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Märchen verzaubern die Menschen. Fast alle Mädchen wollen eine Prinzessin sein und viele Jungs ein Held. Aber was wäre, wenn die Geschichten nicht erfunden sind? Wenn es eine Märchenwelt gäbe – und sie wäre dein Zuhause? Ashley liebt ihr Leben in New York. Prinzessinnen hält sie für ausstaffierte Püppchen. Doch dann wird sie von einem Monster angegriffen und ausgerechnet ihr totgeglaubter Vater rettet sie. Er offenbart ihr, dass sie in Wahrheit Aschenputtels Tochter ist. Sie muss ihm helfen, diese Bestien zu stoppen. Denn sie rauben die Seelen von Märchenfiguren, damit die Menschen ihre Hoffnung verlieren. Ashley hält das zunächst für einen schlechten Scherz. Bis ihr Vater sie ins Märchenreich mitnimmt. An der Akademie soll sie lernen, Aschenputtel in einem magischen Märchen zu spielen. Dabei bringen ihr gutaussehender Stiefbruder – ein Drachenwandler – und ein mysteriöser Wolfsmann ihre Gefühle ziemlich durcheinander. Doch die beiden attraktiven Männer sind nicht Ashleys einziges Problem. Denn die Seelenbestien haben immer noch Appetit. Und zwar auf sie.
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Seitenzahl: 464
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Verlag
Titel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Nachwort
Impressum
Traumschwingen Verlag GbR
Ava Cooper
THE GRIMM WAY
How to Play A Fairy Tale
In geduckter Haltung eilen wir durch die Gänge. Mein ganzer Körper ist angespannt, denn hinter jeder Ecke kann jemand warten, um uns zu töten. Ich halte die Waffe, eine schwere Maschinenpistole, hoch, bin ständig darauf gefasst, losballern zu müssen. Aber niemand kommt. Dann erreichen wir die feindliche Basis, die unsere Feinde bis aufs Blut verteidigen werden. Meine Kopfhaut prickelt und ich fühle mich, als ob ich unter Strom stünde. Hastig drehe ich den Kopf, überprüfe, ob Riley noch hinter mir ist. Sie nickt mir ruhig zu, die Waffe erhoben. Tief atme ich durch, bereit, loszustürmen.
Auf einmal springt eine blonde Frau mit einem aberwitzigen Vorbau hinter einem Haus hervor und will uns erledigen. Wäre ich ein Mann, könnte ich vor lauter Sabbern kaum noch zielen. Aber ich bin eine Frau. Und zwar eine, die erst vor knapp drei Monaten wegen einer blonden Sirene verlassen worden ist. Ich brülle so laut auf, dass man es sicher meilenweit hören kann. Dann halte ich mit meiner Knarre auf die Gegnerin und schieße fast das ganze Magazin leer. Die wird niemandem mehr den Freund ausspannen.
Beim Blick auf das blutende Etwas auf dem Boden überfällt mich ein Anflug von schlechtem Gewissen. Vielleicht habe ich es ein bisschen übertrieben. Andererseits: Toter als tot geht nicht. Nach einem schier endlosen Moment des Starrens reiße ich mich los und will Riley ein Zeichen geben, dass wir weiter können. Plötzlich erscheinen ein halbes Dutzend Soldaten gleichzeitig und nehmen uns ins Kreuzfeuer. Wir haben keine Chance gegen diese Übermacht. Stöhnend sacke ich zu Boden ...
Schon sind wir raus aus dem Spiel. Verdammt, wir standen diesmal so kurz davor, die Basis zu erobern!
»Hey, Bitch, was war da bloß los? Du hättest dich viel früher in Deckung bringen müssen«, ranzt meine beste Freundin Riley mich an, nachdem sie sich die VR-Brille abgenommen hat. Rotzig-direkt wie immer. Deswegen liebe ich sie ja auch so. Doch jetzt schaut sie mich verdammt böse an.
Mir ist bewusst, dass sie recht hat. Trotzdem schalte ich auf Angriff und verschränke demonstrativ die Arme vor der Brust. »Du hättest ja auch losballern können!«
»Hätte ich. Aber ich dachte mir, Ashley ist mal wieder in Chelsea-Trance. Wie immer, wenn du eine Blondine siehst.«
Sofort will ich protestieren, sagen, das hätte nichts mit ihr zu tun. Mit Chelsea. Owens Liebe des Lebens. Sie seien eine Seele in zwei Körpern. Das hat er mir allen Ernstes gesagt, als er Schluss gemacht hat. Klar. Wohl eher eine Seele in zwei Hupen, denn Chelsea besitzt die Figur eines Unterwäschemodels. Aber natürlich geht es Owen nur um den Charakter. Eigentlich müsste ich den Idioten abhaken und mir einen Neuen anlachen. Warum kann ich das bloß nicht? Schließlich bin ich einundzwanzig und keine einundsiebzig.
»Nächstes Mal packen wir es. Dann konzentriere ich mich besser. Versprochen!« Ich lächele sie an.
Riley schüttelt den Kopf. »Sorry, geht leider nicht. Ich muss noch für die Klausur in Rechnungswesen lernen.«
»Die ist erst in einer Woche!« Belustigt hebe ich die Augenbrauen. »Bis dahin hast du wieder alles vergessen.«
»Von wegen. Je früher man loslegt, desto besser sitzt es.«
Ich grinse. Es lohnt sich nicht, mit ihr darüber zu diskutieren. Sie ist nun einmal eine kleine Streberin, während ich Dinge bis zum Schluss aufschiebe. »Mir reicht das dicke am Weekend.«
»Da wolltest du endlich wieder mit uns ausgehen!« Meine Bestie sieht mich strafend an.
Ich seufze, denn mir steht nicht der Sinn nach Feiern. »Puh ... Ich weiß nicht«, setze ich an.
»Doch, Ashley, du weißt es. Du hast es versprochen! Taylor hat extra ein paar Freunde organisiert, damit sie mitkommen. Vielleicht ist ja einer von denen etwas für dich.«
Mit einem leisen Stöhnen verdrehe ich die Augen. »Du gibst wohl nie auf, oder? Ich stehe nicht auf Verkuppeln.« Und bestimmt brauche ich keine Kumpels von Rileys Freund. Er ist zwar okay, aber furchtbar unreif. Es ist für sie jedes Mal eine Qual, ihm eine Verabredung abzuringen, weil er sich nicht festlegen will. Warum stecken so viele Kerle in dem Alter immer noch in der Pubertät?
»Lass es halt mit den Typen. Aber geh wieder mit uns raus. Du versauerst sonst.«
Zunächst will ich ablehnen, bis ich die Resignation in ihrem Blick sehe. Sie glaubt nicht mehr, dass ich mitkomme. Plötzlich wird mir klar, wie gefährlich nahe ich daran bin, den Verlassene-Frau-Bonus zu überreizen. Irgendwann fragt sie mich gar nicht mehr und wir entgleiten uns. Außerdem hat sie ja recht. Das Leben geht weiter. Mit oder ohne Owen.
Ich nicke daher. »Alles klar.«
Riley starrt mich ungläubig an. »Echt jetzt?«
»Yep. Ist wieder Zeit, mich unters Volk zu mischen.« Trotz meiner gespielten Lässigkeit ist mir nicht wohl dabei. Was ist, wenn ich auf einmal losheulen muss? Ich straffe meine Schultern. Statt zu trauern, sollte ich meine Wut lieber abreagieren an virtuellen Chelsea-Verschnitten.
