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Alles begann mit Magie. Alles endet mit Magie. Das epische Finale der düsteren Romantasy-Erfolgsserie. New-York-Times-Bestseller. Die Fae führen Krieg gegen Orea. Sie überziehen das Land mit Blut und Magie. Und auch mich versuchen sie durch Magie zu brechen. Sie wollen mir meine Erinnerungen stehlen, mich zu einer Gefangenen in meinem eigenen Verstand machen. Doch das lasse ich nicht zu. Egal, wie viele Lügen sie mir erzählen, egal, wie viele Löcher sie in meinen Geist schlagen, eines werde ich nie vergessen. Ich bin Auren Turley. Und ich werde kämpfen. Für meine Freiheit. Für meine Freunde. Und für den Mann, den ich mehr liebe als das Leben selbst … «OMG, ich bin sprachlos! Diese Reihe gehört zu meinen absoluten Highlights …» Yvonne von @book_lovely29 «Wie schafft die Autorin das nur? Jeder Band überzeugt mich ein Stückchen mehr …» Esther von @book.wide «Für Fantasy-Fans ist diese Reihe definitiv ein Must-read.» Nasti von @bows_and_fairytales
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Seitenzahl: 966
Raven Kennedy
Roman
Nur wer mutig ist, kann frei sein …
Die Fae führen Krieg gegen Orea. Sie überziehen das Land mit Blut und Magie. Und auch mich versuchen sie durch Magie zu brechen. Sie wollen mir meine Erinnerungen stehlen, mich zu einer Gefangenen in meinem eigenen Verstand machen. Doch das lasse ich nicht zu. Egal, wie viele Lügen sie mir erzählen, egal, wie viele Löcher sie in meinen Geist schlagen, eines werde ich nie vergessen. Ich bin Auren Turley. Und ich werde kämpfen. Für meine Freiheit. Für meine Freunde. Und für den Mann, den ich mehr liebe als das Leben selbst …
Alles begann mit Magie. Alles endet mit Magie. Das epische Finale der düsteren Romantasy-Erfolgsserie.
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Wenn du dich darüber informieren möchtest, findest du auf unserer Homepage unter www.endlichkyss.de/thedarkestgold6 eine Content-Note.
RAVEN KENNEDY wurde in Kalifornien geboren. Ihre Liebe zum Lesen hat sie schließlich dazu gebracht, eigene Welten zu kreieren. Sie hat bereits mehrere Buchserien veröffentlicht, der Durchbruch gelang ihr mit der «THE DARKEST GOLD»-Reihe, einer dunklen Neuinterpretation des König-Midas-Mythos. Die Romane haben sich mehr als drei Millionen Mal verkauft, die Übersetzungsrechte wurden in etliche Länder lizenziert, eine Verfilmung befindet sich in Vorbereitung. Weitere Informationen über die Autorin finden sich auf ihrer Homepage: www.ravenkennedybooks.com
ULRIKE GERSTNER arbeitete nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Anglistik (und einigen Jahren in der Freiberuflichkeit) im Lektorat des LYX-Verlags, wo sie über zehn Jahre die unterschiedlichsten Projekte betreute. Mittlerweile ist sie zu ihren Wurzeln zurückgekehrt und arbeitet wieder auf eigene Faust als Übersetzerin und Lektorin.
ANITA NIRSCHL träumte als Kind davon, alle Sprachen der Welt zu lernen, um jedes Buch lesen zu können, das es gibt. Später studierte sie Englische, Amerikanische und Spanische Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 2007 arbeitet sie als freie Übersetzerin und hat zahlreiche Romane ins Deutsche übertragen.
Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «Goldfinch».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Goldfinch» Copyright © 2024 by Raven Kennedy
Published by Arrangement with RAVEN KENNEDY LLC
Redaktion Hendrik Lambertus
Kartenillustration Klappe © Markus Weber | Guter Punkt, München
Kartenillustration Inntenteil © Lila Raymond
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München, nach dem Original von A.T. Cover Designs
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-02162-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Vergiss nie, dass du stärker bist als die Dunkelheit und dass du Flügel hast, um zu fliegen.
Slade
Mein Burghof ist erfüllt vom hektischen Gedrängel der Soldaten.
Ich trete aus dem Gebäude, etwas außer Atem von den übereilten Reisevorbereitungen. Ein paar Wachen kommen heran und haben noch Fragen an mich. Nachdem sie davongehastet sind, richte ich meine Aufmerksamkeit wieder nach vorne.
Zwischen den Toren von Burg Brackheim und dem Burggraben zähle ich insgesamt drei Dutzend Waldschwingen. Im Wasser spiegelt sich ein trüber Mond, gelb wie Sahne, die man zu lange stehen lassen hat.
Die Soldaten tragen Lederrüstungen und dicke Winterkleidung, während den Waldschwingen ihre eigenen Harnische aus schwarzem Leder und metallene Brustpanzer umgeschnallt werden, um ihre empfindliche Brust zu schützen.
Die Tiere sind unruhig, ihre Krallen graben sich in das Kopfsteinpflaster, ihre scharfen Augen starren in den Himmel hinauf. Die Soldaten wissen um die Gefahren, die vor ihnen liegen, aber die Tiere haben ein tieferes Wissen: Jedes einzelne von ihnen spürt die Nervosität, die Anspannung, den Blutdurst.
Das tun sie immer, wenn es Zeit ist, in den Krieg zu ziehen.
Neben mir liegen schwarze Felsbrocken auf dem Boden verstreut wie ein Haufen Kohlestücke. Seit Königin Kailas Ankunft ist der schwarze Obelisk zerstört und zersplittert.
Zerbröckelt – genau wie meine verdammte Geduld.
Ich will endlich aufbrechen! Ich habe alles in Bewegung gesetzt, habe meinen Premierministern Anweisungen erteilt und meinen Zorn angeheizt. Jetzt will ich los.
Die neue Wahrheit, die Lu uns gebracht hat, wirbelt in meinem Verstand herum und verknotet meine Eingeweide: Die Brücke von Lemuria ist unversehrt. Wiederhergestellt. Sie führt ins Reich der Fae.
Wie zum Henker haben sie die Brücke wiederaufgebaut? Wie kann das Siebte Königreich überhaupt existieren?
Als ich vor Jahren über das Siebte flog, war nur noch ein zerklüftetes, eisiges Land aus Weiß und Grau übrig geblieben. Keine Leute. Keine Tiere. Keine Städte. Nur Schluchten, erfüllt von Leere. Das Einzige, was es dort noch zu geben schien, war das anhaltende Echo der Magie, die das Land wie einen Spiegel zerschmettert hatte.
Ich erinnere mich gut, wie falsch sich dieses Echo angefühlt hat. Es war ein wenig wie der Geruch in der Luft, wenn man verbranntes Essen weggeschmissen hat: ein unangenehmer Nachgeschmack, der einfach nicht nachlassen will.
Nur eines war am Rand der Welt zurückgeblieben: nichts. Überhaupt nichts. Mein Vater – der Brecher – hat die Brücke vor Hunderten von Jahren zerstört, lange bevor ich geboren wurde. Mit seiner Magie, die ihn zum wichtigsten Verbündeten der Krone machte. Die ihm Ruhm und Reichtum einbrachte.
Und jetzt hat irgendjemand oder irgendetwas die gebrochene Brücke wiederaufgebaut.
Ich weiß nicht, ob mein Vater etwas damit zu tun hat und ob er überhaupt noch lebt. Ich weiß nicht, wer hinter dieser Invasion nach Orea steht. Und ich weiß nicht, in welchem Zustand die Brücke überhaupt ist.
Doch nichts davon ist wichtig. Denn nur eines zählt wirklich: sie.
Nun habe ich einen Weg, zu Auren zu gelangen! Ich habe es nicht geschafft, einen Riss zu öffnen, habe mein Versprechen nicht erfüllt, sie zu finden – aber jetzt gibt es wieder Hoffnung.
Mein verfaulendes Herz schmerzt ohne Unterlass. Es pocht im Gleichklang mit dem Adrenalin in meinem Blut, und sein Takt sagt immer nur: Geh, geh, geh!
Geh zur Brücke. Geh nach Annwyn. Geh zu ihr.
Ich schiebe die Hand in meine Tasche und schließe die Finger um das kleine Stück Band von Auren.
«Ich werde dich finden. Ich werde dich in diesem Leben finden. Das habe ich dir verdammt noch mal versprochen. Aber du musst gehen. Bitte, Süße.»
Die Erinnerung an mein gequältes Flehen verfolgt mich. Genauso wie die Art, wie sie meinen Namen ausgesprochen hat. Die Art, wie sie mich ansah, erfüllt von Verzweiflung. Mein Herz pocht vor Schmerz, der von allen Seiten zugleich zu kommen scheint. Von links und von rechts, von oben und von unten, von innen und von außen.
Ich kann nicht länger warten.
Ich lasse das Band los und blicke über den dunklen Innenhof. Fackeln werfen ihren orangefarbenen Schein in die Nacht. In ihrem Licht kann ich das Profil von Ryatt ausmachen, der seine handverlesene Elitetruppe organisiert.
Er deutet auf ein Paar Waldschwingen, denen gerade einige Elitesoldaten die Geschirre anlegen. Immer zwei Tiere tragen an Gurten zwischen sich eine Packtasche, geflochten aus dickem Leder und steifem Seil. Kriegskörbe. In ihnen tragen die Waldschwingen Soldaten und Waffen durch die Luft.
