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Ein goldener Käfig ist immer noch ein Käfig … Dunkel, herzzerreißend, atemberaubend spannend – endlich gibt es die Fantasy-Erfolgsserie, inspiriert vom König-Midas-Mythos, auch auf Deutsch. Gold. Goldene Böden, goldene Wände, goldene Möbel, goldene Kleider. Im Schloss von Hohenläuten ist alles aus Gold. Selbst ich. König Midas hat mich aus der Gosse gerettet und in dieses gefrorene Land gebracht. Er nennt mich seinen Schatz, seine Favoritin. Ich bin das lebende Symbol seiner Macht, alles in Gold zu verwandeln, was er berührt. Er hat mir Sicherheit versprochen, und ich gab ihm dafür mein Herz. Und obwohl ich meine Freiheit opfern musste, bin ich sicher – bis Krieg und Verrat unser goldenes Schloss erreichen. Bis mein Vertrauen in Midas erschüttert wird. Bis ich die Monster kennenlerne, vor denen mich mein Käfig schützen sollte … Erscheint zeitgleich mit Band 2.
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Seitenzahl: 432
Raven Kennedy
Roman
Gold. Goldene Böden, goldene Wände, goldene Möbel, goldene Kleider. Im Schloss von Hohenläuten ist alles aus Gold.
Selbst ich.
Ich bin das lebende Symbol der Macht von König Midas. Die Macht, alles in Gold zu verwandeln, was er berührt. Für Außenstehende bin ich nur seine goldene Hure, aber für Midas bin ich mehr. Ich war schon bei ihm, bevor er König wurde. Ich war bei ihm, als wir nur einander hatten. Er hat mir damals versprochen, dass er für meine Sicherheit sorgen würde. Und das hat er getan. Obwohl ich meine Freiheit opfern musste, bin ich sicher – bis Krieg und Verrat unser goldenes Schloss erreichen. Bis mein Vertrauen in Midas erschüttert wird. Bis ich die Monster kennenlerne, vor denen er mich schützen sollte …
Dunkel, herzzerreißend und atemberaubend spannend.
Der Auftakt der Fantasy-Erfolgsserie, inspiriert vom König-Midas-Mythos.
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Wenn du dich darüber informieren möchtest, findest du auf unserer Homepage unter www.endlichkyss.de/thedarkestgold1 eine Content-Note.
Raven Kennedy wurde in Kalifornien geboren. Ihre Liebe zum Lesen hat sie schließlich dazu gebracht, eigene Welten zu kreieren. Sie hat bereits mehrere Buchserien veröffentlicht, der Durchbruch gelang ihr mit der «The Darkest Gold»-Reihe, einer dunklen Neuinterpretation des König-Midas-Mythos. Die Romane haben sich mehr als eine Million Mal verkauft, die Übersetzungsrechte wurden in etliche Länder lizenziert, eine Verfilmung befindet sich in Vorbereitung. Weitere Informationen über die Autorin finden sich auf ihrer Homepage: www.ravenkennedybooks.com
Vanessa Lamatsch wurde 1976 in eine Familie von Tierärzten geboren. Doch sosehr sie Tiere auch mochte: Ihre größte Liebe galt immer den Büchern. Schon mit 14 Jahren begann sie, auf Englisch zu lesen, weil sie nicht auf die Übersetzungen warten wollte. Die logische Folge: Nach ihrem Abitur im Jahr 1996, einem Studium der Englischen Literaturwissenschaft und einem Aufbaustudiengang Buchwissenschaft sorgt sie seit 2008 dafür, dass Leser nicht mehr so lange auf neue Übersetzungen warten müssen.
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel «Gild».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Gild» Copyright © 2020 by Raven Kennedy
Published by Arrangement with RAVEN KENNEDY LLC
Redaktion Hendrik Lambertus
Kartenillustration: © Markus Weber | Guter Punkt München
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München,
nach dem Original von Imagine Ink Designs
Coverabbildung Shutterstock
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01607-1
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
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Für alle, die sich vergeblich bemühen, die Sterne zu sehen. Schaut weiter nach oben.
Ich setze den goldenen Pokal an die Lippen, den Blick auf das Spektakel aus nacktem Fleisch außerhalb der Gitterstäbe gerichtet.
Die Beleuchtung ist bewusst dämmrig gehalten. Nur das flackernde Licht von Flammen huscht über die sinnlichen Formen, die sich in warmem Einklang bewegen. Sieben Körper, die auf einen einzigen Höhepunkt zustreben, und ich hier drüben, von allen getrennt, wie eine Zuschauerin bei einer Veranstaltung.
Der König hat mich vor ein paar Stunden hierhergerufen, als er begann, sich mit seinem wechselnden Harem aus Konkubinen zu beschäftigen, die auch seine königlichen Sättel genannt werden. Er hat beschlossen, sich seinem Vergnügen heute Abend im Atrium hinzugeben, wahrscheinlich wegen der Akustik hier. Und ich muss zugeben, das Stöhnen hallt wirklich eindrucksvoll von den Wänden wider.
«Ja, mein König! Ja! Ja!»
Ich spüre ein Zucken in meinen Augenwinkeln. Eilig trinke ich mehr Wein, zwinge mich, den Blick abzuwenden und stattdessen zum Nachthimmel aufzusehen. Das Atrium ist riesig. Alle Wände und auch die gewölbte Decke bestehen aus Glas, der Raum bietet die beste Aussicht im ganzen Palast. Jedenfalls … wenn es mal so lange nicht schneit, dass man etwas erkennen kann.
Gerade tobt wie üblich ein Schneesturm. Weiße Flocken fallen vom Himmel, sie werden die Fenster wohl bis zum Morgen verdeckt haben. Doch im Moment kann ich noch einen einzelnen entfernten Stern hoch über mir erkennen, der hinter den niederdrückenden Wolken und dem drohenden Weiß hervorspäht. Dieses gefrorene Weißgrau wacht stets über den Himmel wie ein Geizkragen, der mir die Aussicht stiehlt, um sie für sich zu behalten. Aber ich kann einen kurzen Blick darauf erhaschen und bin dankbar dafür.
Ich frage mich, ob vergangene Monarchen aus vergessenen Zeiten einst das Atrium erbaut haben, um die Sterne zu kartografieren und die Geschichten zu entschlüsseln, die die Götter für uns am Himmel hinterlassen haben. Doch die Natur hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, denn die hoch aufgetürmten Wolken verspotten ihre Mühen und verbergen die Wahrheiten vor uns.
Aber vielleicht haben die lange verstorbenen Herrscher diesen Raum auch einfach nur gebaut, um zu sehen, wie das Glas sich mit Frost überzieht und Schneestürme darüber hinwegtoben, während sie hier stehen können, unberührt von der allumfassenden weißen Kälte. Oreanische Herrscher sind arrogant genug, um so etwas zu tun. Ein Paradebeispiel dafür … Mein Blick huscht zum König, der gerade tief in seinen Sattel eindringt, während die anderen sich zu seinem Vergnügen plakativ dem Liebesspiel hingeben.
Vielleicht irre ich mich. Vielleicht wurde dieser Raum gar nicht gebaut, weil wir aufsehen sollen, sondern damit die Götter auf uns herabschauen können. Vielleicht haben diese alten Herrscher auch ihre Sättel nach hier oben gebracht, als visuelle Opfergabe, um die Götter genussvoll an ihren Ausschweifungen teilhaben zu lassen. Den Geschichten zufolge, die ich gelesen habe, sind die Götter ein notgeiler Haufen, ich würde ihnen das durchaus zutrauen. Aber ich verurteile sie nicht dafür. Denn die königlichen Sättel machen ihre Sache wirklich gut.
Obwohl ich gerade gezwungen bin, ihren unzüchtigen Handlungen zuzusehen und sie zu belauschen, und obwohl die Kuppel gewöhnlich von Schnee überzogen ist, komme ich trotzdem gerne hierher. Näher gelange ich nicht an die Außenwelt. Niemals spüre ich Wind im Gesicht oder kann meine Lunge mit frischer Luft füllen.