Hoffnungsvoll deute ich auf die VR-Brille. »Kann ich dich nicht zu einem weiteren Match überreden? Du darfst auch bestimmen, welches Spiel wir nehmen.«
Kurz blitzen ihre Augen auf und ich hoffe, die Lust am Zocken überwindet ihr Pflichtbewusstsein. Dann schüttelt sie den Kopf und springt auf. »Ich brauche einen Spitzen-Durchschnitt, um meinen Traumjob bei einer angesagten Company zu bekommen. Mach du ruhig weiter. Aber beschwer dich nicht, wenn du die Klausur verhaust.«
Verdammt, sie hat ja recht. Ich sollte besser auch pauken. Doch der Stoff ist so langweilig. Nein, ich fange erst morgen damit an. Das reicht. Achselzuckend setze ich die VR-Brille wieder auf und wähle mich bei der nächsten Runde ein. Leute, nehmt euch in Acht. Eine wütende Frau ist unterwegs!
***
Der Beat erfüllt meinen Körper und ich folge ihm. Gott, es tut so gut, wieder auszugehen. Warum habe ich bloß so lange darauf verzichtet? Weil ich Owen nachgetrauert habe? So ein Unsinn. Es gibt genügend andere Sahneschnittchen und an die werde ich mich jetzt halten. Aufmerksam sehe ich mich um, während ich mich im stakkatohaften Rhythmus der Musik wiege. Ja, hier sind ein paar heiße Typen. Ein großer Schwarzhaariger fängt meinen Blick auf und lächelt mir zu. Dann konzentriert er sich wieder auf seine eigenen Bewegungen. Nicht schlecht. Den sollte ich im Auge behalten.
Riley zwinkert mir zu. »Hot, der Typ. Mach dich ran.«
»Und zwar, bevor es eine andere tut«, fällt Ellen ein, die Dritte im Bunde. Allerdings bin ich mit ihr nicht so eng befreundet wie mit Riley, die ich kenne, seit wir uns auf dem Spielplatz die Förmchen um die Ohren gehauen haben.
Ich grinse beide an. »Vielleicht nachher. Jetzt wird getanzt. Die Musik ist gerade so gut.«
»Und wie!« Riley verdreht verzückt die Augen, während sie sich weiter zum Beat bewegt. »Außerdem muss ich es ausnutzen, dass wir Mädels allein sind. Sorry für die Vollpfeifen, die Taylor angeschleppt hat!«
Ich muss lachen bei dem zerknirschten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Die potenziellen Nachfolger von Owen sind nämlich genauso wie befürchtet: aufdringlich, hohl und unfassbar überzeugt von sich. Schon nach drei Sätzen mit ihnen steht mir der Sinn nach Flucht. Erleichtert blicke ich zur Bar, wo die Kerle mit Taylor stehen und Bier trinken. Von mir aus können die da ruhig bleiben.
Lieber werde ich versuchen, mir den sexy Schwarzhaarigen zu schnappen. Vorsichtig schiele ich zu ihm, aber er tanzt bereits mit einer anderen. Da war ich wohl nicht schnell genug. Auch egal. Hauptsache, ich bin wieder mal unterwegs und habe Spaß mit meinen Freundinnen.
***
Ich bleibe bis drei Uhr im Club und tanze mir die Seele aus dem Leib. Mittlerweile bin ich allein, denn Riley ist irgendwann von Taylor in Beschlag genommen worden und Ellen hat sich eine hübsche Brünette gekrallt. Mein scharfer Schwarzhaariger hingegen scheint wenig Interesse an dauerhafter Begleitung zu haben. Er tanzt mal mit der einen, dann mit der anderen, mit keiner jedoch wirklich lange.
Vermutlich hat er eine Freundin, die glaubt, er wäre bei seinen Kumpels. Danke, das brauche ich nicht. Mein Bedarf daran, verarscht zu werden, ist erst einmal gedeckt. Stattdessen bewege ich mich weiter zu den elektronischen Rhythmen, bis ich Durst bekomme. Ich steuere die Bar an, an der ich Ellen mit ihrer neuesten Errungenschaft entdecke. Die Brünette blickt mich böse an, als ich mich ihnen nähere.
Glaubt sie etwa, ich wäre eine Konkurrenz für sie? Selbst wenn ich auf Frauen stehen würde, bin ich nicht Ellens Typ. Das hat sie mir keine halbe Stunde, nachdem ich sie kennengelernt habe, mitgeteilt. Sie meinte, ich wäre ihr zu klein und zu kratzbürstig. Dabei hat sie gegrinst. Ich hoffe stark für sie, dass diese Schnalle butterweich ist.
»Hey, ihr Zwei«, grüße ich sie mit.
Ellen nickt und ihre Eroberung gibt ein »Hallo« von sich. Wobei sie immer noch wenig begeistert wirkt.
Als der Barkeeper kommt, bestelle ich mir ein Wasser und einen Sekt. Nachdem ich das Wasser heruntergestürzte habe, trinke ich einen Schluck von der Prickelbrause. Anschließend schaue ich mich um. »Weißt du, wo Riley ist?«
»Sie hat etwas davon gemurmelt, dass Taylor noch zu einer anderen Party wollte.« Sie zuckt mit den Achseln. »Hat sie dir nicht Bescheid gesagt?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein. Hat sie nicht.«
»Sie wollte dich aber suchen.« Ellen grinst. »So, wie ich Taylor kenne, durfte sie nur einmal nach dir sehen und danach hat er sie weitergezerrt.«
»Vermutlich. Und ich war zwischendurch auf dem anderen Floor, um zu checken, was da so läuft.« Unser Lieblingsclub ist in mehrere Areas aufgeteilt. Meist bleiben wir in der großen Stage, aber ich mag die Abwechslung. Anscheinend sind wir aneinander vorbeigelaufen. Trotzdem fühle ich mich wie bestellt und nicht abgeholt.
Ich trinke noch ein paar Schlucke von meinem Drink, während Ellens neue Flamme mich finster mustert. Sie will offensichtlich weiter mit ihr herumschäkern. Hastig leere ich meinen Sekt. Dann stelle ich das Glas auf dem Tresen ab und nicke Ellen zu. »Ich sollte jetzt mal nach Hause. Ich muss ja noch für Rechnungswesen lernen.«
Wofür ich natürlich viel zu wenig gemacht habe, ich dämliche Kuh. Im Geiste verwünsche ich mich selbst. So trockenen Stoff zu pauken, wenn man todmüde und leicht verkatert ist, wird die Hölle. Aber jedes Mal, sobald ich mein Buch ausgepackt hatte, kam eine Nachricht über irgendeinen Kanal herein und ich stürzte mich mit Begeisterung darauf.
Ellen hebt eine Augenbraue. »Na, bist du mal wieder auf den letzten Drücker dran?« Bestimmt hat sie selbst den Stoff schon tausendmal gelernt. In der Hinsicht sind Riley und Ellen sich ähnlich. Kein Wunder, dass die beiden zu den Besten unseres Jahrgangs gehörten. Im Gegensatz zu mir. Ich bin zwar keine komplette Niete, aber eben auch keine Durchstarterin wie meine Freundinnen.
»Kennst mich doch. Irgendwie schaffe ich das schon. Und wenn ich morgen den ganzen Tag lerne. Trotzdem muss ich jetzt los«, sage ich mit einem Seufzen.
Die Brünette wirft Ellen einen koketten Blick zu. »Du bleibst noch hier, oder?«
Die drückt ihr lächelnd einen Kuss auf den Mund. »Sicher, Honey. Ich will schließlich noch mehr von deinen Talenten hören.«
Ich muss mir das Grinsen verkneifen. Es ist mir echt ein Rätsel, wie sie es immer wieder schafft, lockere Affären mit Verfallsdatum aufzutreiben. Aber alle lieben Ellen, obwohl sie sich weiß Gott nie verbiegt. Anscheinend mögen viele sie, gerade weil sie so authentisch ist. Ich ja auch.
