The Five Crowns of Okrith 1: High Mountain Court - A.K. Mulford - E-Book

The Five Crowns of Okrith 1: High Mountain Court E-Book

A.K. Mulford

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Beschreibung

Ich habe keine Wahl. Doch ich werde dir niemals vertrauen. Die neunzehnjährige Remy ist eine der letzten lebenden roten Hexen, doch ihre Tage sind gezählt. Denn der König des Nördlichen Hofes, der schon ihre Familie niedermetzeln ließ, setzt alles daran, die Hexen in seinem Reich endgültig auszulöschen.  Als vier Fae-Krieger in der Taverne auftauchen, in der Remy sich versteckt hält, ist sie entsprechend misstrauisch. Erst recht, als der Anführer, Prinz Hale vom Hof des Ostens, behauptet, er könne nur mit Hilfe ihrer roten Magie sein Königreich vor einem schlimmen Schicksal bewahren und den Krieg mit dem Norden beenden.  Doch um die Welt von einem Tyrannen zu befreien, schließt sich Remy sich dem Prinzen an – wenn auch nur widerstrebend. Gemeinsam mit seinen Gefährten begeben sie sich auf eine gefährliche Reise. Und obwohl Remy sich dabei immer mehr zu Prinz Hale hingezogen fühlt, muss sie ihr Herz schützen. Denn sie darf ihm keinesfalls vertrauen, trägt sie doch ein todbringendes Geheimnis in sich, von dem niemals jemand erfahren darf … Die atemberaubend spannende TikTok-Sensation voller Intrigen, Magie und Leidenschaft über eine Hexe, die ihr Königreich trotz aller Widerstände retten will – und dabei herausfindet, wofür ihr Herz wirklich schlägt. High Mountain Court ist der erste Band einer vierteiligen Serie voller Intrigen, Magie und Leidenschaft. In jedem Band geht es um neue Protagonist*innen, weswegen die Bücher der fesselnden New-Adult-Romantasy-Reihe unabhängig voneinander gelesen werden können.

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A. K. Mulford

High Mountain Court

Aus dem Englischen von Bettina Münch

High Mountain Court

Die neunzehnjährige Remy ist eine der letzten lebenden roten Hexen, doch ihre Tage sind gezählt. Denn der König des Nördlichen Hofes, der schon ihre Familie niedermetzeln ließ, setzt alles daran, die Hexen in seinem Reich endgültig auszulöschen.

Als vier Fae-Krieger in der Taverne auftauchen, in der Remy sich versteckt hält, ist sie entsprechend misstrauisch. Erst recht, als der Anführer, Prinz Hale vom Hof des Ostens, behauptet, er könne nur mit Hilfe ihrer roten Magie sein Königreich vor einem schlimmen Schicksal bewahren und den Krieg mit dem Norden beenden.

Doch um die Welt von einem Tyrannen zu befreien, schließt sich Remy sich dem Prinzen an – wenn auch nur widerstrebend. Gemeinsam mit seinen Gefährten begeben sie sich auf eine gefährliche Reise. Und obwohl Remy sich dabei immer mehr zu Prinz Hale hingezogen fühlt, muss sie ihr Herz schützen. Denn sie darf ihm keinesfalls vertrauen, trägt sie doch ein todbringendes Geheimnis in sich, von dem niemals jemand erfahren darf …

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Buch lesen

Vorbemerkung

Danksagung

Viten

Für meine Mutter. Danke, dass du dem kleinen Mädchen mit seinen Heften voller Geschichten immer gesagt hast, dass du eines Tages ein veröffentlichtes Buch von ihr in den Händen halten würdest!

(Bitte lass beim Lesen die Kapitel 23 und 24 aus.)

CONTENT NOTE

Liebe Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Content Note. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die Spoiler enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleibe damit nicht allein. Wende dich an deine Familie und an Freund*innen oder suche dir profes­sionelle Hilfe.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

A.K. Mulford und das Carlsen-Team

KAPITEL 1

Eine schwarze Katze strich um ihre Beine. Remy stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Jetzt würde die ganze Taverne wissen, dass sie eine Hexe war.

Hinter ihr zersplitterte ein Glas auf dem Boden, während sich zwei Gäste gegenseitig mit Dolchen bedrohten. Die Geräusche ihres betrunkenen Gezänks hallten durch den ganzen Raum. Remy zuckte nicht mit der Wimper. Mit ihren abgewetzten braunen Stiefeln verscheuchte sie die Katze. Sie hatte keine Angst vor Dolchen, Tavernenspinnen oder wütenden Besoffenen. Sie hatte einzig und allein Angst davor, entdeckt zu werden. Wenn diese Besucher der Taverne Zur Rostigen Axt wüssten, dass sie eine rote Hexe war, würden sie sich darum reißen, ihr den Kopf abzuschlagen.

Wie viele Goldmünzen zahlte der König des Nordens heutzutage für den Kopf einer roten Hexe?

Sie stellte einen weiteren schweren Holzstuhl zurück an seinen Platz. Um sie herum roch es nach Schmutz und abgestandenem Bier. Der Geruch war ihr nur allzu vertraut. Hier und da bereitete eine Handvoll anderer Schenkengehilfen alles auf den abendlichen Ansturm der Einheimischen vor, die begierig auf starke Getränke und Würzfleisch in die Schenke strömen würden.

Der Strom der mittäglichen Reisenden war versiegt, und Remy fegte zusammen. Sie warf einen Seitenblick zum Tresen, an dem zwei Tavernenkurtisanen gelangweilt herumsaßen. Josephine und Sabine plauderten mit dem Mann am Ausschank, der ihnen, gebannt von ihrer Schönheit, mit großen Augen zuhörte.

Neidisch betrachtete Remy die bestickten Kleider der beiden, die ihre Figur wunderbar zur Geltung brachten. Sie wünschte, sie könnte diese Perlenketten und tropfenförmigen Ohrringe tragen. Wenn ihre Hüterin Heather ihr doch nur erlauben würde, sich zu schminken und die Augen mit Kajal zu umranden. Sie würde so gern herausstechen, aber es war genau das Gegenteil dessen, was ihre Freunde wollten, die sich unablässig bemühten, Remy zu verstecken. Also war ihre hellbraune Haut rußverschmiert. Die losen schwarzen Locken band sie im Nacken zu einem unordentlichen Knoten zusammen, und auch sonst bemühte sie sich nach Kräften, möglichst unauffällig zu wirken.

Remy tauschte den vollen Eimer gegen einen leeren aus und blickte zu den Regentropfen hinauf, die von dem undichten Strohdach fielen. Trotz ihres schäbigen Aussehens war die Taverne Zur Rostigen Axt weitaus besser als die, in der sie vorher gewesen war. Remy und ihre braunen Hexengefährten waren schon fast ein Jahr lang dort; es war die beste Schenke, in der sie seit Langem gearbeitet hatten.

Tavernen waren die einzigen Orte, an denen man Hexen noch einstellte. Heather bestand darauf, dass sie alle drei Jahre von einer zu nächsten wechselten. Und so arbeiteten sie sich durch die Provinzschenken entlang der Ausläufer des Hohen Gebirges. Remy versuchte ihre Hüterin davon zu überzeugen, dass die Tavernen, die näher am Hof des Westens lagen, schöner seien. Aber Heather bestand darauf, dass die stadtnahen Schenken mehr Fae-Gäste hatten und sich das Risiko nicht lohnte.

In ihrer Welt standen die Fae ganz oben. Sie herrschten in allen fünf Reichen von Okrith … nun ja, vier Reichen, jetzt, da der Hof des Hohen Gebirges an den König des Nordens gefallen war.

Hinter Remy meldete sich eine energische Stimme: »Willst du lieber Pfannen oder Laken schrubben?«

Sie sah über ihre Schulter. Fenrin war genauso alt wie Remy. Sie kannten sich, seit sie zwölf gewesen waren. Heather und Fenrin waren beide braune Hexen vom Hexenzirkel des Westlichen Hofes. Heather hatte den elternlosen Fenrin auf der Straße aufgelesen und ihn vorübergehend aufgenommen. Aber inzwischen, sieben Jahre später, war er aus ihrer Notgemeinschaft nicht mehr wegzudenken.

Fenrin war auffallend groß, aß doppelt so viel wie Heather und Remy zusammen und schien trotzdem kein Gramm zuzunehmen. Er war dünn wie ein Stecken, aber trotz seiner schlanken Gliedmaßen beeindruckend stark. Auf dem Kopf hatte er einen Wust strohfarbener Haare und Augen so blau wie das Meer.

»Ich serviere das Essen.« Remy reckte den Hals, um zu ihm aufzusehen.

»Heute Abend kommen viele von außerhalb«, erwiderte Fenrin. »Du hältst dich besser im Hintergrund.«

Remy ließ die Schultern hängen, während sie ihre Hände an der lehmfarbenen Schürze abwischte. Früher hätte sie sich in einem solchen Moment mit Fenrin gestritten, aber das tat sie nicht mehr. Es war recht unwahrscheinlich, dass einer dieser Reisenden ein Hexenjäger war – das war der Vorteil, wenn man in schäbigen kleinen Dörfern lebte –, trotzdem hörte Remy auf Fenrin. Sie hatte im Laufe der Jahre so viele Fehler gemacht, Fehler, die dafür sorgten, dass sie mitten in der Nacht von ihrem jeweiligen Aufenthaltsort hatten fliehen müssen, und alles nur, um Remys Geheimnis zu bewahren: dass sie eine rote Hexe war.