Nicht gerade die bequemste Art zu reisen. Auch nicht die schnellste, denn die Tiere werden durch das Gewicht ausgebremst. Aber es ist eine altbewährte Methode, die seit Jahrhunderten in Orea eingesetzt wird.
Sechsunddreißig Reiter auf sechsunddreißig Waldschwingen – das sind achtzehn Paare. Jedes Paar kann fünf Elitesoldaten in seinem Kriegskorb transportieren. Das ergibt einhundertsechsundzwanzig Soldaten, die wir mit uns einfliegen lassen können, um Ranhold gegen die Invasion zu rüsten.
Einhundertsechsundzwanzig. Gegen Tausende von Fae.
Unser Plan sieht vor, direkt nach Ranhold zu fliegen und dort die Armee des Fünften Königreichs aufzustellen, während ich die Fae mit meiner Magie angreife. Zur gleichen Zeit werden unsere Elitetruppen und die von König Thold alles tun, um sie am Vormarsch zu hindern.
Gib Orea eine Chance, hat mein Bruder mich gebeten. Genau das tue ich nun.
Ich trete an Ryatt heran. Als er mich bemerkt, schickt er die Soldaten weg, mit denen er gesprochen hat.
«Wie lange noch?», will ich wissen, sobald wir allein sind, mein Tonfall gefärbt von Ungeduld.
Ryatt trägt seine volle Kommandantenmontur, seine Miene ist nüchtern und professionell. «Ich warte noch immer auf sechs weitere Elitesoldaten, und der Schmied müsste innerhalb der nächsten Stunde die Waffen heranschaffen. Die Küchen sind noch dabei, die Rationspakete zusammenzustellen, und König Thold trifft ebenfalls seine Vorbereitungen …»
Ein Grollen entkommt meiner Kehle: «Das dauert zu lange.»
Er wirft mir einen verdrießlichen Blick zu. «Ich mache so schnell, wie ich kann. Ich versuche, alle so aufzustellen, dass du bei Tagesanbruch losziehen kannst. Aber es braucht eben Zeit, alles zu organisieren.»
«Ich habe keine Zeit», entgegne ich schärfer als beabsichtigt. Ich weiß, dass mein Bruder sich den Arsch aufreißt, um uns alles zu besorgen, was wir brauchen. Aber selbst das schnellste Vorgehen ist so verdammt langsam!
Ein ungeduldiger Blick über den Hof verrät mir, wie weit wir noch vom Aufbruch entfernt sind. Einige Waldschwingen haben noch nicht einmal ihre Sättel angelegt bekommen.
Geh, geh, geh, geh, geh …
Ich kann diesem Drängen nicht länger widerstehen.
«Ich fliege schon voraus.»
Ryatt zieht überrascht die Augenbrauen hoch, gerade als Lu und Judd zu uns stoßen.
«Du willst jetzt sofort los?», fragt Lu und bleibt neben mir stehen. Die Müdigkeit hat deutliche Spuren unter ihren Augen hinterlassen.
«Ich muss mich endlich auf den Weg machen. Ich kann keine verdammte Sekunde mehr untätig bleiben!»
«Dann komme ich mit», bietet sie sofort an. Aber ich schüttle den Kopf. Sie ist vielleicht zu stur, um es zuzugeben, doch sie hat eine Weile Ruhe nötig, ehe sie wieder auf eine Waldschwinge steigen kann. Es sind kaum fünf Stunden vergangen, seit sie hier eingetroffen ist, um uns von dem Angriff der Fae auf Hohenläuten zu berichten.
«Nein, Lu. Leg dich für ein paar Stunden schlafen und brich dann mit dem Rest des Trupps auf.»
«Aber …»
«Das ist ein Befehl, Talula.»
Sie funkelt mich zornig an. «Zieh nicht so eine Scheiße mit mir ab.» Ihr Ton ist scharf, doch mir entgeht nicht, dass in ihren Augen Erleichterung aufblitzt. Sie braucht dringend etwas Schlaf.
Als sie bemerkt, dass Judd grinst, rammt sie ihm ihren Ellbogen in den Magen, was ihm ein «Uff» entlockt.
«Hey!», beschwert er sich. «Ich habe dich nicht mit deinem vollen Namen angeredet! Warum schlägst du mich?»
«Weil du so dämlich grinst.»
«Ich grinse nie dämlich», verteidigt er sich, während er sich den Bauch reibt.
Sie verdreht die Augen und wendet sich wieder mir zu. «Einer von uns sollte dich begleiten.»
«Ihr würdet mich nur aufhalten», erwidere ich. «Argo ist die schnellste unserer Waldschwingen. Wenn ich alleine fliege, schaffe ich es in Windeseile nach Ranhold, ohne dass ich auf jemanden Rücksicht nehmen muss. Ryatt bleibt hier zurück und befehligt die Armee. Deshalb brauche ich dich und Judd, um die Elitekrieger anzuführen und König Thold mit seiner Schar zu helfen. Sie sind noch nicht oft durch das Fünfte gereist. Ihr beide kennt die schnellsten Wege und wisst, wie man dabei gegen die Elemente besteht. Digby weiß das auch.» Als sie immer noch zweifelnd dreinschaut, füge ich hinzu: «Außerdem seid ihr nur einen halben Tag hinter mir.»
«Und was passiert, wenn du Ranhold erreichst?», fragt sie.
«Ich werde dem neuen König von der Bedrohung erzählen und dafür sorgen, dass er seine Armee aufstellt. Anschließend werde ich den Fae so viel Magie wie möglich entgegenwerfen. Danach mache ich mich direkt auf den Weg zur Brücke.»
Lu scheint es immer noch nicht zu gefallen, dass ich alleine gehe. Aber sie verzichtet auf weitere Gegenargumente. Daran erkenne ich, wie erschöpft sie wirklich ist.
«Wir sehen uns in Ranhold», sage ich zu ihr. «Und jetzt schlaf ein bisschen, Hauptmann.»
«Gut», erwidert sie und wendet sich an Ryatt. «Sorg dafür, dass jemand mich weckt, sobald es Zeit zum Aufbruch ist.»
Judd öffnet den Mund. Doch sie zeigt auf sein Gesicht, ohne ihn anzusehen, und sagt zu Ryatt: «Nicht er.»
Judd muss wieder grinsen.
Ryatt schüttelt schmunzelnd den Kopf. «Keine Sorge. Ich werde dich holen lassen.»
Lu nickt und blickt dann wieder zu mir. «Sei vorsichtig», sagt sie, und ihre dunkelbraunen Augen wirken ernst.
«Das bin ich.»
Sie entfernt sich und bleibt dann unterwegs noch einmal stehen, um sich mit Digby zu unterhalten. Ich wende mich an Judd. «Gib den Wachen von König Thold Bescheid, dass ich vorausfliegen werde.»
«Mach ich.» Er salutiert vor mir. «Wir sehen uns dann in dem beschissenen Schneekönigreich. Nächstes Mal führen wir dann aber auch mal Krieg auf einem der wärmeren Kontinente, ja?»
«Geht klar», erwidere ich trocken.
Während ich Judd hinterherschaue, schneidet ein plötzlicher Schmerz durch meine Brust und verzerrt mein Gesicht. Ich presse die Finger auf mein Herz. Ryatt mustert mich aufmerksam. «Was ist los?»
«Nichts», antworte ich schnell und lasse die Hand sinken.
«Slade …»
«Ich muss jetzt einfach los, Ryatt.»
Seine Lippen sind zu einer harten Linie zusammengepresst, aber er nickt. «In Ordnung. Ich sorge dafür, dass die anderen so schnell wie möglich aufbrechen und dir folgen.»
«Ich weiß, dass bei dir alles in den besten Händen ist.»
Mein Bruder begleitet mich noch zu Argo. Er ist unter den anderen Tieren leicht auszumachen, denn er ist weit größer als sie. Gerade hat er seine borkenfarbenen Flügel gespreizt und sein Gesicht zu einem Knurren verzogen. Das ist sein ausgeprägtes Dominanzgehabe, mit dem er einen Radius von sechs Metern allein für sich beansprucht. Sobald eine andere Waldschwinge auch nur eine Klaue in diesen Umkreis setzt, schnappt er nach ihr. Und doch ist er jetzt schon viel umgänglicher als früher.
«Du missgelauntes Biest», murmele ich und streichle seine Flanke.
Er blinzelt mich an, ohne die geringste Spur von Reue zu zeigen. Dann wendet er den Kopf ab, und sein Verhalten ändert sich abrupt. Das Grollen verstummt, seine angespannte Haltung lockert sich.
Ich schaue hinüber und sehe, wie das kleine Mädchen Wynn auf ihn zugehopst kommt, dicht gefolgt von ihrer Schwester. Die beiden haben ihre grauen Roben aus dem Zweiten Königreich abgelegt und tragen stattdessen bunte Kleider.
Wynn schlingt ihre Arme um Argos Hals, sobald sie ihn erreicht hat. Er legt seinen Kopf um sie, vermutlich die Waldschwingen-Version einer Umarmung, und schmiegt sich an ihr lockiges schwarzes Haar.