»Na, dann redet mal über eure Talente. Ich verabschiede mich jetzt.« Ich winke den beiden zu, die das kaum mitbekommen. Eine Jacke brauche ich nicht, weil der Spätsommer gerade Vollgas gibt. Jenseits von klimatisierten Räumen ist die drückende Schwüle unerträglich.
Kurz denke ich darüber nach, nach Hause zu laufen. Der Meatpack District, in dem wir uns befinden, liegt nicht weit vom Greenwich Village entfernt. Allerdings ist mein Schuhwerk nicht für längere Wanderungen gemacht, sondern nur dafür, gut auszusehen. Ich fluche leise, als ich mit dem Absatz über das Kopfsteinpflaster laufe und prompt zwischen zwei Steinen hängen bleibe.
Warum mache ich den Quatsch nur mit und ziehe keine Sneakers an, so wie sonst? Aber nein, ich musste mich für Peeptoes entscheiden. Die mega aussehen – darin zu laufen, ist allerdings eine Qual. Bestimmt hat sich das ein Mann einfallen lassen. Komischerweise ist es kein Problem, damit zu tanzen. Ein Umstand, den ich nie verstehen werde.
Ich versuche, mein Gleichgewicht wiederzufinden, wobei ich zugeben muss, dass das vermutlich nicht nur an den hohen Schuhen liegt, sondern auch am Alkohol. Also wird es die Metro. Zielstrebig steuere ich die nächste Haltestelle an. Ich bemühe mich um einen ruhigen Gang, während ich an schicken Trend-Boutiquen, Restaurants und Bars vorbeilaufe. Ich liebe diesen Stadtteil.
Ein Geräusch hinter mir lässt mich aufhorchen. Es klingt nach leisen Schritten. Verfolgt mich jemand? Mein Herz setzt einen Moment aus und ich drehe mich um, doch es ist nur eine Nachtschwärmerin, so wie ich. Erleichtert gehe ich weiter. Aus dem Augenwinkel erblicke ich ein hippes Oberteil, das mir gut stehen könnte. Ich werde langsamer, um darauf zuzugehen, als auf einmal ein Sirren ertönt und ein tiefschwarzer Wirbel vor meinen Augen erscheint.
Panik schießt durch meinen Körper, pumpt Adrenalin durch meine Venen. Ich bleibe zitternd stehen. Mein Brustkorb scheint aus einem Schraubstock zu bestehen, der sich immer enger zudrückt und mir den Atem raubt. Was in Dreiteufelsnamen geschieht hier bloß? Der Strudel wächst innerhalb von Sekunden, bis er so hoch wie ich ist.
Plötzlich spuckt er etwas aus, das wie ein zusammengeknüllter Mensch aussieht, und erstirbt. Die Stille, die nun folgt, erschreckt mich nicht weniger, als das Sirren zuvor. Sie strahlt eine aggressive Warnung aus. Die Härchen stellen sich an meinen Armen auf und mein Herz pocht wie ein Dampfkolben. Das menschenähnliche Ding, das aus dem Wirbel gekommen ist, richtet sich langsam auf – und ich keuche. Vor mir steht eine Bestie, die aus der Hölle selbst kommen muss. Sie hat eine Schnauze und Lefzen wie ein Raubtier, doch sie geht auf zwei Beinen. Kleine, rote Augen funkeln mich an und ich erkenne die Mordlust in ihnen.
Ich will schreien, weinen, wegrennen. Aber ich kann mich weder bewegen noch einen Ton herausbringen. Alle Muskeln in meinem Körper haben sich zusammengezogen, lähmen mich. Wie in einem entsetzlichen Albtraum. Nur, dass dies hier kein Traum ist, sondern die viel schrecklichere Realität.
Als ich leise stöhne, leuchtet in den Augen des Dings pure Gier auf. Es macht knurrend einen Satz auf mich zu. Nun endlich löst sich meine Erstarrung und ich brülle, so laut ich nur kann. Gleichzeitig taumele ich zurück, versuche, vor dem Ungeheuer zu fliehen. Doch es schnellt herum, treibt mich in die Enge zwischen den Häusern. Mit einer Mischung aus Triumph und Hunger starrt es mich aus bösen tiefroten Augen an. Wieder knurrt es gefährlich.
Mein Blick flackert und mein Herz pumpt. Ich suche nach einer Rettung, sehe allerdings nichts, wo ich mich vor diesem Vieh verstecken kann. Das ist immerhin ein verdammtes Monster! Und es will mich fressen. Mir wird eiskalt. Wimmernd will ich durch einen Ausfallschritt seinen Fängen entkommen. Aber ich taumele und falle lang hin. Das war es. Gleich wird das Biest seine grässlichen Fangzähne in mich schlagen. Tränen schütteln meinen ganzen Körper. Ich drehe mich um, versuche wegzukriechen. Doch es ist zu spät.
Das Monster heult bereits voller Triumph und setzt zum Sprung an. Ich weiß nicht, ob ich die Augen schließen oder zusehen soll, wie mich das Vieh als Mitternachtsimbiss verspeist. Tränen laufen über meine Wangen und ich liege wie gelähmt, unfähig, dem Unvermeidlichen zu entfliehen. Da erscheint mit einem metallischen Sirren ein weiterer Wirbel mitten in dem leeren Raum hinter mir und dem Monster.
Allerdings ist dieser im Gegensatz zu dem davor grellweiß. Auch dieser Strudel bringt etwas zum Vorschein. Mein Herz sackt in die Hose, weil ich befürchte, nun von zwei Bestien gleichzeitig angegriffen zu werden. Dieser Passagier ist jedoch eindeutig ein menschliches Wesen oder vielmehr ein Mann, auch wenn ich sein Gesicht nicht erkennen kann, weil mich der grelle Wirbel blendet. Aber die Silhouette ist humanoid. Ein zarter Anflug von Hoffnung glimmt in mir auf. Vielleicht kann dieser Unbekannte mir ja irgendwie helfen?
In seiner Hand taucht wie aus dem Nichts ein silbern schimmerndes Schwert auf und er sieht mich grimmig an. Ich keuche entsetzt. Also habe ich jetzt die Wahl dazwischen, von einer Bestie zerrissen zu werden oder von einer mittelalterlichen Waffe durchbohrt zu werden. Wobei mir Letzteres um einiges sympathischer ist, das geht wenigstens schnell.
Zu meiner Verwunderung – und riesengroßen Erleichterung – dreht sich der Mann zu der Bestie herum. Er attackiert sie wuchtig mit dem leuchtenden Schwert. Das Vieh heult, als es getroffen wird, gibt sein Ziel jedoch nicht auf. Stattdessen lässt es sich auf alle viere herunter. Es macht einen gewaltigen Satz auf mich zu. Dabei reißt es das entsetzlich große Gebiss so weit auf, dass ich jeden Reißzahn sehen kann. Mein Magen verkrampft sich, Schweiß bricht überall in mir aus, als mir der faulige Atem entgegenweht. Ich glaube bereits, die ersten Zähne an meiner Kehle zu spüren.
Damit habe ich den Schwertkämpfer jedoch unterschätzt. Er wirbelt so schnell herum, dass ich mich frage, ob er irgendeine Superkraft hat. Schützend wirft er sich vor mich – und rammt dem Ungeheuer die Waffe direkt ins Herz, als es auf mich zugesprungen kommt. Die Bestie jault ohrenbetäubend laut. Ein silbernes Leuchten erfasst das Vieh und hüllt es einmal komplett ein. Als jeder Zipfel von der Schnauze bis zur Pranke schimmert, gibt es eine gewaltige Explosion und das Ungeheuer zerspringt. Ich erwarte schon, über und über mit Blut besudelt zu werden. Aber stattdessen rieselt nur silberner Staub auf uns hernieder.