Als König Vostemur vom Hof des Nordens die Fae des Hohen Gebirges abschlachtete, hatte er auch den dort ansässigen Zirkel der roten Hexen niedergemetzelt. Die überlebenden Hexen verstreuten sich über alle Lande und königlichen Höfe, um sich vor den Hexenjägern zu verstecken, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, dem König des Nordens Hexenköpfe zu bringen. Inzwischen waren nur noch wenige rote Hexen übrig; die einzigen, von denen Remy wusste, waren Eigentum der königlichen Fae, die sie vor König Vostemurs Hass beschützten. Die freien roten Hexen hingegen waren entweder gut versteckt oder tot. Seit Jahren hatte Remy von keinem Hexenmord mehr gehört. Möglicherweise war sie die Letzte ihrer Art.

»Pfannen«, sagte sie schließlich mit einem resignierten Stöhnen. Welche Aufgabe sie auch übernahm, würde ihr weitere Flecken auf dem Kleid bescheren. Das waren die einzigen Entscheidungen, die Remy traf: Pfannen oder Laken, feudeln oder Staub wischen, kochen oder servieren.

Lieber schrubbte sie Dreck und Fett, als sich mit den Flecken auf den Laken zu beschäftigen. Durch das Waschen der Tavernenlaken hatte Remy mehr über Schlafzimmergewohnheiten gelernt als durch alles, was Heather sie gelehrt hatte. Alles andere hatten ihr ein Schustersohn und die Geschichten der Kurtisanen beigebracht, auch wenn Heather sie von ihnen fernzuhalten versuchte. Hexen mussten unter sich bleiben.

Menschen und Fae konnte man nicht vertrauen, das war eine Tatsache, an die Heather Remy tagtäglich erinnerte. In ihrer Welt gab es nun eine neue Hierarchie. Seit dem Gemetzel von Yexshir, bei dem sämtliche Bewohner der Hauptstadt des Hohen Gebirges getötet worden waren, hatte sich alles verändert. Remy war damals sechs Jahre alt gewesen. Jetzt standen die roten Hexen ganz unten auf der Leiter.

»Du wählst immer die Pfannen«, brummte Fenrin.

Remy konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. »Ich weiß doch, wie gerne du schmutzige Laken schrubbst, Fen.«

Das dröhnende Gelächter der Betrunkenen hallte durch die Taverne und die schwarze Katze miaute immer noch zu Remys Füßen. Fenrin sah stirnrunzelnd zu ihr hinab.

»Geh und belästige einen der Menschen«, sagte der braune Hexen­jüngling und verdrehte die Augen, als er die Küchentür aufstieß.

Remy rieb ihre rissigen, wunden Hände mit einem beißenden Balsam ein. Die Scheuerschwämme hatten ihre Spuren hinterlassen. Zum Glück war Heather eine erfahrene braune Hexe. Remys Hüterin hatte für jede Krankheit einen Trank, ein Elixier oder einen Balsam. Viele Menschen suchten sie heimlich auf und tauschten Geldstücke gegen ihre Heilmittel ein. Mit ihrer Arbeit in der Taverne und dem Verkauf von Tränken nebenbei konnten sich Heather und die anderen zwei über Wasser halten und die häufigen Umzüge finanzieren.

»Bier!«, hörte Remy eine tiefe Stimme aus dem vorderen Teil der Taverne brüllen.

Matilda, die Besitzerin der Rostigen Axt, kam durch die Schwingtür aus der Küche gestürmt.

Die korpulente weißhaarige Frau fluchte leise über den Schreihals. Sie warf sich einen Lappen über die Schulter und griff nach einem Tablett mit sauberen, abgetrockneten Gläsern, das sie mit Leichtigkeit hochhob. Dann wies sie mit dem Kopf auf die vier gefüllten Teller, die auf dem Küchentisch standen.

»Remy, kannst du bitte mit anpacken?«, bat sie erschöpft. »Die Teller sind für die lauten Arschlöcher in der Ecke.«

»Ja, Matilda«, sagte Remy.

Diese sackte vor Erleichterung förmlich in sich zusammen, als wäre Remys Hilfe ein Akt der Freundschaft und nicht des Gehorsams. Remy mochte Matilda. Sie war die netteste Wirtin, der sie bisher begegnet war. Bei ihr gab es anständige Löhne und anständige Pausen. Nach den Pfannen könnte Remy eigentlich Schluss machen, aber angesichts des hektischen Betriebs in der vollen Taverne beschloss sie, trotz Fenrins Warnung auszu-helfen.

Mit der Schankwirtin weiterhin auf gutem Fuß zu bleiben, war die paar Minuten zusätzliche Arbeit wert.

Also schnappte sich Remy die vier Teller, balancierte zwei auf ihrem linken Unterarm und einen in jeder Hand. Dann stieß sie mit der Hüfte die Schwingtür auf.

Lautes Geplänkel und die heitere Melodie einer Fiedel und einer Trommel begrüßten sie. Sie bahnte sich den Weg durch die fröhlichen, betrunkenen Einheimischen am Tresen, drängte sich durch den Pulk herumstehender Gäste und verlor dabei nicht eine einzige Erbse von ihren Tellern. Schon von Kindesbeinen an war Remy daran gewöhnt, ausgelassene Gästescharen in Tavernen zu bedienen. Als sie die Musiker passierte, warf sie einen Seitenblick auf den Fiedler. Seine breiten Schultern steckten in einer dunklen Tunika und die roten Haare unter einer Kappe. Wie die meisten Leute in diesem Städtchen war er weder Hexe noch Fae, sondern ein Mensch. Es gab keinen sichtbaren Unterschied zwischen Menschen und Hexen, es sei denn, die Hexen setzten ihre magischen Kräfte ein. Sie verrieten sich durch das unheimliche Leuchten ihres Zaubers, der in der Farbe des Hexenzirkels erstrahlte, zu dem sie gehörten: Blau, Grün, Braun oder Rot.

Der Fiedler zwinkerte Remy zu, deren Hals auf der Stelle rote Flecken bekam. Sie war froh, dass Heather und Fenrin sich bereits in ihr Dachzimmer zurückgezogen hatten, sodass sie die Aufmerksamkeit genießen konnte. Allerdings hatte Remy im Laufe der Jahre oft genug erfahren, dass die Zuneigung eines angetrunkenen Mannes nichts zu bedeuten hatte.

Als sie sich der entlegenen Nische unterhalb der Treppe näherte, richteten sich die Härchen an ihren Armen auf. Eine unsichtbare Brise wehte ihr kalt ins Gesicht. Ein Hauch von Macht hing in der Luft; in der Taverne war Magie am Werk an diesem Abend. Mit genügend Zeit und innerer Ruhe könnte Remy vermutlich herausfinden, von wem sie ausging, aber sie war zu müde. Sie wollte nur diesen Tisch bedienen und dann hinauf zu ihrer Schlafstätte auf dem Dachboden über den Ställen.

Die Lampe, die die Nische normalerweise erhellte, war aus. Auch die Kerze auf dem Tisch flackerte nicht mehr. Die vier Männer in der Ecke saßen im Dunkeln. Remy konnte nur mit knapper Not ihre Umrisse ausmachen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie dort im Dunkeln saßen. In den entlegensten Nischen wurde so mancher heimlicher Handel abgeschlossen. Vielleicht waren es Politiker und Diebe oder Bürgermeister und Schurken. Remy interessierte sich nicht für ihre Geschäfte und würde auch sicher nicht versuchen, unter ihre Kapuzen zu spähen.

»Hier kommt das Essen, meine Herren«, sagte sie und stellte die Teller auf den Tisch.

Als sie sich abwandte, griffen Finger nach ihrem Handgelenk. Die warme Berührung sandte feurige Blitze durch ihre Adern. Der Mann, der sie festhielt, drehte ihre Hand um und drückte zwei silberne Druni hinein.

Remy betrachtete die ab- und zunehmenden Monde, die in die Hexenmünzen gestanzt waren. Die Währungen von Okrith waren gänzlich durchmischt, aber jede Art hatte ihre Vorlieben. Die Fae bevorzugten Goldstücke, die Menschen Kupfermünzen und die Hexen handelten mit silbernen Druni. Womöglich waren diese Männer Hexen.

»Wir haben Bier bestellt«, sagte ein anderer Mann unter seiner Kapuze. Remy hatte eine tiefe, schroffe Stimme erwartet, aber für jemanden, der sich unter einer Kapuze versteckte, klang sie ziemlich unbeschwert.

Sie wandte den Blick nicht von dem Mann ab, der immer noch ihr Handgelenk festhielt. Sie umklammerte die Geldstücke in ihrer Hand und versuchte in der Dunkelheit sein Gesicht auszumachen.

»Wenn Ihr Bier wollt, solltet Ihr Eurem Freund hier sagen, dass er mich loslassen soll, damit ich welches holen kann«, zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

Der angesprochene Mann beugte sich vor, sodass sein Oberkörper besser zu sehen war. Mit der freien Hand griff er nach seiner Kapuze und streifte sie ab, sodass sein kantiges Gesicht, goldene, sonnengebräunte Haut und gewellte kastanienbraune Haare zum Vorschein kamen, die ihm über seine grauen Augen fielen. Er war der schönste Mann, den Remy je gesehen hatte. Unnatürlich schön. Wieder pulsierte Remys Zauberkraft in ihren Adern. Die Magie in der Taverne ging nicht von Hexen aus, es war die Kraft eines Fae-Zaubers.

Remy erstarrte.

Vor ihr saß ein als Mensch getarnter männlicher Fae. Hier, mitten in der Rostigen Axt. Die Menschen dieser Stadt mochten es nicht, wenn Fae unter ihnen weilten, aber sie spürten deren Magie nicht so deutlich wie Hexen. Sie sahen in ihnen lediglich durchreisende Menschen, mehr nicht.

