The Cursed One - Lockruf der Finsternis - Ronda Thompson - E-Book

The Cursed One - Lockruf der Finsternis E-Book

Ronda Thompson

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Beschreibung

"Packend, mitreißend und sexy!" Christine Feehan über die Paranormal Regency Romance von Ronda Thompson

England, 1821. Die schrecklichen Kreaturen, die Amelias Mann in ihrer Hochzeitsnacht ermordet haben, verfolgen auch sie. Einzig der geheimnisvolle Gabriel Wulf steht ihr bei - der Mann, den sie vor Jahren in London sah und der sie seitdem in ihren Träumen verfolgt. Doch Gabriels einziges Streben ist es, den grausamen Fluch zu lösen, der auf seiner Familie lastet. Und er muss Amelia beschützen - vor dem, was in den Wäldern auf sie lauert und vor sich selbst. Nie darf sie erfahren, was er wirklich ist. Doch sosehr sich Gabriel dagegen wehrt: Amelia hat sein Herz bereits entflammt. Und mit der Leidenschaft erwacht auch die Bestie in ihm. Wird die Liebe zu ihr seine Rettung sein oder ihrer beider Untergang?

"The Cursed One - Lockruf der Finsternis" ist ein Teil der "Wild Wulfs of London"-Reihe von Ronda Thompson über die drei Wulf-Brüder. Weitere Bände der Historical Shapeshifter Romance sind: "The Dark One - Versuchung der Finsternis" und "The Untamed One - Im Rausch der Finsternis".

Dieser historische Liebesroman ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Lockruf der Finsternis" erschienen.

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.


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Seitenzahl: 466

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Epilog

Weitere Titel der Autorin

Wild Wulfs of London

The Dark One – Versuchung der Finsternis

The Untamed One – Im Rausch der Finsternis

Über dieses Buch

»Packend, mitreißend und sexy!« Christine Feehan über die Paranormal Regency Romance von Ronda Thompson

England, 1821. Die schrecklichen Kreaturen, die Amelias Mann in ihrer Hochzeitsnacht ermordet haben, verfolgen auch sie. Einzig der geheimnisvolle Gabriel Wulf steht ihr bei – der Mann, den sie vor Jahren in London sah und der sie seitdem in ihren Träumen verfolgt. Doch Gabriels einziges Streben ist es, den grausamen Fluch zu lösen, der auf seiner Familie lastet. Und er muss Amelia beschützen – vor dem, was in den Wäldern auf sie lauert und vor sich selbst. Nie darf sie erfahren, was er wirklich ist. Doch sosehr sich Gabriel dagegen wehrt: Amelia hat sein Herz bereits entflammt. Und mit der Leidenschaft erwacht auch die Bestie in ihm. Wird die Liebe zu ihr seine Rettung sein oder ihrer beider Untergang?

Über die Autorin

Ronda Thompson (1955-2007) lebte zuletzt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern in Texas, USA. In ihrer Heimat war sie mit ihren Büchern sehr erfolgreich; ihre Romane tauchten regelmäßig auf der New York Times-Bestsellerliste auf. Ronda Thompson hat bevorzugt Paranormal Romance geschrieben, da in diesem Genre alles passieren kann – und üblicherweise auch alles passiert.

Ronda Thompson

THE

CURSED

ONE

LOCKRUFDER FINSTERNIS

Aus dem amerikanischen Englischvon Ulrike Moreno

beHEARTBEAT

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2006 by Ronda Thompson

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Cursed One«

Originalverlag: St. Martin’s Press, New York

Published by arrangement with St. Martin’s Press. All rights reserved.

Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2009/2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Lockruf der Finsternis«

Textredaktion: Britta Schiller

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Mike_Pellinni | ortlemma; © Adobe Stock: Geber86

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6351-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Marley und Shane.Ich wünsche euch all die Freude und Liebe,welche Jahre der Ehe und des Lesens mirgegeben haben.Haltet euch an den Händen aufeurem gemeinsamen Lebensweg.Seid glücklich.

Verdammt sei die Hexe, die mich mit diesem Fluch belegte.Ich hielt ihr Herz für rein.Ach, keine Frau fühlt Verpflichtung,sei es gegenüber Familie, Namen oder Krieg.Ich fand keinen Weg, den Fluch zu brechen,keinen Trank, keinen Spruch und keine Tat.Vom Tag an, da sie den Bann über mich sprach,wird er sich vererben, von Saat zu Saat.

Verraten von der Liebe, von meiner eigenen falschen Zunge,hieß sie den Mond, mich zu verwandeln.Der Familienname, einst mein ganzer Stolz,steht jetzt für die Bestie, die mich bedrängt.Und in der Stunde ihres Todesrief die Hexe nach mir.Unversöhnlich, ohne Erbarmen,sprach sie dann, bevor sie starb:

»Suche und finde deinen ärgsten Feind,sei tapfer und laufe nicht davon.Liebe ist der Fluch, der dich bezwingt,doch auch der Schlüssel, der dich befreit.«

Ihr Fluch und Rätsel sind mein Verderben,ach Hexe, die ich liebte und doch nicht freien konnte.Schlachten habe ich ausgetragen und gewonnen,und dennoch hinterlasse ich nur Niederlagen.Ihr Wulfs, die ihr meine Sünden büßt,Söhne, die ihr weder Mensch noch Tier sein könnt,löst das Rätsel, das mir verschlossen blieb,und werdet erlöst von diesem Fluch.

Ivan Wulf,

1. Kapitel

Collingsworth Manor,England, 1821

Er bringt mich um … mein eigener Ehemann bringt mich um, schoss es Lady Amelia Sinclair-Collingsworth durch den Kopf, als Lord Collingsworth’ Hände sich um ihre Kehle schlossen. Nur dass seine für gewöhnlich so gepflegten Hände sich im Dunkeln gar nicht wie Hände, sondern mehr wie … Pranken anfühlten. Es war Amelias Hochzeitsnacht, und ihr normalerweise eher zurückhaltender Ehemann benahm sich auf einmal weder zurückhaltend noch wie der Gentleman, den sie heute Morgen in London geheiratet hatte. Was war nur in ihn gefahren?

»Du tust mir weh, Robert!«, keuchte sie unter ihm auf ihrem Ehebett, in dem sie gewillt gewesen war, ihre Unschuld, aber nicht ihr Leben zu verlieren.

Ihr Bräutigam lachte. Und es klang alles andere als normal, dieses Lachen. Seine Stimme dröhnte tief und merkwürdig verzerrt, als hätte er die ganze Kehle voller Steine. Aber noch viel unheimlicher waren seine klauenartigen Finger, die nun an ihrem Nacken hinunterglitten und das Nachthemd, das sie trug, vom Halsausschnitt bis zu ihrer Taille auseinanderrissen. Amelia schrie und wand sich unter Roberts Körper, der sie auf dem Bett festhielt und erstaunlich schwer war für einen Mann, den ihr Vater einmal als »zerbrechlich aussehend« bezeichnet hatte.

»Robert, bitte!«, sagte sie in flehentlichem Ton. »Du jagst mir Angst ein.«

Da war es wieder, dieses dämonische Lachen, bei dem sich ihr die Nackenhaare sträubten. »Robert ist nicht hier«, schnarrte er.

Was wollte er damit sagen? War dies vielleicht alles nur ein Albtraum, aus dem sie jeden Moment erwachen und sich in ihrem Elternhaus in London wiederfinden würde? Vielleicht hatte sie ja heute Morgen überhaupt nicht in Anwesenheit einer großen Anzahl von Mitgliedern der Londoner Oberschicht geheiratet. Vielleicht hatte sie sich gar nicht zu einem kurzen Honeymoon zu Roberts Landsitz begeben, bevor sie zu ausgedehnteren Flitterwochen ins Ausland reisen würden?

»Ich träume nur und werde gleich erwachen«, flüsterte Amelia, um sich zu beruhigen.

Robert lachte nur kurz auf und rollte sich von ihr herunter, sodass Amelia endlich wieder richtig atmen konnte. Dann hörte sie das Geräusch von zerreißendem Stoff und dachte, Robert zerrte jetzt vielleicht an seinem eigenen Nachthemd herum. Aber Traum oder nicht, das Hämmern von Amelias Herz in ihrer Brust und das Brennen der Kratzer an ihrem Nacken fühlten sich sehr real an. Ihr Instinkt riet ihr, davonzulaufen … solange sie noch konnte.

Um zumindest einen Fluchtversuch zu wagen, bewegte sie sich ganz langsam zu der Bettkante hinüber. Aber knochige Finger rissen sie zurück, und dann lag Robert wieder auf ihr … nur war er diesmal nackt … und seine Haut fühlte sich nicht wie Haut, sondern wie Fell an.