Aber gibt es nicht auch etwas Gutes daran, einen Silberstreif? Zumindest muss ich mir keine Sorgen machen, dass meine Haut vom Wind ausgetrocknet werden könnte oder dass ich im Schnee friere. Schließlich sieht der Schneesturm kalt aus.
Ich versuche, das Leben so positiv wie möglich zu betrachten, selbst wenn ich in der Menschenversion eines Vogelkäfigs sitze. Ein hübsches Gefängnis für eine hübsche Reliquie.
«Oh Göttlichkeit!», ruft einer der Sättel – ich glaube, Nissa – verzückt und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Sie hat eine rauchige Stimme und blondes Haar, ein Gesicht von unverkrampfter, natürlicher Schönheit.
Ich kann es nicht lassen, den Blick wieder auf die Szene vor mir zu richten. Sechs Sättel geben ihr Bestes, ihren Herrscher zu beeindrucken. Sechs ist die Glückszahl des Königs – weil er der Herrscher des Sechsten Königreichs von Orea ist. Tatsächlich ist er ein wenig besessen von dieser Zahl. Ständig umgibt er sich damit. Sechs Knöpfe an jedem Hemd, das seine Schneider für ihn anfertigen. Sechs Zacken in seiner goldenen Krone. Die sechs Sättel, die er heute Abend fickt.
Im Moment kümmern sich fünf Frauen und ein Mann um seine fleischlichen Bedürfnisse. Die Diener haben ein Bett nach hier oben getragen, damit er es gemütlich hat, während er sich seiner Leidenschaft hingibt. Es ist wohl ein ziemlicher Aufwand für sie, das riesige Bett auseinanderzunehmen und drei Stockwerke über die Treppen hinaufzuschleppen, um es dann wieder zusammenzusetzen. Nur um es später wieder auseinanderzubauen. Aber was weiß ich schon? Ich bin nur des Königs Lieblingssattel.
Ich rümpfe die Nase über den Begriff. Ich bevorzuge es, wenn die Leute mich die Favoritin des Königs nennen. Das klingt viel netter, auch wenn es dasselbe bedeutet.
Ich gehöre ihm.
Ich stemme die Füße gegen die Gitterstäbe meines Käfigs und lehne mich in meine Kissen zurück. Ich beobachte, wie sich der Hintern des Königs anspannt, während er in das Mädchen unter sich stößt. Zwei weitere Frauen knien auf dem Bett und bieten ihm ihre nackten Brüste dar – die er dabei mit beiden Händen knetet.
Der König mag Busen.
Ich senke den Blick auf meine eigene Brust, die momentan von goldener Seide umhüllt ist. Das Kleid sieht eher aus wie eine Toga, eine Stoffbahn, die an den Schultern von Klammern zusammengehalten wird und von dort nach unten fällt, mit einem Gürtel aus goldenen Ringen um die Taille. Gold. Alles, was ich trage oder berühre oder sehe, besteht aus Gold.
Jede einzelne Pflanze im Atrium, die früher einmal lebendig und grün war, schimmert jetzt leblos und metallisch. Der gesamte Raum ist golden, einmal abgesehen von den Glasscheiben. Genauso wie das Bettzeug, auf dem der König gerade vögelt. Goldsplitter glänzen auf der Holzmaserung des Bettes. Der Boden besteht aus goldenem Marmor, mit dunkleren Adern darin, die aussehen wie gefrorene Flüsse. Goldene Türknäufe; glänzende Ranken, die an vergoldeten Wänden nach oben kriechen; metallische Säulen, deren Bögen all diesen Reichtum tragen.
Gold ist auf Hohenläuten, der Burg von König Midas, eine große Sache.
Goldene Fußböden. Goldene Fensterrahmen, Teppiche, Gemälde, Wandbehänge, Kissen, Kleidung, Geschirr, Rüstungen – zur Hölle, sogar ein kleiner Singvogel ist zu leblosem Glanz erstarrt. So weit das Auge reicht, besteht alles aus Gold, Gold, Gold, inklusive der gesamten Infrastruktur des Palastes. Jeder Stein, jede Stufe, jede Säule.
Von außen muss die Burg grell gleißen, wenn die Sonne sie bescheint. Zum Glück für alle, die außerhalb des Palastes leben, ist die Sonne wahrscheinlich noch nie herausgekommen, um die Burg anzustrahlen. Wenn es nicht schneit, dann graupelt es, und wenn das mal nicht der Fall ist, zieht für gewöhnlich gerade ein Schneesturm auf.
Die Glocke hier läutet immer warnend, wenn ein Blizzard kommt – damit die Leute drinnen bleiben. Und diese riesige Glocke, die am höchsten Punkt der Burg im Turm hängt? Jepp, sie ist auch aus massivem Gold. Und verdammt, sie ist laut.
Ich hasse diese Glocke. Ihre Schläge sind durchdringender als ein Hagelsturm auf der Glasdecke über mir, aber für eine Burg mit dem Namen Hohenläuten wäre es vermutlich Blasphemie, diese nervige Glocke nicht zu haben.
Ich habe gehört, dass die Leute das Geläut noch viele Meilen entfernt hören können. Burg Hohenläuten – mit all dem glänzenden Gold und der lauten Glocke – ist also ziemlich protzig, wie sie sich auf diesem schneebedeckten Felsengrat erhebt. König Midas hält nichts von vornehmer Zurückhaltung. Er stellt seine berüchtigte magische Macht zur Schau. Und die Leute verneigen sich entweder in Ehrfurcht oder verzehren sich vor Neid.
Ich gehe ans Gitter meines Käfigs, um mir mehr Wein einzugießen, und muss feststellen, dass der Krug leer ist. Stirnrunzelnd spähe ich hinein, ohne auf die spitzen Schreie und das männliche Grunzen hinter mir zu achten. Inzwischen reitet der König einen anderen Sattel – Polly –, und ihr anzügliches Stöhnen fühlt sich für mich an, als würde man mir Eis auf einen schmerzenden Zahn pressen. Eifersucht schnürt mir die Brust zusammen.
Ich wünschte wirklich, ich hätte mehr Wein.
Stattdessen schnappe ich mir ein paar Trauben von meiner Obst-und-Käse-Platte und stopfe sie mir in den Mund. Vielleicht fermentieren sie in meinem Magen, und ich werde so ein wenig betrunken? Ein Mädchen darf schließlich hoffen.
Ich probiere es mit einem weiteren Mundvoll, dann gehe ich zurück in die Ecke und lasse mich in die weichen, goldenen Kissen auf dem Boden sinken. Mit überschlagenen Beinen beobachte ich, wie die Körper sich winden und ihre liebreizende Vorstellung für den König fortsetzen.
Drei der Sättel sind neu, also kenne ich ihre Namen noch nicht. Der neue Mann steht auf der Matratze, vollkommen nackt. Große Göttlichkeit! Er ist wirklich attraktiv. Sein Körper ist perfekt geformt. Ich kann verstehen, dass der König ihn gewählt hat, denn mit diesen festen Bauchmuskeln und dem femininen Gesicht ist er sehr hübsch anzusehen. Wenn er nicht gerade König Midas dient, trainiert er hart dafür, jeden einzelnen Muskel perfekt auszubilden, das ist unverkennbar. Im Moment hat er die Unterarme auf den obersten Querbalken des Himmelbettes gestützt, auf dem ein weiblicher Sattel hockt wie ein Eichhörnchen auf einem Ast, die Beine weit gespreizt, damit er sie mit dem Mund befriedigen kann. Ihr Gleichgewichtssinn und Showtalent sind beeindruckend.
Die dritte Neue kniet vor dem Mann und lutscht an seinem Schwanz, als müsste sie Gift aus einem Schlangenbiss saugen. Und … wow, das kann sie wirklich gut. Jetzt weiß ich, wieso sie ausgewählt wurde. Ich lege den Kopf schräg und mache mir im Geiste Notizen. Man weiß nie, wann solche Fähigkeiten mal von Nutzen sein können.