Remy blickte zu den anderen drei Kapuzengestalten hinüber und ließ ihre Augen das Dunkel durchdringen. Sie vermutete, dass auch die anderen Fae waren. Gerade so konnte sie das Keuchen unterdrücken, das ihr in der Kehle saß. Dann setzte sie eine undurchdringliche Miene auf und hoffte, dass die Fae ihre Angst nicht riechen konnten.

»Verzeihung«, sagte der schöne Fae und ließ ihre Hand los. »Ich wollte dir nur sagen …« Er hielt inne, um ihr mit einem langen gebräunten Finger über die Wange zu streichen. Remy musste ihre ganze Kraft aufbieten, nicht zusammenzuzucken.

Er zeigte ihr den Rußfleck auf seiner Fingerspitze, woraufhin sie sich die Wange rieb.

»Ich dachte, du wüsstest das vielleicht gern.« Remys Blick blieb an seinen üppigen Lippen hängen, während seine Mundwinkel leicht nach oben wanderten. Er beobachtete sie, starrte ihr auf den Mund. Himmel, sie wurde schon rot, wenn ihr ein muszierender Mensch zuzwinkerte, aber dieser … dieser Fae war wirklich unglaublich. Was konnte sie dafür, dass sie ihn einfach anstarren musste?

Remy hielt seiner Musterung nicht länger stand. Diese abgrundtiefen rauchgrauen Augen drohten sie in Trance zu versetzen.

»Danke«, sagte sie und schaute auf den Boden.

»War mir ein Vergnügen.« Die Stimme des Mannes war wie ein tiefes Meeresrauschen. Remy verkrampfte die Zehen in ihren Stiefeln. »Schlaf gut, kleine Hexe.«

Verflucht seien die Götter. Er wusste es.

Dieser Fae wusste auf jeden Fall, dass sie eine Hexe war, und wenn sie hier noch länger herumstand, würde dieser verwirrend schöne Unruhestifter womöglich auch herausfinden, welche Art von Hexe er vor sich hatte.

Das war das Problem mit Fae. Und genau aus diesem Grund mied Remy diese hinterhältigen, charmanten Bastarde wie die Pest.

Auch wenn sie versuchte, sich weiterhin nicht anmerken zu lassen, dass sie wusste, was er war, entging seinem verschlagenen Blick nicht die kleinste Kleinigkeit.

»I-Ihr auch«, sagte Remy.

Es war kein Verbrechen, eine andere Art von Hexe zu sein … nur eine rote Hexe. Heather gab sich als ihre Mutter aus, und wenn Remy sich nicht länger bei diesen Fae aufhielt, dürfte keine Gefahr bestehen. Sie schaute zu dem verhüllten Mann hinüber, der sich schon einmal zu Wort gemeldet hatte. »Ich bringe sofort Euer Bier.«

Sie drehte sich um und verschwand in der Menge, eilte an den Musikern vorbei, ohne diesmal auf den Blick des Fiedlers zu achten. Sie stürzte in die Küche und zur Hintertür wieder hinaus. Auf dem Weg zu den Ställen musste sie gegen den Wind ankämpfen. Sie ging schnell, aber ohne Hast, um keinen Verdacht zu erregen. Sie musste Heather finden. Remy war sicher, dass die braune Hexe sofort auf ihre Abreise drängen würde. Fenrin würde toben vor Wut, denn sie waren noch kein Jahr in dieser Taverne, und nun mussten sie schon wieder fliehen.

Remy lief die beiden knarrenden Stiegen hinauf und stürmte durch die niedrige Dachbodentür. Heather hatte ihr Gesicht kaum erblickt, als sie auch schon aus dem Feldbett sprang.

»Was ist passiert?«, fragte sie, während sie nach ihrem abgenutzten Rucksack griff.

»Vier Fae-Männer –«, presste Remy auf Mhenbic hervor, der Muttersprache der Hexen. »Ich habe ihnen gerade ihr Essen serviert. Es müsste uns also etwas Zeit bleiben.«

»Vier. Verdammt!« Ohne von seinem Hocker aufzustehen, griff Fenrin nach einem Bündel getrockneter Kräuter, das von der Decke hing, und knallte es auf den Tisch. Dieser war über und über bedeckt mit Schalen voller gesammelter Pilze und Samen, einer Kiste mit leeren braunen Fläschchen und Korken sowie halb fertigen Tränken und Elixieren. »Mir hat es hier auch gefallen.«

Trotz seines leisen Fluchs war er bereits dabei, die Hexenutensilien zusammenzupacken. Sie würden nur mitnehmen, was in ihre ledernen Rucksäcke passte. Heather hatte allein zwei für ihre Tränke, die Fenrin normalerweise schleppte. Sie gingen immer davon aus, dass Fenrin der Stärkste war. Und Remy korrigierte sie nicht.

»Sie haben mich Hexe genannt«, sagte Remy.

Fenrin fluchte erneut.

»Das hat nichts zu bedeuten«, beschwichtigte er. »Wir sind alle braune Hexen.« Er sagte es so, als hätten die Wände Ohren. Wenn er es nur oft genug wiederholte, würde es vielleicht irgendwann wahr werden. Unter keinen Umständen würde er aussprechen, wer sie war, nicht einmal auf dem Dachboden.

Heather holte zwei silberne Druni aus ihrer Tasche und gab sie Remy.

»Nur ein Hexenabschied«, sagte sie.

Remy überlegte, ob sie ihren Bogen schnappen sollte, der am Türrahmen lehnte, aber damit würde sie auffallen wie eine Kuh mit zwei Schwänzen. Er war alt und abgenutzt, aber für die Kaninchenjagd immer noch gut genug, und Remy war selbst mit einer unbrauchbaren Waffe eine beeindruckende Schützin.

Sie eilte die Treppe wieder, um aus der Küche den üblichen Reiseproviant zu holen: ein paar Brotkanten und einen Block Käse. Damit würden sie erst einmal über die Runden kommen.

Durch jahrelange Übung hatten die drei ihre Umzüge zu einer regelrechten Kunstform entwickelt. Manchmal war es langsam und kalkuliert, ein andermal mussten sie über Nacht das Weite suchen. Als Remy noch klein war und ihre Kräfte noch nicht so gut kontrollieren konnte, waren sie wesentlich häufiger geflohen. Aber auch vom letzten Ort hatten sie Hals über Kopf verschwinden müssen, als Remys erster und einziger Liebhaber ihre Kräfte entdeckte. Sie fand eigentlich nicht, dass man Edgar ihren »Liebhaber« nennen konnte, schließlich hatte er am Ende versucht, sie umzubringen. In den Schankraum zu gehen und diese Fae zu bedienen, obwohl Fenrin ihr ausdrücklich davon abgeraten hatte, war nur ein weiterer Fehler auf ihrer langen Liste.

Remy stürmte die Treppe hinunter und über den Innenhof zurück in die Taverne.

Zum Glück wimmelte es in der Küche noch von gehetztem Personal, zudem trug Remy immer noch ihre fleckige Arbeitskleidung. Niemand achtete weiter auf sie, als sie sich ein paar Äpfel schnappte und sie in die Taschen stopfte. Als Nächstes nahm sie so viel Brot, Käse und Trockenfleischstreifen, bis ihre Taschen prall gefüllt waren.

Sie wusste genau, was sie einpacken musste und wo es zu finden war. In jeder neuen Taverne machte sie sich als Erstes mit der Vorratskammer vertraut. Bevor sie durch die Hintertür wieder hinauseilte, legte sie die beiden Druni in Matildas Kassenbuch, was mehr als genug war für die Lebensmittel. Die Münzen würden ihr einziger Abschiedsgruß sein. Einen Hexenabschied nannten sie es. Matilda war zwar keine Hexe, aber sie beschäftigte viele von ihnen. Wenn sie die beiden Silbermünzen sah, würde sie wissen, dass sie geflohen waren.

Remy huschte die Stalltreppe wieder hinauf. Sie konnte die Stille auf dem Dachboden über sich spüren. Anscheinend hatten Hea­ther und Fenrin ihre Sachen bereits gepackt.

Gut.

Doch sobald sie zur Dachbodentür hereinkam, begriff sie ihren Fehler. Von drei vermummten Fae bewacht, saßen Heather und Fenrin gefesselt und geknebelt auf dem Boden. Heathers Augen weiteten sich, als sie Remy erblickte, und sie versuchte trotz ihres Knebels zu schreien.

Remy wusste, was sie rief: »Lauf!«

Ohne nachzudenken, wirbelte sie herum und stieß geradewegs gegen den vierten Fae-Mann, jenen, der sie vorhin am Hand­gelenk gepackt hatte.

»Da bist du ja wieder, kleine Hexe.« Er lächelte auf sie herab.

KAPITEL 2

Ihr habt kein Recht, meine Freunde zu fesseln«, fauchte Remy. »Im Westen sind Hexen frei.«

Der Fae-Mann hatte seine Absichten noch nicht offenbart. Fenrin hatte recht: Die vier könnten sie allesamt für braune Hexen halten. Vielleicht waren sie Schleuser, die ein bisschen schnelles Geld machen wollten. Wenn das der Fall sein sollte, wäre es Remys Todesurteil, ihre rote Magie zu zeigen.

»Du bist ebenso schlau wie schön, kleine Hexe«, raunte der Fae vor ihr mit seiner angenehmen tiefen Stimme.