Amelia krümmte ihre Finger zu Krallen und fuhr mit ihren Nägeln über seine Augen. Robert heulte auf wie ein verletztes Tier. Mit aller Kraft stieß sie ihn zurück und krabbelte unter ihm hervor, rollte sich zur Seite und landete mit einem schmerzhaft harten Aufprall auf dem Boden. Trotzdem kroch sie schnell von dem Bett weg. Aus Schamgefühl, von dem Amelia nicht allzu viel besaß, hatte Robert darauf bestanden, die Lampen unangezündet zu lassen. Die Finsternis im Zimmer war erdrückend wie eine über den Kopf gezogene Decke. Wo war bloß die Tür?

»Miststück!«

Das bösartige Fauchen sandte Amelia einen kalten Schauder über ihren Rücken und ließ sie jäh verharren. Sie hatte Angst, sich zu bewegen. Angst, dass er dann merken würde, wo sie war. Als sie vorsichtig im Dunkeln mit der Hand über den Boden glitt, ertastete sie das Bein eines Möbelstücks. Eines Sekretärs, wenn sie sich recht erinnerte, da sie Roberts Zimmer neben dem ihren nur kurz gesehen hatte, als sie vor dem Abendessen zu einem kurzen Nickerchen heraufgekommen war.

Langsam erhob sich Amelia auf die Knie und suchte mit der Hand die Schreibtischoberfläche ab, bis ihre Finger einen kalten, schmalen Gegenstand berührten. Bevor sie jedoch Gelegenheit bekam, ihn näher zu bestimmen, wurde sie brutal zurückgerissen und auf den Fußboden gestoßen.

»Du gehörst jetzt mir.«

Obwohl Amelia Robert in der Dunkelheit nicht sehen konnte, fühlte sie, wie er sich über sie beugte. Sein Atem war übel riechend wie der eines rohes Fleisch fressenden Tiers. Ihr Kopf schmerzte, wo sie auf dem Boden aufgeschlagen war; ihr Nacken brannte von den Kratzwunden an ihrem Hals. Und nun schob Robert auch noch ihr Kleid hinauf und zwang mit dem Knie ihre Beine auseinander. Amelia drehte sich der Magen um, als sie seine glatten, scharfen Krallen an ihren nackten Schenkeln spürte.

Nun würde dieser Mann, dieses Etwas, das unmöglich Robert sein konnte, ihr die Unschuld nehmen. Amelias Mutter hatte ihr gesagt, in ihrer Hochzeitsnacht müsse sie sich Robert widerstandslos unterwerfen. Sie müsse alles tun, was er von ihr verlangte. Einen Teufel werde ich tun!, dachte Amelia. Sie nahm den dünnen, kalten Gegenstand noch fester in die Hand, hob ihn hoch und ließ ihn jäh herunterfahren.

Es folgte ein Geräusch, das sie daran erinnerte, wie es sich anhörte, wenn die Köchin ein Messer in rohes Lammfleisch stieß. Robert heulte wieder auf, geriet plötzlich ins Schwanken und fiel von ihr herunter. Noch immer mit wild pochendem Herzen rollte Amelia sich auf den Bauch und kroch davon. Sie rechnete jeden Augenblick damit, dass die klauenähnlichen Hände ihren Fuß ergreifen würden und war sich sicher, dass Robert sie in seinem Schmerz und seiner Wut nun töten würde. Stattdessen aber wurde urplötzlich die Tür zu ihrem angrenzenden Zimmer aufgerissen.

Amelia hatte dort eine Kerze brennen lassen, deren sanfter Schein nun die Silhouette eines Mannes beleuchtete – eines hochgewachsenen Mannes von sehr kräftiger Statur. Das Kerzenlicht fiel auf sein blondes Haar und ließ es fast wie Gold erscheinen. Jetzt wusste Amelia, dass es ein Traum sein musste. Sie hatte schon oft von diesem Mann geträumt.

»Was zum Teufel ist hier los?«, wollte er von ihr wissen.

Komisch. Er hatte in ihren Träumen noch nie etwas gesagt. Und hätte er es getan, dann würde sie ihm die gleiche Stimme angedichtet haben, mit der er jetzt sprach. Leise, tief und geradezu beunruhigend sinnlich. Nur Lord Gabriel Wulf würde eine solche Stimme haben. Nur er würde in ihren Albträumen erscheinen, um sie zu retten. Aber natürlich konnte er gar nicht wirklich hier sein. Dies alles konnte sich nicht wirklich zutragen. Amelia kicherte über ihr eigenes Einbildungsvermögen, aber den hysterischen Ton, der in ihrer Stimme mitschwang, konnte sie nicht ignorieren.

»Wer ist da?«, fragte der Mann, den sie aus ihren Träumen kannte.

Würde er mit ihr sprechen, wenn sie antwortete? Ihr Traum wurde von Minute zu Minute aberwitziger. »Lady Amelia«, antwortete sie. »Collingsworth«, setzte sie mit einem weiteren unterdrückten Kichern hinzu. »Oder zumindest bis vorhin. Ich habe nämlich gerade meinen Mann getötet.«

Ein schockiertes Schweigen folgte ihren Worten. Der hochgewachsene Fremde trat noch weiter in den Raum. Amelia bemerkte die dunklen Umrisse einer Pistole in seiner Hand. Ach du liebe Güte. Würde er sie jetzt erschießen? Würde der Albtraum, in dem Robert sie hatte töten wollen, sich in einen anderen verwandeln, in dem Gabriel Wulf der Mörder war?

»Wo ist Lord Collingsworth?«

Wahrscheinlich war es sogar in einem Traum das Beste, einem Mann zu antworten, der eine Waffe in der Hand hielt. »Dort auf dem Boden neben dem Bett.« Falls sie träumte, und es konnte ja gar nicht anders sein, war dieser Albtraum viel zu lebendig. Sie hätte schwören können, dass sie Blut über ihren Nacken rinnen fühlte. »Robert … er hat versucht, mir etwas anzutun. Er ist … nicht er selbst.«

Wieso sie sich überhaupt die Mühe machte, etwas zu erklären, obwohl nichts an ihrem Traum auch nur den kleinsten Sinn ergab, verstand Amelia selbst nicht. Aber vielleicht begriff sie in tiefster Seele ja doch, wieso sie träumte, dass ihr frischgebackener Ehemann zu einem Ungeheuer geworden war und warum Lord Gabriel Wulf in diesem Traum erschien, um sie zu retten. Die Gesellschaft war das wahre Ungeheuer.

Dass sie die Erwartungen, die man in sie gesetzt hatte, zu erfüllen versuchte, blieb offenbar nicht ungestraft. Gabriel Wulf stand für die rebellische Seite ihrer Natur. Er war der Inbegriff der Freiheit.

»Robert ist nicht hier.«

Dass er Roberts Worte exakt wiederholte, verursachte Amelia eine Gänsehaut. Aber nicht nur die Erinnerung an das, was sich vorher abgespielt hatte, ließ sie frösteln. Wenn Robert nicht hier war, wo war er dann?

Ein dunkler Schatten erhob sich plötzlich hinter Amelias blondem Engel. Etwas Silbernes blitzte im Dunkeln auf. Der Gegenstand fuhr in einer stoßenden Bewegung hinunter und bohrte sich in Gabriel Wulfs Schulter. Dann wurden die Geräusche eines Handgemenges laut. Eine Pistole wurde abgefeuert. Amelia schrie auf, schloss die Augen und schlug die Hände vor die Ohren. Als jemand sie berührte, schrie sie wieder gellend auf.

»Habt keine Angst, ich tue Euch nichts.«

Wie konnte jemand eine so gefährlich sinnliche und zugleich tröstliche und beruhigende Stimme haben? Niemand konnte das. Oder höchstens dann, wenn er wirklich nur ein Trugbild ihrer Fantasie war. Amelia griff nach diesem winzigen Rest von Vernunft und klammerte sich daran fest. Das Beste wäre jetzt wohl, zu erwachen. Aus dem Traum zu erwachen, bevor sie sich in die Arme des Mannes warf. Bevor der Trost, den sie aus ihm bezog, zu etwas anderem wurde. Aber sie erwachte nicht, und warf sich auch nicht in Lord Gabriels Arme. Plötzlich öffnete sich die Tür zu Roberts Zimmer einen Spalt, in dem die flackernde Flamme einer kleinen Kerze erschien.

»Mylady?«, rief eine weibliche Stimme. »Ich habe einen Schuss gehört. Was geht hier vor?«

Mit angsterfüllten Augen erschien nun eine schmale Gestalt auf der Schwelle zu dem Zimmer. Amelia konnte sich nicht an den Namen der jungen Bediensteten erinnern, aber sie war die einzige, die sie und Robert bei ihrer Ankunft in Collingsworth Manor begrüßt hatte. Das gertenschlanke Mädchen, das in etwa Amelias Größe hatte, trug ein abgetragenes Kleid, eine Schürze und eine Haube auf dem Kopf, die ihr gesamtes Haar verdeckte. Amelia hatte sie auf etwa fünfzehn Jahre geschätzt, auf jeden Fall viel zu jung, um all die Pflichten zu übernehmen, die sie hier auf Collingsworth Manor hatte.