«Deine Fotze langweilt mich», sagt Midas plötzlich, und Polly rollt eilig unter ihm hervor. Er verpasst einem der Mädchen vor sich einen Klaps. «Du bist dran. Ich will deinen Arsch.»
«Natürlich, mein König», schnurrt sie, bevor sie herumwirbelt und auf die Knie fällt, den Hintern hoch in die Luft gereckt. Midas stößt in sie, die Feuchtigkeit von Polly noch an seinem Schwanz, und die Frau stöhnt lustvoll auf.
«Lügnerin», murmele ich leise. Das konnte sich unmöglich gut anfühlen.
Nicht, dass ich aus Erfahrung sprechen würde. Dort hinten war ich nie penetriert worden, der Göttlichkeit sei Dank.
Der Geräuschpegel im Raum steigt, als mehrere der Sättel zum Höhepunkt kommen – entweder vorgetäuscht oder tatsächlich – und der König grob in die Frau stößt, bis er schließlich mit einem Grunzen seinen Samen vergießt.
Hoffentlich ist er für heute fertig, denn ich bin müde und habe keinen Wein mehr.
Kaum ist die Frau unter ihm zusammengesunken, da klatscht er ihr erneut auf den Hintern, diesmal, um sie zu entlassen. «Ihr könnt alle zurück in den Haremsflügel. Für heute Abend bin ich durch mit euch.»
Seine Worte unterbrechen das Liebesspiel der übrigen Sättel und würgen ihre eigenen Orgasmen ab. Der Mann hat noch immer eine beeindruckende Erektion, doch keiner der Sättel beschwert sich. Das wäre reine Dummheit.
Eilig lösen sich die Sättel voneinander und verlassen den Raum im Gänsemarsch, manche Schenkel immer noch feucht und klebrig. Es war ein langer Abend.
Ich frage mich, ob die Sättel die Sache wohl im Haremsflügel allein zu Ende bringen werden. Mir ist der Zutritt verwehrt, also weiß ich nicht, wie sie miteinander umgehen, wenn der König nicht dabei ist. Ich darf nirgendwohin, außer ich halte mich in meinen Käfigen auf oder werde vom König gerufen. Als seine Favoritin werde ich weggeschlossen und sicher verwahrt. Ein Schoßtier, das man schützen und unterhalten muss.
Ich beobachte Midas genau, während der letzte Sattel verschwindet und der König seine goldene Robe anzieht. Allein der Anblick, wie er dasteht, kaum bekleidet und befriedigt, sorgt dafür, dass mein Magen sich zusammenzieht.
Er ist schön.
Er ist nicht muskulös, weil er ein wirklich luxuriöses Leben führt, aber er ist von Natur aus schlank gebaut, mit breiten Schultern. Jung für einen Herrscher. Midas ist knapp über dreißig, Reste der Jugend machen seine Züge weich. Seine Haut ist gebräunt, trotz der Tatsache, dass es hier eigentlich immer schneit oder regnet, und sein Haar ist blond mit rötlichen Akzenten, die im Kerzenlicht fast scharlachfarben glänzen. Seine Augen strahlen in einem tiefen Braun, und er hat eine besondere Aura, einen besonderen Charme. Es ist dieser Charme, mit dem er mich immer drankriegt.
Mein Blick wandert tiefer, über die schmalen Hüften zur Kontur seines halb erschlafften Gliedes, das ich immer noch unter dem seidigen Stoff erkennen kann.
«Siehst du etwas, das dir gefällt, Auren?»
Beim Klang meines Namens reiße ich mich von seinem Schritt los und entdecke ein spöttisches Grinsen in seinem Gesicht. Meine Wangen glühen, doch ich spiele meine Verlegenheit herunter. «Nun, es ist ein netter Anblick», erkläre ich trocken und zucke mit den Achseln.
Er schmunzelt, dann kommt er zum Gitter meines Käfigs im hinteren Teil des Atriums. Ich liebe es, wenn er lächelt. Ich spüre dann sofort, wie Raupen in meinem Bauch krabbeln – nicht Schmetterlinge. Für diese frei fliegenden Miststücke habe ich nur Neid übrig.
Seine Augen gleiten von meinen nackten Füßen bis zu meiner Brust. Ich achte darauf, mich auf meinen Kissen nicht zu bewegen, den Kopf erwartungsvoll erhoben, obwohl ich mich unter seinem prüfenden Blick winden will. Ich habe gelernt, reglos zu sein … weil er das mag.
Sein Blick gleitet wie ein langsames Streicheln über meinen Körper. «Mmm. Du siehst heute zum Anbeißen aus.»
Ich erhebe mich in einer geschmeidigen Bewegung, sodass der Stoff meines Kleides sich nach unten ausbreitet, wo er über meine Zehen streicht. Dann gehe ich langsam zu ihm und schließe eine Hand um die filigranen Stäbe, die uns voneinander trennen. «Du könntest mich aus diesem Käfig lassen und dir einen Bissen gönnen.» Ich achte sorgfältig darauf, spielerisch zu klingen – sinnlich zu wirken –, obwohl Verlangen in mir brennt.
Lass mich raus. Berühr mich. Begehre mich.
Mein König ist ein komplizierter Mann. Ich weiß, dass ich ihm etwas bedeute. Doch in letzter Zeit sehne ich mich nach … mehr. Ich weiß, dass das mein Fehler ist. Ich sollte nicht mehr verlangen. Ich sollte mit dem glücklich sein, was ich habe. Aber ich kann nichts dagegen tun.
Ich wünschte, Midas würde mich so ansehen, wie ich ihn ansehe. Ich wünschte, seine Brust würde vor Sehnsucht pulsieren, so wie meine. Doch selbst wenn das völlig unmöglich sein sollte, wünschte ich mir, dass er wenigstens mehr Zeit mit mir verbrächte.
Ich weiß, dass dieser Wunsch kaum erfüllbar ist. Er ist ein König. Wird ständig in tausend Richtungen gezerrt. Er hat Pflichten, die ich mir nicht mal vorstellen kann. Ich sollte schon den Umstand feiern, dass er mir überhaupt Aufmerksamkeit schenkt.
Darum begrabe ich meinen Wunsch; mit einer Schaufel voll Schnee bedecke ich die Sehnsucht tief in mir. Ich lenke mich ab. Ich bemühe mich. Ich fülle meine Stunden, so gut es eben geht. Aber egal, wie viele Leute ich auch jeden Tag sehe, ich wache immer noch einsam auf und schlafe auch so ein.
Es ist nicht Midas’ Schuld, und deswegen zu schmollen, wäre sinnlos. Das führt nirgendwohin – und ich lebe in einem Käfig, nirgendwohin zu kommen ist eine meiner Kernkompetenzen.
Midas’ Schmunzeln verbreitert sich bei meiner frechen Antwort zu einem Grinsen. Er ist spielerisch und entspannt heute Abend. Ich sehe ihn nicht oft in dieser Stimmung, die ich so sehr liebe. Sie erinnert mich an unser Verhältnis zu Beginn unserer Freundschaft. Als ich nur ein verlorenes Mädchen war und Midas erschienen ist, um mir ein anderes Leben zu zeigen; als er mich angelächelt und daran erinnert hat, wie es ist, die eigenen Mundwinkel zu heben.
Midas lässt seinen Blick erneut über meine Figur gleiten. Wärme strömt durch meine Haut, seine Anerkennung schmeichelt mir. Meine Figur ähnelt einer Sanduhr, große Brüste, breite Hüften und ein ordentlicher Hintern … aber das ist nicht das Erste, was die Leute bemerken, wenn sie mich ansehen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er es bemerkt.
Wenn die Leute mich ansehen, dann wollen sie nicht meine Kurven bewundern oder die Gedanken hinter meinen Augen erraten. Nein, sie konzentrieren sich vollkommen auf eine Sache: den Glanz meiner Haut.