»Diese Seelenbestie wird niemanden mehr behelligen«, sagt mein geheimnisvoller Retter.
Ich erstarre, als ich diese Stimme höre. Diesen Klang kenne ich irgendwoher, da bin ich mir ganz sicher. Aber woher nur? In meinem Bekanntenkreis gibt es keine Männer mittleren Alters, die mit dem Schwert umgehen können wie ein Gladiator. Außerdem kommt mir das Gesicht fremd vor, obwohl es etwas in mir zum Klingen bringt. Ist der Mann vielleicht ein Freund von Mama, den ich nur ein- oder zweimal gesehen habe? Das wäre eine Möglichkeit, doch die Stimme lässt mich verrückterweise an meine Kindheit denken. Langsam stehe ich auf und starre ihm ins Gesicht.
Der Mann lächelt liebevoll.
»Hallo, Krümelchen.«
Ich keuche, spüre gleichzeitig ein Gefühl der Wärme und völliges Chaos. So hat mich nur ein Mensch genannt. Mein Vater. Damit hat er mich immer geneckt, weil ich so viele Dinge beim Essen verstreut habe. Das kann nicht sein.
Er ist bei einem Unfall gestorben, zusammen mit meiner Zwillingsschwester Isabel. Beinahe vergessene Erinnerungen an absolute Verbundenheit wabern durch mein Unterbewusstsein. Wir waren eins. Die Liebe, die so lange verschüttet war, überflutet mich wieder – und mit ihr der vertraute Kummer. Auch nach siebzehn Jahren sind beide Gefühle noch da. Wie ein Fleck, den man übermalt, aber nicht beseitigt hat.
Ich schluchze erstickt auf und schüttele den Kopf. Nein, das kann nicht sein. Sicher war etwas in dem Sekt, das mich halluzinieren lässt. Dieses Ungeheuer muss ja auch Einbildung gewesen sein, obwohl es mir verdammt real vorkam.
»W... wer sind Sie? Woher kennen Sie diesen Kosenamen?«
Der Mann seufzt und macht einen Schritt auf mich zu. Die Liebe in seinem Blick wärmt mich und weckt weitere Erinnerungen. »Krümelchen, du weißt ganz genau, wer ich bin.«
Er muss verrückt sein. Ich muss verrückt sein. Das alles kann nicht wahr sein. Der Fremde zieht mich an sich, um mich zu umarmen. Papas vertrauter Geruch umfängt mich. Er riecht frisch und ein wenig holzig, wie die Wälder, in denen wir so gern spazieren gegangen sind. Glücklich schmiege ich mich an ihn, inhaliere diesen Duft, der mich an die schönste Zeit meines Lebens erinnert. Damals, als wir noch zu viert waren. Das ist tatsächlich mein Vater! Meine Kehle wird eng und ich schlucke krampfhaft, um nicht loszuheulen.
»Gott, wie habe ich dich vermisst!«, sagt er leise.
Sofort brechen all meine Dämme. »Papa!« Schluchzend drücke ich mich an seine Brust. Ich begreife zwar nicht, wie das möglich ist, aber für diesen einen Moment will ich seine Nähe genießen und nichts hinterfragen.
Er zieht mich ganz fest an sich und ich spüre, wie es nass auf meine Wangen tropft. Wir umarmen uns schweigend, leise Tränen der Freude vergießend. Langsam begreift mein Herz, dass dies tatsächlich Realität ist. Mein Vater lebt!
»Es ist so schön, dich zu sehen.« Er seufzt und zieht mich noch enger an sich. »Es war schrecklich, dich gehen lassen zu müssen.«
Wieso gehen lassen? Er ist doch aus meinem Leben entschwunden. Oder ist er nur ein Trugbild? Vielleicht träume ich das alles nur. Aber wie kann er dann einen Körper besitzen? Ich löse mich von ihm, strecke die Hand aus und drücke ihn. Ich kneife erneut zu. Noch fester diesmal. Das ist alles echt – seine Haut, sein Fleisch, seine Wärme.
Ebenso wie sein schmerzverzerrtes Gesicht. »Ashley, ich verstehe, dass du dich wunderst. Ich wäre dir jedoch verbunden, wenn du nicht ganz so fest zupackst.«
Sofort nehme ich die Hand weg und starre ihn ungläubig an. »Du ... bist real. Wie ... wie kann das sein? Der ... Unfall? Isabel und du ... ihr seid doch ...«
»Was das angeht, waren wir nicht ganz ehrlich zu dir.« Papas Lächeln erstirbt. Er atmet einmal hörbar aus. »Es gab keinen Unfall. Deine Mutter und ich ... Nun, wir haben uns in Wirklichkeit getrennt.«
Ungläubig schüttele ich den Kopf. »Das ist nicht möglich! Ich erinnere mich genau daran. An das schreckliche Krachen, als der andere Wagen in uns gefahren ist.« Erneut spüre ich das Entsetzen jenes Tages, als unser Glück zu viert von einer Sekunde auf die nächste zerstört worden war. Wir waren auf dem Rückweg vom Zoo gewesen und hatten alle gute Laune. Aus dem Augenwinkel sah ich einen Wagen, der auf uns zuraste. Er krachte mit vollem Speed in die Beifahrerseite. Papa und Isabel waren angeblich sofort tot. Was offensichtlich gelogen war. Immerhin steht er ja vor mir.
Sein Lächeln wird noch verlegener, obwohl ich dachte, das sei nicht möglich. »Die Erinnerungen sind nicht echt. Sie wurden euch von einer Realitätsgestalterin eingepflanzt.«
»Einer bitte was?«
»Eine Realitätsgestalterin. So nennen wir Feen, die bei Menschen aus der NMR die Erlebnisse unserer Welt löschen, wenn sie bei uns waren. Wobei das normalerweise Kinder sind.« Er sagt das so, als wäre damit alles erklärt.
Meine Gedanken rasen und ich verstehe gar nichts mehr. Was redet er da von anderen Welten? Von Feen, die etwas im Kopf verändern? NMR? Das kann er unmöglich ernst meinen. Das gibt es nicht. Oder doch? Denn eins ist klar: Mein Vater ist quicklebendig. Hoffnung erfasst mich und mein Herz klopft schneller. Wenn Papa nicht gestorben ist, dann heißt das ... »Also lebt Isabel auch noch?«
Traurig schüttelt er den Kopf. »Dieses Ding, das dich angegriffen hat ... Es ... es hat sich vor ein paar Tagen auf Isabel gestürzt. Ihr Körper ist auf dieser Welt, aber ihr Geist ... Er weilt an einem anderen Ort.« Seine Gestalt scheint regelrecht in sich zusammenzusacken, Tränen glitzern in seinen Augen. »Es tut mir unfassbar leid, mein Krümelchen.«
Also ist sie für mich verloren. Meine Zwillingsschwester ist nur noch eine leblose Hülle, der Geist irgendwo gefangen. Lebt sie überhaupt noch? Obwohl ich schon vor so vielen Jahren um sie getrauert habe, umspült mich eine grausame Welle der Traurigkeit und ich beginne zu schluchzen.
Papa streicht mir mit beiden Händen über die Arme. Die Berührung tröstet mich ein wenig.