Robert war zutiefst bestürzt gewesen, als er erfahren hatte, dass alle seine Dienstboten bis auf dieses Mädchen das Anwesen verlassen hatten. Nur ein einzelner Mann kümmerte sich noch um die Stallungen. Robert hatte Amelia vorgeschlagen, hinaufzugehen und sich auszuruhen, während er der Sache auf den Grund gehen wollte. Als das Mädchen dann später jedoch heraufgekommen war, um Amelia zum Abendessen abzuholen, hatte Robert sich völlig anders als vorher verhalten und nichts darüber verlauten lassen wollen, was er in Erfahrung gebracht hatte.

»Mylady?«, rief das Mädchen wieder.

»Bring das Licht hierher!«, wies Gabriel Wulf die junge Magd an. »Schnell!«

Wie aus weiter Ferne sah Amelia die flackernde Flamme der Kerze näher kommen. Sie verbreitete ein unheimliches Licht in dem dunklen Raum, als das Mädchen sich besorgt zu ihr hinunterbeugte. In dem schwachen Licht glitt Amelias Blick sofort zu Gabriel Wulf. Sie hatte ihn einmal mit seinem älteren Bruder, Lord Armond Wulf, durch die Londoner Straßen reiten sehen. Damals hatte sie gedacht, dass Gabriel Wulf der bestaussehende Mann war, der ihr je begegnet war … und das war er immer noch.

Dass es Gabriel Wulf war, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Vermutlich gaffte sie ihn an wie ein Bauerntrampel, doch auch er musterte sie sehr eingehend, vielleicht, um nach Verletzungen zu suchen, oder vielleicht auch nur, um ihre Brüste anzustarren, die zweifellos unter ihrem zerrissenen Nachthemd hervorschauten. Als er sanft ihren Nacken berührte, zuckte Amelia zusammen, und er hob den Blick zu ihr. Im schwachen Kerzenlicht konnte sie sehen, wie seine Augen sich ein wenig weiteten.

»Ihr«, sagte er leise, obwohl Amelia keine Ahnung hatte, was er damit sagen wollte.

In ihrem Kopf begann sich plötzlich alles zu drehen. Ihre Sicht verschwamm, es wurde dunkel um sie, und Gabriel Wulfs Gesicht begann sich immer weiter zu entfernen. Amelia war noch nie in ihrem Leben ohnmächtig geworden, aber ihr war durchaus bewusst, dass es genau das war, was ihr gerade widerfuhr.

Lord Gabriel Wulf nahm die ohnmächtige Frau auf seine Arme und richtete sich mit ihr auf. Hätte das Adrenalin im Augenblick nicht wie verrückt in seinen Adern gebrodelt, wäre er sich der Stichwunde in seiner Schulter und der noch ernsteren Schussverletzung in seinem Oberschenkel wahrscheinlich sehr viel mehr bewusst gewesen. Aber so, wie die Dinge lagen, trug er die Frau in den angrenzenden Raum hinüber und legte sie auf das Bett.

»Wasser«, rief er dem Dienstmädchen über die Schulter zu. »Und bring mir auch saubere Tücher, damit ich das Blut abwischen kann.«

Wieder berührte er vorsichtig den Nacken der jungen Dame. Zwei tiefe Kratzer verunzierten ihre helle Haut. Er sah ihr prüfend ins Gesicht, um sicherzugehen, dass sie wirklich die Frau war, für die er sie hielt. Ihre Haut war makellos wie weißer Marmor. Weiche blonde Locken umrahmten ihr Gesicht, und ihre Augen waren dicht bewimpert und blau wie ein strahlend schöner Sommerhimmel, wenn sie offen waren. Ihr Gesicht war oval, und sie hatte ein entzückendes kleines Grübchen an ihrem Kinn.

Sie war sehr schön, was vermutlich auch der Grund war, warum sie ihm schon vor Monaten auf den Straßen Londons aufgefallen war. Er hatte sie nie persönlich kennengelernt, aber von jenem Tag an oft von ihr geträumt.

»Das Wasser, Mylord.«

Sogar mit einem Krug Wasser in der Hand und Handtüchern unter dem Arm bewegte sich die junge Magd so lautlos, wie die Nacht der Morgendämmerung wich. Sie stellte den Krug zu einer Schüssel auf dem Waschtisch neben dem Bett.

»Wo sind die anderen Bediensteten? Die Haushälterin?«, fragte Gabriel das Mädchen.

»Weg«, flüsterte sie. »Sie haben es alle mit der Angst bekommen und sind geflohen, Mylord.«

Gabriel goss das frische Wasser aus dem Krug in die leere Waschschüssel. »Angst wovor?« Er hatte in seiner Kindheit sehr viel Zeit auf Collingsworth Manor verbracht und niemals das Gefühl gehabt, dass es hier irgendetwas zu befürchten gäbe.

Für einen Moment erwiderte das Mädchen nichts, und Gabriel warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. »Ich fürchte, wenn ich es Euch sage, Mylord, werdet Ihr glauben, ich sei verrückt«, antwortete sie schließlich leise.

»Das werden wir dann ja sehen«, erwiderte er trocken. Gabriel bemühte sich mit aller Kraft, den Schmerz in seiner Schulter und in seinem Bein zu ignorieren und nicht darüber nachzudenken, dass er soeben seinen Jugendfreund erschossen hatte.

»Vor den Bestien, Mylord«, flüsterte das Mädchen. »Vor den Bestien in den Wäldern um das Haus. Manchmal sind sie Wölfe, aber manchmal sehen sie auch aus wie Menschen.«

Ein normaler Mann hätte nun wohl tatsächlich geglaubt, das Mädchen sei verrückt. Aber Gabriel war kein normaler Mann. »Hast du diese Kreaturen selbst gesehen, Mädchen?«

Sie nickte mit gesenktem Blick. »Jawohl, Mylord.«

Gabriel nahm die sauberen Tücher, die das Mädchen mitgebracht hatte, und tauchte eins davon in das kühle Wasser. »Und trotzdem bist du geblieben, als alle anderen geflohen sind? Bist du so tapfer?«

Ihr Kopf fuhr hoch, und sie schüttelte ihn heftig. »Nein, Mylord. Ich wusste nur nicht, wo ich hin sollte. Ich habe keine Familie mehr außer meinem Bruder, und der ist Gott weiß wo, um zu arbeiten. Ich war noch neu hier, als auf einmal alles anfing. Niemand von den anderen hat mir angeboten, mitzukommen. Jeder war auf sich gestellt, als sie die Flucht ergriffen.«

Während Gabriel sanft den Nacken der bewusstlosen Lady Collingsworth abtupfte, fragte er: »Warum hast du auf mein Klopfen nicht die Tür geöffnet? Ich habe doch gesehen, dass im Haus noch Lampen brannten.«

»Dieser Tage gehe ich nicht mehr an die Tür«, erklärte sie. »Nicht bei all diesen unheimlichen Vorkommnissen hier.«

Gabriel war noch immer nicht ganz sicher, in was für »Vorkommnisse« er hineingeraten war. Was konnte nur in Robert gefahren sein, dass er seine frischvermählte junge Frau angriff? Und nicht nur sie, sondern auch Gabriel? Er hatte nur wegen der pochenden Wunde in seinem Oberschenkel und seinem lahmenden Pferd in Collingsworth Manor Halt gemacht. In den Stallungen hatte er niemanden finden können, als er sein Pferd dort untergestellt hatte.

Er hatte schon überlegt, ob er nicht einfach eins von Roberts Tieren nehmen und nach Wulfglen, seinem eigenen, an die Ländereien von Collingsworth Manor angrenzenden Familienbesitz weiterreiten sollte. Aber er und Robert waren Jugendfreunde gewesen, und Gabriels Gewissen gebot ihm, Robert wenigstens zu fragen, ob er sich eines seiner Pferde borgen konnte.

Als auf Gabriels Klopfen niemand reagiert hatte, war er schon drauf und dran gewesen, sich tatsächlich eins von Roberts Pferden auszuleihen und sich seine Erklärungen für später aufzuheben. Aber dann hatte er Schreie gehört und es wieder an der Tür versucht, doch sie war von innen fest verriegelt gewesen. Als Gabriel sich an einen Baum erinnerte, über den er und seine Brüder früher oft Roberts Zimmer verlassen hatten, um sich nachts zum Nacktbaden an einen Teich nicht weit vom Haus zu schleichen, war er den Baum hinaufgestiegen, um in das Haus hineinzukommen.

