiche Macht gab, als selbst Visya zu schaffen. Und diese dann einzusetzen, um den Krieg voranzutreiben.

Es war eine gefährliche Praxis, die nur wenige überlebt hatten.

Die Decachiré hatte das Reich fast zerstört, als ihre Praktizierenden ihre dunkle Affinität mit nur einem Ziel vor Augen erweitert hatten: mächtig genug zu werden, um die Götter zu töten.

Aber Evie … sie hatte sie alle gerettet.

Die Dämmerungsfeier fand in drei Tagen statt, und die Stadt war wie im Rausch. Girlanden wurden aufgehängt, Kerzen angezündet, und selbst die Athatis, die heiligen Wölfe, welche die Dyminara bewachten, schlemmten bei einer feierlichen Jagd.

»Begleite mich stattdessen. Überlass Caleigh das Dekorieren.« Tovas jüngere Schwester konnte das sowieso besser. Als Terra machte ihre Erd-Affinität sie zu einer natürlichen Gärtnerin, mit einer Geduld, die Tova einfach nicht besaß. »Ich werde mit Pa Pasteten backen.«

Tova brummte zustimmend, bevor sie ihren Kopf an Ayas Schulter sinken ließ. Aya erlaubte den Kontakt und fand einen Moment seltenen Friedens, als Tovas Zimtduft sie einhüllte.

»Trägst du das jede Nacht?«, murmelte Tova schließlich und beäugte mit gerunzelter Stirn Elias’ Hemd. Dann kreischte sie auf, als sie Ayas Schlag auswich. »Übrigens, ich habe deine Handschuhe«, fügte sie hinzu. »Sie sind so viel hübscher als meine.«

»Du bist schrecklich«, murmelte Aya halbherzig. Gänsehaut bildete sich auf ihrer Haut, als sie ihre nackten Beine über die Bettkante schwang.

Tova grinste. »Ich weiß.«

4

Will war sich ziemlich sicher, dass er den Tag nicht überstehen würde, ohne jemanden umzubringen.

Die frühmorgendliche Sonne strömte durch die Fensterbögen, die sich an einem Ende des höhlenartigen Eingangs zum Großen Palast entlangzogen, sodass die grauen Pflastersteine in hellem Grau strahlten. Er massierte sich den Nasenrücken. Die Chaucholada hatte nicht geholfen, die Kopfschmerzen zu dämpfen, die sich stetig hinter seinen Augen aufbauten.

Die ganze Nacht. Er hatte die ganze Nacht gebraucht, um die Händler zu brechen, obwohl sie nicht einen Funken Macht besessen hatten. Angeblich war es ein Verbrechen und eine Sünde, Affinitäten einzusetzen, um Menschen zu schaden, aber ihm war zur Verteidigung des Königreichs immer ein gewisser Spielraum eingeräumt worden. Dafür hatte Gianna gesorgt.

Er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, bei den Göttern um Vergebung zu beten. Er bezweifelte sowieso, dass sie jemandem wie ihm Gehör schenkten.

Will atmete tief durch und blinzelte heftig, als Aya und Tova sich näherten, als könnte das ausreichen, um die Stiche zu vertreiben, die sein Hirn durchfuhren. Die Generalin murmelte eine Begrüßung. Aya blieb stumm, aber ihre eisigen Augen musterten ihn von Kopf bis Fuß. Er verabscheute, wenn sie ihn ansah, als könne sie bis in sein Innerstes schauen.

Er erwiderte den Gefallen und musterte sie ebenfalls eingehend.

Schwarze Lederhose, welche die Kurven ihrer Hüften umschmeichelte, feste, schwarze Stiefel, ein weiterer schwarzer Pullover, dessen Ausschnitt gerade tief genug war, um die Wölbung ihrer Brüste zu enthüllen. Ihr dichtes, dunkelbraunes Haar war mit einem weißen Band zu einem Pferdeschwanz gebunden – ein Anflug von Unschuld.