»Vielleicht findet der Rat einen Weg, sie zurückzuholen«, sagt er leise. »Nun sollten wir uns auf den Weg zu deiner Mutter machen. Wer weiß, wann diese Bestien wiederkommen. Daher muss ich dringend mit Cindy sprechen, damit sie dir erlaubt, mit mir ins Märchenreich zu gehen.«
»Äh ... bitte was?« Mit offenem Mund starre ich ihn an. Was hat er da eben gesagt? Das ist doch absurd. Ich muss das falsch verstanden haben. »W... wohin willst du mit mir?«
»Ins Mär-chen-reich«, wiederholt Papa, wobei er jede einzelne Silbe langsam und überdeutlich ausspricht. »Das ist deine wahre Heimat. Allerdings haben die Realitätsgestalterinnen dir ganz neue Erinnerungen an die ersten vier Jahre eingepflanzt. Das war eine unfassbare Arbeit.« Er schüttelt den Kopf und legt mir eine Hand auf die Schulter. Ernst sieht er mir in die Augen. »Glaub mir eins, Krümelchen: Du bist nicht in New York geboren, sondern im Märchenreich.«
Einen Augenblick bleibt mir die Luft weg. Jetzt ist es offiziell. Ich bin verrückt geworden. Oder Papa. Wenn er es wirklich ist. Ein Teil von mir glaubt immer noch, dass ich mir in irgendeinem Drogenwahn etwas zusammenfantasiere. Das kann doch alles nicht wahr sein. Aber mein Vater oder seine Illusion – was auch immer von beidem – schaut mich weiterhin so durchdringend an, als erwarte er eine Antwort.
Ich stoße einen Laut, halb Lachen, halb Schnauben aus. »Ja, sicher. Märchenreich. So wie bei Schneewittchen?« Er muss sich über mich lustig machen. Oder?
Papa bewahrt seine ernste Miene. »Eigentlich eher wie bei Aschenputtel. Das war deine Mutter, bis ... nun ja, meine neue Frau diese Rolle übernommen hat.«
Ich kann nicht anders, ich breche in schallendes Gelächter aus. »Klar, Mama ist Aschenputtel. Und du bist ihr Prinz.«
Er räuspert sich. »Mittlerweile König.«
Beinahe verschlucke ich mich und kann ihn bloß ungläubig anstarren. Ich kann weder reden noch lachen noch irgendetwas anderes machen. Denn ich erkenne plötzlich, dass er keinen Witz macht. Nein, Papa meint es völlig ernst mit dem, was er sagt. Er glaubt tatsächlich, ich käme aus irgendeinem sonderbaren Fabelreich. Das ist doch verrückt!
Ich will ihn anschreien, dass er mich nicht verarschen soll. Aber sonderbarerweise klingelt eine Stimme ganz leise in mir, die mir zuflüstert, dass es stimmt. Dass es eine andere Welt gibt, in der Aschenputtel, Dornröschen und Schneewittchen so real sind wie Ellen, Riley und ich. Die glaubt, dieses andere Reich sogar zu kennen und es Heimat zu nennen.
»Ich verstehe gar nichts mehr«, murmle ich schwach. Am liebsten würde ich mich irgendwohin setzen, aber wir stehen mitten auf der Straße des nächtlichen New Yorks. Es gibt keinen Ort, an den ich mit meiner Ratlosigkeit kann.
Mitleidig lächelt er mich an und stützt mich mit einem Arm leicht ab. »Das glaube ich dir. Für dich ist das viel auf einmal. Ich verspreche dir, ich werde dir später alles erklären. Nun jedoch müssen wir uns dringend auf den Weg zu deiner Mutter machen. Je eher wir im Märchenreich sind, desto besser. Du bist hier nicht mehr sicher.« Er seufzt und streicht mir mit der freien Hand über die Haare.
Ich nicke nur noch schwach. Was soll man auch sonst machen, wenn der totgeglaubte Vater einem mitteilt, dass man Aschenputtels Tochter ist?
***
»Wir sollten ein Portal nutzen, dann sind wir schneller. Ist das okay für dich?« Papa klingt so ruhig, als würde er mich fragen, ob wir die Metro oder ein Uber nehmen sollen.
»Sicher«, gebe ich gelassener zurück, als ich mich fühle.
»Sehr gut. Das Ministerium hat mir vorsichtshalber eine Kapsel als Reserve mitgegeben.« Er holt eine walnussgroße, silberne Kugel aus seiner Anzugtasche und wirft sie auf den Boden. Wieder erscheint dieser sirrende, silberne Wirbel, der sich blitzschnell ausdehnt, bis er uns komplett umhüllt. Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Alles in mir wird ausgefüllt von diesem Strudel, der uns mit sich reißt, während das Geräusch in mir nachklingt.
Zum Glück hat Papa meine Hand genommen. Damit gibt er mir einen Halt, den ich dringend brauche. So unvermittelt, dass ich beinahe hinfalle, löst sich der Wirbel auf. Kurz kämpfe ich mit meinem Gleichgewicht, was auf keinen Fall mehr am Alkohol liegt. Das Adrenalin, das mich beim Angriff der Bestie durchflutet hat, muss den letzten Rest davon vertrieben haben. Ich fühle mich stocknüchtern. Erstaunt blicke ich mich um.
Wir stehen mitten in einem Wohnzimmer, das ich nur zu gut kenne. Schließlich habe ich noch bis vor zwei Jahren hier gelebt, mich auf der gemütlichen, etwas abgenutzten Ledercouch gefläzt und dem massiven, aber schönen Teakholz-Tisch die eine oder andere Schramme verpasst.
Während ich überlege, wie ich Mama erklären soll, dass Papa und ich mitten in der Nacht in ihrem Haus auftauchen, höre ich leise Schritte auf der Treppe. Vermutlich hat das Portal, das schon wieder weg ist, sie geweckt. Das Sirren war schließlich nicht zu überhören. Als Mama auf der Hälfte der Treppe ist und ihren nächtlichen Besucher erkennt, klappt ihr Kiefer sperrangelweit auf. Gleichzeitig scheinen ihr die Augen regelrecht auf dem Kopf zu springen.
»Cedric«, haucht sie.
Echte Überraschung kann ich allerdings nicht in ihrer Miene erkennen. Wusste sie etwa, dass er nicht tot ist? Der Gedanke erfüllt mich mit Wut. Wie konnte sie mir das nur verheimlichen? Sie hat mit mir wegen Papa und Isabel geweint. Obwohl sie in diesen grausamen Schwindel eingeweiht war? Ich starre sie zornig an.
»Du ... du wusstest, dass er noch lebt?«
Eine Antwort ist nicht nötig, ich sehe es an der Verlegenheit in Mamas Gesicht. Aber das scheint nicht der einzige Grund zu sein, warum sie errötet. In dem Blick, den sie Papa zuwirft, liegt eindeutig Wiedersehensfreude.
»Es musste sein.« Obwohl sie ruhig spricht, spüre ich ihre Verlegenheit bei diesen Worten. Schneller als zuvor nimmt Mama die letzten Stufen und eilt zu uns.