Sein Blick glitt über ihr Gesicht, als bewerte er ihre Schönheit. Remy konnte nicht verhindern, dass ihr die Röte in die Wangen kroch. Dieser Fae war wirklich umwerfend, einem wie ihm war sie noch nie begegnet. Über hohe Wangenknochen spannte sich glatte gebräunte Haut, und sein stoppeliges Kinn war wohlgeformt und kräftig. Er war einen ganzen Kopf größer als sie und nahm mit seinem hochgewachsenen, muskulösen Körper die gesamte Türöffnung ein.

Remy gab sich Mühe, seiner männlichen Schmeichelei nicht zum Opfer zu fallen, denn das war das Spiel, das er spielen wollte.

Also passte sie sich ihm an, gab weder die Kämpferin noch das Dummchen, sondern die Verführerin. Sabine und Josephine waren nicht nur Expertinnen im Schlafzimmer, sondern auch in der Kunst der Manipulation, und Remy war eine gelehrige Schüle-rin.

Mit hochgezogenen Augenbrauen ließ sie den Blick über seine Gestalt wandern. Sie tat, als würde sie sich an seinem Aussehen weiden, obwohl sie in Wirklichkeit ihren Gegner taxierte, wie sie es schon ihr Leben lang mit Fremden tat.

Dieser Fae war ganz offensichtlich ein Krieger. Das verrieten nicht nur seine Muskeln, sondern auch seine Haltung. Er trug ausgesuchte Lederkleidung, hatte gepflegte Klingen um die schmalen Hüften geschnallt, und in einem seiner knöchelhohen Stiefel steckte ein Dolch mitsamt der Scheide, was Remy nicht verborgen blieb.

Absichtlich verweilte sie einen Moment lang auf seinen vollen Lippen, ehe ihr Blick zu seinen hinreißenden grauen Augen hi­naufwanderte. Schmunzelnd sah sie zu ihm auf.

Remy strich eine verirrte Haarsträhne aus ihrem Gesicht und steckte sie sich hinter das Ohr.

»Wirklich raffiniert«, sagte er.

»Wenn Ihr unsere Dienste als braune Hexen in Anspruch nehmen wollt, weiß ich nicht, wie Euch die Fesseln die Hilfe meiner Mutter und meines Bruders sichern sollen«, knurrte Remy.

Der Fae-Krieger schaute über ihre Schulter zu Heather und Fenrin, die geknebelt auf dem Boden saßen. Remy sah den beiden überhaupt nicht ähnlich. Beide waren eher hellhäutig, während Remys Haut einen satten Braunton hatte. Heathers Haar war kupferrot, Fenrins strohblond, aber bei beiden völlig glatt. Dagegen hatte Remy dichte nachtschwarze Locken, die ihr lose über den Rücken fielen. Obwohl sie offensichtlich nicht blutsverwandt waren, reckte Remy dem Fae herausfordernd das Kinn entgegen.

»Außerdem scheint Ihr mir nicht der Typ zu sein, der nach einem Liebestrank sucht«, sagte sie wieder mit diesem verschmitzten Lächeln. Die Augen des Mannes funkelten vor Überraschung. »Ich gehe also davon aus, dass Ihr gekommen seid, um uns in den Norden zu bringen und in die Knechtschaft zu verkaufen. Wenn das der Fall ist, kann ich Euch versichern, dass Euch braune Hexen nicht ein Goldstück einbringen werden. Es wird nicht mal reichen, die Kosten für unsere Verschleppung zu decken.«

»Wie ist dein Name?«, fragte der Mann mit einem breiten Lächeln.

»Remy.«

»Remy.« Er schwieg, als wollte er ihren Namen auskosten.

»Und Ihr?« Obwohl sie einen Kopf kleiner war, schaffte sie es, ihm mit ihrem Blick Paroli zu bieten. »Du erkennst mich also nicht?«, fragte er leicht überrascht. Ein spitzbübisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Nun, woher sollte eine Provinzhexe auch meine Visage kennen?«

Remys zog sich der Magen zusammen. Er war also nicht nur ein Fae, sondern ein bedeutender noch dazu. Es juckte sie in den Fingern, ihre Magie einzusetzen.

»Gestatte mir, mich vorzustellen. Ich bin Hale Norwood, Kronprinz des Östlichen Hofes.«

Remy wurde flau im Magen. Sie hatte von ihm gehört. Natürlich hatte sie das. Er war der älteste Sohn von Gedwin Norwood, dem König des Östlichen Hofes. Gerüchten zufolge war er als Bastard zur Welt gekommen, hatte aber dennoch einen königlichen Titel erhalten. Er sei ein rücksichtsloser Kriegerprinz, hieß es, hatte im Namen seines Vaters Dörfer überfallen und Städte geplündert. Man wusste nie, wo der Bastardprinz als Nächstes auftauchen oder welche Verwüstungen er anrichten würde. Und jetzt stand er hier, in ihrer winzigen Mansarde, tief im Hof des Westens … und das verhieß nichts Gutes.

Rasch verbeugte Remy sich. »Eure Hoheit.« Der Prinz zog die Mundwinkel nach oben. Er hatte sie durchschaut, dessen war sie sich jetzt sicher. »Benötigt Ihr die Dienste der braunen Hexen?«

Der Prinz fuhr über die Stoppeln an seinem Kinn, während er sie eindringlich musterte. »Die Dienste einer braunen Hexe benötige ich keineswegs.« Seine bleifarbenen Augen leuchteten auf, als er hinzufügte: »Aber du kannst mir helfen, nicht wahr, Rotling?«

Scheiße.

Das Spiel war aus.

Schluss mit der Verführungsnummer, es war Zeit, die Kämpferin herauszulassen.

Der Prinz machte einen Schritt auf sie zu. Remy griff nach ihrem Bogen, der noch immer neben der Tür stand, und schwang ihn mit aller Kraft. Das Holz zerbrach mit einem jämmerlichen Knacken auf seinem muskulösen Bizeps.

Mit einem Fluch sandte Remy einen Zauber aus. Die Tür hinter dem Prinzen flog auf, dieser geriet ins Taumeln und gab den Türrahmen frei. Dann stürmte sie an ihm vorbei und sprang die Treppe hinab, während sie der Tür gleichzeitig befahl, wieder zuzuschlagen und sich nicht zu öffnen.

Bleib zu, bleib zu, bleib zu!

Hinter sich spürte sie die Kraft der vier Fae-Krieger, die ihre Magie einzudämmen versuchten.

Sie zwang ihre Beine, schneller zu laufen, immer schneller, hi­naus auf die Straße. Als sie einen Blick über ihre Schulter warf, sah sie, dass ihr niemand folgte. Sie schaute wieder nach vorn und rannte mit dem Gesicht voran gegen die Brust des Fae-Prinzen. Lachend hielt er sie fest, damit sie nicht hinfiel. Remy sah zu dem offenen Fenster im zweiten Stock hinauf, das sich direkt über ihrem Kopf befand. War er etwa gesprungen? Sie hatte vergessen, wie stark und flink Fae waren.

Der Prinz packte ihre Unterarme und beteuerte eindringlich: »Ich bin nicht auf deinen Kopf aus, Hexe. Ich brauche deine Hilfe.«

Remy schaltete blitzschnell. Lügen. Es konnte nicht anders sein. Nichts davon ergab einen Sinn. Sie zerrte an seinem Griff. Mit einem Tritt gegen sein Schienbein bekam sie eine Hand frei, aber er fing ihre Faust auf und wirbelte sie herum, sodass er sie mit beiden Armen umfangen und mit dem Rücken an sich pressen konnte. Wieder wandte Remy einen Zauber an, ihre gefesselten Hände leuchteten purpurrot auf, als sie einen in der Nähe stehenden Eimer durch die Luft schweben ließ. Er flog zu ihnen herüber und knallte dem Prinzen direkt an den Kopf. Er fluchte, ließ sie aber selbst dann nicht los, als sie ihm auf den Fuß trat.

»Verdammt. Ich meine es ernst, Rotling. Ich brauche deine Hilfe, und ich lasse dich erst los, wenn du mich anhörst«, presste er hervor, während er sie weiter festzuhalten versuchte und dann abermals fluchte. »Bei allen Göttern, bist du stark.«

Sie befahl einem Besen, ihn anzugreifen, aber diesmal war er vorbereitet. Er ließ einen ihrer Arme los und fing den Besen in der Luft auf. Selbst mit nur einem Arm schaffte er es, sie weiter an sich zu pressen. Doch sein Griff war schwächer, und als Remy plötzlich beide Beine anhob, musste sich der Prinz vorbeugen, um das zusätzliche Gewicht auszugleichen. Sie hatte nicht erwartet, dass er sie loslassen würde, doch er neigte sich gerade so weit vor, dass sie den Dolch in seinem Stiefel packen konnte. Ehe er begriff, was sie tat, stieß sie ihm den Dolch in den Oberschenkel.

Mit einem Schrei ließ der Prinz sie fallen. Sofort rannte sie los und verursachte mit ihren magischen Kräften einen Malstrom aus Trümmern. Eimer, Fässer und Spaten sausten hinter ihr her.

Sie rannte über das Gehöft zum Waldrand hinter dem Gasthaus und lenkte ein zusätzliches Quäntchen Magie in ihre Oberschenkel, um noch schneller zu werden. Trotzdem lief niemand so geschwind wie Fae. Remy hörte den Prinzen hinter sich, der ihr nachstürzte.

Die Stichwunde an seinem Bein hatte ihn nicht ausgebremst. Fae heilen zu schnell, dachte Remy verzweifelt und ging vergeblich ihre Möglichkeiten durch.

Sie würde nicht auf diese Weise sterben.

Als sie die Schwelle des Waldes überschritt, griff sie ein weiteres Mal auf ihre magischen Kräfte zurück. Remy beschwor alle Macht herauf, die sie noch in sich hatte, und richtete sie auf die mäch­tige Tanne direkt vor sich. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen knickte der riesige Baum ein. Mit vor Anstrengung zitternden Händen half sie noch ein wenig nach.