Sobald er drinnen war, hatten ihn die Schreie in dieses Zimmer hier geführt, wo ihm bewusst geworden war, dass sie in Wahrheit aus dem Nebenzimmer kamen … Die junge Dame stöhnte plötzlich auf, und Gabriel senkte wieder seinen Blick auf sie. Ihr Kleid war vorne arg zerrissen, und obwohl er versuchte, nicht darauf zu achten, war nicht zu übersehen, dass ihre Brüste halb entblößt waren.

»Kümmere dich um Mylady«, sagte er, den Blick von ihr abwendend, zu der jungen Magd und legte das blutige Tuch beiseite. »Und such etwas, womit du sie bedecken kannst.«

Dann erhob er sich, nahm die Kerze und ging in das angrenzende Zimmer. Gabriel rechnete schon fast damit, von Robert wieder angegriffen zu werden, obwohl er sich ziemlich sicher war, dass ein Pistolenschuss aus nächster Nähe ihn auf jeden Fall getötet haben musste. Er konnte immer noch nicht glauben, dass er Robert erschossen hatte oder dass sein einstiger Jugendfreund mit einem Messer auf ihn losgegangen war. Der Robert, den er gekannt hatte, war ein schüchterner, immer etwas schmächtiger junger Mann gewesen.

Ihre Freundschaft hatte schon vor Jahren geendet. Wie alle früheren Freundschaften von Gabriel geendet hatten, sobald bekannt geworden war, dass die Wulfs mit einem Fluch belegt waren.

Obwohl er das zusätzliche Licht nicht brauchte, hielt Gabriel die Kerze etwas näher an den Boden und suchte dann die nähere Umgebung ab. Er sah recht gut im Dunkeln, doch was er sah, verwirrte ihn. Es war nicht Robert Collingsworth, der von einer Schusswunde getötet vor ihm auf dem Boden lag.

»He, Mädchen«, rief Gabriel. »Komm doch bitte einmal her.«

Geräuschlos wie ein Mäuschen erschien die junge Dienstmagd neben ihm.

»Wer ist dieser Mann?«, fragte Gabriel sie.

Das Mädchen schnappte entsetzt nach Luft. »Das ist Vincent, einer der Stallknechte – der einzige übrigens, der geblieben und nicht davongelaufen ist. Aber was hat er hier im Schlafzimmer des Herrn zu suchen?«

Das war eine Frage, auf die auch Gabriel gern eine Antwort gehabt hätte. Was der Mann getan oder versucht hatte zu tun, war offensichtlich, da er fast bis auf die Haut entkleidet war. Aber wo war Robert? Und wieso hatte er so etwas zugelassen?

»Kümmere dich um Mylady«, trug Gabriel dem Mädchen auf. »Ich werde derweil Lord Collingsworth suchen.«

»Geht nicht hinaus«, warnte sie ihn. »Sonst kommt Ihr vielleicht nicht zurück.«

Gabriel hatte das Gefühl, dass die Fantasie des Mädchens mit ihm durchging, obwohl ihm andererseits durchaus bewusst war, dass es Wesen gab, die ihre Gestalt verändern konnten. Gabriels Vater hatte sich vor Jahren einer solchen Verwandlung wegen umgebracht. Infolge des daraus entstandenen Schocks oder Wahnsinns war Gabriels Mutter seinem Vater schon kurz danach ins Grab gefolgt. Da die gesamte Londoner Gesellschaft glaubte, die Wulfs würden vom Wahnsinn heimgesucht, wurden die Brüder seitdem von sämtlichen gesellschaftlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Gabriel hatte immer gefunden, die Narren seien die anderen. Wenn es doch nur ein bloßer Fall von Wahnsinn gewesen wäre.

Gabriel ging zu der Tür, die auf den Gang hinausführte. »Schließ die hier«, sagte er zu der Magd und zeigte auf die Tür daneben, die nach seinem Tritt gefährlich schief in ihren Angeln hing.

»Und … was ist mit ihm?« Das Mädchen zeigte mit dem Kopf auf den Toten auf dem Fußboden.

»Um den kümmere ich mich später«, beruhigte sie Gabriel.

Nachdem er Lord Collingsworth’ Schlafzimmer verlassen hatte, löschte er die Kerze in seiner Hand. Er besaß ein außergewöhnlich gutes Sehvermögen in der Dunkelheit. Und auch sein Hörvermögen war geradezu unglaublich gut. Er hatte viele ungewöhnliche Talente. Er beschloss, als Erstes in den oberen Zimmern nachzusehen.

Hier war jedoch nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Auf der Treppe, die ins Erdgeschoss hinunterführte, wurde Gabriel sich seiner Verletzungen wieder schmerzhaft bewusst. Seit Monaten war er auf der Suche nach seinem jüngeren Bruder Jackson gewesen. Dieser Dummkopf war in London verschwunden, und Gabriel hatte seinem älteren Bruder Armond versprechen müssen, dass er Jackson finden würde. Aber es war alles andere als leicht gewesen, ihn aufzuspüren.

Irgendwann war Gabriel seinem Bruder bis in ein kleines Dorf namens Whit Hurch gefolgt. Als er in das Dorf geritten war, um zu fragen, ob irgendjemand ihm etwas über Jacksons Aufenthaltsort sagen konnte, war er von wütenden Dorfbewohnern mit Mistgabeln und Musketen angegriffen worden. Die Dörfler hatten ihn offenbar mit Jackson verwechselt. Eine Kugel war in Gabriels Schenkel eingeschlagen, bevor er sein Pferd hatte wenden können, um sich durch die aufgebrachte Menge durchzukämpfen.

Sie hatten ihn jedoch verfolgt, und er hatte fast eine ganze Woche dazu gebraucht, den Pöbel abzuhängen. Dann hatte er den größten Teil einer weiteren Woche für den Heimweg nach Wulfglen benötigt. Und nach all dem Aufwand war sein unvernünftiger jüngerer Bruder vielleicht inzwischen längst wieder zu Hause.

Und nun auch noch das hier.

Auch die Salons und Wohnräume im Erdgeschoss waren leer. Das Arbeitszimmer ebenfalls. In der Küche köchelte ein Eintopf auf dem Herd. Nach einem kurzen Blick darauf humpelte Gabriel zur Speisekammer weiter. Sie war nicht sehr gut gefüllt und enthielt nur die unentbehrlichsten Grundnahrungsmittel. Aber er fand dort immerhin eine Tür, die in den Vorratskeller führte.

Die Stufen ächzten unter seinem Gewicht, und sein Bein pochte wie verrückt bei jedem Schritt. Es war stockfinster in dem Keller, aber Gabriel konnte trotzdem noch gewisse Formen und Konturen ausmachen. Eine vorbeihuschende Maus – Vorräte, die die kühleren Temperaturen hier unten brauchten, um nicht zu verderben. Der Keller roch nach feuchter Erde und nach … Gabriel blieb stehen, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Tod. Es roch nach Tod.

Langsam drang Gabriel noch weiter in den Keller vor, schon beinahe sicher, was er vorfinden würde. Und tatsächlich lag Robert mit leeren, vom Tod verschleierten Augen auf dem feuchten Erdboden, sein Gesicht eine Maske des Entsetzens und eine Hand auf seine Herzgegend gepresst. Er war tot.

2. Kapitel

Was für ein abscheulicher Geruch! Amelia kam schlagartig aus der Dunkelheit ins Licht zurück und schlug um sich, um den widerlichen Geruch unter ihrer Nase zu entfernen.

»Regt Euch nicht auf, Mylady. Es ist nur das Riechsalz, um Euch wiederzubeleben.«

Amelia hustete und blickte sich verwundert in dem Zimmer um. Es war nicht ihr Schlafzimmer in London. Der Albtraum kehrte urplötzlich wieder zurück, und eine Gänsehaut kroch über ihre Arme und Beine. Träumte sie noch immer? Sie hoffte bei Gott, dass es so war.

»Kneif mich«, sagte sie zu dem Dienstmädchen. »Kneif mich, damit ich aufwache.«

Die großen Augen des jungen Mädchens wurden weicher. »Ihr träumt nicht, Mylady. Ihr habt nur einen furchtbaren Schreck erlitten.«

Amelia blickte zu der Tür hinüber, welche ihr Zimmer mit dem ihres Bräutigams verband. Die Tür war geschlossen, hing aber völlig schief in ihren Angeln, nachdem Gabriel Wulf sie aufgetreten hatte. Oder zumindest glaubte Amelia, dass es Gabriel Wulf gewesen war.