Weil sie aus Gold ist.
Nicht goldfarben. Nicht goldbraun. Nicht angemalt oder geschminkt oder gefärbt. Meine Haut besteht aus echtem, schimmerndem, seidigem Gold.
Ich sehe aus wie alles andere in diesem Palast. Selbst mein Haar und meine Iris glänzen metallisch. Ich bin eine wandelnde Goldstatue, jeder Teil von mir, außer meinen strahlend weißen Zähnen, dem Weißen in meinen Augen und meiner frechen pinkfarbenen Zunge.
Ich bin eine Kuriosität, ein Objekt, ein Gerücht. Ich bin die Favoritin des Königs. Sein hochgeschätzter Sattel. Die eine, die er goldgeküsst hat und in einem Käfig ganz oben in seiner Burg verwahrt. Mein Körper trägt das Mal seiner Inhaberschaft und seiner Gunst.
Das vergoldete Schoßtier.
Ich bin der Liebling von König Midas, Herrscher von Burg Hohenläuten und dem Sechsten Königreich von Orea. Leute strömen in Scharen heran, nicht nur, um diese glänzende Burg zu sehen, die mehr wert ist als alle Schätze des Reiches … sondern auch, um mich zu bewundern.
Ich bin die goldene Gefangene.
Aber was für ein wunderschönes Gefängnis ich habe!
Jetzt, da Midas vor mir steht, ist meine Müdigkeit vergessen.
Ich sehe nur ihn. Jeder Nerv in meinem Körper ist sich seiner Aufmerksamkeit bewusst. Während Midas mich mustert, betrachte ich sein attraktives Gesicht, nehme die Entschlossenheit in seinem Blick in mich auf.
Je länger ich ihn ansehe, desto mehr vergebe ich ihm, dass er mich heute Abend hierher nach oben geholt hat. Mich zur Zuschauerin seines Vergnügens gemacht hat, an dem ich nicht teilhaben durfte, während er die Schenkel seiner Sättel spreizte.
Er hebt eine Hand und schiebt sie durch das Gitter. «Du bist mir so wichtig, Auren», murmelt er leise und zärtlich.
Ich erstarre. Mein Atem scheint sich in meiner Brust zu einer Feile zu formen, die über meine Nerven kratzt und ihre Empfindlichkeit schärft. Vorsichtig schiebt er die Hand vorwärts, bis ein Finger über meine Wange gleitet. Meine Haut kribbelt unter der Berührung, doch ich verharre weiterhin vollkommen still, zu nervös, um auch nur zu blinzeln. Diese winzige Bewegung könnte ihn dazu bringen, seine Hand zurückzuziehen.
Bitte, hör nicht auf, mich zu berühren.
Ich will mich nach vorne lehnen und seinen Geruch aufnehmen, durch die Gitterstäbe greifen und ihn ebenfalls berühren. Aber ich weiß, dass ich das nicht tun sollte. Also bleibe ich unbeweglich stehen, nur meine goldenen Augen leuchten begierig.
«Hast du es genossen, heute Abend zuzusehen?», fragt er. Seine Finger gleiten tiefer, bis sein Daumen meine üppige Unterlippe erreicht. Ich öffne leicht den Mund und keuche, als meine Lippen sich kurz um die Kuppe seines Daumens schließen, Hitze um Hitze.
«Mitzumachen würde mir mehr Freude bereiten», antworte ich, ganz darauf fokussiert, wie seine Finger den Bewegungen meiner Lippen folgen.
Midas hebt die Hand, um mein Haar zu berühren. Er reibt eine Strähne zwischen den Fingern, beobachtet, wie sie im Kerzenlicht glitzert. «Du weißt, dass du zu kostbar dafür bist, dich mit den anderen Sätteln zu mischen.»
Ich schenke ihm ein knappes Lächeln. «Ja, mein König.»
Midas gibt die Strähne frei und tippt mir kurz auf die Nase, bevor er die Hand aus dem Käfig zieht. Es kostet mich unendlich viel Selbstkontrolle, ihm nicht meinen Körper entgegenzudrängen, wie ein Zweig, der sich unter einem Windstoß bewegt. Er weht an mir vorbei und ich verforme mich willig.
«Du bist nicht wie die anderen Sättel dafür gemacht, täglich geritten zu werden, Auren. Du bist viel mehr wert als sie. Außerdem mag ich es, dass du immer dabei bist und mich beobachtest. Das macht mich hart», sagt Midas mit glühendem Blick.
Seltsam, wie er zugleich allumfassendes Verlangen und tiefe Enttäuschung in mir hervorruft.
Obwohl ich es nicht tun sollte, gebe ich Widerworte. Das liegt nur an diesem einsamen Verlangen in mir. «Aber die anderen Sättel verabscheuen mich. Und die Diener reden. Glaubst du nicht, es wäre besser, mich einen Abend teilnehmen zu lassen, selbst wenn ich dabei niemand anderen berühre als dich?», frage ich. Ich weiß, dass ich jämmerlich klinge, aber ich verzehre mich nach ihm.
Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Sofort wird mir klar, dass ich den Bogen überspannt habe. Mein Magen verkrampft sich aus einem ganz anderen Grund als bisher. Ich habe ihn verloren, habe seine Unbeschwertheit zerrissen wie ein Stück Pergament.
Seine attraktiven Züge werden hart, sein Charme vergeht wie Schnee auf glühenden Kohlen. «Du bist mein königlicher Sattel. Meine Favoritin. Mein Schatz», belehrt er mich, und ich senke den Blick auf meine Füße. «Ich gebe einen Scheiß darauf, was die Diener und Sättel sagen. Du gehörst mir, ich kann über dich verfügen, wie es mir gefällt. Und wenn es mir gefällt, dich in deinem Käfig zu halten, wo niemand dich erreichen kann außer mir, dann ist das mein Recht.»
Ich schüttele den Kopf über mich selbst. Dumm. So dumm. «Natürlich. Ich dachte nur …»
«Du bist nicht hier, um zu denken», blafft Midas dazwischen – eine selten harsche Zurechtweisung. Mein Atem stockt. Er war so guter Stimmung, und ich habe das zerstört. «Behandele ich dich nicht gut?», verlangt er zu wissen und reißt die Arme in die Luft. Seine Stimme hallt durch den riesigen Raum. «Gewähre ich dir nicht jede Art von Bequemlichkeit?»
«Das tust du …»
«In der Stadt leben in diesem Moment Huren im Elend, sie pissen in Eimer und bumsen auf der Straße, um mit ihrer Fotze ein paar Münzen zu verdienen. Und trotzdem beschwerst du dich?»
Ich presse die Lippen aufeinander. Er hat recht. Meine Situation könnte so viel schlimmer sein. Sie war schon schlimmer. Und Midas hat mich aus diesem Leben errettet.
Der Silberstreif daran: Dass ich die Favoritin des Königs bin, verschafft mir eine Menge Vorteile und einen besonderen Schutz, den andere nicht genießen. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte der König mich nicht gerettet? Ich könnte mich in diesem Moment im Besitz von schrecklichen Leuten befinden. Ich könnte dort leben, wo Krankheiten und Grausamkeit regieren. Vielleicht müsste ich um mein Leben fürchten.
Schließlich sah mein Dasein genau so aus, bevor er aufgetaucht ist. Als ein Opfer von Kinderhandel war ich viel zu lange den Launen böser Menschen ausgeliefert. Habe zu viele schreckliche Dinge gesehen.
Einmal bin ich weggelaufen, habe bei den einzigen netten Leuten gewohnt, die ich seit meinen Eltern getroffen hatte. Ich dachte, ich wäre der Brutalität des Lebens entkommen. Bis Plünderer auftauchten und auch das zerstörten. Mein Leben war drauf und dran, wieder ins Elend zu stürzen, aber dann ist Midas erschienen und hat mich gerettet.
Er wurde zu meiner Zuflucht vor der grausamen Gewalt, die stets auf meine geschundene Seele eingeprasselt war. Und dann hat er mich zu seinem berühmten Ausstellungsstück gemacht.