Als sie ihn schließlich loslässt, sieht sie zu mir auf. «Muss er in den Krieg ziehen?», fragt sie, und Tränen schimmern in ihren großen, braunen Augen. Ihr trauriger Tonfall sorgt dafür, dass ich mich schuldig fühle. «Ich werde gut auf ihn achtgeben.»
Sie schnieft, und ihre ältere Schwester Shea legt ihr tröstend die Hand auf die Schulter. «Wynn wollte sich nur von ihm verabschieden. Sie hat Argo sehr lieb gewonnen, als sie ihn auf unserer Reise hierher geheilt hat.»
Mein Blick wandert zu Argo, der sich noch immer an sie schmiegt, und ich muss lächeln. «Er hat sie offensichtlich auch sehr lieb gewonnen.»
Wieder dringt Wynns betrübtes Schniefen zu mir, und ich gehe vor ihr in die Hocke, um ihr in die Augen zu schauen. «Argo erlaubt mir bereits seit langer Zeit, sein Reiter zu sein», erkläre ich ihr. «Er liebt das Fliegen und ist sehr schnell. Er wird alles gut überstehen.»
«Aber er hat sich schon einmal wegen dir verletzt», erinnert sie mich mit einem ehrlichen Vorwurf in ihrem kleinen Gesicht.
Sheas Finger umfassen ihre Schulter fester. «Wynnie», mahnt sie.
Ich schüttle den Kopf. «Schon gut, deine Schwester hat ja recht. Er wurde meinetwegen verletzt.» Ich schaue wieder zu Wynn. «Ich gebe dir mein Wort, dass ich Argo zurückschicken werde, falls es zu gefährlich wird.» Ich strecke die Hand aus. «Abgemacht?»
Das Mädchen ergreift meine Hand und schüttelt sie. «Abgemacht.»
«Hervorragend», bestätige ich. «Außerdem wollte ich dir noch einmal persönlich dafür danken, dass du Nissa geheilt hast.»
Sie windet sich ein wenig, als ob sie sich schämen würde. «Gern geschehen.»
Ich richte mich wieder auf und wende mich Shea zu. «Habt ihr alles bekommen, was ihr braucht?»
«Sogar viel mehr, als wir brauchen. Danke, Eure Majestät», erwidert sie. Dann schaut sie zu ihrer Schwester hinunter. «Komm, Wynnie. Wir müssen gehen. Der König ist sehr beschäftigt.»
Wynn mustert mich. «Du gibst wirklich acht, dass er nicht wieder verletzt wird?»
«Ich verspreche es.»
«Gut», sagt sie nickend. Dann umarmt sie Argo noch einmal, und die beiden Schwestern gehen Hand in Hand davon.
Ich werfe einen Blick zu Ryatt, und auch mein Bruder nickt, weil er längst weiß, was ich gerade denke. «Keine Sorge. Isalee und Warken sorgen dafür, dass man sich gut um die beiden kümmert. Und verrate ihm nicht, dass ich es dir erzählt habe, aber Osrik hat ihnen ein eigenes Haus in der Stadt gekauft. Ein hübsches Haus, direkt am Fluss. Er will allerdings nicht, dass das Mädchen weiß, dass es von ihm ist.»
«Das überrascht mich nicht wirklich.»
«Du kennst ihn ja», gibt Ryatt zurück. «Os mag es nicht, wenn die Leute erfahren, dass er etwas Nettes getan hat.»
«Wenn er hört, wie du das Wort ‹nett› im selben Satz wie seinen Namen sagst, verpasst er dir eine.»
Ryatt grinst. «Gut möglich.»
Ich wende mich ab und überprüfe noch einmal Argos Gurte, um sicherzustellen, dass meine Packtasche ordentlich befestigt ist. Dann schwinge ich mich in den Sattel und schaue zu meinem Bruder hinunter. Ich erkenne die Nervosität in seiner Miene, auch wenn er sie gut verbirgt. Jeder hier ist angespannt. Nachdem die Fae jahrhundertelang aus dieser Welt verschwunden waren, hat niemand in Orea damit gerechnet, jemals wieder einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein.
«Gib auf Argo und auf dich acht», sagt er, und seine Stimme wird leiser, damit niemand sonst ihn hören kann.
«Das werde ich. Und ich werde so viele von ihnen ausschalten, wie ich nur kann, ehe ich zur Brücke aufbreche.»
«Da bin ich mir ganz sicher. Man muss Feuer mit Feuer bekämpfen – und Fae mit Fae», sagt er mit einem schmalen Grinsen. Dann wird seine Miene wieder ernst. «Orea hat definitiv eine Chance, wenn du an unserer Seite stehst.»
«Nicht nur meinetwegen. Auch du sorgst dafür, dass Orea eine Chance hat.» Er schluckt schwer, und erneut überfallen mich Schuldgefühle. Denn ich kann sehen, wie viel ihm meine Worte bedeuten. Ich hätte das alles bereits viel früher sagen sollen. Hätte ihm die Stellung als Kommandant schon vor langer Zeit überlassen sollen. Doch ich war so sehr daran gewöhnt, sein älterer Bruder zu sein und ihn zu beschützen, dass ich ihn daran gehindert habe, ebenfalls ein Beschützer zu werden.
«Lass uns eine Nachricht zukommen, sobald du in Ranhold bist.»
«Wird gemacht», erwidere ich. Wenn wir die Armee des Vierten mobilisieren müssen, wird er bereit dafür sein. Es ist noch so vieles zwischen uns ungesagt, aber dafür bleibt jetzt keine Zeit. Stattdessen tauschen wir einfach einen langen Blick. Schließlich nicke ich ihm zu. «Führe sie gut, Kommandant.»
Er verbeugt sich. «Ich werde das Vierte mit meinem Leben beschützen.»
Und genau das ist es, wovor ich Angst habe.
«Du wirst Auren und unsere Mutter finden», sagt er, und in seiner Stimme liegt nicht der geringste Zweifel. Er weiß, dass ich mich mit weniger nicht zufriedengeben werde. «Sei vorsichtig», fügt er leise hinzu.
«Du auch, Bruder.» Ich umfasse die Zügel fester, und meine Brust wird eng vor Aufregung und Schmerz.
Doch der Drang, zu Auren zu gelangen, ist noch stärker.
Geh, geh, geh, geh …
Ich nicke Ryatt noch ein letztes Mal zu und gebe Argo sacht die Sporen. Sogleich trägt er uns dem Nachthimmel entgegen. Die anderen Waldschwingen am Boden kreischen neidisch auf, während wir losfliegen.
Mein Puls beschleunigt sich, beginnt zu rasen … Endlich bin ich auf dem Weg! Endlich gehe ich zu ihr. Der Schmerz pocht in meiner Brust, und ich spüre, wie das Gift in meinen Adern pulsiert. Doch ich ignoriere es. Denn ich fliege zu ihr. Und nichts, nicht einmal dieses verrottende Herz in meiner Brust, wird mich aufhalten können.
Slade
Argo gewinnt immer weiter an Höhe, die Dunkelheit der Nacht umhüllt uns wie ein Grabtuch. Unten hebt mein Bruder die Hand zum Abschied.
Als wir den Wallgraben überqueren, schaue ich wieder nach vorne. Wir lassen meine Burg hinter uns und fliegen auf die Hauptstadt zu. Sie ist übersät von Lichtern: Straßenlaternen und Lampen in Booten, die auf den Flüssen schaukeln. Jede flackernde Flamme erinnert mich daran, wie viele Leute allein in Brackheim leben. Leute, für die ich verantwortlich bin.
Soll sie doch stürzen. Das habe ich Ryatt über die Welt gesagt, über Orea. Und ich habe jedes Wort ernst gemeint. Doch das war, bevor eine Bedrohung von außen aufkam. Ich konnte es in Ryatts Augen sehen. Den Vorwurf. Tief vergraben, aber dennoch präsent. Die Armee, die in Orea einfällt, gehört meiner Spezies an. Meine Leute. Er hat es zwar nicht laut ausgesprochen, aber ich konnte es dennoch hören. In gewisser Weise ist es meine Pflicht, Orea vor meinen eigenen Leuten zu schützen.
Gib Orea eine Chance.
Geh zur Brücke.
Zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich kann Ranhold ansteuern und anschließend direkt zum Siebten weiterziehen. Das wird meine Reise nur um ein paar Stunden verlängern. Höchstens um einen halben Tag, weil ich dort ja noch meine Magie entfache, um die Fae zu vertreiben. Dann kann ich wieder auf die Brücke zuhalten.
Ich stoße zischend den Atem aus, als erneut ein stechender Schmerz meine Brust durchzuckt. Er wogt durch meine Adern und schießt durch die Wurzeln der Fäulnis in meinen Armen. Immer wieder balle ich die rechte Hand zur Faust, versuche, die Empfindung abzuschütteln.
Sie geht nicht weg.
Aber ich bin damit aufgewachsen, Schmerzen zu ertragen. Meine Widerstandskraft ist hoch. Etwas anderes hätte mein Vater nicht zugelassen. Wenn ich aushalten kann, was er mir angetan hat, kann ich das auch für Auren erdulden.
Das verrottende Organ pulsiert noch schmerzhafter, als wollte es mich herausfordern. Ich aber beiße die Zähne zusammen.
Zieh es, verdammt noch mal, durch!