»Da war ein Mann …«

»Ich weiß, Mylady«, fiel das Mädchen ihr ins Wort. »Es war einer der Stallknechte, und ich kann mir nicht erklären, wie er in das Haus oder in das Zimmer des jungen Herrn gelangt ist. Aber er lebt nicht mehr. Der andere Mann hat ihn getötet.«

Amelia begann wieder der Kopf zu schwirren. »Was? Von was für einem Stallknecht redest du?«

»Von Vincent«, antwortete das Mädchen. »Das ist der Tote, der im Nebenzimmer liegt. Den anderen Mann kenne ich nicht. Aber er ist breitschultrig und groß und stämmig wie eine Eiche. Ich habe keine Ahnung, wie dieser oder der andere Mann ins Haus gekommen sind. Ich habe die Türen selbst verriegelt.«

»Aber …« Amelia rieb ihre pochenden Schläfen. »Aber der Mann im Nebenzimmer war Lord Collingsworth. Ich habe ihn im Kerzenlicht gesehen, als er an die Tür klopfte und mich aufforderte, zu ihm zu kommen.«

Die Dienstmagd runzelte die Stirn und schüttelte wieder den Kopf. »Das war nicht Euer Herr Gemahl da drinnen, sondern Vincent aus den Stallungen. Er war es, der versucht hat, Euch etwas anzutun, Mylady. Der andere Mann hat sich auf die Suche nach Lord Collingsworth gemacht.«

Amelia ließ sich auf die Kissen zurücksinken und versuchte zu verarbeiten, was die Dienstmagd ihr gerade gesagt hatte. Es war eindeutig Robert gewesen, der sie aufgefordert hatte, zu ihm ins Ehebett zu kommen. Wie konnte es also wahr sein, was die Magd ihr da erzählte? Aber warum sollte sie Amelia belügen? Und wenn dies alles doch kein Albtraum war, war es dann tatsächlich Gabriel Wulf, der Robert suchte? Und falls ja, wieso war Gabriel Wulf dann überhaupt auf Collingsworth Manor?

Die Tür zu ihrem Zimmer öffnete sich, und ein blonder Hüne von einem Mann trat ein. Lord Gabriel Wulf. Er sah zuerst Amelia und dann das junge Mädchen an. »Würdest du uns etwas zu trinken holen? Etwas möglichst Starkes?«

Das Mädchen nickte und wandte sich zur Tür, wo sie jedoch wieder innehielt und sich mit großen, bangen Augen umsah. »Seid Ihr sicher, dass es ungefährlich ist?«

»Völlig sicher«, sagte Wulf. »Außer uns ist niemand im Haus. Davon habe ich mich persönlich überzeugt.«

Widerstrebend ging das Mädchen weiter.

»Bring auch etwas von dem Eintopf mit, der auf dem Herd steht«, rief Wulf ihr nach. »Mylady könnte jetzt bestimmt etwas zu essen brauchen.«

Nicht ganz ohne Misstrauen betrachtete Amelia Gabriel Wulf. Es war eine Nacht, in der Vorsicht angebracht war, falls dies alles nicht doch nur ein Traum war. »Was tut Ihr hier?«

Er schwankte ein bisschen und sah sich suchend in dem Zimmer um. »Diese zierlichen Sessel da würden unter mir zusammenbrechen«, sagte er und zeigte auf zwei Sessel im Queen-Anne-Stil vor Amelias Kamin. »Darf ich mich auf das Bett setzen? Wegen meines Beins natürlich nur.«

Erst jetzt bemerkte Amelia den dunklen Fleck, der sich in Schenkelhöhe auf seiner Reithose befand. »Seid Ihr verletzt?«

Ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, kam Gabriel Wulf zum Bett und ließ sich aufatmend auf dem Rand der weichen Matratze nieder. »Diese Verletzung ist der Grund, aus dem ich hergekommen bin. Die Verletzung und mein Pferd, das lahmt. Ich wollte Lord Collingsworth bitten, mir eins der seinen zu leihen, und dann nach Wulfglen weiterreiten, aber …«

Noch immer leicht benommen, flüsterte Amelia: »Das Mädchen sagte, der Mann im Nebenzimmer sei nicht Robert. Aber ich versichere Euch, dass er es sein muss. Er war es, der an meiner Tür klopfte und mich bat, zu ihm zu kommen.«

Dichte dunkle Wimpern beschatteten Lord Gabriels Augen, bis er den Blick zu ihr erhob. Seine Augen waren nicht braun, nicht blau oder grau, sondern so leuchtend grün wie eine Frühlingswiese. Dunkle Bartstoppeln beschatteten sein markantes Kinn. Sein Haar war dunkelblond, aber mit hellen Strähnen durchsetzt, die im Kerzenlicht fast silbern schimmerten. Für einen so großen Mann hatte er sehr feine, wohlgeformte Gesichtszüge. Eine kurze, gerade Nase, dunkle Brauen, hohe Wangenknochen und einen sehr schön geschnittenen, zum Rest seines Gesichts passenden Mund. Er sah atemberaubend gut aus, dieser Lord Gabriel.

»Lord Collingsworth ist tot«, sagte Wulf mit schonungsloser Offenheit. »Ich habe ihn im Vorratskeller aufgefunden.«

Amelia starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie noch immer unter Schock stand und seine Worte gar nicht wirklich zu ihr vordrangen. Die Geschehnisse, die zu all dem geführt hatten, konnten gar nicht zu ihr vordringen. Auch wenn sie Robert nicht geliebt, sondern ihn nur geheiratet hatte, weil er eine gute Partie war und ihre Eltern ihn gebilligt hatten. Natürlich hätte sie versuchen können, sich einzureden, dass sie vielleicht eines Tages lernen würde, ihn zu lieben, aber sie glaubte nicht an die Liebe. Sie war nichts als ein hübsches Wort, das die Leute anstelle von »Lust« oder »Pflicht« verwendeten.

»Tot«, wiederholte sie wie vor den Kopf geschlagen, obwohl sie vor wenigen Momenten selbst noch überzeugt gewesen war, dass er tot im Nebenzimmer lag. »Aber wie ist er gestorben?«

Wulf fuhr sich mit der Hand über die Wangen. »Soweit ich das beurteilen kann, war es sein Herz. Ich habe nicht einmal einen Kratzer an ihm gefunden.«

Amelia kamen die Tränen, aber sie blinzelte rasch, um sie zu verdrängen. Es spielte keine Rolle, ob sie Robert liebte oder nicht; er war immerhin ihr Mann gewesen, und sie hatte ihm wirklich nicht den Tod gewünscht. Da Amelia ihr Leben lang verwöhnt und verhätschelt worden war, hatte sie von ihrem jungen Ehemann natürlich erwartet, dass er damit fortfahren würde. Doch nun war er angeblich tot. Und der Tote im Nebenzimmer war offensichtlich keinesfalls ihr Ehemann. Das ergab doch alles keinen Sinn?

»Das kann nicht sein«, flüsterte sie. »Ich schwöre Euch, dass es Robert war, der vorhin bei mir im Nebenzimmer war. Da war gar keine Zeit, um einen Austausch vorzunehmen.«

Wulf bewegte sich näher an die Schüssel heran, die auf dem Nachttisch stand, nahm ein feuchtes Tuch und wrang es aus. »Euer Nacken blutet wieder«, sagte er.

Sie spürte das Brennen der Kratzer noch immer und war froh, als Gabriel sie mit dem feuchten Tuch behutsam abtupfte. Dabei war sie geistesgegenwärtig genug, um an sich herabzublicken und erleichtert festzustellen, dass jemand sie mit einer dünnen Decke zugedeckt hatte. Ihr Morgenrock lag neben ihr auf dem Bett.

Ihr Nachthemd war dünn und ein bisschen gewagt für eine frischgebackene junge Ehefrau, aber Amelia war schon immer ein bisschen »gewagt« gewesen. Der dünne Stoff war unter Roberts … Klauen zerrissen. Sie erschauerte bei der Erinnerung daran.

»Ich werde ein Feuer im Kamin anzünden.« Lord Gabriel verwechselte ihre Reaktion ganz offenbar mit einem Frösteln, denn er legte das Tuch, mit dem er ihren Nacken abgetupft hatte, in die Waschschüssel, stand auf und humpelte zu dem Kamin hinüber.

Kurz darauf betrat wieder das Dienstmädchen das Zimmer. Ein köstlicher Duft entstieg den zwei dampfend heißen Schalen auf dem Tablett, welches die junge Frau in ihren Händen hielt. Amelia hätte geschworen, dass sie in einem Moment wie diesem unmöglich etwas zu sich nehmen könnte, doch ihr Magen widersprach ihr mit einem leisen Knurren.

»Ich habe den Eintopf mitgebracht«, rief das Mädchen Lord Wulf zu. »Und eine Flasche Brandy. Ich dachte mir, vielleicht hilft der, Mylady ein bisschen aufzuwärmen.«

Obwohl das Mädchen noch sehr jung war, schien es für sein Alter schon recht vernünftig zu sein. Amelia dagegen wusste, dass sie selbst der Hysterie sehr nahe war. Die Ereignisse der Nacht erschienen ihr so unwirklich wie ein Traum – oder vielmehr wie ein Albtraum. Collingsworth Manor hatte ihr gleich ein ungutes Gefühl eingeflößt, schon von dem Augenblick an, als sie und Robert auf dem Landsitz eingetroffen waren.