Komm schon. Noch ein bisschen. Noch ein kleines bisschen. Ja!

Sie spürte, wie der Baum nachgab, hörte das schwere Rauschen der Äste, als sie darunter hindurchsauste. Die gewaltigen Äste verfehlten sie nur knapp, als der Boden unter dem ohrenbetäubenden Aufprall erbebte. Ein Windstoß fuhr ihr in den Rücken. Doch sie rannte weiter. Ihre Beine brannten.

Nicht weit entfernt verlief ein Fluss durch den Wald. In ihn würde sie hineinspringen. Fae verfügten zwar über einen übernatürlichen Geruchssinn, aber auch der hatte seine Grenzen. Wenn sie flussabwärts schwamm, konnte keiner genau vorhersagen, wo sie wieder an Land gehen würde. Sie musste zum Fluss.

Sie hoffte inständig, dass sie Heather und Fenrin nicht dafür bestrafen würden, sie versteckt zu haben. Vor langer Zeit hatten die drei eine Abmachung getroffen. Wenn sich jemals die Frage stellte, was sie tun sollte, hatte Remy versprochen, wegzulau-fen.

Immer wegzulaufen.

Remys Ohren waren erfüllt vom Rascheln der Blätter unter ihren Füßen und ihrem keuchenden Atem. Ihre Lunge erinnerte sie bei jedem Schritt daran, dass sie nicht in Form war. Sie musste dringend öfter laufen und vielleicht auch ein paar Nahkampfgriffe lernen.

Noch während sie über ihr zukünftiges Fluchttraining nachdachte, registrierte sie eine schnelle Bewegung in der Luft. Instinktiv wich Remy nach rechts aus, hoffte, dass sie schnell genug war. Sie erkundete die Quelle ihrer magischen Kräfte. Das Fällen der Tanne hatte ihre untrainierten Kräfte erschöpft.

Die Laufgeräusche hinter ihr wurden wieder lauter. Sie wagte nicht, sich umzusehen.

Schneller, befahl sie ihren Beinen. In ihrer Panik beschwor sie einen weiteren Funken Magie herauf. Ein knisternder Schutzschirm bog vor ihr Äste auseinander, die hinter ihr wieder zurückschnellten. Sie lief immer weiter und atmete so schwer, dass ihre Kehle brannte. Die Schritte waren nun direkt hinter ihr.

Eine Hand griff nach ihrer Armbeuge. Remy riss sich los, vergaß dabei aber, ihre Zauberkraft auf den Ast vor sich zu richten. Mit einem angefangenen Fluch auf den Lippen prallte sie gegen das harte Holz.

Und stürzte.

Über ihr leuchteten die hypnotisierenden grauen Augen, als der Prinz sich keuchend über sie beugte, ihr seinen Daumen auf die Schläfe presste und einen Blutstropfen wegwischte.

»Alles in Ordnung?« Seine Stimme verschwamm, als würde sie von einem unsichtbaren Wind davongetragen.

Remy versuchte sich aufzurappeln, aber der Boden schwankte unter ihren Füßen. Die Arme des Prinzen schossen vor und fingen sie auf, bevor sie wieder fallen konnte. Noch während sie sich wehrte, zog er sie auf die Beine.

»Ich habe doch gesagt, dass ich dir nichts tun will«, sagte er, und seine Stimme kühlte sie wie ein Winterwind. Ohne das leiseste Anzeichen von Schmerz im Gesicht stand er vor ihr, obwohl sein Hosenbein blutgetränkt war. Remy empfand keinerlei Reue. Fae heilten so schnell, dass die Wunde in einigen Tagen verschwunden sein würde.

Außerdem traute sie ihm nicht für eine Sekunde über den Weg. Sie beschwor einen Ast herab, der ihm auf den Kopf fiel, aber es war nicht mehr als ein kleiner Klaps.

»Wer bist du?« Er lachte. In seinen Augen spiegelte sich Überraschung und so etwas wie widerwillige Bewunderung.

»Ich bin niemand«, antwortete Remy, während sie gegen die Dunkelheit ankämpfte, die ihre die Sicht trübte und sie in die Tiefe zu ziehen drohte.

»Das bezweifle ich aber stark, kleine Hexe.« Der Prinz grinste.

Remy sah, wie sich die leuchtenden Augen weiteten, als sie tief ausatmete.

Dann nahm die Dunkelheit von ihr Besitz.

Noch ehe sie die Augen aufschlug, hörte Remy den Hall schlurfender Schritte in einer höhlenartigen Halle. Sie waren nicht auf dem Dachboden über den Ställen der Taverne. Nein, sie befanden sich in einer Art Ruine. Ihr Kopf pochte, aber ihre Sicht wurde allmählicher wieder klarer. Das Gemäuer um sie herum sah aus wie eine uralte steinerne Kathedrale. Die Hälfte des Daches war eingefallen und die Nachtluft drang ungehindert durch die Fenster, in deren Ecken nur noch kleine Reste von Buntglas zu sehen waren.

Als sie über die Schulter blickte, entdeckte sie den Prinzen. Sein Name war Hale, erinnerte sich Remy. Er hockte vor einem kunstvoll verzierten steinernen Ofen. Den Flammen nach zu urteilen, die hungrig an einem Holzstapel leckten, war das Feuer gerade erst angezündet worden.

Remy hörte Schritte auf der anderen Seite der dunklen Halle und dann Heathers Stimme.

»Remy!«, rief ihre Hüterin und kam herübergeeilt.

Kurz danach tauchte auch Fenrin auf. Beide sahen unversehrt aus, ihre Hände lagen nicht mehr in Fesseln. Weder verstand Remy, warum ihr eigener Kopf immer noch auf ihren Schultern saß, noch, warum Heather und Fenrin hier waren und man ihnen kein Härchen gekrümmt hatte.

Ihre rothaarige Hüterin kniete sich neben sie und umsorgte sie wie ein Kind. Die Hand auf die dicke Beule an Remys Stirn gelegt, wandte sie sich zum Prinzen um.

»Was habt Ihr mit ihr gemacht?«, fragte sie vorwurfsvoll.

»Gar nichts«, erwiderte der Prinz achselzuckend. Er reckte den Hals, um zu Remy hinüberzuschauen, und sagte mit einem breiten Grinsen: »Das hat sie ganz allein geschafft.«

»Bastard«, zischte Remy.

Heather schnappte leise nach Luft. Als stummes Zeichen der Warnung packte sie Remys Arm. Doch sie verdrehte die Augen. Schließlich war er der königliche Bastardprinz des Östlichen Hofes.

»Sehr originell, Rotling.« Hales Lippen wurden schmal, während er sie mit zusammengekniffenen Augen ansah.

»Nennt mich nicht so«, knurrte Remy.

Es gefiel ihr nicht, dass dieser Prinz von ihrer roten Hexenmagie sprach. Auch wenn sie sich mitten im Wald in einer Ruine befanden, konnte man nie wissen, wer sonst noch zuhörte.

»Dann nenn du mich nicht ›Bastard‹«, erwiderte der Prinz grummelnd.

»Kinder, Kinder«, rief eine helle Stimme aus der Dunkelheit.

Eine weibliche Fae erschien in einem Türrahmen. Sie war groß und schlank und trug einen langen weißblonden Zopf, der beim Gehen hin und her schwang. Ihr auseinandergleitender Umhang gab den Blick auf Kampfkleidung und ein Schwert frei, das sie um die Hüfte geschnallt hatte. Hinter ihr erschienen zwei weitere Fae, ein Mann und eine Frau.

Remy wurde blass. »Ihr habt zwei weibliche Soldaten?«

»Zweifelst du daran, dass weibliche Wesen gute Kämpferinnen sein können?« Die zweite Fae lachte, als sie in die Halle trat.

Die blonde Fae näherte sich Remy. Ihre großen blauen Augen leuchteten im Feuerschein.

»Und das sagt ausgerechnet die kleine Hexe, die fast einem Fae-Prinzen entkommen ist und nur mit der Kraft ihrer Magie eine riesige Tanne gefällt hat.« Ihre Stimme besaß einen warmen, samtenen Klang. »Niemand hier wird dich unterschätzen, nur weil du eine Frau bist.« Sie streckte die Hand aus, wobei ihr Zopf über die Schulter rutschte. »Carys.«

Remy nahm die Hand der Fae. Sie hatte einen kräftigen Händedruck. »Remy.«

»Diese beiden hier sind Talhan und Briata, die Adlerzwillinge.« Carys nickte zu den anderen beiden hinüber, die auf der gegenüberliegenden Seite der Halle ihre Umhänge abgelegt hatten und ihre Schlafsäcke von den Rucksäcken losbanden.

Auch ohne ihren Spitznamen war es nicht zu übersehen, dass es sich um Zwillinge handelte. Beide waren groß und muskulös, der männliche Fae noch etwas größer und wuchtiger als seine Schwester. Und es war ebenso klar, warum sie den Spitznamen Adler trugen: nicht nur wegen ihrer kurzen, braunen Haare und der Hakennase, es waren vor allem ihre Augen, die die Ähnlichkeit perfekt machten. Sie waren golden, von einem ungewöhnlich, fast unwirklichen Gelb. Remy schauderte, als sie zu ihr herüberblickten. Sie besaßen die gleiche Art von Schönheit wie alle Fae, aber mit ihren markanten Zügen erregten sie gewiss überall besondere Aufmerksamkeit. Kein Wunder, dass sie in der Taverne Zur Rostigen Axt ihre Kapuzen aufbehalten hatten.