Ich ergreife wieder die Zügel, als wir schneller werden. Bald verschwinden Brackheim und seine Burg hinter uns. Argo muss meine Ungeduld spüren, denn er fliegt so rasch, als würde er mit der Nacht um die Wette jagen.
Und er gewinnt.
Meile um Meile lassen wir hinter uns, und ich weiß, dass wir bei diesem Tempo in Rekordzeit in Ranhold ankommen werden. Ein verdammtes Glück.
Im Laufe der Nacht fliegen wir über das Vierte Königreich hinweg. Ich halte die Augen offen und presse die Zähne zusammen. Dabei kann ich nichts tun, als die Sekunden zwischen dem pochenden Schmerz zu zählen. Er trommelt im Takt mit dem beständigen Drang zur Eile.
Geh, geh, geh, geh …
Ich kann keinen Riss öffnen – egal, wie sehr ich mich auch anstrenge. Aber ich kann diese verdammte Brücke erreichen!
Muss sie erreichen …
Kurz vor Sonnenaufgang erspäht Argo einen Vogelschwarm mitten im Flug. Er stürzt sich aus der Deckung der Wolken herab, ganz auf seine Beute fixiert. Sie sehen ihn nicht einmal kommen – bis er im Sturzflug zwei der geflügelten Wesen mit seinem großen Schnabel packt. Die Schreie der Tiere werden abgeschnitten, als Knochen splittern und Federn aufgewirbelt werden.
Ich klammere mich mit den Knien fest und stütze mich ab, während er sich einen dritten Vogel genehmigt. «Argo …»
Heftiger Schmerz durchzuckt mich so abrupt, dass ich im Sattel zusammenfahre. Gnadenlos bohrt er sich in meine Brust und raubt mir die Worte. Raubt mir die Sicht.
Der Schmerz zerquetscht mich wie Argos Fänge, die gierig Knochen zermalmen. Zerquetscht mein verdammtes Herz. Es wird aufgespießt, blutet aus.
Ich schwanke im Sattel, mein Körper sackt nach vorne. Es fühlt sich an, als würde ich auf dem offenen Meer aufgeschlitzt, während ein Mahlstrom aus vergiftetem Wasser in mich hineinströmt. Ich richte meinen Blick nach unten, dorthin, von wo der Schmerz ausstrahlt. Und ich reiße die Augen auf.
Mein verrottendes Herz hat angefangen anzuschwellen.
Es drückt mein Lederwams nach oben. Unter überwältigenden Schmerzen bläht es sich auf, und mir wird klar, was gerade passiert. Es steht kurz davor zu platzen.
Nein.
Mein Herz beschließt ausgerechnet in diesem Moment, mich im Stich zu lassen? Gerade jetzt, da ich endlich zu Auren gelangen kann? Als ich mich endlich auf den Weg gemacht habe?
Ich werde nicht sterben. Ich weigere mich, verdammt noch mal!
Aber mein Körper scheint das anders zu sehen.
Mein Herz durchspült mich mit Gift. Es fühlt sich an wie ein heißer Säureregen, der in mich eindringt und alles überflutet. Er wäscht mein Blut aus und frisst sich durch jede einzelne Ader.
Ich schaue auf meine Handgelenke und Hände, wo die Fäulnis in mich eingesickert ist. Jeder einzelne Zentimeter der sichtbaren Haut ist von so vielen schwarzen Linien durchzogen, dass sie mein Fleisch fast überwuchern.
Ich kann mich nicht länger festhalten. Die Zügel entgleiten mir und mein Körper zuckt, als ich gegen Argos Rücken pralle, unfähig, mich aufzusetzen. Unfähig, irgendetwas zu tun. Ich spüre mehr, als dass ich es sehe, wie Argo seinen Kopf zu mir umwendet und mich anschaut. Dann gibt er ein ohrenbetäubendes Brüllen von sich, als ich zur Seite rutsche.
Scheiße!
Panik steigt in mir auf. Ich rudere mit den Armen, während ich zu fallen beginne. Abrupt komme ich zum Stillstand, als sich die Gurte straffen, die mich an Argo binden. Sie sind weit überdehnt, halten mich aber im Sattel.
Nun kommt der Sattel ins Rutschen und dreht sich um Argos Achse, während mein Körper kippt, bis ich seitlich herabhänge. Nur ein Lederstreifen trennt mich vom freien Fall. Der Schmerz ist unvorstellbar.
Argo brüllt abermals auf und verrenkt sich, um mich wieder dorthin zu schubsen, wo ich sein sollte. Aber ich kann mich nicht bewegen. Die Krämpfe lähmen mich, und ich spüre, wie das Gift in meine Kehle sickert, in meine Wangen, meine Augen …
Dunkelheit legt sich über meine Sicht, als ich bemerke, wie Argo abtaucht.
Mir dreht sich der Magen um, während wir durch die Luft rasen. Der Lederriemen verdreht sich, und ich werde nach hinten geschleudert. Als er verrutscht, reißt es mich aus dem Sattel. Nur der einzelne Riemen, der um meine Taille geschlungen ist, verbindet mich jetzt noch mit Argo.
Wenn das Leder reißt … Wenn die Gurtschließe versagt …
Wie Blitze zuckt der Schmerz durch meinen Körper.
Scheiße, Scheiße, Scheiße …
Vielleicht bin ich schon tot, bevor wir auch nur auf dem Boden aufkommen.
Die Luft peitscht mir entgegen und wirbelt meinen Körper herum, während Argo weiter brüllt. Immer tiefer taucht er ab.
Er zieht mich hinter sich her wie eine Fahne, die sich im Wind verfängt. Dann reißt der gespannte Gurt am Sattel.
Sofort peitscht mich der Flugwind wie ein Blatt im Wind davon. Ich werde nicht länger nach unten gezogen – nun falle ich wirklich.
Ich falle und falle und starre nach oben in die Dunkelheit.
Für einen Augenblick frage ich mich, ob Auren das Gleiche gefühlt hat, als sie durch den Riss stürzte. Ob das meine Strafe dafür ist, dass ich sie da allein hineingeschickt habe. Ich keuche auf und schlage um mich, Entsetzen packt mich.
Ich falle.
Ich sterbe.
Mein Herz droht mir aus der Brust zu brechen, die Fäulnis zerreißt mich fast.
Gleich schlägt mein Körper auf dem Boden auf. Ich mache mich bereit.
Doch kurz vor dem unvermeidlichen Aufprall kommt Argo herangestürzt und greift mich mit seinen Klauen! Fest pressen sie sich um meinen Arm und mein Bein. Ich zucke unter dem Druck seiner Krallen zusammen, aber in Sekundenschnelle lässt er mich schon wieder los. Ich schlage auf festem Boden auf, rutsche und rolle über nasses Gras und matschigen Untergrund. Dann komme ich endlich zum Stillstand.
Ich lande am Rande eines Sumpflochs, bin halb von Schlammwasser durchtränkt.
Der Schmerz will mich lähmen, will mich nicht wieder hergeben, aber ich kämpfe dagegen an. Erinnere mich daran, was ich durch die Hand meines Vaters erlitten habe.
Beweg dich.
Los, los, los …
Ein Brüllen entfährt mir, während ich gegen die Qual ankämpfe, um die Kontrolle über meinen Körper ringe. Schlamm blockiert meine Atemwege, aber ich befehle meinem Körper, trotzdem zu gehorchen. Ich strecke einen Arm nach oben und klammere mich am Gras fest, während ich mich mühsam hochziehe.
Der Schmerz verzehrt mich, meine Sicht ist noch immer durchtränkt von Tintenflecken, aber irgendwie bekomme ich die Knie unter mich und schaffe es, Stück für Stück aus dem Schlamm zu kriechen. Schließlich lasse ich mich fallen und rolle mich auf den Rücken – schweißgebadet, am ganzen Körper zitternd und kurz davor, zu kotzen.
Ich reiße den Mantel und das Lederwams auf, entblöße meine Brust. Mein Herz sieht aus, als würde es gleich explodieren: wie eine riesige Eiterblase, nur dass sie bräunlich verfärbt ist und in schwarzen Wurzeln ausläuft.
Das sieht verdammt ungut aus.
Ich kann jede Ader, die aus dem Herzen herausführt, pulsieren sehen, während sie immer mehr Gift in meinen Körper pumpt. Die Fäulnislinien beschränken sich nicht länger auf meine obere Brust und meine Arme, stattdessen bin ich komplett damit bedeckt. Sie ziehen sich über meinen Bauch und meine Hände und schwärzen sogar meine Fingernägel.
Es sind so viele, dass es unwirklich aussieht.
Argo stupst mich am Arm an und stößt leise, verzweifelte Laute aus. Er senkt sich zu mir herab und fordert mich auf, wieder aufzustehen. Also hebe ich die Hand und greife nach dem Zügel um seinen Hals.
Doch bevor ich auch nur versuchen kann, mich auf seinen Rücken zu ziehen, krampft sich mein Körper zusammen. Ich falle nach hinten. Der Atem wird mir aus der Lunge gerissen, als die Qualen zu einem Crescendo anschwellen.
Nun weiß ich es sicher.
Das war’s.
Ich sterbe.
Aber es ist nicht mein Leben, das vor meinen Augen vorüberzieht. Stattdessen sehe ich sie. Auren strömt in mich hinein, die Erinnerungen an sie überfluten mich vollständig. Es sind nicht genug, nicht annähernd genug. Doch ich kann sie sehen. Fühle sie. Höre sie.