Ich habe keinerlei Recht, mich zu beschweren oder etwas zu verlangen. Wenn ich daran denke, unter welchen Bedingungen ich immer noch leben könnte … Nun, das wird eine lange Liste, auf der unzählige unangenehme Dinge stehen. Ich grüble nicht gerne darüber nach. Ich bekomme Magenverstimmungen, wenn ich an die Vergangenheit denke, also tue ich es lieber nicht. Schließlich sind Magenverstimmungen nicht unbedingt hilfreich bei dem vielen Wein, den ich jeden Abend trinke. Darum bin ich ein Mädchen, das bei allem den Silberstreif am Horizont sieht.
Sobald König Midas die Reue in meiner Miene erkennt, wirkt er zufrieden mit sich: Er hat mein Denken auf eine neue Richtung gelenkt. Sein Blick wird erneut sanft, und seine Knöchel gleiten kurz über meinen Arm. Wäre ich eine Katze, würde ich schnurren.
«Das ist mein kostbares Mädchen», sagt er, und die Sorge, die mir den Magen verkrampft hat, lässt ein wenig nach. Weil ich weiß, dass ich ihm wichtig bin und immer sein werde. Er und ich, uns verbindet etwas, das niemand sonst versteht. Niemand kann diese Verbindung nachempfinden. Ich kannte ihn, bevor er die Krone trug. Bevor seine Burg golden glänzte. Zehn Jahre bin ich jetzt schon bei ihm … und diese Dekade hat das Band zwischen uns immer fester geknüpft.
«Es tut mir leid», sage ich.
«Ist schon in Ordnung», beruhigt er mich und streicht über mein Handgelenk. «Du wirkst müde. Geh zurück in deine Gemächer. Ich werde dich morgen früh rufen lassen.»
Ich runzele die Stirn, als er sich zurückzieht. «Morgen früh?», erkundige ich mich vorsichtig. Gewöhnlich lässt er mich erst rufen, wenn die Sonne schon untergegangen ist.
Er nickt, bereits im Begriff, sich zu entfernen. «Ja. König Fulke bricht morgen auf, um nach Burg Ranhold zurückzukehren.»
Es kostet mich eine Menge Selbstkontrolle, nicht in sichtbarer Erleichterung aufzuatmen. Ich kann König Fulke vom Fünften Königreich nicht ausstehen. Er ist ein schmieriger, rüpelhafter alter Mann, mit der Macht der Verdoppelung. Mit seiner Macht kann er alles, was er berührt, genau einmal duplizieren. Bei Menschen funktioniert es nicht, der Göttlichkeit sei Dank, sonst hätte er schon vor langer Zeit versucht, mich zu kopieren.
Selbst wenn ich Fulke niemals wiedersehe, wäre das noch zu früh. Doch er und mein König sind jetzt schon seit mehreren Jahren Verbündete. Unsere Königreiche haben eine gemeinsame Grenze, darum kommt er jedes Jahr mehrfach zu Besuch, gewöhnlich mit Wagenladungen voller Dinge, die Midas in Gold verwandeln soll. Ich bin mir sicher, dass Fulke alles verdoppelt, kaum dass er in seine Burg zurückgekehrt ist. Die Allianz mit Midas hat ihn sehr reich gemacht.
Ich weiß nicht genau, was mein König im Austausch erhält, doch ich bezweifele sehr, dass er Fulke aus reiner Herzensgüte reich macht. Midas ist nicht gerade für seine Selbstlosigkeit bekannt. Aber hey, als König muss man auf sich selbst und das eigene Königreich aufpassen. Ich nehme ihm das nicht übel.
«Oh», antworte ich, weil ich weiß, was das bedeutet. König Fulke wird mich sehen wollen, bevor er aufbricht. Er ist regelrecht besessen von mir und versucht nicht einmal, das zu verbergen.
Der Silberstreif? Seine Faszination sorgt dafür, dass Midas mir mehr Aufmerksamkeit schenkt. Wie bei Kindern, die sich um ein Spielzeug streiten. Wenn Fulke da ist, hortet Midas mich für sich selbst und passt gut auf, dass Fulke nicht mit mir spielen kann.
Falls Midas mein Unbehagen bemerkt hat, kommentiert er es jedenfalls nicht. «Du wirst morgen früh, während wir speisen, in den Frühstücksraum kommen», sagte er. Ich nicke. «Und jetzt geh in dein Zimmer und ruh dich aus, damit du morgen frisch bist. Ich werde nach dir schicken, wenn es so weit ist.»
Ich beuge den Kopf. «Ja, mein König.»
Midas schenkt mir ein letztes Lächeln, bevor er mit wehender Robe den Raum verlässt. Ich bleibe allein zurück, im Atrium, das sich plötzlich anfühlt wie eine Höhle.
Seufzend mustere ich die endlosen goldenen Gitterstäbe, die sich vor mir durch den Raum ziehen. Im Stillen hasse ich sie. Wäre ich doch nur stark genug, die Stäbe auseinanderzubiegen und zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen! Es geht nicht mal darum, dass ich weglaufen will, denn das habe ich nicht vor. Ich weiß, wie gut ich es hier habe. Aber allein die Vorstellung, mich frei durch die Burg bewegen zu können, Midas in sein Schlafzimmer zu folgen … Das ist die Freiheit, nach der ich mich sehne.
Nur zum Spaß packe ich zwei der Stäbe und zerre mit aller Kraft daran. «Kommt schon, ihr kleinen goldenen Mistdinger», murmele ich, meine Arme angespannt.
Zugegeben, ich habe in Sachen Muskeln nicht viel zu bieten. Wahrscheinlich sollte ich anfangen, in meiner Freizeit zu trainieren. Es ist ja nicht so, als wäre ich zu beschäftigt dafür. Ich könnte von einem Ende des Raums zum anderen laufen oder an den Sprossen des Käfigs nach oben klettern und Klimmzüge machen, oder ich könnte …
Mit einem schnaubenden Lachen lasse ich die Hände wieder sinken. Ich langweile mich, aber so sehr dann auch wieder nicht. Dieser männliche Sattel mit den Bauchmuskeln bringt offenbar viel mehr Motivation auf als ich.
Ich sehe durch die Gitterstäbe hinüber zu dem Vogelkäfig, der ein paar Schritte entfernt an einem Ständer hängt. Darin hockt ein Vogel aus massivem Gold, erstarrt auf seiner Stange. Dieses Vogelweibchen war einmal ein Schneefink, glaube ich. Ihr Bauch hatte die Farbe des weißen Schnees, über den sie einst auf dem eisigen Wind hinweggeglitten ist, die Flügel weit ausgebreitet. Jetzt sind ihre weichen Federn harte, metallische Linien, ihre Flügel sind für immer an den kleinen Körper gepresst und ihre Kehle ist verstummt.
«Schau mich nicht so an, Goldstück», sage ich zu ihr. Sie starrt weiter zurück.
«Ich weiß», seufze ich. «Ich weiß, wie wichtig es für Midas ist, dass ich sicher in meinem Käfig verwahrt bin, genau wie du.» Mit leicht geneigtem Kopf lasse ich meinen Blick über all den Luxus in meiner unmittelbaren Reichweite schweifen.
Das Essen, die Kissen, die kostbare Kleidung. Manche Leute würden für diese Dinge töten … und das meine ich nicht nur metaphorisch. Sie würden tatsächlich dafür töten. Armut ist ein grausamer Anreiz. Das weiß ich nur zu gut.
«Schließlich hat er versucht, es mir so bequem wie möglich zu machen. Ich sollte nicht so maßlos und undankbar sein. Alles könnte viel schlimmer sein, nicht wahr?»
Der Vogel starrt mich nur weiter an. Ich ermahne mich selbst, nicht länger mit diesem Ding zu reden. Goldstück hat ihren letzten Atemzug vor langer Zeit getan. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wie ihr Gesang geklungen hat. Ich stelle mir allerdings vor, dass er schön war – bevor der Vogel zu einem glänzenden, schweigenden Schemen erstarrt ist.