»Aber .... was macht ihr hier ... mitten in der Nacht? Auch noch durch ein Portal – da muss etwas im Busch sein!«
Papa lächelt. »Scharfsinnig wie immer, meine Liebe. Und genauso schön, wie ich dich in Erinnerung habe.«
Mamas Wangen glühen nun tiefrot. »Du alter Charmeur. Das kann ich nur erwidern. Die Jahre waren gut zu dir.«
»Nicht so reizend wie zu dir.«
Oh Mann, die schmalzen sich ja echt an. Liebt sie ihn etwa immer noch? Zumindest hat sie nicht mehr geheiratet, obwohl sie hin und wieder einen neuen Typ hatte. Aber anscheinend war keiner der Richtige gewesen. Irgendwann hatte sie die Beziehung beendet. Wegen Papa? Und er wirkt auch nicht abgeneigt. Da frage ich mich, warum sie sich getrennt haben! Ich räuspere mich. »Ähem. Ich glaube, wir haben trotzdem ein Problem. Nicht wahr, Papa?«
Sichtlich widerstrebend löst er den Blick von Mama und wendet sich wieder mir zu. »Das stimmt.« Er schaut erneut zu Mama, diesmal jedoch voller Ernst. »Hör zu, Cindy, ich muss unsere Tochter ins Märchenreich bringen, um sie zu beschützen. Eben hat eine Seelenbestie sie angegriffen. Zum Glück war ich rechtzeitig da.«
Ihre Hand fährt zum Mund. »Ich verstehe nicht ... Was macht dieses Ungeheuer bei uns? Und ... was ist mit Isabel?«
Seine Miene versteinert und er geht einen Schritt sie zu. »Es tut mir furchtbar leid, Cindy, das Biest hat Isabels Seele. Sie treibt nun irgendwo in der Dunkelwelt.«
Sie stößt einen erstickten Laut aus, bei dem sich alles in mir zusammenzieht. »Mein armes, kleines Mädchen.« Sie schlägt die Hände vors Gesicht und weint bitterlich. Sofort fließen auch bei mir die Tränen, als ich den Schmerz des Verlusts erneut durchlebe. Papa nimmt uns beide in den Arm und spendet uns Trost. So habe ich ihn in Erinnerung; immer bereit, anderen zu helfen. Die Trauer über das entgangene Leben mit ihm lässt mich nur noch stärker schluchzen.
Irgendwann versiegen unsere Tränen und wir lösen uns aus dem Knäuel, das wir zu dritt gebildet haben. Mama deutet auf das Sofa. »Vielleicht sollten wir uns setzen.«
Nur zu gern folge ich ihrer Aufforderung und lasse mich auf das Leder sinken. Mit leeren Augen starre ich zu Mama, die sich neben mich setzt. Wortlos umarmt sie mich und ich drücke mich an ihre Schulter. Am Rande bemerke ich, wie Papa auf dem Sessel, der mir am nächsten ist, Platz nimmt.
Eine Weile schweigen wir.
»Das sind wirklich schreckliche Nachrichten«, sagt Mama schließlich leise und wischt sich über die Augen. »Wann ... wann ist ... es geschehen?«
»Vor knapp einer Woche. Aber ich konnte nicht vorher ausreisen aus dem Märchenreich.« Vater seufzt.
Mit starrer Miene blickt Mama ihn an. »Selbst bei dieser Gefahr bestehen sie auf ihren Formalitäten! Und riskieren, dass Ashley ...« Sie bricht ab, schüttelt fassungslos den Kopf.
»Zum Glück war ich rechtzeitig hier.« Vater legt ihr eine Hand auf den Arm, lächelt sie sanft an.
Sie nickt. »Dafür werde ich dir immer dankbar sein.«
Wie gelassen sie über den Übergang zwischen den Welten spricht. Das kann nur eines bedeuten. »Also ist es wahr. Du ... du ...«, keuche ich in entsetztem Verstehen.
»Ganz genau. Ich bin Aschenputtel oder vielmehr ... ich war es. Aber dein Vater ... nun ..., er verliebte sich in eine andere. Und ich wollte nach der Trennung neu anfangen. In einer Welt ohne überaltete Regelungen und Gesetze. Daher haben wir unsere Familie aufgeteilt. Isabel ist als Erstgeborene mit Cedric im Märchenreich geblieben, während du mit mir nach New York gekommen bist.« Sie seufzt und ihre Augen werden leer. »Es war eine schwere Entscheidung, das musst du mir glauben. Aber für mich war es die einzig richtige Möglichkeit. Ich bin hier glücklich mit dir.«
Mein Kopf schwirrt bereits von allem. Meine Mutter ist Aschenputtel!? Und Papa – ihr Traumprinz! – hat sich in eine andere verknallt. So viel zum Thema märchenhafte Liebe. Noch schlimmer ist nur, dass sie mich über all die Jahre belogen hat. Mir sogar gesagt hat, Papa und Isabel wären gestorben. Wut steigt in mir auf und ich starre Mama böse an. »Also war alles Theater, ja? Ihr habt euch einfach getrennt und mir danach etwas von einem Unfall erzählt? Den es nie gab! Wie ist das denn überhaupt möglich?«
»Durch Magie.«
»Und da ist euch nichts Besseres eingefallen als diese beschissene Geschichte? Ich hatte jahrelange Albträume davon!« Mittlerweile schreie ich fast schon. Aber es macht mich rasend, dass Mama mich um die beiden hat trauern lassen, obwohl es völlig unnötig war. Weil Papa und Isabel noch leben.
»Es ... es tut mir leid«, flüstert sie. Mama sieht nach unten, spielt mit ihren Händen und auch Papas Gesicht spiegelt Verlegenheit wider.
Dann fasst er sich. »Unsere Realitätsgestalter fanden, es sei am besten, wenn du denkst, wir wären tot. Denn die Tore zwischen den Welten werden nur in Ausnahmefällen geöffnet. So wie jetzt ... Weil ich dich vor den Seelenbestien beschützen musste.«
Erneut sehe ich das Maul des Monsters vor mir, das nach mir schnappt. Ich keuche, spüre die heiße Panik, die mich ergriffen hat. Tief atme ich durch, um mich zusammenzureißen. Als mein Atem wieder normal geht, frage ich: »Und was ist diese Seelenbestie ganz genau?«
»Ich befürchte, dazu muss ich weiter ausholen.« Seine Augen wandern an mir vorbei, als wolle er sich sammeln. Er räuspert sich. »Nun, wie du mittlerweile weißt, gibt es eine andere Welt – die Welt der Märchenwesen. Wir schenken Kindern das Vertrauen, dass alle Dinge zu einem gerechten Ende kommen. Die Guten werden belohnt, die Bösen bestraft. Die Menschen brauchen die Überzeugung, dass es sich lohnt, Gutes zu tun. Sonst ist ihnen alles egal – und sie folgen nur noch ihrer persönlichen Gier. Kannst du dir vorstellen, was dann in dieser Welt los wäre?«
Ich nicke. Oh ja, und wie ich das kann. »Also machen Märchen die Menschen quasi besser?« Seltsam, dass so etwas Banales eine so wichtige Aufgabe erfüllen soll.
Papa nickt zufrieden. »Ganz genau.«
»Sie dienen in unserer Welt als moralische Instanz – oder vielmehr in der nichtmagischen Realität, kurz NMR, wie sie im Märchenreich genannt wird«, ergänzt Mama.
Mittlerweile akzeptiert mein Verstand bereits, dass es anscheinend eine Parallelwelt gibt, die von Prinzessinnen, Elfen, Trollen und vielem mehr bevölkert wird.