Die Adlerzwillinge nickten Remy zu und widmeten sich dann wieder ihrer Beschäftigung.

»Ich habe noch wesentlich mehr weibliche Soldaten«, erwiderte der Prinz, »aber diese beiden hier sind meine besten. Deshalb habe ich sie ausgewählt, damit sie mich auf dieser Mission begleiten.«

»Und was genau ist das für eine Mission?«, fragte Remy.

Wieder legte Heather ihr die Hand auf den Arm. Dränge sie nicht, schienen ihre Augen zu sagen.

Der Prinz wischte sich die Hände ab und setzte sich mit dem Rücken zum Feuer. Carys reichte ihm eine Feldflasche mit Wasser, die er mit einem kurzen Nicken entgegennahm.

»Wir sind auf der Suche nach Prinz Raffiel«, sagte Hale in einem Ton, als wäre es keine große Sache, nach dem ältesten Kind des gefallenen Königspaares vom Hohen Gebirge zu suchen.

Diesmal war Fenrin derjenige, der lachte, doch auf einen Blick des Prinzen hin wandelte er das Lachen in ein Husten ab. Er hatte noch nie so jung gewirkt wie jetzt mit dem Kriegerprinzen als Gegenüber.

»Ihr seid auf der Jagd nach einem Geist … Hoheit«, hängte Fenrin hastig den Titel an.

»Bist du da so sicher?«, fragte Hale. »Ich kannte Raffiel schon als Junge. Wir sind im gleichen Alter.«

Bei seinen Worten zog sich Remys Herz schmerzhaft zusammen. Er hatte Raffiel gekannt. Sie hatte ihn auch gekannt, vor langer Zeit, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sie rechnete nach. Demnach war Hale jetzt achtundzwanzig.

»Es tut mir leid, dass Ihr Euren Freund verloren habt, Hoheit«, warf Heather ein wenig sanfter ein.

»Ich glaube nicht, dass ich ihn verloren habe«, sagte der Prinz und sah ihr prüfend ins Gesicht. »Ihr kennt die Gerüchte sicher genauso gut wie ich. Auf dem ganzen Kontinent wird über Raffiels Auftauchen getuschelt.«

»Gerüchte«, sagte Remy.

»Dann sag mir, kleine Hexe«, fuhr der Prinz an sie gerichtet fort, »wenn tatsächlich alle Mitglieder des Hofes vom Hohen Gebirge tot sind, warum kann der König des Nordens dann die Unsterbliche Klinge nicht führen?«

Schweigen breitete sich aus. Das war die alles entscheidende Frage. Jetzt, da angeblich alle Mitglieder der königlichen Familie vom Hof des Hohen Gebirges tot waren, müsste die Unsterbliche Klinge von ihren Blutsbanden befreit sein. Jeder Fae, ob männlich oder weiblich, müsste in der Lage sein, die Kontrolle über das Schwert zu übernehmen. Es war ein Königsmacher, eine Todesklinge, die, wenn man sie beherrschte, auf einen Schlag ganze Armeen auslöschen konnte. Die Klinge vermochte aus der Distanz zu töten, ohne den Empfänger des Hiebs auch nur zu berühren. Es war eine grausame Magie. Zwar verlieh die Klinge kein ewiges Leben, wie ihr Name versprach, doch sie machte die Person, die sie führte, im Kampf unantastbar. Kein Schwert konnte ihr etwas anhaben. Wenn der König des Nordens sich die Klinge durch ein eigenes Blutsband gefügig machte, würde dies eine Metzelei auslösen, wie Okrith sie noch nie erlebt hatte.

»Die Blutlinie des Hofes vom Hohen Gebirge lebt weiter«, sagte der Prinz zuversichtlich. »Viele Zeugen behaupten, gesehen zu haben, wie Raffiel den Flammen des Gemetzels von Yexshir entkam.«

Schaudernd versuchte Remy die Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen: den brennenden Palast; Fae und Menschen, die verzweifelt gegen vergitterte Türen schlugen; andere, die aus den Fenstern sprangen. Einige waren entkommen, nur um von Soldaten des Nordens niedergestreckt zu werden, sobald ihre Lungen wieder frische Luft atmeten. Noch immer konnte Remy den Rauch riechen, die Schreie hören und die welken Hände von Baba Morganna spüren, der Hohepriesterin der roten Hexen, die sie von dem Blutbad wegzerrte.

»Das ist dreizehn Jahre her«, sagte Fenrin und rückte dabei näher an Remy heran. Sie merkte, dass dem Prinzen die Bewegung nicht entgangen war, auch wenn man es nur daran erkannte, wie er die Kiefermuskeln anspannte. »König Vostemur hat selbst unermüdlich Jagd auf ihn gemacht, und doch wurde er nie gefunden …« Fenrin sprach seinen Gedanken nicht zu Ende: Wie könnt Ihr glauben, dass Ihr Erfolg haben werdet, wenn der mächtigste Mann der Welt versagt hat?

»Der König des Nordens mag mächtig sein«, erwiderte der Prinz des Ostens, »aber er ist auch arrogant. Nach allem, was wir wissen, könnte sich Raffiel mithilfe eines Trugzaubers auch als Mensch oder als Hexe getarnt haben.«

Carys lachte leise, als sie sich neben ihren Prinzen setzte. Remy betrachtete die beiden und fragte sich, ob sie zusammen waren. Dann verdrängte sie den Gedanken.

»Wir haben kein Interesse daran, Raffiel zur Strecke zu bringen, deshalb hat er keinen Grund, sich vor uns zu verstecken. Wir wollen ihm sogar helfen, den Thron wieder zu besteigen. Warum sollte er sich seinen wahren Verbündeten nicht zu erkennen geben?«

»Warum sollte er glauben, dass Eure Worte irgendetwas zu bedeuten haben, nachdem Ihr dreizehn Jahre lang die Füße stillgehalten habt?«, fragte Remy zurück.

Das saß. Sie sah es im Gesicht des Prinzen. Mehr als ein Jahrzehnt war vergangen, ohne dass der königliche Hof des Ostens irgendetwas unternommen hatte, um König Vostemur aufzuhalten, während er Jagd auf sämtliche Fae und roten Hexen vom Hof des Hohen Gebirges machte.

»Der Zorn des Nordens war anfangs zu groß«, erklärte der Prinz. Remy lachte bitter auf. »Vostemur hatte die größte Armee aufgestellt, die die Welt je gesehen hat. Er hat den mächtigsten Fae-Hof von Okrith vernichtet. Habt ihr wirklich erwartet, wir würden dieser blutrünstigen Armee Anlass geben, sich gegen den Osten zu wenden?«

Remy runzelte die Stirn. Der König des Nordens hätte jeden Widerstand ausgemerzt. Die Unterwerfung unter seine Macht war eine Überlebensstrategie. Dennoch nahm sie dem Osten, Süden und Westen ihre Untätigkeit übel. Auch wenn sie wusste, dass selbst alle drei Armeen gemeinsam es vor dreizehn Jahren nicht geschafft hätten, den Hof des Nordens aufzuhalten.

Remy war das egal. Wenn ihre Leute brennen mussten, dann sollten es auch alle anderen tun.

»Seine Armee schrumpft«, sagte Carys in die düstere Stille hinein. »Es gibt nicht genug Geld oder Eroberungen, um ein Heer dieser Größe zu unterhalten. Viele von Vostemurs Legionen haben sich aufgelöst, weswegen er seine Kräfte nach innen gerichtet hat. Wenn er Raffiel nicht finden kann, muss er auf anderem Weg versuchen, die Blutsbande der Unsterblichen Klinge zu kappen.«

Heather schnappte nach Luft. »Ist das denn möglich?«

»Die blauen Hexen, die der König des Nordens versklavt hat, arbeiten daran. Vostemur hat versucht, die Magie mithilfe der Leiber der zur Strecke gebrachten roten Hexen zu manipulieren.« Carys’ Blick glitt entschuldigend zu Remy hinüber. Sie sprach von ihren Leuten. »Aber wir wissen, dass sich die verbliebenen roten Hexen versammeln.«

Der Prinz hob die Hand, um Carys zu unterbrechen, und sie hielt inne. »Wenn es euch dazu bewegen würde, uns zu helfen, verraten wir euch, wo sie sich zusammenfinden.« Sein Blick schweifte über Remy hinweg. »Aber ich fürchte, du würdest mit diesem Wissen zu deinem Hexenzirkel durchbrennen und uns im Stich lassen.«

Ihr schlug das Herz bis zum Hals.

»Die roten Hexen versammeln sich?«, fragte sie atemlos.

KAPITEL 3

Hales Nachricht hatte ihren Körper förmlich erstarren lassen. Wenn die Hexen sich wieder versammelten, bedeutete das, dass noch genügend von ihnen übrig waren … und sie einander fanden. Remy starrte in die Dunkelheit, während sie mit diesem Gedanken kämpfte. Die roten Hexen hatten sich in alle Winde zerstreut, und es hatte den Anschein, als wären sie alle gefasst worden. Seit Langem fragte sie sich, ob sie als Einzige noch übrig war.

»Ja«, bestätigte Hale, der sie in ihrer Verwirrung beobachtete. »Baba Morganna führt sie an.«

Das sprengte Remy fast die Brust. Konnte das wahr sein?

»Baba Morganna ist am Leben?« Sie rang die Hände. Damals hatte sie mitangesehen, wie die Hohepriesterin der roten Hexen unter einem Berggipfel begraben wurde. Sie war sicher gewesen, dass die herabfallenden Felsbrocken Baba Morganna getötet hatten. Aber vielleicht täuschte sie die Erinnerung ihres sechsjährigen Ichs. »Wie könnt Ihr von mir erwarten, dass ich Euren Worten Glauben schenke?«

»Ein befreundeter Gefolgsmann hat sie mit eigenen Augen gesehen«, sagte Hale.