Das Haus war nicht so groß, wie Amelia erwartet hatte, und aus schon stark zerbröckelndem weißem Stein erbaut. Dornige, kahle Hecken umgaben das Herrenhaus, die ebenso vernachlässigt und tot waren wie all die anderen ungepflegten Pflanzen um das Haus. Es gab einen hübschen Bogengang, der in den Garten führte, doch das bisschen Efeu, das es geschafft hatte, zu überleben, war nur spärlich und sehr unansehnlich. Die Fensterläden brauchten alle dringend einen neuen Anstrich. Das ganze Haus sah aus, als befände es sich kurz vor dem Einsturz. Der Zustand von Roberts Landsitz hatte Amelia überrascht.

Überrascht und auch zutiefst bestürzt, da Robert ihrem Vater versichert hatte, dass er sehr gut für Amelia sorgen würde. Dass sie, wie sie es gewohnt war, von allem nur das Allerbeste haben würde. Ihr Bräutigam hatte nur gelacht, als er bei ihrer Ankunft auf Collingsworth Manor ihren Gesichtsausdruck gesehen hatte, und versprochen, ihr in allem freie Hand zu lassen, um das Haus wieder vorzeigbar zu machen.

Robert hatte sogar rundheraus zugegeben, dass er als Junggeselle weder ein Gespür für solche Dinge noch ein Interesse daran hatte. Sein Hauptinteresse an Collingsworth Manor waren seine Pferde. Die Pferde und das fruchtbare Ackerland … doch auch die Felder hatten sehr vernachlässigt gewirkt, als sie daran vorbeigefahren waren. Robert hatte nichts dazu bemerkt, aber Amelia wusste, dass er während der ganzen restlichen Fahrt darüber nachgegrübelt hatte. Bei ihrer Ankunft zu erfahren, dass die meisten seiner Dienstboten geflohen waren, hatte Roberts schlechte Laune nur vergrößert.

»Der Kutscher«, erinnerte Amelia sich plötzlich. »Und der Diener! Sie haben uns von London herbegleitet. Sie hätten doch eigentlich im Stall sein müssen.«

Nachdem jetzt ein anheimelndes Feuer im Kamin brannte, humpelte Gabriel Wulf zum Bett zurück. »Im Stall war niemand«, versicherte er ihr. »Ich habe extra laut gerufen, um nicht für einen Pferdedieb gehalten zu werden.«

»Vielleicht haben sie die Flucht ergriffen wie alle anderen«, warf das junge Mädchen leise ein.

Ihr Einwand erinnerte Wulf wieder an ihre Anwesenheit. »Stell das Tablett dort drüben hin«, wies er sie an und zeigte auf eine Truhe mit einem Spiegel darüber. Die Bewegung schmerzte ihn anscheinend, denn er rieb sich seine Schulter. Sein Hemd war inzwischen genauso blutbefleckt wie seine verstaubten Reithosen.

Amelia erinnerte sich nun wieder, dass Robert – oder wer auch immer mit ihr in dem Nebenraum gewesen war – Lord Gabriel einen Messerstich versetzt hatte. Und da machte der Mann ein solches Aufhebens um ein paar Kratzer an ihrem Nacken, während er selbst vielleicht verblutete!

»Lord Gabriel«, rief Amelia scharf. »Bitte kommt und setzt Euch zu mir. Ihr müsst Euch Eure eigenen Verletzungen versorgen lassen.«

Statt ihrer Bitte jedoch nachzukommen, ging er zu der Truhe, füllte zwei Gläser aus einer Karaffe mit Brandy und brachte ihr eins, nachdem er den Inhalt des anderen in einem Zug heruntergestürzt hatte.

»Dafür ist später noch Zeit«, sagte er, als er ihr das Glas reichte. »Trinkt das. Es wird zuerst ein bisschen brennen, aber es wird Euch stärken und beleben.«

Er brauchte seine Bitte nicht zu wiederholen. Amelia nahm das Glas, hob es an ihre Lippen und leerte es, ohne es auch nur einmal abzusetzen. Als sie Wulfs erhobene Augenbraue sah, erklärte sie: »Das ist nicht mein erster Brandy. Tatsächlich war es sogar Eure Schwägerin Lady Wulf, die mich damit bekannt gemacht hat.«

»Rosalind?«

Amelia nickte. »Wir sind die besten Freundinnen.«

Darauf setzte Wulf sich auf den Rand des Betts. »Woher kennt Ihr meinen Namen?«

Wie töricht kam Amelia sich jetzt für all die Stunden vor, die sie damit verbracht hatte, sich Gedanken über Gabriel Wulf zu machen statt über Robert, der ihr wenigstens den Hof gemacht hatte. Sie hatte Lord Gabriel nur ein einziges Mal gesehen und ihn dennoch nie wieder vergessen können. Selbst heute Morgen noch, als sie ihre Gelübde gesprochen hatte, war sein Bild ihr durch den Kopf gegangen.

»Ich habe Euch einmal in London auf der Straße gesehen. Später erkannte ich Euch dann auf einem Porträt, das in der Stadtwohnung Eurer Familie hängt, und Rosalind nannte mir Euren Namen.« Amelia hob ihr leeres Glas. »Könnte ich noch einen haben?«

Wulf warf der Magd einen Blick zu, welche kommentarlos die Karaffe holte. Während das Mädchen einschenkte, versuchte Amelia, ihre Kräfte zu sammeln. Da sie Gabriels Blick auf sich spürte, zwang sie sich dieses Mal, den Alkohol wenigstens Schluck für Schluck zu trinken. »Würdet Ihr bitte wegsehen, während ich meinen Morgenmantel überziehe?«, sagte sie. »Ich möchte aufstehen, und mein Kleid ist ganz zerrissen.«

Für einen winzigen Moment glitt Wulfs Blick an ihr hinunter und wieder hinauf. »Das ist mir nicht entgangen.«

Was für eine komische Bemerkung angesichts all dessen, was hier sonst noch vor sich ging. Er hatte bemerkt, dass ihr Kleid zerrissen war und ihre Brüste sicherlich daraus hervorschauten. Aber so seltsam das auch war – dass es ihm aufgefallen war, löste ein ganz eigenartig warmes Kribbeln in ihr aus. Amelia war nicht halb so prüde, wie ihr frischgebackener Ehemann es gewesen war. Sie hatte Robert oft schockiert, als er sie noch umworben hatte. Und dann hatte er sie schockiert. Nur dass es angeblich nicht Robert gewesen war, der sie in seinem Zimmer angegriffen hatte.

»Ihr solltet im Bett bleiben«, meinte Wulf. »Eine so zartfühlende junge Dame wie Ihr würde sicher nur wieder in Ohnmacht fallen, und meine Schulter schmerzt, ehrlich gesagt, so sehr, dass ich nicht weiß, ob ich Euch ein zweites Mal aufheben könnte.«

Seine Antwort überraschte sie ein bisschen. Es war nicht die Reaktion eines Gentlemans, aber dann wiederum wusste Amelia ja auch, dass Gabriel Wulf kein Gentleman war. Wahrscheinlich war es zum Teil sogar gerade das, was sie so faszinierend an ihm fand. »Ich werde schon nicht in Ohnmacht fallen«, entgegnete sie ruhig und hoffte nur, dass das auch stimmte. »Und wenn Ihr nicht wegseht, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als meine Brüste vor Euch zu entblößen.«

Seine Augenbrauen fuhren in die Höhe. Jetzt hatte sie es geschafft, ihn zu schockieren. Normalerweise hätte Amelia jetzt vielleicht gelächelt, wenn die gegenwärtigen Umstände sie dieser Fähigkeit nicht beraubt hätten.

»Vielleicht solltet Ihr einen Moment hinausgehen, Mylord, damit ich Mylady in ihren Morgenmantel helfen kann.«

Amelia hatte die Anwesenheit des Dienstmädchens schon fast vergessen.

»Er kann sich kaum auf den Beinen halten, ohne ins Schwanken zu geraten«, verwarf Amelia den Vorschlag. »Und wenn er in Ohnmacht fällt, bezweifle ich, dass wir ihn zusammen aufheben könnten.«

Gabriels Mundwinkel verzogen sich zu dem Anflug eines Lächelns. »Ich glaube, jetzt sind wir gerade beide in unsere Schranken verwiesen worden«, sagte er zu dem Mädchen.

Die Magd lächelte nicht, aber sie trat vor, um Amelia in ihren Morgenrock zu helfen.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Amelia sie.

»Mora, Mylady.«

»Mora sagt, es schlichen Bestien um das Haus herum. Wölfe, die sich in Menschen verwandeln und umgekehrt. Glaubt Ihr an solche Dinge, Lady Collingsworth?«

Wulf hielt den Blick stur geradeaus gerichtet, während Mora Amelia in ihren dünnen Morgenrock half. Es war ein komisches Gefühl, mit »Lady Collingsworth« angesprochen zu werden. Für einen Tag war sie eine Braut gewesen, und nun war sie schon Witwe. Amelia konnte die Veränderung ihrer Verhältnisse kaum begreifen … aber sie war deswegen noch lange nicht verrückt.