All die kleinen Momente … Wenn ich sie etwa beobachte, ohne dass sie es überhaupt bemerkt. Ich sehe ihr Gesicht, während sie isst, sehe sie die Treppe hinaufgehen. Ich sehe sie lächeln, wenn Judd etwas sagt. Da ist der Klang ihrer Stimme, wenn sie ihre Wahrheiten mit mir teilt. Der Duft ihrer Haare, wenn sie sich auf meine Brust legt.
Und da sind auch die großen Momente, in denen sie viel zu wundervoll für diese Welt war. Wenn sie alle anderen neben sich klein und langweilig wirken ließ. Ihre Rache und ihre Stärke und ihre Güte und ihr Licht.
Es war mir von Anfang an vorherbestimmt, sie zu finden. Sie zu sehen.
Das kann es noch nicht gewesen sein.
Das kann nicht alles gewesen sein!
Ein rasselnder Atemzug entweicht mir, als würden Eisenzinken über meine Rippen klackern. «Auren …», stoße ich hervor. Als ob sie mich hören könnte! Als ob ich ihr all das sagen könnte, was ich zu sagen habe.
Feuchtigkeit sammelt sich in meinen Augenwinkeln und schwemmt das Elend meines Versagens aus mir heraus. All das, was ich sie niemals werde tun sehen. Die kleinen und großen Momente, die ich verpassen werde. Ich wollte alles! Ich wollte sie sehen und erleben und alles von ihr haben, für immer.
Und jetzt geht das nicht mehr. Verzweiflung durchtränkt mich, während die Fäulnis in den Boden sickert. Argo winselt. Mein Herz kämpft.
Ich starre hinauf ins Astgewirr der knorrigen Bäume, die in diesem Sumpf gefangen sind, während mein Herz ein Gift ausstößt, das mich schließlich mein Leben kosten wird.
Ich würge, als es meine Lunge erreicht und meinen Atem befällt.
Mein Herz ist jetzt so aufgedunsen, dass es wie ein Stein auf meiner Brust sitzt – eine bucklige Kreatur, die darauf lauert, sich loszureißen.
Und trotzdem versuche ich zu kämpfen.
Denn ich werde immer für sie kämpfen! Solange ich kann.
Mein ganzer Körper bebt, meine Glieder sind taub, der Schmerz ist allgegenwärtig. Ich zwinge mich trotzdem, mich zu bewegen. Weil ich nicht aufgeben werde! Ich gebe nicht auf.
Wenn dies der Moment ist, in dem ich gehen muss, dann werde ich kämpfend für sie untergehen.
Solange ich noch Atem in den Lungen und ein Herz in meiner Brust habe, werde ich für sie kämpfen, mit jeder Faser meines Seins.
Ich knurre – der entschlossene Laut bricht aus meiner Kehle hervor und peitscht durch die Luft, sodass die Vögel von den Bäumen aufflattern.
Mühsam drehe ich mich um. Ziehe die Knie unter mich. Hebe die Arme und versuche, Argos Zügel zu erreichen. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod.
Nicht aufgeben. Nicht aufgeben.
Kämpfen. Für sie.
Ich ziehe mich hoch. Mir dröhnt der Kopf, meine Sicht verschwimmt, die Beine drohen zu versagen. Aber ich krampfe die Fäuste um den Riemen und richte mich auf.
«Auren. Muss … zu … ihr», keuche ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Argo dreht den Kopf herum. Er blinzelt mich an und winselt schwach. Mit ungebrochener Beharrlichkeit in der Stimme stoße ich meinen Entschluss aus: «Ich werde sie finden! Ich werde sie verdammt noch mal finden …»
Der Schmerz in meiner Brust erreicht einen vergifteten Höhepunkt. Ich ziehe einen dünnen Atemzug ein – eine Warnung an meine Lunge: Es könnte mein letzter sein.
Denn noch einmal kann ich nicht einatmen. Ich versuche es, aber es geht nicht.
Panik verzehrt mich. Meine Augen werden groß und blinzeln wild, als schwarze Punkte meine Sicht verdunkeln. Der Schmerz wird mein Herz explodieren lassen. Und ich weiß, dass mein Kampf vergeblich ist. Das war’s nun wirklich …
Doch dann ändert sich alles.
Plötzlich trifft mich etwas. Nicht der Schmerz. Nicht der Tod. Sondern sie.
Etwas verwandelt sich. Der Tod hält inne.
Ich atme tief ein – und spüre sie in der Luft.
Es ist, als würde sie direkt neben mir stehen. Nein, da ist sogar noch mehr!
Es ist, als ob …
Ihr Duft durchflutet meine Sinne. Ich kann sie auf meiner Zunge schmecken. Ich spüre ihre Wärme, die mich verschlingt wie ein Feuer, das sich durch einen Wald brennt. Es verzehrt das Gift in meinen Gliedmaßen und jede Wurzel der Fäulnis in mir.
Ihre Flamme lodert in mir. Ihre Sonne. Sie dringt in jeden Winkel meines Körpers ein und verbrennt jedes Tröpfchen verseuchten Blutes. Sie umspült mein Herz, das kurz vor dem Bersten steht, und ich spüre, wie ihre Essenz mich erfasst. Wie ihr Licht nach mir greift.
Und dann, ganz plötzlich und tief in mir … kollidiert etwas.
Ich keuche auf.
Ich kann sie riechen.
Ihre Wärme.
Sie verzehrt mich.
Meine Knie geben nach.
Mein verrottendes Herz
schwillt plötzlich an.
Zerspringt.
Etwas verändert sich.
Meine beiden Seiten … Sie
verschmelzen.
Etwas anderes reißt sich frei.
Schuppen brechen aus dem
heraus, was ich für mein
sterbendes Herz hielt.
Ein Brüllen erklingt in mei-
nem Ohr. Seelen verbinden
sich.
Meine Aura pulsiert. Ver-
ändert sich.
Ich kann sie spüren.
Ich keuche auf.
Atme.
Die Luft von Annwyn.
Die Luft von Orea.
Ich falle rückwärts.
Das Biest und das Saatkorn
drängen hoch.
Verbinden sich.
Mein Rücken wird heiß.
Fäule windet sich.
Nicht im Tod, sondern in
Wiedergeburt.
Leben reißt sich frei.
Zwei Seelen strecken sich.
Ergreifen sich.
In meinen Ohren hallen
zwei Herzschläge.
Mit einem verbundenen
Lied.
Meine Aura lodert. Verän-
dert sich.
Ich kann ihn spüren.
Slade
Ich weiß, was passiert ist.
Ich weiß nicht genau, woher ich es weiß – doch ein tief verwurzeltes Verständnis macht sich in meinem zerfasernden Bewusstsein breit.
Ich sinke auf die Knie und atme schwer. Mein Körper zittert, als eine uralte Magie mich durchflutet. Es ist jene Magie, die entstand, als das Leben sich zum ersten Mal über Annwyn ergoss. Seltene Magie, ebenso begehrt wie verehrt.
Die Verschmelzung durch ein Päyur-Band.
Sobald diese Erkenntnis in meinen Geist vordringt, entflammt mein ganzer Körper. Schwarze Ranken lösen sich wie Rauch von meiner Haut. Nun sind sie durchwoben mit goldenen Strahlen, die inmitten der Mitternachtsschwärze leuchten und sich in kräuselnden Strömen um meinen Körper winden.
Ich starre auf meine Hände, meine Arme. Beobachte, wie das Schwarz und Gold sich von mir löst und abzieht wie der Dampf einer heißen Quelle.
Es sind unsere Auren. Meine und ihre, miteinander verschmolzen.
Die Päyur-Magie wallt auf. Ich spüre sie in mir, als hätte jemand das Fundament meines Seins aufgegraben und es mit Aurens Essenz gefüllt.
Unsere Seelen sind nun miteinander vereint. Unsere Leben sind für immer verbunden, unsere Magie verflochten.
Sie und ich, wir bilden einen Schicksalsbund, geschmiedet von den Göttinnen. Wir haben das größte Geschenk erhalten, das je einem Fae zuteilwurde.
Und das bedeutet: Sie ist mein.
Ein Hochgefühl erfüllt mich, stark wie die Magie. Ich knie einfach nur auf dem morastigen Boden, erfüllt von Ehrfurcht.
Ich fühle, wie ihre Magie durch mich hindurch pulsiert, wie ihre Wärme meine Glieder durchströmt. Meine Fäulnis versickert im Boden. Doch zwischen den schwarzen Wurzeln ziehen sich goldene Spuren wie schimmernde Bänder hindurch.
Diese Macht, die sich nun über das Land ausbreitet, durchdringt auch mich. Ich spüre, wie sie in meine Tiefen strömt und durch meine Brust rauscht.
Ich spüre ihr Feuer. Ihr Licht.
Mein Blick fällt auf mein zerrissenes Hemd, ich starre auf mein geschwollenes Herz. Die Hitze ist dort so heftig, dass ich mit den Zähnen knirsche. Der Schweiß rinnt mir in Strömen über das Gesicht. Es ist beinah unerträglich, und doch fühlt es sich an, als würde alles Schlechte weggebrannt werden, als würde eine Wunde mit Feuer gereinigt werden.