Werde ich auch so enden?
Wird mein Körper in fünfzig Jahren zu massivem Gold werden, wie der des Vogels? Werden meine Organe verschmelzen, meine Stimme verklingen, meine Zunge schwer werden? Wird das Weiß meiner Augen verschwinden und meine Lider für immer blicklos geöffnet bleiben? Vielleicht werde ich hier drin sitzen, für immer unbeweglich, während Leute in den Käfig spähen und durch das Gitter mit mir reden, ohne dass ich antworten kann.
Davor habe ich Angst, auch wenn ich nie darüber gesprochen habe. Wer weiß schon, wie diese Macht mich verändern wird? Vielleicht werde ich eines Tages wirklich zur Statue erstarren.
Ich drehe mich um, gleite mit der Hand einmal über die Gitterstäbe und lasse sie sinken. Der Silberstreif, Auren. Du musst den Silberstreif daran sehen.
Wie die Tatsache, dass mein Käfig wirklich nicht klein ist. Midas hat ihn im Laufe der Jahre langsam erweitern lassen, sodass er sich inzwischen durch das gesamte obere Stockwerk des Palastes zieht. Seine Arbeiter haben zusätzliche Durchgänge in den hinteren Teilen der Räume eingefügt und vergitterte Laufwege daran angeschlossen, die sich jeweils zu großen runden Käfigen öffnen. All das hat er für mich getan.
Ich kann auf diese Weise das Atrium, den Salon, die Bibliothek und das königliche Frühstückszimmer erreichen und natürlich meine persönlichen Gemächer, die den gesamten Nordflügel einnehmen. Das ist mehr Platz, als die meisten Leute im Königreich haben.
Meine Gemächer umfassen ein großes Badezimmer, ein Umkleidezimmer und mein Schlafzimmer. Prunkvolle Räume mit riesigen eingebauten Käfigen, verbunden über vergitterte Wege, die mir erlauben, von einem Zimmer zum anderen zu wandern. Ich muss meinen Käfig nie verlassen – es sei denn, Midas kommt, um mich an einen anderen Ort zu führen. Doch selbst dann bringt er mich gewöhnlich nur in den Thronsaal.
Die arme goldene Favoritin. Ich weiß, wie undankbar ich klinge, und ich hasse das. Es ist wie eine schwärende Wunde tief unter meiner Haut. Ich kratze ständig daran herum, obwohl ich weiß, dass ich die Finger davonlassen sollte; es zulassen sollte, dass die Wunde verheilt und schließlich vernarbt.
Aber auch wenn jeder Raum prunkvoll eingerichtet ist und ich überall nichts als Eleganz erblicke, hat der Luxus für mich schon lange seinen Reiz verloren. Ich nehme an, das war nach meinem langen Aufenthalt hier unvermeidlich. Spielt es wirklich eine Rolle, ob der Käfig aus massivem Gold besteht, wenn man ihn nicht verlassen darf? Ein Käfig ist ein Käfig, egal, wie sehr er auch glänzt.
Und das ist die Krux an der Sache. Ich habe Midas angefleht, mich zu behalten und zu beschützen. Er hat sein Versprechen eingelöst. Ich bin es, die alles ruiniert. Meine eigenen Gedanken verdrehen alles, flüstern Dinge, auf die ich kein Recht habe.
Manchmal, wenn ich genug Wein trinke, vergesse ich, dass ich in einem Käfig sitze. Vergesse ich diese schwärende Wunde.
Also trinke ich eine Menge Wein.
Ich stoße die Luft aus und hebe den Blick zur Glasdecke. Bemerke, dass weitere Wolken von Norden herandrängen, ihre bauschigen Formen erhellt vom einsamen Mond.
Wahrscheinlich fallen heute gute dreißig Zentimeter Schnee über Hohenläuten. Es würde mich nicht überraschen, wären morgen alle Fenster im Atrium vollkommen von weißem Puder und dickem Eis bedeckt, der Himmel erneut vor meinen Blicken verborgen.
Der Silberstreif? Im Moment habe ich immer noch diesen einzelnen Stern, der in die Nacht hinausspäht.
Ich erinnere mich, wie mir meine Mutter als Kind erklärt hat, die Sterne wären Göttinnen, die darauf warten, aus dem Licht zu schlüpfen. Eine hübsche Geschichte für ein kleines Mädchen, das ihre Familie und ihr Zuhause auf einen grausamen Schlag verlieren sollte.
Mit fünf Jahren, in einer klaren, sternenhellen Nacht, wurde ich hastig aus meinem Bett geholt. Im Gänsemarsch wurden wir weggeführt, ich und die anderen Kinder aus der Umgebung, während um uns herum Kampfgeräusche erklangen. Wir schlichen durch die warme Abendluft; versuchten, inmitten der Gefahr irgendwo Schutz zu finden. Ich habe geweint, als meine Eltern mich zum Abschied küssten. Aber sie haben gesagt, ich solle gehen. Solle tapfer sein. Dass sie mich bald wiedersehen würden.
Ein Befehl. Ein Drängen. Eine Lüge.
Jemand musste gewusst haben, dass man uns wegbringen wollte. Jemand musste uns verraten haben. Denn unsere heimliche Flucht führte uns nicht in Sicherheit. Stattdessen stürzten sich Räuber aus den Schatten auf uns, noch ehe wir auch nur die Stadt verlassen konnten; als hätten sie auf uns gewartet. Blut ergoss sich auf den Boden, als unsere Begleiter niedergestreckt wurden. Heiße Flüssigkeit spritzte auf kleine, entsetzte Gesichter. Die Erinnerung daran lässt noch immer meine Augen brennen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich in einem Albtraum erwacht war.
Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, nach meinen Eltern zu schreien, sie wissen zu lassen, dass hier alles falsch war … aber mir wurde ein Lederknebel in den Mund geschoben, der nach Eichenrinde schmeckte. Ich weinte, während wir geraubt wurden. Tränen flossen. Füße schlurften. Herzschlag stockte. Mein Zuhause verblasste. Es gab Schreie und metallisches Klirren und Weinen, aber auch Stille. Die Stille war das schlimmste Geräusch.
Immer wieder schaute ich zu diesen Lichtpunkten am schwarzen Himmel auf, flehte die Göttinnen an, geboren zu werden und zu unserer Rettung zu eilen. Bat sie, mich in mein Bett zurückzubringen, zu meinen Eltern, in Sicherheit.
Sie taten es nicht.
Man sollte meinen, ich würde den Sternen das übel nehmen, aber das ist nicht der Fall. Denn jedes Mal, wenn ich in den Himmel schaue, erinnere ich mich an meine Mutter. Oder zumindest an einen Teil von ihr. Einen Teil, an dem ich mich seit zwanzig Jahren verzweifelt festklammere.
Doch die Erinnerung und die Zeit sind keine Freunde. Sie verabscheuen einander, eilen in verschiedene Richtungen davon, dehnen das Band zwischen sich, bis es zu reißen droht. Sie kämpfen, und wir verlieren zwangsläufig. Erinnerung und Zeit. Man verliert das eine, während man die Richtung des anderen einschlägt.
Ich kann mich nicht entsinnen, wie das Gesicht meiner Mutter aussah. Ich erinnere mich nicht an das Rumpeln der Stimme meines Vaters. Ich kann nicht das Gefühl in mir wachrufen, ihre Arme um mich zu spüren, als sie mich das letzte Mal gehalten haben.
Die Erinnerung ist verblasst.
Dieser einzelne Stern über mir zwinkert mir zu, verschwimmt hinter der Feuchtigkeit, die sich in meinen Augen gesammelt hat. Und schon in der nächsten Sekunde wird mein Stern von wilden Wolken erstickt und vor meinen Blicken verborgen. Ein Stich der Enttäuschung durchfährt mein Herz.