»Selbstverständlich nicht«, antwortete sie. »Ich möchte Mora nicht beleidigen, aber solche Dinge beruhen nur auf dummen, volkstümlichen Überlieferungen. Geschichten, die erfunden wurden, um kleine Dorfkinder zu verängstigen, damit sie sich nicht in den Wald hineinwagen und sich verirren.«

Während Amelia die Bändchen an ihrem Morgenrock verknotete, sah sie Mora an, um ihr mit ihrem Blick zu verstehen zu geben, dass sie es ihr nicht übel nahm, wenn sie an Dinge glaubte, die es gar nicht gab. Schließlich kamen sie aus sehr verschiedenen Verhältnissen.

Das Mädchen senkte jedoch nur unterwürfig seinen Blick und zog den Kopf ein wenig ein.

»Mora, würdest du bitte alles Nötige holen, damit wir Lord Gabriels Verletzungen versorgen können?«

Mora schlüpfte leise aus dem Raum, und Amelia ging an Wulf vorbei zu der Truhe mit dem Spiegel, von der sie einen Teller Eintopf nahm und ihn Gabriel brachte. Sie hatte noch nie jemanden bedient, außer beim nachmittäglichen Tee vielleicht, unter den gegebenen Umständen jedoch hielt sie es für das Beste, sich nicht allzu affektiert zu geben.

»Ich glaube, Ihr braucht auch etwas zur Stärkung«, sagte sie. »Seid Ihr hungrig?«

Als er den Teller nahm, streiften seine Finger die ihren. Seine Hände waren nicht weich … nicht wie Roberts, aber ihre Berührung löste ein angenehmes Prickeln auf ihrem Arm aus. »Ich erinnere mich nicht einmal mehr, wann ich das letzte Mal etwas Vernünftiges gegessen habe«, gab er zu. »Wenn man auf der Flucht ist, ist das nicht so leicht.«

Amelias Knie fühlten sich plötzlich wieder seltsam kraftlos an unter ihrem zerrissenen Kleid. Aus Angst, vielleicht tatsächlich wieder ohnmächtig zu werden, setzte sie sich neben Gabriel auf das Bett, obwohl sie wusste, dass sich das nicht schickte. »Ihr wart auf der Flucht?«, fragte sie.

Obwohl Wulf vermutlich völlig ausgehungert war, aß er sehr manierlich. Er kaute und schluckte das Essen herunter, bevor er antwortete: »Ich war auf der Suche nach meinem Bruder Jackson. Er verschwand vor ein paar Monaten in London.«

»Lord Jackson?« Amelia blinzelte ihn verwundert an. »Ich habe ihn erst heute Morgen bei meiner Hochzeit gesehen. Euren Bruder und seine hübsche Frau Lady Lucinda.«

Wulf, der den Löffel schon halb wieder zum Mund geführt hatte, ließ ihn verwundert sinken. »Seine Frau?«

Da Lord Gabriels verblüffter Miene zu entnehmen war, dass er nichts von der Heirat seines jüngeren Bruders wusste, fragte Amelia: »Ihr wusstet nicht, dass Euer Bruder geheiratet hat?«

Gabriel hatte nur ein paar Bissen von seinem Eintopf gegessen, aber jetzt stellte er den Teller auf Amelias Nachttisch. »Ich wusste nicht einmal, dass er nach Hause zurückgekehrt ist, geschweige denn, dass er sich eine Frau genommen hat.«

Amelia, die im Moment für jede Ablenkung dankbar war, bemerkte: »Es ist ein ziemlicher Skandal damit verbunden. Man munkelt, dass Lady Lucinda eine Hexe ist, aber ich mag sie. Und das Kind ist ganz entzückend.«

Lord Gabriels Augen, die grün wie das erste zarte Frühlingsgras waren, weiteten sich vor Überraschung. »Ein Kind?«

»Ein Junge«, klärte Amelia ihn auf. »Sein Name ist Sebastian. Er sieht seinem Vater eigentlich gar nicht ähnlich, aber er ist trotzdem ein ausgesprochen hübsches Kind.«

Wulf fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und schüttelte den Kopf. »Ich muss nach Hause.«

Auch Amelia verspürte mehr als nur ein bisschen Heimweh. Sie wollte auch nach Hause. Sie wünschte, sie wäre jetzt in ebendiesem Augenblick schon dort bei ihren Eltern und sicher und behütet unter ihrem Dach.

Mora kam mit vollen Armen wieder. Gabriel streckte die Hände aus und nahm dem Mädchen den Krug mit dem Wasser und die Tücher ab. Den Rest der Sachen – Verbandszeug, eine Schere und eine lange, furchteinflößende Pinzette – legte Mora auf das Bett.

»Ich hab alles mitgebracht, was mir eingefallen ist«, sagte sie. »Um den einen oder anderen Kratzer habe ich mich schon mal gekümmert.«

Amelia hatte sich noch nie um irgendetwas anderes als ihre persönliche Hygiene und ihre gesellschaftlichen Veranstaltungen gekümmert. Sie kam sich daher reichlich nutzlos vor und fragte sich, ob sie es auch nur ertragen könnte, sich Gabriels Verwundungen anzusehen, ganz zu schweigen davon, sie zu säubern und zu verbinden.

»Ich werde mir zuerst die Schulter vornehmen«, erklärte das Mädchen. »Aber dazu müsst Ihr Euer Hemd ausziehen, Mylord.«

Gabriel tat es ohne Zögern, zog sein zerrissenes, blutbeflecktes Hemd aus seiner eng anliegenden Hose und streifte es über den Kopf, wobei er wieder scharf zusammenzuckte, weil er seine Schulter dazu bewegen musste. Amelia hatte gedacht, sie würde es nicht ertragen hinzusehen, aber ganz im Gegenteil dazu schien sie den Blick nicht von ihm abwenden zu können.

Seine Brust war glatt und sonnengebräunt, mit flachen, kupferfarbenen Brustwarzen und keinem einzigen Gramm Fett an seinem Bauch. Seine Schultern waren breit und muskulös … und dann sah Amelia die Wunde und das Blut und konnte nicht mehr hinsehen.

»Die ist nicht allzu tief«, murmelte das Mädchen. »Hätte schlimmer sein können. Ich glaube nicht, dass sie genäht werden muss, damit sie heilt.«

Amelia drehte sich fast der Magen um. Auf unsicheren Beinen ging sie zu der Truhe zurück. Aber der Geruch des Eintopfs, der vorhin noch ihren Magen zum Knurren gebracht hatte, verursachte ihr jetzt Übelkeit. Und so griff sie statt nach ihrem Teller nach der Brandykaraffe.

»Ihr solltet lieber nicht zu viel davon trinken. Es könnte Euch übel davon werden.«

Amelia warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Wulf sie beobachtete, während Mora seine Schulter verband. Nun, da die Wunde mit einem sauberen Verband bedeckt war, konnte Amelia ihn wieder ansehen, ohne ein komisches Gefühl im Magen zu bekommen. »Ich vertrage ihn sogar sehr gut«, beschied sie ihn. »Eines Nachmittags habe ich mit Lady Wulf eine ganze Menge davon getrunken und überhaupt nichts Komisches gespürt.«

»Wir müssen einen klaren Kopf bewahren«, warnte Gabriel sie trotz ihrer Behauptung.

Amelia sah ihn düster an. »Falls heute Abend noch mehr Schlimmes passiert, wäre ich lieber sturzbetrunken.«

Wieder lächelte er fast, und sie fragte sich, wie er wohl aussehen mochte, wenn er es tatsächlich tat. Wenn er sprach, konnte sie seine sehr geraden, blendend weißen Zähne sehen. Aber das Dienstmädchen nahm jetzt seine Aufmerksamkeit wieder in Anspruch.

»Und nun das Bein«, sagte sie mit hochrotem Gesicht. »Dazu werdet Ihr aber die Hose ausziehen müssen, Mylord.«

Allein der Gedanke, Gabriel Wulf nackt zu sehen, durchflutete Amelia mit jäher Hitze. Vielleicht ist es ja nur der Alkohol, dachte sie mit einem Blick auf ihren Brandy. Eine Braut in ihrer Hochzeitsnacht sollte sich wirklich nicht solche Gedanken über einen anderen Mann machen. Sie stellte das Glas weg und wandte sich ihm zu.

»Ihr könnt die Decke auf dem Bett benutzen, um Euch zu bedecken«, sagte sie. »Mora und ich werden uns umdrehen, während Ihr Euch entkleidet.«

Er zuckte mit den Schultern. »Das ist mir einerlei«, erwiderte er, während er aufstand, um seine schmutzige, blutbefleckte Hose aufzuknöpfen. Amelia merkte, dass weder sie noch die junge Magd sich von ihm abgewandt hatten, bis er schon beinahe damit fertig war.