Die Haut über der Beule beginnt zu jucken, und ich verziehe schmerzerfüllt das Gesicht, so heftig fühlt es sich an. Ich muss mich kratzen! Der Drang ist unerbittlich. Mit zittriger Hand fahre ich über die Stelle. Sobald meine Fingerspitzen die bräunliche, kränkliche Haut streifen, zischt es. Dann fängt sie an, sich zu wellen. Wie brennendes Pergament schält sie sich ab.
Doch der Juckreiz ist noch nicht gestillt. Ganz und gar nicht!
Mit den Fingern bohre ich tiefer hinein. Ich entferne weitere tote Schichten. Ich grabe alles aus, grabe es weg – wie verschimmelte Brotrinde, die weggekratzt und auf den Boden geschleudert wird. Schneller, verzweifelter! Ich muss dieses Gefühl befriedigen, mache immer weiter. Dabei verfolge ich, wie sich die Haut Stück für Stück ablöst: jedes Mal ein helleres Braun als die vorherige Schicht, während meine Brust unaufhörlich brennt.
Mit einem Knurren ziehe ich die letzte Schicht ab. Der Juckreiz hört endlich auf. Die Stelle an meiner Brust bläht sich nicht mehr, schwer atmend starre ich darauf.
Die tote Haut ist komplett fort, und ich kann kein verrottendes, brandiges Herz mehr erkennen. Stattdessen ist unter all den abgeplatzten Schichten etwas anderes entstanden.
Genau hier, direkt über meinem Herzen, liegt eine Schuppe.
Eine goldene Schuppe.
Ich atme scharf ein. Dann greife ich nach unten, um sie zu befühlen. Sobald meine Fingerspitze sie berührt, explodiere ich.
Nicht mein Herz – sondern ich.
Stacheln und Schuppen brechen mit einem brutalen Ruck aus mir hervor, und ich werde nach hinten geschleudert. Da sind die Stacheln an meinen Unterarmen. An meinem Rückgrat. Über meinen Augenbrauen. Ich schreie auf, als sie sich so blitzschnell durch meine Haut bohren, dass Blut aus den Austrittsstellen rinnt.
Die zahllosen Fäulnis-Adern, die sich durch meinen Körper ziehen, beginnen sich unkontrolliert zu winden – wie Schlangen, die davonjagen. In diesem Moment schießen auch meine Fae-Fangzähne hervor. Meine Wangenknochen fühlen sich an wie wundgeschürft, als meine Schuppen erscheinen, und meine Ohren bilden ihre Spitzen aus.
Ich weiß noch, wie es sich anfühlte, als ich zum ersten Mal in zwei Teile gespalten wurde. Als ich gezwungen war, meinen Vater mit roher Kraft zu bekämpfen. Als die Welt aufgerissen wurde. Ich erinnere mich nur zu gut, wie es sich anfühlte, als dieselbe Kraft auch mich irgendwie in zwei Teile riss.
Aber das hier … das fühlt sich an, als ob diese beiden Teile von mir sich wieder berühren würden.
Es ist Euphorie. Und Qual. Wie Nadeln, die sich tief in meine Seele bohren, einen Faden durch mein ganzes Wesen ziehen und mich wieder zusammennähen. Zwei Hälften verbinden sich zu einem Ganzen.
Doch sobald ich spüre, wie der letzte Fadenstich mich zusammenfügt … drängt plötzlich etwas anderes nach draußen.
Argo brüllt auf und springt zurück, als unvermittelt Schatten aus meinem Körper schießen. Das ist nicht meine Aura – es ist etwas anderes.
Der Nebel ist schwarz wie die Nacht. Nur ein Ring aus Licht leuchtet an seinen Rändern, unverkennbar golden. Er quillt aus mir heraus wie geruchloser Rauch.
Ich versuche, mich zu bewegen, doch ich bin gefangen in dieser Woge aus Magie. Der Rauch wird dichter und dichter, strömt beständig aus mir heraus und nimmt dabei meinen ganzen Atem mit sich. Weitere Schuppen reißen mir die Brust auf, schälen mir die Haut ab wie Raubtierkrallen.
Schweiß rinnt mir über das Gesicht. Ich hebe den Kopf und beobachte, wie sich die Schatten zu sammeln beginnen. Wie sie ineinanderfließen.
Sie strömen heraus aus meinem Körper und sammeln sich auf dem Boden, sodass Argo immer weiter zurückweicht.
Ich setze mich mühsam auf und erkenne, wie …
Der Rauch Gestalt annimmt.
Bei dem Anblick schnappe ich entsetzt nach Luft. Die Gestalt ist so groß wie ich selbst, wenn ich stehe, und sie besteht aus dichtem, kräuselndem Dampf. Als ich ihre Form erkenne, bleibt mir der Mund offen stehen. Meine Augen weiten sich.
«Was … zur … Hölle?»
Ein Gesicht blickt mir aus der wogenden Dunkelheit entgegen, erfüllt von Macht und Bosheit. Ein Gesicht, wie man es in Annwyn seit Hunderten von Jahren nicht mehr gesehen hat.
Ein Drache.
Ein verdammter Drache.
Er trägt die gleichen schwarzen, gebogenen Stacheln, die auch meinen Körper zieren: vier an jedem vorderen Unterarm, sechs auf dem Rücken und eine Reihe von kurzen Zacken über jedem Auge – genau wie bei mir.
Der Drache ist geformt aus dem schattenhaften Rauch, der aus mir herausströmte, doch seine bösartigen, scharfen Zähne scheinen so real zu sein, dass er damit zubeißen kann. Die schillernden schwarzen Augen sind so aufmerksam, dass er nach Beute Ausschau halten kann.
Auf den silbernen Wangen der Kreatur ziehen sich Reihen goldener Schuppen dahin, die sich auch auf seiner Brust wiederfinden wie eine vergoldete Rüstung. Jede einzelne Schuppe ist so breit wie meine Hand und heller als das Leuchten um meine Schatten. Die Rauch-Kreatur schimmert in ihrem Licht in der Dunkelheit. Sie sieht aus wie eine Gestalt aus einem Albtraum. Etwas, das unmöglich wirklich existieren kann.
Und doch ist sie da.
Das Wesen wendet sich zu mir um. Seine opalgleich schillernden Augen glitzern, und sein Blick lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Meine Nackenhaare stellen sich auf, als es sein Maul öffnet und die kohlschwarzen Reißzähne aufblitzen lässt.
Doch so schnell, wie es aufgetaucht ist, verschwindet es auch wieder. Als hätte jemand eine Staubwolke weggepustet. Seine Gestalt – und seine Magie – verfliegen einfach so.
Und ich verblasse mit ihnen.
Das Letzte, was ich sehe, ist Argo. Hoch über mir fliegt er am Himmel und schreckt die Vögel aus den Bäumen auf. Ich sinke zu Boden, schließe die Augen und gebe mich der Dunkelheit hin.
Doch auch mitten in der Dunkelheit spüre ich, wie Aurens Feuer weiterbrennt.
Etwas frisst, gräbt und windet sich durch meinen Kopf.
Ich will es loswerden. Ich will, dass alles rauskommt aus mir!
Schweiß überzieht meine Haut, und ich spüre, wie mein Körper in sich zusammensackt. Spüre Hände, die mich auffangen. In meinen Ohren dröhnt es … aber das Geräusch fühlt sich weit weg an. Ich fühle mich weit weg an.
Was passiert hier?
Ich kann es nicht sagen. Es gibt keinen klaren Gedanken, keine klare Erinnerung, an die ich mich klammern könnte. Ich werde vom Wind dahingetrieben.
«Auren!»
Benommen blinzle ich, schaue mich verwirrt und verloren um. Ich kann meinen Körper nicht aufrecht halten. Ein Mann schreit etwas und sieht mich direkt an. Hellbraune Haut, schwarzes Haar, braune Augen, eine Wunde am Arm. Er wirkt verzweifelt. Entsetzt.
Was ist nur los?
Panik überflutet mich. Ich habe keine Ahnung, woher sie kommt. In meinem Kopf hämmert es. Scharfe Schläge, die mir in den Augen brennen.
«Lass sie in Ruhe!», schreit der Mann. Dann stürmt er nach vorne und stößt einen kräftigen Atemzug aus, der zu schimmern scheint …
Der Griff eines Schwertes wird gegen seine Schläfe gerammt. Augenblicklich verliert er das Bewusstsein.
Eine andere Person schreit auf: «Wick!»
Mein Blick sucht die Quelle des Rufs und entdeckt eine Frau, die auf den zusammengesackten Mann zustürmt. Mit ihren Fingern tastet sie seinen Arm ab. Etwas flackert entlang seiner Wunde.
Seltsam. Ich dachte, ich hätte da einen goldenen Schimmer gesehen … Aber nein, seine Wunde ist einfach nur rot und blutig.
Das Gefühl, dass sich etwas durch meinen Kopf wühlt, lässt meinen ganzen Körper erschaudern. Die Frau wird von dem Mann weggeschleift. Jemand, der eine Rüstung trägt, drückt sie auf die Knie nieder.
Ein Soldat?
Falsch … Das fühlt sich alles so falsch an …
Der Soldat greift in ihre Haare mit den orangefarbenen Spitzen und reißt ihren Kopf nach hinten, entblößt ihre Kehle. Ich versuche aufzustehen. Aber die Hände, die mich festhalten, zerren an meinem Arm. Lähmender Schmerz lässt mich aufschreien.