Eine lachhafte Vorstellung, wenn man Elias glauben durfte. Der junge Adelige hatte es letzte Woche in der Taverne einfach nicht geschafft, den Mund zu halten. Will hatte erwogen, einen Splitter seiner Macht einzusetzen, um das Gerede zu stoppen, und sei es nur, um in Frieden seine eigene Gesellschaft genießen zu können.

Mehr wäre nicht nötig gewesen. Nicht bei einem Dümmling wie Elias.

Giannas Privatgemächer lagen im Ostflügel des Palastes. Die grauen, rauen Steinwände erweckten den Eindruck, als wäre die Burg aus dem Berg selbst gewachsen. Und der Eindruck wurde noch davon verstärkt, dass sie sich an den Pass anschmiegte, der über die Stadt hinwegsah. Aus den vielen Fenstern und Torbögen der Burg hatte man einen ungehinderten Blick über Dunmeaden, das sich in Richtung des Hafenbeckens erstreckte. Fast konnte man von hier aus sogar sehen, wie sich das Wasser der Loraine in das Anath-Meer ergoss.

Der Palast war mit subtiler Pracht eingerichtet. Die Wände waren geschmückt mit Gemälden, die unzählige Szenen aus der Conoscenza darstellten, und die eisernen Geländer und Armaturen waren mit Akzenten von Gold und Silber verziert.

»Du bist erschreckend still, William. Hast du nicht genug Schlaf bekommen?«, spottete Tova, die rechts von Aya ging, und brach damit das Schweigen.

»Einigen von uns, Tova, ist das Privileg von Schönheitsschlaf nicht vergönnt. Wir müssen tatsächlich arbeiten.«

Es war nicht so, als verabscheue er die Generalin. Sie waren sicherlich nicht befreundet … und vermutlich hatte er Aya dafür zu danken. Doch auch die Sturheit, die ihnen beiden zu eigen war, mochte etwas damit zu tun haben. Sie hatte definitiv hin und wieder zu Diskussionen geführt, die auch mal mit Fäusten ausgetragen wurden.

Und tatsächlich flackerte jetzt Feuer um Tovas Fingerspitzen, als sie ihn angrinste, bereit für eine Herausforderung.

»Hör auf damit«, murmelte Aya. Sie hatten Giannas Gemächer erreicht. Aya nickte den Wachen kurz zu.

»Spielverderberin«, zischte ihre Freundin leise. Das Feuer verschwand in dem Moment, in dem die schweren Türflügel aufschwangen.

Gianna saß an einem niedrigen, ovalen Glastisch in der Mitte ihres kreisrunden Wohnzimmers, ihr langes, weißes Kleid ein wenig heller als ihre cremefarbene Haut. Hauchdünne, weiße Vorhänge umrahmten die großen Fenster zur Linken, durch die Sonnenlicht in den Raum flutete. Alle drei sanken auf die Knie, aber Gianna winkte sie bereits vorwärts. »Kommt und setzt euch.« Sie deutete auf den Tisch, auf dem verschiedene Köstlichkeiten angerichtet waren. »Bedient euch.«

Aya nahm wie üblich auf dem grünen Sofa gegenüber der Königin Platz. Will ließ sich neben sie fallen. Tova setzte sich auf einen stabilen, kastanienbraunen Sessel rechts von ihnen. Gianna goss Tee ein, als sie sich am Essen bedienten – als wären sie ihr gleichgestellt.

Zuerst hatte Will nicht gewusst, was er damit anfangen sollte – mit Giannas Beharren auf diesen lockeren Umgang. Aber er hatte sich angepasst. So wie das Königreich es getan hatte, als die junge Königin vor sieben Jahren den Thron bestiegen hatte, nachdem der König seiner Krankheit anheimgefallen war. Ziemlich perfektes Timing eigentlich, die Götter seien seiner Seele gnädig. Denn zwei Jahre später befand sich Will in der Ausbildung für die Dyminara, und Gianna hatte verkündet, eine eigene Tría bilden zu wollen.