Wenn diese Sterne wirklich Göttinnen sind, die auf ihre Geburt warten, dann sollte ich sie warnen, in der Sicherheit ihres funkelnden Lichtes zu bleiben. Denn hier unten? Hier unten ist das Leben dunkel und einsam, mit lärmenden Glocken und viel zu wenig Wein.
Am Morgen weckt mich die verdammte Glocke, und sofort explodieren Kopfschmerzen hinter meinen Augen.
Ich reiße meine verkrusteten Lider auf und reibe mir blinzelnd den Sand weg. Als ich mich aufsetze, rollt die Weinflasche, die offenbar immer noch auf meinem Schoß lag, auf den goldenen Boden und kullert davon. Ich sehe mich um und entdecke zwei königliche Wachen, die sich auf der anderen Seite meiner Gitterstäbe postiert haben.
Mein Käfig nimmt den Großteil des Raums ein, doch es gibt daneben genug Platz, dass die Wachen jenseits der Gitter auf ihren Runden den gesamten Nordflügel durchwandern können.
Eilig wische ich mir die Spucke vom Mundwinkel und strecke mich. Ich warte darauf, dass die Glocke ihr unablässiges Dröhnen einstellt, weil mir der Kopf von dem Alkohol brummt, den ich getrunken habe, bevor ich gestern endlich eingeschlafen bin.
«Sei still», knurre ich und reibe mir das Gesicht.
«Wurde auch Zeit, dass sie aufwacht», höre ich.
Ich sehe zu den Wachen und bemerke, dass Digby – ein älterer Mann mit grauem Haar und dichtem Bart – sich neben der Tür aufgebaut hat. Er gehört zu meinen üblichen Wachen und hat den Posten schon seit Jahren inne. Ein unendlich aufrechter, ernster Mann, der niemals mit mir plaudert und sich auch meinen Trinkspielen verweigert.
Aber der Kerl, der gesprochen hat? Er ist neu. Trotz meines Katers merke ich sofort auf. Ich bekomme nicht oft neue Wachen.
Ich mustere den Neuling. Er wirkt, als wäre er kaum älter als siebzehn Winter, immer noch mit Pickeln im Gesicht und schlaksigen Gliedern. Wahrscheinlich wurde er gerade erst in der Stadt rekrutiert. Alle Männer werden sofort in König Midas’ Armee eingezogen, sobald sie volljährig sind – es sei denn, sie besitzen Land zur Bewirtschaftung.
«Wie heißt du?», frage ich und stehe auf, um eine Hand an das Gitter zu legen.
Seine Augen huschen zu mir, dann rückt er seine goldene Rüstung zurecht, auf deren Brustpanzer stolz das Emblem einer Glocke prangt. «Joq.»
Digby wirft ihm einen strengen Blick zu. «Rede nicht mit ihr.»
Joq kaut nachdenklich auf seiner Lippe. «Warum nicht?»
«Weil unsere Befehle so lauten, darum.»
Joq zuckt mit den Achseln. Ich verfolge den Wortwechsel mit wachsender Neugier und frage mich, ob er wohl vielleicht mal ein Trinkspiel mit mir spielen wird.
«Glaubst du, sie hat eine goldene Fotze?», fragt Joq plötzlich und mustert mich mit schräg gelegtem Kopf.
Oookay, also wohl eher keine Trinkspiele. Gut zu wissen.
«Es ist unhöflich, direkt vor den Betroffenen über ihre Fotzen zu sprechen», erkläre ich spitz. Seine Augenbrauen schießen bei meinen deutlichen Worten überrascht nach oben.
«Aber du bist ein Sattel», meint er stirnrunzelnd. «Deine Fotze ist das, worauf es bei dir ankommt.»
Wow, okay. Joq ist also ein Arschloch.
Ich packe die goldenen Gitterstäbe fester und mustere ihn aus zusammengekniffenen Augen. «Bei weiblichen Sätteln geht es nicht nur um ihre Fotzen. Für gewöhnlich haben wir auch wunderbare Titten», gebe ich trocken zurück.
Statt meinen ätzenden Tonfall zu bemerken, wirkt er aufgeregt. Anscheinend ist Joq auch noch ein Idiot.
Digby wendet sich ihm zu. «Vorsicht, Junge. Wenn der König hört, wie du über den Körper seiner Favoritin sprichst, wird er deinen Kopf schneller auf einen goldenen Spieß stecken, als du Scheiße noch mal sagen kannst.»
Joqs Blick gleitet über mich, als höre er Digby gar nicht zu. «Sie ist ein schönes Stück, mehr sage ich ja gar nicht», antwortet er. Offenbar will er die Klappe nicht halten. «Ich dachte, es wäre ein Mythos, dass König Midas seinen Lieblingssattel goldgeküsst hat.» Joq kratzt sich das verwuschelte schlammfarbene Haar. «Was glaubst du, wie er das gemacht hat?»
«Was gemacht hat?», blafft Digby sichtlich irritiert.
«Nun … sollte sich nicht alles, was er berührt, in massives Gold verwandeln? Sie müsste jetzt eigentlich eine unbewegliche Statue sein, oder?»
Digby schaut ihn an, als wäre er ein Narr. «Blick dich um, Junge. Der König verwandelt manche Dinge in massives Gold, andere Dinge behalten ihre Form und werden nur golden, wie die Vorhänge und so’n Zeug. Ich weiß nicht, wie er das anstellt, weil es nicht meine verdammte Aufgabe ist, mich darum zu kümmern. Es ist meine Aufgabe, das oberste Stockwerk der Burg und König Midas’ Favoritin zu bewachen, also mache ich das. Wärst du klug, würdest du dasselbe tun und deine dämliche Klappe halten. Und jetzt dreh deine Runde.»
«Schon gut, schon gut.» Der gerügte Joq wirft mir noch einen neugierigen Blick zu, dann wendet er sich ab und schlüpft durch die Tür, um den Rest des Stockwerks zu patrouillieren.
Ich schüttele den Kopf. «Diese jungen Wächter heutzutage. Alles Idioten. Nicht wahr, Digby?»
Digby schaut nur kurz zu mir, ehe er in seine Stoischer-Wächter-Pose fällt, den Blick ins Leere gerichtet. Nach all den Jahren in seiner Nähe weiß ich, dass er seinen Job sehr, sehr ernst nimmt.
«Macht Euch besser bereit, Lady Auren. Es ist schon spät», meint er barsch.
Ich seufze und massiere mir kurz die schmerzenden Schläfen, dann trete ich durch einen Torbogen in den vergitterten Laufgang, der meine Gemächer miteinander verbindet. Ich wandere in mein Umkleidezimmer, während Digby im anderen Raum bleibt, um mir Privatsphäre zu gewähren.
Einige der anderen Wächter reizen gerne die Grenzen aus und folgen mir hierher. Dann bin ich froh, dass ich mich hinter Gittern befinde. Glücklicherweise hängt hier eine goldene Stoffbahn von der Decke und verhüllt einen Teil des Käfigs. Hinter dem Stoff kann ich mich ausziehen, ohne beobachtet zu werden. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Silhouette sich trotzdem abzeichnet – darum folgen diese Schwanzträger mir.
Aber bei Digby muss ich mir keine Sorgen machen, dass er meinen Schatten begaffen könnte. Er hat nie etwas Unangebrachtes versucht oder mich angeglotzt – wie einige der anderen Wachen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ist er vielleicht darum schon seit so vielen Jahren mein Wächter, während viele der anderen nicht für lange blieben. Ich frage mich, ob König Midas ihre Köpfe wohl auf goldene Spieße gesteckt hat.
Heute Morgen wirkt mein Umkleidezimmer dunkel und trostlos. Es gibt nur ein Oberlicht in der Decke über mir, aber es ist für gewöhnlich von Schnee bedeckt, so auch heute. Die einzige andere Lichtquelle ist die Laterne auf dem Tisch. Eilig fülle ich Öl nach und drehe die Flamme auf, bevor ich im sanften Licht mit meiner Morgenroutine beginne. Midas wird mich heute zu sich rufen, also muss ich rechtzeitig fertig sein.