Warum tut mir das bloß so furchtbar weh?
«Vulmin-Dreck!», spuckt jemand aus.
Ich blinzle gegen die Tränen an, die mir in die Augen treten. Da beugt sich ein Mann mit einer Krone über die kniende Frau.
Mein Magen verdreht sich so sehr, dass er sich fast verknotet.
«Du bist eine Verräterin an deiner Spezies!», verkündet er giftig, und sie beginnt zu zittern. «Du bist es nicht wert, Fae genannt zu werden.»
Er nickt, und jemand bewegt sich, versperrt mir für eine Sekunde die Sicht. Dann geht alles ganz schnell. Ich sehe es erst, als es schon vorbei ist.
Als sie zu schreien beginnt.
Ein Soldat hält einen Dolch in der Hand, Blut tropft von seiner Klinge. Die Frau schluchzt. Ihre Arme werden immer noch festgehalten, aber ihr Ohr … die obere Hälfte fehlt jetzt. Gehalten von der Kette eines Schmuckstücks baumelt der Fleischfetzen von ihrem Ohrläppchen, während das Blut herausquillt.
«Emonie!» Ein Mann mit blau-weißem Haar ruft ihren Namen. Er versucht zu ihr zu gelangen und rempelt dabei einen anderen gepanzerten Soldaten an.
Gerade noch wollte er zu ihr durchkommen. Dann ragt auch schon ein Schwert aus seiner Brust. Er blickt auf die Klinge herab, wirkt überrascht, sie dort zu sehen. Seine hellen, blaugrünen Augen schauen zu mir. Dann bricht er zusammen.
Und steht nicht wieder auf.
Blut malt Blumen auf den Boden. Rote Rinnsale versickern.
Noch mehr Schreie.
Ich befinde mich mitten in einem Traum.
Ein Albtraum?
Das Grauen scheint ansteckend zu sein. Ich schaue an dem reglosen Mann vorbei. Hinter ihn. Dort liegen noch mehr Leichen. Reglos, durchtränkt von vergossenem Blut.
Ein Wort kommt auf und schwebt auf mich zu.
Tot.
Das ist es, was sie sind. Sie alle sind tot.
Mein verdrehter Magen quillt auf. Die Knoten füllen sich mit Galle.
Dann werden die drei weggeschleppt: der bewusstlose Mann, die schluchzende Frau und der Tote, dessen blaue Augen nun geschlossen sind. Aus seinem Körper rinnt immer noch rotes Blut.
Wohin werden sie gebracht?
Ich kämpfe, allen Schmerzen zum Trotz. Vielleicht kann ich irgendwie aufwachen.
Ich muss aufwachen!
Aber Hände pressen sich auf meine Ohren, und scharfe Nägel graben sich in meine Haut. Doch da gräbt auch etwas noch tiefer – tiefer als meine Haut. Tiefer als mein Schädel.
Löcher.
So viele Löcher. Entstanden durch das unerbittliche Graben. Sie machen das Pochen in meinen Schläfen immer stärker.
Was ist nur los mit mir?
Ich versuche, den Kopf zu schütteln, wieder klar zu denken. Doch ich nehme nichts als löchrigen Dunst wahr. Etwas wühlt und schabt sich durch meine Gehörgänge, lässt mich erschaudern.
Ich will, dass es aufhört.
Mein Körper zuckt so heftig, dass ich die Hände von meinen Ohren abschütteln kann, mich von dem losreißen kann, der meine Arme festhält.
Ein Knurren zerfetzt die Luft. Erst einen Moment später bemerke ich, dass es von mir stammt. Dann gleitet etwas Nasses aus meinen Händen, und ich sehe, wie sich flüssiges Gold auf den Boden ergießt. Dünne schwarze Wurzeln schlängeln sich darin. Mein Blick haftet wie gebannt daran.
Entweder bewegt der andere sich sehr schnell oder mein Verstand arbeitet sehr langsam. Jedenfalls steht plötzlich der gekrönte Mann vor mir! Er drückt mir etwas Scharfes an die Kehle.
Erinnerungen blitzen auf: ein anderer Mann mit Krone … eine andere Klinge … ein Schmerz an meiner Kehle, während ich festgehalten werde.
Mir wird schwindelig.
Jemand steht hinter mir. Er berührt mich im Nacken. Ich höre, wie er ein Geräusch ausstößt. Klingt es überrascht? Ich will den Kopf wenden, aber seine Hand zieht sich so schnell zurück, wie sie gekommen ist. Dann nimmt der gekrönte Mann vor mir wieder alle meine Sinne ein.
«Ich sollte dich umbringen, Turley-Abschaum!», faucht er mich an. «Es endlich hinter mich bringen.» Seine Augen funkeln boshaft.
Mehr Löcher durchfurchen mich.
Sollte ich Angst empfinden, weil sich seine scharfe Klinge gegen mein verletzliches Fleisch presst? Sollten alle Warnglocken läuten, während ein paar heiße Tropfen hervorquellen?
Ich weiß nicht, was ich denken soll. Weiß nicht, was ich fühlen soll. In meinem Geist sollte es irgendetwas Festes geben. Etwas, an das ich mich klammern kann. Aber da ist nur … ein Sieb, aus dem alles herausrieselt. Vergangenheit und Gegenwart sickern beständig zugleich hindurch.
Geschieht das alles hier? Damals? Jetzt? Niemals?
Warum kann ich nicht einfach aufwachen?
Ein anderer Mann tritt von hinten an mich heran und stellt sich an meine Seite. Eine Klappe bedeckt sein rechtes Auge. Um seinen Hals ist ein rotes Tuch geschlungen, doch es ist meine Kehle, die blutet.
«Seht sie Euch an, Eure Majestät», sagt er sanft. «Eine goldene Turley. Jeder, der sie sieht, wird erkennen, was sie ist: das Symbol, von dem die Rebellen immer geschwafelt haben.»
«Also werde ich ihr hier und jetzt die Kehle aufschlitzen!»
Der einäugige Mann schüttelt den Kopf. Trotzdem bohrt sich noch immer die scharfe Spitze wie der Stachel einer Wespe in meine Kehle. Etwas tröpfelt weiter heraus. Es fällt auf meinen Kragen und sorgt dafür, dass ich nicht schlucken kann.
«König Carrick – bedenkt die Macht, die sie Euch verleihen könnte. Mit ihrer Hilfe könntet ihr die Rebellen ruinieren. Schenkt ihnen keine Märtyrerin. Macht lieber eine Farce aus ihr.»
Die scharfe Schneide gräbt sich nicht länger in meine Haut.
Verharrt auf der Stelle.
Unter schweren Lidern starre ich zu dem Mann mit der Klinge hoch. Er mustert mich aus Augen hart wie Stein. So hart wie sein Äußeres, wie sein ganzes Gebaren. Die Krone auf seinem Kopf gleicht einem Felsbrocken – bereit, jederzeit herunterzupoltern und mich mit ihrem Gewicht zu zermalmen.
«Eine Farce …», wiederholt er.
«Ja, Majestät. Stellt sie zur Schau. Führt diese Turley mithilfe der Magie Eurer Meisterin der Erinnerungen vor. Macht dieses sogenannte Symbol der Rebellion zu einer Lachnummer. Bringt sie dazu, vor Euch zu knien, und zeigt allen, was für eine Verräterin sie ist. Damit bringt Ihr diesen Aufstand zu Fall. Ohne sie haben die Vulmin nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Ihr werdet die Rebellion an der Wurzel kappen. Vergeudet sie nicht. Benutzt sie, und Ihr werdet noch viel mächtiger werden.»
Benutzt sie.
Die Worte hallen in den tief eingegrabenen Abgründen in meinem Kopf nach. Es ist nicht nur seine Stimme, sondern viele andere. So viele – und sie alle sagen genau dasselbe:
Benutz sie … benutz sie … benutz sie … benutz sie … benutz sie … benutz sie …
Die scharfe Klinge zieht sich von meiner Kehle zurück. Stattdessen liegt jetzt eine Hand an meinem Ohr. Ein kaltes, glitschiges Etwas gräbt sich in meinen Gehörgang. Ich wanke, mein Kopf sackt nach unten. Ich kann ihn nicht länger aufrecht halten.
Der gekrönte Mann – König Carrick – starrt auf mich herab. Langsam zeichnet sich ein schiefes Lächeln auf seinem graubraunen Gesicht ab. Seine Haut sieht so hart aus, als ob sich jederzeit spröde Risse bilden könnten. Unter seinen Füßen verfestigt sich das Gold zu starren Pfützen. Ich mache das Spiegelbild des Einäugigen in ihrem Glanz aus.
«Lebendig ist sie viel wertvoller für Euch. Schaut Euch nur diese Magie an.»
Sie blicken beide auf das Gold, das noch immer von meinen Händen tropft und sich auf dem Boden sammelt.
Mein eigenes Spiegelbild wirkt verzerrt. Ich kann mich nicht richtig erkennen.
«Sie ist formbar, Eure Majestät. Macht aus ihr, was immer Ihr wollt.»
Etwas Nasses löst sich aus meinem Augenwinkel. Es spritzt auf mein Hemd. Ich weiß nicht, warum.
Der Schmerz in meinem Körper … Die Löcher in meinem Kopf … Sie sind stärker als das Adrenalin, stärker als die Verwirrung.
Und ich?