Das war genau die Position, die er haben musste: in nächster Nähe zu seiner Königin.

Und genau dort hielt sie ihn.

Gianna war fünfunddreißig – zwölf Jahre älter als Will. Und doch konnte das die Gerüchte nicht stoppen, die ihm nun schon seit Jahren folgten. Der Tratsch, der andeutete, dass sein Verhältnis zu Gianna sich nicht auf seine Position als ihr Zweiter beschränkte, sondern dass da mehr zwischen ihnen existierte.

Es war nicht so, als fehle es der Königin an Liebhabern. Sie war wunderschön. Ihr goldbraunes Haar sah aus, als leuchte es von innen, besonders, wenn es von Sonnenlicht beschienen wurde wie in diesem Moment. Und mit ihren rosigen Wangen und den sanften, braunen Augen hätte man sie fälschlicherweise für sanftmütig halten können.

Aber sie war die Herrscherin über die älteste Monarchie des Reiches – und diese Position erforderte Cleverness und Ehrgeiz und Macht.

»Was gibt es für Neuigkeiten?«, fragte Gianna, den Blick erwartungsvoll auf Aya gerichtet.

»Es ist, wie Ihr erwartet hattet. Sie bestellen Waffen, am Rat vorbei. Beide Händler wurden festgenommen, aber es gab keinen Hinweis auf den Lieferanten. Ronan war nicht auf seinem Posten.«

Will beobachtete, wie Aya die Zähne zusammenbiss. Er musste seine Affinität nicht einsetzen, um zu wissen, dass Irritation in ihr aufwallte. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, ihre Miene zu lesen. In gewisser Weise betrachtete er das als Herausforderung. Aya wurde ihrem Ruf als die Augen der Königin gerecht: kühl, emotionslos, ungerührt.

Und stur wie alle Höllen.

Er kannte Aya gut genug, um zu wissen, wie sehr sie es verabscheute, Gianna zu enttäuschen.

»Ich war bei seiner Wohnung, aber dort gab es keinen Hinweis auf ihn«, schaltete Will sich ein. »Ich bin mir sicher, wenn ich ihn finde, erhalten wir eine akzeptable Erklärung für seine Abwesenheit.«

Gianna nickte mit nachdenklicher Miene. »Und die Händler?«, fragte sie ihn.

»Sie haben mir keinen Namen für den Lieferanten geliefert. Aber sie haben preisgegeben, dass er im Namen von Kakos einkauft.«

Schweigen, angespannt und tödlich, folgte auf seine Worte. Das einzige Geräusch stammte von Giannas Gabel, die auf den Teller fiel.

Obwohl Kakos das gesamte untere Drittel ihres Kontinents einnahm, war über eine Dekade vergangen, seitdem irgendwer Handel mit dem geächteten südlichen Königreich getrieben hatte. Es gab keinerlei Kontakt, seitdem die ersten Gerüchte laut geworden waren. Es hieß, sie suchten nach einem Weg, die rohe Macht wiederzuerlangen, welche die Visya vor dem Krieg besessen hatten. »Diaforaté«, so hatten die Königreiche diese Leute getauft.

Die Offenlegung von Kakos’ versuchter Häresie schickte eine Welle der Angst durch das Reich. Und der verstorbene König hatte ein Embargo geschmiedet, das Kakos von jeglichem Handel ausschloss. Es war vielleicht das einzige Mal, dass alle Länder sich auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt hatten.

Das hatte das südliche Königreich zerstört.

Will vermutete, die Hoffnung war gewesen, dass sie endeten wie Chamen, das Königreich ganz weit im Süden, dessen eisiges Klima und isolierte Lage jeglichen Handel erschwerte und damit heftigen Einfluss auf ihre Ökonomie hatte.