»Das bedeutet gar nichts«, entgegnete Remy. »Euer Freund könnte für Vostemur arbeiten.«

»Auf Bern ist Verlass. Er hat … Verbindungen zum Hof des Hohen Gebirges. Er würde nie einen Verrat begehen«, versicherte ihr Hale. Bei seinen nächsten Worten verzog sich sein Mund zu einem Lächeln, als wartete er schon lange darauf, sie endlich auszusprechen. »Außerdem hat Bern mir aufgetragen, dir zu sagen, dass du die rote Kerze in deiner Tasche benutzen sollst, wenn du ihm nicht glaubst, kleiner Spatz.«

Remy wich das Blut aus dem Gesicht. Kleiner Spatz. Diesen Spitznamen hatte Baba Morganna ihr als Kind gegeben. Dann war es also tatsächlich die Wahrheit. Morganna war am Leben. Sie könnte ihre rote Hexenkerze benutzen, um die Hohepriesterin zu rufen und Gewissheit zu erlangen … aber dann wäre die Kerze für immer verbraucht. Es konnte keine Lüge sein, dafür waren die Informationen zu akkurat. Sie würde die rote Kerze benutzen, wenn sie jemals an ihnen zweifelte, aber wenn sich die roten Hexen tatsächlich wiedervereinigten, änderte das alles. Die ganzen Jahre über hatte Remy gehofft, dass die Hohepriesterin überlebt hatte, aber jetzt, wo es sich bestätigte … Sie ballte die Fäuste, um nicht zu weinen.

»Ihr habt mir immer noch nicht erklärt, warum Ihr mich braucht«, überspielte Remy ihren Schock und starrte den Prinzen einmal mehr herausfordernd an. Er schmunzelte über ihren strengen Blick.

»Deine Magie verbindet dich mit dem Hof des Hohen Gebirges. Du spürst seine Magie und die Gegenstände, die durch sie geschaffen wurden«, antwortete er und strich sich die welligen Haare aus der Stirn.

»Warum geht Ihr nicht einfach zu den roten Hexen, wenn Ihr wisst, wo sie sich versammeln? Ihre vereinten Kräfte sind viel stärker als meine. Sie wären besser in der Lage, Euch zu helfen«, sagte Remy. »Ich wusste ja nicht einmal, dass etwas im Gange ist.«

»Ich bezweifle, dass dein Hexenzirkel mir vertrauen oder mir helfen würde«, sagte Hale. »Aber ich benötige dich gar nicht für die Suche nach Raffiel.«

Remys Fuß hörte auf zu wippen, als der Prinz fortfuhr.

»Die Unsterbliche Klinge enthält rote Hexenmagie, das stimmt. Aber das gilt auch für ihre beiden Schwestertalismane: den Shil-de-Ring und das Amulett von Aelusien.«

Shil-de war das Mhenbic-Wort für »ewiger Schild«. Die roten Hexen hatten den Ring angefertigt, damit er seinen Träger beschützte und unverwundbar machte. Im Laufe der Jahre war er durch viele Hände gegangen, und niemand wusste mehr, wo sich der Ring befand.

Das Amulett hatten die alten Fae des Hohen Gebirges auf dem Berg Aelusien versteckt. Der Talisman war voller Hexenmagie, sodass jede Person, die ihn trug, auf die Kräfte der roten Hexen zugreifen konnte. Auf der Suche nach dem Amulett hatten so viele an den Hängen des Aelusien ihr Leben gelassen, dass der Berg nun einen unheilvollen Namen trug: Todesgipfel.

»Ihr wollt, dass ich Euch helfe, den Ring und das Amulett zu finden?« Mit hochgezogenen Brauen sah Remy Fenrin an, der auflachte. Dieser Prinz musste verrückt sein.

»Ich habe bereits eine Ahnung, wo sich der Ring befindet«, fuhr der Prinz fort, »aber ich brauche eine rote Hexe, um ihn zu prüfen. Und um den Todesgipfel zu überleben, brauche ich die Magie der roten Hexen ebenfalls. Ich habe vor, die Talismane zu den roten Hexen zu bringen, in der Hoffnung, dass sie Raffiel einen Wink geben werden. Selbst wenn die Hexen den Aufenthaltsort ihres Prinzen nicht preisgeben wollen, sollten ihn die Talismane aus seinem Versteck locken. Mit dem Amulett und dem Ring kann er den König des Nordens besiegen. Er könnte diesen Krieg beenden, bevor er sich ausweitet.«

»Und wenn wir Leib und Leben für die Talismane aufs Spiel setzen, sie Raffiel aber dennoch nicht herauslocken?«, wich Remy aus.

Heather war die ganze Zeit über damit beschäftigt, Remy weiter zu umsorgen, und holte eine Salbe aus ihrer Tasche, die sie ihrem Schützling auf die geprellte Stirn strich. Ihre Heilkräfte ließen die Fingerspitzen der Hexe bräunlich leuchten. Die Tinktur brannte, und Remy wehrte die Hand ihrer Hüterin ab. Auch so würde die Wunde bald verschwinden.

»Dann hat der Hof des Ostens im unvermeidlichen Krieg gegen den Norden zwei mächtige Druckmittel in der Hand«, erklärte der Prinz mit irritierender Gelassenheit. »Die Unsterbliche Klinge wird es schwer haben, sich durch unsere Lande zu kämpfen, wenn sie unter dem Schutz der Talismane stehen. Wir werden den roten Hexen eine sichere Zuflucht bieten und uns mit den anderen Königshöfen zusammentun, wenn es sein muss.«

»Ihr sprecht, als wäre der Krieg mit dem Norden bereits Gewissheit«, murmelte Fenrin.

»Entlang der Ostgrenze gab es bereits Scharmützel mit den arroganten Nordländern«, sagte Carys. »Glaubt ihr, Vostemur würde jemals aufhören? Sein Ehrgeiz kennt keine Grenzen. Er wird nicht eher zufrieden sein, bis er der einzige Herrscher im ganzen Land ist.«

Hale nickte. »Solange er sich auf die Klinge konzentriert, gibt uns das Zeit für unsere eigenen Pläne.«

»Und was haben wir davon?«, fiel Remy ihm ins Wort. »Bislang habt Ihr uns lediglich aus unserem Zuhause gerissen und bedroht.«

»Ich habe dir gesagt, dass es keine gute Idee ist, sie zu fesseln«, rief der weibliche Adlerzwilling, Briata, von der anderen Seite. Ihre Stimme hatte einen tiefen, verführerisch rauen Klang, was Remys Aufmerksamkeit wieder auf ihre markanten Gesichtszüge lenkte.

»Stimmt, nichts schafft mehr Vertrauen als eine ordentliche Entführung, Hale«, fügte Talhan glucksend hinzu.

Der Prinz bedachte die beiden mit einem finsteren Blick, aber seine Mitstreiter grinsten nur. Es war seltsam, diese Soldaten ihrem Prinzen widersprechen zu hören. Sie redeten mit ihm, als wären sie Freunde und nicht nur seine treuen Untertanen.

»Vielleicht solltest du einen kleinen Spaziergang machen, Hale«, schlug Carys vor, die sich zur Seite neigte und so leise mit dem Prinzen sprach, dass Remy sie kaum verstehen konnte. »Lass mich mit ihnen reden.«

»Ich schaffe das schon«, flüsterte Hale zurück.

Remy musste ihr Gesicht unter Kontrolle halten, um nicht zu verraten, dass sie die beiden gehört hatte. »Na, dann streng dich ein bisschen mehr an«, zischte Carys.

Die Kriegerin gefiel Remy. Und die Adlerzwillinge auch. Sie hatten Charisma wie alle Fae, aber sie waren auch auf eine merkwürdige Weise humorvoll und ungezwungen. Wäre da nicht die Tatsache, dass sie Fae waren und dass sie dem Bastardprinzen dienten, hätte Remy vielleicht sogar Lust, sie besser kennenzu­lernen.

»Sie hat eine berechtigte Frage gestellt«, sagte Carys lauter, damit die Hexen sie hören konnten. »Warum sollte sie uns helfen wollen?«

»Du meinst, abgesehen davon, dass es dem Prinzen, dem sie zu dienen geschworen hat, helfen würde, seinen rechtmäßigen Thron wieder zu besteigen?« Hale verzog die Lippen zu einem süffisanten Lächeln, während er Remy ansah. Sie erwiderte seinen Blick mit schmalen Augen. Die roten Hexen hatten dem Hof des Hohen Gebirges die Treue geschworen, dennoch war das, was er von ihr verlangte, ein Schlag unter die Gürtellinie. War ihre Treue stark genug, um sich auf die Suche nach zwei verlorenen Talismanen zu machen?

Der Prinz des Ostens schien ihre Reaktion richtig zu deuten. »Wir können dich sicher zu deinem Zirkel zurückbringen. So sicher wart ihr vermutlich seit dreizehn Jahren nicht mehr.«

Es war Heather, die über sein Angebot nachzudenken begann. Auch wenn sie das Herz am richtigen Fleck hatte, war sie kein Mensch, sondern eine Hexe und damit klug und gerissen. Allein würden sie und Fenrin es niemals schaffen, Remy zu den roten Hexen zurückzubringen. Schon mehrmals war Remy nur knapp der Gefahr entronnen, gefangen genommen oder getötet zu werden, und das in kleinen Provinzstädten. Wenn sie offen durch die Reiche reisen wollten, brauchte sie mehr Schutz als zwei braune Hexen. Remy wusste, dass sie zu Baba Morganna zurückkehren musste, sobald der Name der Hohepriesterin gefallen war.