»Aber manchmal verlieren Kinder, die eigentlich zu Großem bestimmt sind, ihre Hoffnung. Das führt dazu, dass sie nicht mehr an sich selbst glauben. Sie geben sich auf. Damit sie wieder ihr Schicksal erfüllen, bringen wir sie in unsere Welt und lassen sie unsere Geschichten erleben.«
Ich sehe ihn verwirrt an. »Und wie macht ihr beide das? Geht Mama dazu zurück ins Märchenreich?«
Meine Mutter schüttelt grinsend den Kopf. »Nein, aus Sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende wurde ja Sie blieben zusammen, bis die Nächste auftaucht. Nicht wahr, Cedric?«
Papa wird auf einmal flammendrot. »Nun ja, du weißt ... ich habe mich nicht mit Absicht in eine andere verliebt.«
Oh Mann, den Spruch habe ich auch von Owen um die Ohren gehauen bekommen. Muss so ein Männerding sein. »Okay, das habe ich verstanden. Wieso greift das Ungeheuer denn die Kinder der Märchenhelden an und nicht euch?«
»Weil sie unsere Aufgaben übernehmen. Sobald das erstgeborene Kind einundzwanzig Jahre alt wird, wird es zum neuen Märchenverkörperer. So ist es Tradition«, sagt Papa und seine Augen werden vor Kummer ganz dunkel. »Isabel war so stolz, als sie die erste Vorführung hatte. Davon hat sie immer geträumt. Und sie war brillant. Nur wenige Wochen später holte sie die Seelenbestie.«
Schmerz durchzuckt mich, doch ich lasse nicht zu, dass er mich ausfüllt. Ich muss wissen, was hier los ist. »Warum macht das Ungeheuer jetzt Jagd auf mich?«
Papa sieht mich eindringlich an. »Weil du, mein Krümelchen, ihren Platz einnehmen musst.«
Ich schnappe entsetzt nach Luft. »Was? Bist du wahnsinnig?«, kreische ich. »Ich soll irgendein blödes Märchen aufführen und am Ende einen Prinzen küssen?«
»Das ist kein blödes Märchen.« Mamas Stimme ist eisig.
»Tut mir leid. Aschenputtel ist toll. Du bist toll – oder vielmehr ihr beide. Trotzdem ... Wie soll ich das Märchen denn spielen? Ich weiß nicht mal mehr genau, wie es geht.«
»Das bringt dir die Märchenakademie schon bei.« Der Ausdruck in Papas Gesicht erstarrt zu einer Mischung aus Unnachgiebigkeit. Habe ich in dieser Sache kein Mitspracherecht? Plötzlich weicht die Härte einer leisen Verzweiflung. Seine Miene wird zum stillen Flehen.
»Schatz, dieses Märchen muss bald gespielt werden. Sonst wird die kleine Macy für immer die Hoffnung verlieren. Dabei soll sie als Erwachsene ein Mittel gegen Blutkrebs finden. Sie will Forscherin werden, weil ihre Mutter an diesem Krebs gestorben ist. Das Medikament kann Millionen Menschen retten! Aber dazu braucht Macy Hoffnung. Sie hat sich nach dem Verlust ihrer Mutter Kummerspeck angefuttert und wird ständig gehänselt. Zumal ihr Vater ihr keine neue Kleidung mehr kaufen kann. Er hat alles Geld für die Krankenhauskosten ausgegeben. Nun trägt sie schlechtsitzende Kleidung von der Heilsarmee und weint fast jeden Tag.«
Das Schicksal dieses Mädchens trifft direkt in mein Herz. Kaum auszudenken, was Macy aushalten muss. Erst die Mutter zu verlieren und danach verspottet zu werden, ist entsetzlich. Trotzdem bringe ich es nicht über mich, mich in irgendeine Märchenrolle drängen zu lassen. Ich bin kein Typ für große Liebe und alles wird gut. Das Leben ist scheiße.
»Ehrlich, Papa, ich würde Macy gerne helfen. Sie tut mir unfassbar leid. Aber ... kann das denn niemand sonst machen außer mir? Ich meine – es muss doch mehr Schauspieler bei euch geben. In New York gibt es die wie Kakerlaken.« Ich kann und will es einfach nicht glauben.
Er lacht leise. »Na ja, das ist etwas anderes, als in einer Seifenoper aufzutreten. Es geht um Blutlinien. Willow könnte das theoretisch machen. Doch sie ist zu jung; sie ist erst sechzehn. Darin ist die Tradition streng.«
»Nicht nur darin«, sagt Mama trocken. »Willow ist vermutlich eure Tochter?«
Papas Wangen färben sich wieder leicht rot. »Hm, genau ... ja, Willow ist Lorenas und meine Tochter.«
Mama lässt das unkommentiert stehen, lächelt mich bittend an. »Dein Vater hat recht: Jemand muss den Zauber dieses Märchens bewahren. Es schenkt Mädchen so viel Hoffnung. Lass nicht zu, dass Macy ihre Hoffnung verliert.«
Nachdenklich sehe ich sie an. Es ist ihr so wichtig, dass ich in ihre Rolle schlüpfe. Ein Märchen spiele! Dennoch weigert sich alles in mir gegen diese Idee. Wie soll ich Glauben auf ein Happy End schenken, wenn ich selbst keinen besitze? So sehr kann ich mich nicht verstellen. Bevor ich erneut protestieren kann, ertönt wieder ein unheilvolles Sirren.
Papa erhebt sich und zückt das Schwert. »Hinter mich.«
Mama und ich springen auf, suchen Schutz in seinem Rücken. Keine Sekunde zu früh. Der Wirbel spuckt bereits etwas aus. Meine Kehle wird eng und das Blut rauscht schneller durch meine Adern. Ist das wieder eins dieser Biester – eine Seelenbestie? Doch das Portal hat diesmal nicht nur ein Ding hergebracht, sondern gleich drei.
Die Kreaturen erheben sich bedrohlich, ein tiefes Knurren entweicht ihnen. In Papas Gesicht zeichnet sich erstmals Furcht ab. Ein eisiger Schauer durchfährt mich und mein Brustkorb krampft sich zusammen. Wie kann er sich nur gegen drei dieser Bestien gleichzeitig verteidigen? Irgendwie muss ich ihm helfen. Mein Blick wandert suchend durch den Raum, aber nichts bietet sich als Waffe gegen diese höllischen Kreaturen an. Wir sind verloren!
Schon springt uns die Erste an. Sie versucht, an Papa vorbeizukommen, um ihre Beute zu erreichen – mich. Das Blut gefriert in meinen Adern und ich keuche. Aber Papa lässt sich nicht überrumpeln, sondern wehrt das Biest gekonnt mit dem Schwert ab, trifft es an der Schulter. Allerdings nutzt eine andere Kreatur diesen Moment, um einen Angriff zu wagen. Zum Glück stehen wir am Rande des Zimmers, so dass die Wand uns davor bewahrt, umzingelt zu werden.
Dennoch sind die Viecher ganz klar im Vorteil. Panik kriecht meinen Körper hinauf. Nun stürzen sich zwei gleichzeitig auf Papa, während ein Drittes einen gewaltigen Satz auf mich zu macht. Das geifernde Maul fliegt regelrecht auf mich zu. Alles in mir zieht sich zusammen, ich kann kaum noch atmen vor Angst. Wimmernd will ich mich zusammenkrümmen. Da wirft Mama sich vor mich.
»Meine Tochter bekommst du nicht!«, brüllt sie. Schon erreicht die Kreatur sie.
Panisch schreie ich auf. »Mama, nein!« Sie darf sich nicht opfern, um mein Leben zu retten. Weinend will ich ihr zu Hilfe kommen, wie auch immer mir das gelingen soll.
Aber es ist zu spät. Das Biest krallt sich bereits an ihr fest und ritzt sie mit seinen entsetzlichen Klauen. Mein Herz bleibt stehen und ich kann kaum hinsehen. Gleich wird diese Kreatur seine Zähne in Mamas Leib schlagen, sie so aussaugen, wie es das mit Isabel gemacht hat. Wird auch Mamas Seele in dieser Dunkelwelt dahintreiben? Nur ihren Körper zurücklassen als leere Hülle?
Doch dann versenkt sich das Biest in Mamas Blick. Seine Augen werden ganz starr und ich sehe, wie ein silberner Strom zu ihm hinüberläuft. Ist das ihr Hoffnungspotenzial? Allerdings wirkt das Monster unzufrieden mit der Ausbeute, es speit den silbernen Strom verächtlich aus und schlägt dafür seine Pranken in Mamas Seite. Blut fließt heraus und ich keuche vor Entsetzen.