»Komm her, Mora«. befahl sie, und das Mädchen trat gehorsam neben sie. Amelia brauchte eine weitere Minute länger, um sich wirklich von Gabriel abzuwenden, der im Begriff war, vor Gott und wer immer auch ihm sonst noch zusah, seine Hose auszuziehen.

Sowohl sie als auch Mora standen vor der Truhe und dem Spiegel. Amelia musste sich die größte Mühe geben, keinen Blick in den Spiegel zu werfen, um Wulf vielleicht doch noch beim Ausziehen zu sehen. Der Alkohol musste ihr doch mehr zugesetzt haben, als sie gedacht hatte, und trotzdem griff sie nach der Karaffe, um sich erneut zu stärken.

»Lasst mir etwas übrig«, bat Mora. »Ich brauche den Brandy, um die Wunde zu reinigen, wenn ich die Kugel entfernt habe.«

Amelia warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Hat er dir erzählt, dass er angeschossen wurde?«

Das Mädchen errötete. »Nein. Das brauchte er nicht. Ich habe solche Wunden schon gesehen. Es sind keine besonders guten Verhältnisse, aus denen ich komme, Mylady.«

»Alles klar, ihr könnt euch wieder umdrehen«, rief Gabriel hinter ihnen. »Beeil dich, Mora. Ich habe noch viel zu tun heute Nacht.«

Sie drehten sich um und sahen, dass er auf dem Bett saß, die Decke um seine Taille, aber auf einer Seite zurückgeschlagen, damit Mora sein verletztes Bein versorgen konnte. Amelia hatte noch nie zuvor ein nacktes Männerbein gesehen. Obwohl die derzeitige Herrenmode nur wenig der Fantasie überließ, war es etwas völlig anderes, das nackte Bein eines Mannes statt nur der Umrisse des Beins unter eng anliegenden Hosen oder Strumpfhosen zu sehen.

Und trotz seiner Verletzung war Gabriel Wulfs Bein ein wirklich sehenswerter Anblick. Es war lang und muskulös und mit feinem blondem Haar bedeckt. Amelia starrte es mit großen Augen an, während Mora sich an die Arbeit machte. Tatsächlich verfolgte sie sogar die ganze Prozedur und stand wie betäubt daneben, als das Mädchen mit der Furcht erregend aussehenden Pinzette eine Kugel aus Gabriel Wulfs Oberschenkel zog. Doch obwohl ihm der Schweiß ausbrach und er die Zähne zusammenbiss, hörten sie von ihm kein Wort der Klage.

»Der Brandy, Mylady«, rief Mora Amelia zu. »Würdet Ihr mir bitte die Karaffe holen?«

Froh, etwas tun zu können, holte Amelia die Karaffe und brachte sie zum Bett. Sie trank allerdings schnell noch einen Schluck daraus, bevor sie Mora die Karaffe übergab. Das Mädchen bot auch Gabriel den Brandy an.

»Um Euch zu stärken«, sagte sie. »Denn das hier wird gleich ziemlich brennen.«

Er nickte und trank einen tüchtigen Schluck aus der Karaffe, bevor er sie Mora wiedergab. Ein eigenartiges kleines Prickeln durchlief Amelia bei dem Gedanken, dass Gabriels Mund die gleiche Stelle berührt hatte wie der ihre. Als spürte er, dass sie ihn beobachtete, suchten seinen grüne Augen ihren Blick und hielten ihn fest, während Mora seinen blutigen Oberschenkel mit dem Alkohol beträufelte.

Er zuckte nicht einmal zusammen.

»Jetzt muss ich die Wunde vernähen«, sagte Mora. »Und dann bin ich hier fertig. Wenn Ihr sie sauber haltet, wie Ihr es bisher getan habt, müsste sie ganz gut verheilen.«

Wulf gab ihr keine Antwort, sondern starrte weiter Amelia an, und sie vermutete, dass er das tat, um sich von seinen Schmerzen abzulenken. Doch so forsch sie auch bisweilen war, begann sie sich doch unter seiner intensiven Musterung zunehmend unbehaglicher zu fühlen. Amelia hatte nämlich den Verdacht, dass er durch ihren dünnen Morgenrock nahezu hindurchsehen konnte. Sie war nicht so vornehm-zurückhaltend, wie es sich für eine wohlerzogene junge Frau gehörte. Einmal war sie sogar so kühn gewesen, ihr Kleid bei einer Gesellschaft absichtlich zu durchnässen. Ihre Mutter war fast in Ohnmacht gefallen, als Amelia aus einem der oberen Gästezimmer kam, wo verschiedene andere junge Damen das Gleiche wie sie getan hatten.

Und trotzdem war irgendetwas an der Art, wie Gabriel sie beobachtete – wie ein Fuchs, der ein Kaninchen belauerte–, Amelia nicht ganz geheuer. Und ihr war ohnehin schon unbehaglich genug zumute nach allem, was geschehen war. Sie brauchte etwas zu tun, um sich von den Gedanken daran abzulenken.

»Vielleicht finde ich etwas Sauberes für Euch zum Anziehen«, sagte sie. »Von Robert.« Ihre Kehle wurde eng, und sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. »Er war zwar nicht annähernd so groß wie Ihr, aber vielleicht finde ich ja etwas, das Euch passt.«

»Macht Euch bitte keine Umstände«, sagte er und löste endlich seinen Blick von ihr, um ihn auf die Verbindungstür zu Roberts Schlafzimmer zu richten. »Ich kann nicht von Euch verlangen, noch einmal in diesen Raum zu gehen.«

In gewisser Hinsicht war es sogar unumgänglich für Amelia, den Toten zu sehen. Und wenn auch nur, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass der Mann nicht Robert war. Wie konnte sie sich so geirrt haben? Wie hatte es der Mann geschafft, sie so zu täuschen?

»Ich schaffe das schon«, flüsterte sie, nicht sicher, wen sie mehr zu überzeugen versuchte, sich selbst oder Gabriel Wulf.

3. Kapitel

Amelia nahm eine Kerze mit. Sie hatte Angst, dass die nur noch halb in ihren Angeln hängende Tür herunterfallen würde, wenn sie sie öffnete, aber sie hielt. Amelia wollte den Blick am liebsten nicht auf den Boden richten, wo der Tote lag, der sie so hinters Licht geführt hatte. Sie hätte es wirklich nur zu gern vermieden, aber außer um etwas Sauberes für Gabriel Wulf zum Anziehen zu suchen, war sie schließlich dazu hergekommen. Und so holte sie tief Luft und senkte den Blick auf den Boden … auf dem niemand lag.

Amelia atmete erleichtert auf. Wulf hatte die Leiche anscheinend schon während oder nach seiner Suche nach Robert fortgebracht. Schon ein wenig ruhiger, ging Amelia zu Roberts Kleiderschrank und öffnete die Türen. Sie dachte, dass eins seiner Nachthemden Lord Gabriel als Hemd würde genügen müssen. Was die Hosen anging, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihm welche von Robert passen würden. Er war erheblich größer, als Robert es gewesen war, und auch seine Beine – oder Schenkel – waren sehr viel stämmiger und muskulöser.

Nachdem sie ein Nachthemd aus dem Schrank genommen hatte, wandte sie sich ab, um die Kerze aufzuheben, die sie beiseite gestellt hatte. Und da bemerkte sie etwas Glänzendes auf dem Fußboden neben dem Bett. Es sah aus wie ein silberner Brieföffner. Die Spitze war mit Blut befleckt. Amelia erschauerte … und sah plötzlich noch etwas anderes auf dem Boden liegen. Das Nachthemd unter ihrem Arm, bückte sie sich danach und hob es auf. Es sah aus wie die Pfote eines Tiers. Entsetzt ließ sie sie wieder fallen.

Als sie in das Nebenzimmer zurückkam, sah sie, wie Mora sich gerade aus ihrer knienden Haltung neben ihrem Patienten erhob.

»Er ist jetzt gut versorgt, glaube ich«, sagte das Mädchen zu ihr.

Amelia stellte ihre Kerze in den Ständer neben dem Bett und entfaltete das Nachthemd. »Das wird vorerst genügen müssen«, sagte sie.

Wulf nahm ihr das Kleidungsstück ab und schob als Erstes seine muskulösen Arme durch die Ärmel. Amelia starrte ihn wieder an.

»Danke, dass Ihr … den Mann woanders hingebracht habt. Ich dachte, ich sollte ihn mir ansehen, um mich selbst davon zu überzeugen, dass er nicht Robert ist, aber dann …«

»Was?« Wulf unterbrach seine Bemühungen, das Nachthemd anzuziehen. »Was sagt Ihr da?«