Ich musterte die Regale voller Kleider, durchstöbere sie mit Blicken. Natürlich sind alle aus goldenem Stoff, mit goldenen Stickereien. Als Midas’ Favoritin wird man mich nie in etwas anderem sehen.
Ich gehe in den hinteren Teil des Raums und entscheide mich für ein rückenfreies Kleid mit Empire-Taille. All meine Kleider sind rückenfrei. Das muss so sein, wegen meiner Bänder.
Ich nenne sie Bänder, weil ich kein besseres Wort dafür habe. Zwei Dutzend goldene Bänder sprießen rechts und links der Wirbelsäule aus meinem Rücken, von meinen Schultern bis hinunter zum Steißbein. Sie sind ziemlich lang, also fallen sie bis auf den Boden und schleifen beim Gehen wie eine Schleppe hinter mir her.
Und die meisten Leute halten sie genau dafür – zusätzliche Stoffbahnen an meinen Kleidern. Sie haben keine Ahnung, dass die Bänder tatsächlich mit meinem Körper verwachsen sind. Ehrlich gesagt: Für mich waren sie auch eine ziemliche Überraschung! Sie sind gewachsen, kurz bevor Midas mich gerettet hat. Und das war nicht gerade angenehm. Ich musste Wochen voller nächtlicher Schweißausbrüche und brennender Schmerzen aushalten, während sie aus meinem Rücken sprossen. Jeden Tag wurden sie ein wenig länger, bis das Wachstum endlich aufhörte.
Soweit ich weiß, bin ich die einzige Person in ganz Orea mit Bändern. Natürlich besitzen alle Herrscher Magie. Ohne sie bleibt ihnen die Krone verwehrt. Einige Gemeine verfügen ebenfalls darüber. Ich habe mal einen Gaukler gesehen, der Lichtblitze aus seinen Fingern schießen konnte, wann immer er klatschte oder schnippte. Eine nette Fähigkeit, um Schattenspiele an die Wand zu werfen.
Doch was meine Bänder angeht, sind sie nicht einfach nur hübsch oder ungewöhnlich. Sie sind kein Kunststück für den Thronsaal. Sie können Dinge greifen. Und ich kann sie kontrollieren, wie ich auch meine anderen Glieder kontrolliere. Normalerweise lasse ich sie einfach hinter mir herschleifen wie Stoffbahnen, aber wenn ich will, kann ich sie auch einzeln bewegen. Und sie sind stärker, als sie aussehen.
Ich ziehe mir mein Nachthemd über den Kopf und werfe den verknitterten Stoff auf den Haufen vor das Gitter, wo die Mägde es später zum Waschen abholen können. Dann ziehe ich das neue Kleid an und rücke den Stoff zurecht, bis er genau richtig fällt und alles bedeckt, was bedeckt sein sollte.
Ich setze mich an den Schminktisch und sehe in den Spiegel. Meine Bänder erheben sich hinter mir, greifen in mein Haar und flechten es in einem aufwendigen Muster, bis es aussieht, als zöge sich ein Netz aus Zöpfen über meinen Kopf. Zum Abschluss verwebe ich die Strähnen, die über meinen Rücken hängen, in meinem Nacken miteinander.
Mein Haar ist wild, eine ziemliche Mähne. Aber der König ist in Bezug auf mich so besitzergreifend, dass er niemanden in meine Nähe lässt. Nicht mal den Barbier. Also muss ich mir die Haare selbst schneiden. Und das kann ich nicht besonders gut.
Nach einem besonders tragischen Haarschnitt-Vorfall musste ich einmal zwei Monate lang mit einem schiefen Pony herumlaufen, bis mein Haar endlich genug nachgewachsen war, um es mir hinter die Ohren zu streifen. Das sah nicht gerade süß aus. Seit diesem Debakel bin ich Scheren so weit wie möglich aus dem Weg gegangen. Ich habe meine Lektion gelernt und schneide eigentlich nur noch die Spitzen.
Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob selbst ein gerader Pony eine gute Idee gewesen wäre. Man sollte eben keine Entscheidungen über etwas so Wichtiges wie eine Frisur treffen, wenn einem eine ganze Flasche Wein im Magen herumschwappt.
Sobald mein Haar ordentlich geflochten ist, stehe ich vom Tisch auf und gehe zurück in mein Schlafzimmer, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie eine Dienerin den Raum betritt. Sie wendet sich an Digby, ein wenig atemlos von den vielen Treppenstufen. «König Midas hat die Favoritin ins Frühstückszimmer zitiert.»
Digby nickt ihr zu. Die Frau schenkt mir einen kurzen Blick über die Schulter, während sie schon wieder eilig durch die Tür verschwindet. «Bereit?», fragt mich Digby.
Ich sehe mich um und tippe mir gespielt nachdenklich mit dem Finger an die Lippen. «Eigentlich müsste ich noch ein paar Besorgungen machen, bevor ich hinübergehe. Einige Leute treffen, ein paar Dinge erledigen. Ich bin sehr beschäftigt, weißt du?», erkläre ich ihm mit amüsiert zuckenden Mundwinkeln.
Digby geht nicht auf mein Geplänkel ein. Der Mann lächelt nicht mal. Seine einzige Antwort ist ein stoischer Blick.
Ich seufze. «Wirst du jemals über einen meiner Scherze lachen, Dig?»
Ein langsames Kopfschütteln. «Nein.»
«Eines Tages werde ich diese grimmige Soldatenfassade aufbrechen. Warte nur ab.»
«Wenn Ihr das sagt, Lady Auren. Seid Ihr bereit? Wir sollten Seine Majestät nicht warten lassen.»
Ich atme tief aus und wünschte nur, mein Kopfweh würde ein wenig nachlassen, bevor ich mich König Fulke stellen muss. «Schön. Ja, ich bin bereit. Aber du solltest wirklich an deiner Käfigetikette arbeiten. Eine gelegentliche Plauderei wäre nett. Und würde ein freundlicher Scherz hin und wieder dich wirklich umbringen?»
Er mustert mich stumm, seine braunen Augen ausdruckslos.
«In Ordnung, in Ordnung. Ich gehe ja schon», grummele ich. «Wir sehen uns in zweiundachtzig Sekunden», ergänze ich ein wenig bissig und werfe ihm einen Luftkuss zu. «Ich werde dich vermissen.»
Ich drehe mich um und verlasse mein Schlafzimmer durch die Tür auf der anderen Seite des Käfigs. Sie führt in einen Gang, der speziell für mich angelegt wurde. Ich wandere in meinen seidenen Pantoffeln über die goldenen Fliesen. Mein Kleid und meine Bänder gleiten hinter mir über den Boden.
Hier ist es dunkel, doch der schmale Gang ist nur ungefähr fünf Meter lang, dann wirft er mich in der Bibliothek aus. Sie ist riesig, riecht aber nach muffigem Pergament und abgestandener Luft, obwohl die Diener hier regelmäßig sauber machen.
Ich durchquere den vergitterten Teil der Bibliothek, folge einem weiteren dunklen Gang, am Atrium vorbei, dann trete ich in den Korridor, der zum Frühstückszimmer führt. Sobald ich den Durchgang erreicht habe, halte ich einen Moment inne, um zu lauschen. Dabei reibe ich noch einmal meine pochenden Schläfen. Ich kann hören, wie König Midas mit einem Diener redet, gefolgt vom Geräusch von Tellern, die auf dem Tisch platziert werden.
Ich atme noch einmal tief durch. Dann trete ich durch die Türöffnung in den kleinen Käfig, der sich in den Raum erstreckt. Jenseits der Gitterstäbe steht eine lange Tafel, mit genau sechs Servierplatten voller Essen, sechs Getränkekrügen und sechs Bouquets massivgoldener Blumen, passend zu den Tellern und Bechern. Midas’ Zahlen- und Goldfetisch dominiert wie immer alles.