Ich lasse mich fallen. Tauche ein. Denn so fühlt es sich an, wenn man fällt, hinein in die zerklüftete, überwältigende Dunkelheit.
Und doch … Irgendwo in den Schatten gibt es schwarze Adern, die nicht klein beigeben. Sie breiten sich aus.
Ich blinzle. Starre. Halte die Hände in meinem Schoß verschränkt. Nackte Füße auf kaltem Steinboden. Die Wand fühlt sich rau an meinem Arm an, wo ich mich dagegenlehne, und ich blicke auf ein einzelnes Fenster aus grünem Buntglas. Es ist das einzig Schöne hier, aber es ist mit Gittern versperrt.
Eine Frauenstimme spricht. «Hast du mich gehört?»
Ich hebe den Kopf.
Schwerfällig.
Hast du mich gehört?
Die Frage hallt wider – nicht im Raum, aber in meinen Ohren.
«Ja.»
Die Frau, die mit mir im Raum ist, Una, neigt den Kopf. Ihr Haar wächst in Blöcken. Es ist in perfekt symmetrische Quadrate unterteilt, die ihre Kopfhaut wie ein Schachbrett aussehen lassen. Ihre hellbraune Haut ist gesprenkelt mit blauen Sommersprossen. Zwei flache, braune Linien bilden ihre Augenbrauen, sie haben dieselbe Farbe wie ihr gemustertes Haar.
Quadratische Haare, kreisrunde Sommersprossen, exakte Geraden als Augenbrauen. Die geometrischen Formen ihres Körpers sind zu viel mich.
Aber es sind ihre Augen, die am verstörendsten wirken. Blaue Linien ziehen sich durch ihre Iris – genau wie die Gitterstäbe an meinem Fenster.
Ich kann sie nicht leiden.
Wenn sie kommt, behauptet sie stets, dass sie mich heilen würde. Aber ich glaube, sie lügt.
«Was habe ich gesagt?»
Mit großer Anstrengung wende ich ihr meine Aufmerksamkeit zu. Sie sitzt auf einem Hocker direkt vor meiner Pritsche und beugt sich dicht zu mir heran.
Immer so dicht …
«Du hast gesagt, dass ich König Carrick gegenüber loyal bin.»
Sie nickt. «Das ist richtig.»
Ein Echo von Schmerz pocht durch meinen Arm, über meine Rippen. Wie eine Erinnerung an Prellungen und gebrochene Knochen. Ein anhaltendes Trauma. Jedes einzelne Mal, wenn ich atme oder mich bewege, erwarte ich, dass es wehtut. Doch das passiert nicht.
«Du warst eine Verräterin. Aber du hast dich geändert. Du verdankst dem König dein Leben. Du bist ihm gegenüber loyal, nicht wahr? Bist du bereit, das zu beweisen?»
Fast zucke ich zusammen, als ich den harten Unterton in ihrer Stimme bemerke.
«Ja.»
Meine eigene Stimme klingt gepresst. Erstickt. Als müsste ich jedes Wort gewaltsam in diese ohnehin schon kleine Kerkerzelle stopfen.
«Erinnerst du dich, dass du eine Verräterin warst? Erinnerst du dich daran, dass du dich selbst gestellt hast, um deinen König um Gnade anzuflehen?»
Anflehen?
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen, während ich versuche, mir einen Weg durch meine Gedanken zu bahnen. Aber da sind einfach zu viele Löcher. Immer wieder strauchle ich. Stolpere immer wieder über sie.
Mein Blick fällt auf die Fessel um meinen Knöchel, die man über den Stoff meiner Hosen gelegt hat. Meine Füße sind nackt und schmutzig, doch das Metall leuchtet in einem glatten, tristen Grau. Fast wirkt es so, als hätte man farblosen Schmutz unter Glas gepresst. Das Ding lässt meine Haut jucken und zieht mich mit seinem lästigen Gewicht nach unten.
Habe ich um Gnade gefleht?
Una schürzt ungeduldig die Lippen bei der Frage, die ich laut vor mich hin gemurmelt habe. «Natürlich hast du das. Du bist eine Verräterin, und wenn du leben willst, musst du dich bessern.»
«Ja.» Ich muss mich bessern.
«Vergiss nicht, wie barmherzig König Carrick ist. Wie sehr du ihm gefallen willst», befiehlt sie.
Wie sehr ich ihm gefallen will …
Da ist wieder ein Echo, wie bei einer Glocke, nachdem sie angeschlagen wurde. Ihr Klang ist gerade noch zu hören. Mein Blick wandert zum Fenster. Seine Farbe zieht mich an.
Sattes Grün. Es besänftigt mich.
Una gibt ein Geräusch von sich. «Wir müssen uns wohl mehr anstrengen, nicht wahr?»
Mein Kopf ist so schwer vom Nicken. Meine Zunge hat das Gewicht eines Ziegelsteins, aber trotzdem bringt sie ein Wort hervor: «Ja.»
«Ja», wiederholt sie. «Fürchte dich nicht. Ich bin sehr gut in dem, was ich tue. Ich sorge dafür, dass du es schaffst.»
Sie rückt ihren Hocker noch näher heran und hebt die Hände. Ich verkrampfe mich. «Nein, bitte …»
Ohne meinen Protest zu beachten, legt sie ihre Hände auf meine Ohren und lässt mich erschaudern. In mir erschaudert ebenfalls etwas. Mein Rücken versteift sich, die Muskeln verkrampfen sich. Ich bin fast wie gelähmt.
«Sprich mir nach.»
Meine Augen verfangen sich in dem Netz aus Streifen in ihren.
«Ich war eine Verräterin.»
Meine Lippenbewegungen passen sich den ihren an.
Etwas gräbt immer tiefer in mir, und in diesen Löchern sehe ich mich selbst. Ich sehe mich, wie ich dem König zu Füßen falle. Wie ich ihn um Gnade anflehe und ihm sage, dass ich im Unrecht war, während Blitze über den lavendelfarbenen Himmel zucken.
Nein … keine Blitze. Das war ein Riss. In einer Decke. In einer Wand. Ein Haus, das zusammenbricht …
Donner war zu hören, doch er dröhnte wie ein Schrei.
Ich schließe die Augen und spüre, wie etwas in den dunklen, leeren Tiefen meines Geistes zappelt und versucht, sich durch die gähnenden Öffnungen nach oben zu schieben.
«Konzentrier dich», tadelt Una.
Ihre Stimme zieht mich zu ihr zurück, während gleichzeitig etwas anderes aus mir heraussickert.
«Sprich mir nach», befiehlt sie erneut mit dröhnender Stimme.
Mein Geist flackert. Das Zappeln hört auf, und ich sehe, wie ich mich vor dem König verbeuge. Die Erinnerung zwängt sich in mich hinein, drückt alles nach unten und versucht, sich in jede Ritze zu schieben.
«Ich war eine Verräterin.»
Meine Stimme verschmilzt mit ihrer. Meine Augen öffnen sich.
«Ich habe mich dem König selbst gestellt.»
Ihre Fingernägel graben sich tiefer in die Seiten meines Kopfes.
«König Carrick ist gnädig. Er wird mich am Leben lassen, wenn ich Buße tue.»
Meine Lippen formen jedes Wort. Monoton. Die Wörter füllen den ganzen Raum aus, verschlingen ihn, bis er fast platzt. Ich stopfe sie mit kräftigen Stößen in meinen zerklüfteten Verstand.
«Ich bin loyal.»
Loyal.
«Ich bin dankbar für seine Großmut.»
Dankbar.
Der Blick ihrer Streifenaugen bohrt sich in mich. Finger graben sich in meine Ohren. Raupen fressen sich durch meine Vergesslichkeit. Sie füllen die Löcher mit Dreck auf, der dort nicht hineinzupassen scheint.
«Ich habe Glück, hier zu sein.»
Glück.
Das Wort verfängt sich an der zerbröselnden Decke. Es bläht sich auf und bleibt kleben.
Glück?
«Ja, sehr viel Glück. Die meisten Verräter werden getötet. Du hast zugestimmt, dich für den König nützlich zu machen und alles zu tun, was er von dir verlangt.»
Wieder nicke ich, obwohl ich die Düsternis nicht durchdringen kann.
Unas Hände lösen sich von meinen Ohren. Das Graben hört auf, das Schaudern lässt nach. Meine Muskeln entspannen sich langsam.
«Erinnerst du dich?»
Ich öffne den Mund – und schließe ihn wieder. Tief kerbt sich mein Stirnrunzeln ein.
«Erinnerst du dich?», drängt sie.
Abermals starre ich durch das grüne Fenster. Versinke in der Farbe. Sie erinnert mich an Sommergras. An einen schattigen Wald. An …
Überwältigende Trauer bricht plötzlich über mich herein. Ihren mächtigen Wogen kann ich nichts entgegensetzen. Trauer – und ein Sog von Panik. Mein verzweifelter Blick huscht zurück zu Una. Ich schnelle nach vorne und ergreife ihren Arm. «Da ist etwas, das ich tun sollte.» Meine Finger graben sich in sie. Quetschen sie. Voller Verzweiflung. «Da war etwas!»
Doch sie starrt mich nur an. Ich will von der Pritsche aufspringen, aber Una hält mich zurück. «Ja. Du musst dich beweisen. Du musst deinem König dienen.»
«Aber …»