Heather nickte bedächtig. Sie war der Kopf ihrer kleinen Gruppe, somit war es ihre Entscheidung. Und sie schien entweder zu glauben, dass der Prinz ihnen tatsächlich Schutz anbot, oder sie misstraute ihm, war aber dennoch der Ansicht, ein Bündnis mit ihm sei das Risiko wert. Was auch immer dahintersteckte, Remy wusste, dass Heather alles tun würde, um für ihre Sicherheit zu sorgen.

Remy hatte das Gefühl, dreizehn Jahre lang geschlafen zu haben, nur um mitten in einer panischen Flucht wieder zu erwachen. Alle Geduld wich aus ihrem Körper. Sie wollte nur noch zu den roten Hexen.

Sie rieb ihr wundes Gesicht. Das, worauf sie sich gerade einließen, war etwas völlig anderes, als sich in Tavernen zu verstecken. Es war ein gewaltiges Risiko, noch dazu konnte alles eine Lüge sein. Sie fragte sich, ob Heather sie vielleicht jemand anderem aufbürden wollte, aber nein, das sah der braunen Hexe nicht ähnlich. Dennoch war Remy die ganzen Jahre über eine große Belastung für sie gewesen. Diese Abmachung könnte ihrer aller Leben verbessern.

Remy biss sich auf die Lippe und sah zwischen Heather und Hale hin und her. Noch immer schaute der Prinz sie abwartend an.

Sie erwiderte seinen Blick, ließ ihn jedoch eine Weile zappeln, ehe sie antwortete.

»Wir sollen Euch also helfen, den Shil-de-Ring und das Amulett von Aelusien zu finden und obendreineinen lang vermissten Prinzen zu suchen? Das ist ziemlich viel, um was Ihr uns da bittet.«

»Ich bitte nur dich«, korrigierte Hale, während er sie mit seinen rauchgrauen Augen durchbohrte. »Wenn deine Begleiter mitkommen wollen, dann bitte ich sie nur darum, uns nicht aufzuhalten, auch wenn ich glaube, dass es wesentlich besser wäre, sie in die Taverne zurückzuschicken.«

»Nein«, sagten Heather und Fenrin wie aus einem Mund, »auf gar keinen Fall.«

»Wir bleiben bei Remy.« Heather warf Remy einen Blick zu, mit dem sie die rote Hexe warnte, ihrer Hüterin zu widersprechen. Der Prinz hatte recht: Für die braunen Hexen wäre es sicherer, zurückzubleiben. Braune Hexen verfügten lediglich über die Magie zu heilen, nicht über die Fähigkeit, Gegenstände zu beleben wie rote Hexen. Trotzdem verdankte Remy Heather ihr Leben. Die braune Hexe hatte sie öfter gerettet, als sie zählen konnte, deshalb konnte sie Heather nichts abschlagen.

Nachdenklich musterte Remy den Prinzen des Ostens ein letztes Mal. Das Vorhaben, von dem er sprach, war im besten Fall töricht und im schlimmsten Fall eine Katastrophe. Sie weigerte sich, ihm zu vertrauen, aber ein vorsichtiges Bündnis mit den Fae schien ihr ein kluger Schachzug zu sein. Sie konnte ihm helfen, bis er ihr verriet, wo sich die roten Hexen versammelten. Dann würde sie fliehen, bevor sie sich auf eine halsbrecherische Jagd nach einem Geisterprinzen einlassen musste.

Es fühlte sich an, als wäre ihr Leben jahrelang eingefroren gewesen, und plötzlich hatte der Name Baba Morganna sie zurück ins Feuer befördert.

Ihre Entscheidung war gefallen.

Remy sah zu, wie der Feuerschein über die kantigen Züge des Prinzen flackerte. »Die braunen Hexen kommen mit uns, und du wirst sie in Ruhe lassen.«

»Einverstanden.« Hale lächelte.

»Na schön, Prinz, dann haben wir eine Abmachung«, sagte Remy und besiegelte damit ihr Schicksal.

Die Wälder des Westlichen Hofes waren schier endlos. Das Gelände war rau und hügelig, und immer wieder ragten hohe Granitfelsen auf. Espen, Tannen und Ahornbäume dominierten das Dach des Waldes. Die durch die Baumkronen dringenden Licht­strahlen ließen auf dem laubbedeckten Waldboden üppiges Unterholz sprießen.

Die Herbsttagundnachtgleiche rückte näher. Einige Bäume trugen noch sommerliches Grün, während andere ihr Blattwerk bereits den kühlen Nächten geopfert hatten. Rote, goldene und orangefarbene Blätter tanzten und schwebten wie Federn auf den Boden.

»Sieh nur – Zwiebelkraut!«, rief Fenrin erfreut, als er hinter einem sich gelb färbenden Strauch auftauchte und eine Handvoll grüner Triebe hochhielt. »Die Blätter und Stängel kann man essen, außerdem eignen sie sich prima zum Verfeinern von Eintöpfen und … das interessiert dich überhaupt nicht.«

»Nein, es interessiert mich schon, ich …«, begann Remy, als sie die würzigen grünen Stängel entgegennahm und in die Tasche der Schürze steckte, die sie von Heather geliehen hatte. Sie wischte sich den Zwiebelgeruch von den Händen und strich über ihre zerknitterte braune Tunika.

»Du interessierst dich nicht für Zwiebelkraut, Remy, und das ist in Ordnung.« Fenrin lachte.

»Du hast recht, ich interessiere mich wirklich nicht dafür.« Remy grinste ihn an.

Sie hatten ihre Gefährten im Lager zurückgelassen, um nach Essbarem zu suchen. Sobald sie ihre Rucksäcke fallen gelassen hatten, hatte Remy sich die zu engen Stiefel von den Füßen gerissen. Sie war sicher, dass sie sich in den nächsten Tagen üble Blasen laufen würde.

Wie die meisten braunen Hexen waren Fenrin und Heather geschickte Sammler. Auf einem einzigen Waldspaziergang konnten sie genügend Heilpflanzen auftreiben, um sich durch den Verkauf die Taschen mit Druni zu füllen.

Obwohl die verschiedenen Hexenzirkel durchaus einige magische Fähigkeiten gemeinsam hatten, verfügte jeder Zirkel zudem über seine ganz einzigartige Magie. Blaue Hexen hatten seherische Fähigkeiten, grüne Hexen bereiteten köstliche Speisen zu und ließen wunderbare Gärten wachsen, rote Hexen konnten Gegenstände beleben, und die braunen Hexen waren kundig im Heilen und Sammeln.

Remy war ein hoffnungsloser Fall, wenn es um die Bestimmung von Pflanzen ging. Sie konnte einen Heilpilz nicht von einem Giftpilz unterscheiden. Trotzdem begleitete sie Fenrin gern auf seinen Streifzügen.

In der Vergangenheit hatten sie auf diese Weise ein lukratives Geschäft aufgebaut. Damit hätten sie sogar in größere Tavernen umziehen können, die näher an den Städten des Westlichen Hofes lagen. Aber sie hatten es sich nun mal zum Ziel gesetzt, in der Provinz zu bleiben, wo das Leben hart und Geld Mangelware war, und das alles nur, weil Remy eine rote Hexe war.

»Ich wünschte, ich hätte meinen Bogen noch«, sagte Remy schmollend, während sie die nackten Zehen im kühlen Moos vergrub. Sie krempelte ihre graue Hose bis zu den Waden hoch. Die frische Luft tat ihren wunden Füßen gut.

»Vielleicht kauft dir der Prinz einen, wenn du ihn nett darum bittest.« Fenrin kicherte, als er ihr im Vorübergehen zwei Pilze reichte.

»Liebe hungere ich, als ihn um einen Bogen zu bitten.« Remy steckte die Pilze in ihre Tasche.

Es fühlte sich merkwürdig an, ihre ungezwungene Routine wiederaufzunehmen. Da zogen sie nun mit einem Haufen hochrangiger Fae durchs Land und gingen dennoch weiter als altvertrautes Duo auf Nahrungssuche.

»Traust du diesem Prinzen des Ostens?«, fragte Fenrin, während sein Blick weiter suchend durch den Wald huschte.

»Kein bisschen.« Remy schnaubte.

»Gut. Nimm dich in Acht vor ihm«, sagte Fenrin mehr zu sich selbst als zu ihr. »Die anderen mag ich ganz gern. Sie sind angenehme Gefährten. Carys hat gesagt, dass sie mir irgendwann den Osten zeigt und …«

»Vor ihnen musst du dich auch in Acht nehmen, Fen«, unterbrach Remy ihn. »Sie mögen sich wie Freunde verhalten, aber sie sind gefährlich.«

»Ich weiß.« Fenrin gab ihr eine weitere Handvoll Pilze. »Trotzdem ist es besser als das, was wir bisher gemacht haben, oder? Ich reise lieber mit einem Trupp Fae-Krieger, als in der Rostigen Axt Laken zu schrubben.«

Remy rieb sich grinsend die schmutzigen Hände. »Ja, ich auch.«

»Unser Palais in Yexshir bekommt eine Waffenkammer.« Fenrin duckte sich lachend unter einen Baum. »Dann hast du Dutzende Bögen zur Auswahl.«

Dieses Spiel war ihr Zeitvertreib. Sie planten ihr Traumhaus, ein Schloss, das sie in der wiederaufgebauten Stadt Yexshir errichten würden. Es war eine Träumerei, die an dem Tag begann, an dem sie sich mit zwölf Jahren das erste Mal begegnet waren, und die sie auch sieben Jahre später noch weiterspannen.