»Ich brauche die wahre Hoffnungsträgerin«, jault das Biest mit einer Stimme, die halb menschlich und halb tierisch ist. Das Blut gefriert bei ihrem abscheulichen Klang in meinen Adern. Ich schluchze erstickt auf.
Der grässliche Kopf ruckt herum, rote Augen funkeln mich an. »Ich brauche dich.«
Eine schwere Last legt sich auf meine Brust und ich japse nach Luft. Dieses Vieh will mich fressen, töten, aussaugen. Schneller, als man es bei dem massigen Körper vermuten würde, dreht es sich zu mir. Seine Augen fixieren mich, bohren sich in meine Seele wie ein eiskalter Dolch. Meine Kehle schnürt sich zu, ich kriege kaum noch Luft. Schluchzend versuche ich, mich irgendwie in Sicherheit zu bringen. Mein Blick flackert umher, auf der Suche nach Rettung. Aber Papa kämpft immer noch gegen die anderen beiden Bestien und Mama liegt blutend auf dem Boden. Mein Herz zieht sich zusammen. Oh Gott, hoffentlich ist sie nicht tot!
Dort links, wo es zum Flur geht, ist eine kleine Lücke. Wenn ich mich beeile, konnte ich vielleicht vorbei. Ich werfe mich nach vorne und zur Seite. Doch das Monster ist schneller. Es stürzt knurrend vor den rettenden Gang.
Papa schaut zu mir, bewegt sich in meine Richtung. Aber die anderen beiden Seelenbestien bedrängen ihn. Er kann sich den Weg nicht zu mir freikämpfen. Ich bin alleine mit dieser Kreatur der Hölle. Da schnellt die Bestie auf mich zu und krallt sich in mir fest. Unbändiger Schmerz durchflutet meinen Körper und ich stöhne. Die Stelle, wo das Vieh seine Klauen in mich geschlagen hat, pocht und brennt wie Feuer. Aber ich spüre auch ein inneres Zerren, das fast noch schlimmer ist. Saugt diese Bestie mein Hoffnungspotenzial ein?
Sie knurrt zufrieden. »Ja, du bist die Richtige.«
Ein silberner Strom fließt ihr entgegen. Je mehr von mir in dieses Wesen übergeht, desto schwächer werde ich. Es ist, als tränke es meine Lebensenergie wie Cola.
Papa taucht mit seinem weiß leuchtenden Schwert vor mir auf. Anscheinend hat er die anderen beiden Biester besiegt.
Zu spät, zu spät, wispert es in meinem Geist. Nur noch mit Mühe kann ich die Augen offenhalten. Ich bin müde, so unfassbar müde. Vielleicht sollte ich einfach einschlafen? Wie durch einen dichten, grauen Nebel bekomme ich mit, dass Papa der Bestie mit einem einzigen Schwerthieb den Kopf abtrennt. Dann sacke ich kraftlos zusammen.
Ich bin nicht völlig weg, aber auch nicht wirklich da. Vielmehr schwebe ich irgendwo zwischen Leben und Tod. Ich bin umgeben von absoluter Dunkelheit. Überall erklingen Laute der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit, die sich wie ein Ring um mein Herz legen. Ist das der Ort, an dem auch Mama und Isabel sind? Verzweifelt halte ich nach ihnen Ausschau, doch meine Augen durchringen die Finsternis nicht.
Ein kleiner Teil meines Bewusstseins ist noch in der Realität geblieben und krallt sich daran fest. Vage kriege ich mit, dass Papa Mama und mich durch ein Portal wegbringt. Ins Märchenreich? In meinem Dämmerzustand kommt mir das noch nicht einmal seltsam vor.
Wir materialisieren uns in einem Raum, dessen verschwenderische Opulenz ich sogar in meinem halbkomatösen Zustand erahne. Einige Diener kommen herbeigeeilt und tragen meine Mutter mit besorgter Miene weg.
»Mama«, flüstere ich schwach und sehe ihr nach. Wohin sie sie wohl bringen? Was ist mit ihr? Lebt sie überhaupt noch? Sie sieht so blass, so weggetreten aus. Dabei hat das Biest sie nur angegriffen, weil sie mich beschützen wollte. Tränen laufen über meine Wangen. Ich will Papa fragen, was mit ihr ist. Aber ich schaffe es nicht. Es ist für mich schon anstrengend genug, meine Augen offenzuhalten.
»Sch, mein Krümelchen, alles ist gut. Ich kümmere mich um dich.« Sanft streicht er mir über das Haar. Dann legt er mich in ein Himmelbett mit feinen Schnitzereien und zartrosa Vorhängen. Es ist so gemütlich, dass ich automatisch die Augen schließe und mich in die Decken kuscheln will.
Doch Papa zieht mir die Decke energisch weg und rüttelt mich wach. »Nein, Ashley, du musst hierbleiben.« Er winkt einem Diener. »Sie braucht Sauerstoff.«
Der Mann nickt und reißt ein Fenster auf. Frische Luft dringt ins Zimmer, bringt eine Kühle mit sich, die über meinen Körper kriecht. Sofort öffne ich die Lider wieder.
»So ist es gut«, murmelt Papa. Trotz seiner beruhigenden Worte erkenne ich die Sorge in seinem Gesicht.
Eine junge Dienerin, die etwa in meinem Alter ist, drängt ihn, sich wegzudrehen. Dann zieht sie mir mein Party-Outfit aus und etwas Bequemes an. Doch das bekomme ich nur am Rande mit. Die Müdigkeit überwältigt mich erneut. Langsam entschwindet mein Bewusstsein aus dieser Welt. Der Raum verblasst und ich bin umgeben von purer Dunkelheit. Es scheint in dieser Realität nichts zu geben, was Helligkeit spendet. So muss es sein, wenn man blind ist. Ich stöhne, doch der Laut klingt seltsam gedämpft, als verschlucke die Finsternis nicht nur das Licht, sondern auch Geräusche.
Die Düsternis verdichtet sich irgendwie, bildet einen Sog, der an mir reißt und zerrt. Ich will schreien vor Angst, aber mein Mund ist wie versiegelt. Die Schwärze versucht, mich in sich aufzusaugen. Es gibt nur noch diese entsetzliche Dunkelheit und grenzenlose Verzweiflung.
Papa schüttelt mich wieder. »Bitte, Ashley, bleib bei mir. Ich kann dich nicht auch noch verlieren.«
Die Berührung reißt mich heraus aus der Welt voller Düsternis und Schwermut. Ich erhasche durch meine geschlossenen Lider eine Ahnung von Licht und von Wärme. Das ist Papa, der mich hält. Verwundert bemerke ich, dass Tränen auf meine Wange tropfen. Weint er? Um wen – um Isabel und Mama? Oder um mich? Aber nein, ich werde nicht in diese kalte, trostlose Welt der Finsternis gehen. Mein Überlebenswille kehrt zurück und ich kämpfe mich aus der harten Umklammerung des Schlafs, der meine Seele raubt.
Denn genau das erwartet mich anscheinend, wenn ich wegdrifte. Mühsam reiße ich die Augen auf – und eine Frau mit grünlicher Haut taucht direkt vor uns auf. Allerdings kommt sie nicht durch ein Portal, sondern bildet sich aus dem Nichts. Ich schrecke zusammen. Ist das etwa eine Hexe? Will sie das vollenden, was das Monster nicht geschafft hat?
Papa drückt beruhigend meine Hand. »Hallo, Melanie. Danke, dass du so schnell hier bist.«
Die Frau, deren Gesicht trotz der grünen Farben recht gut aussieht, nickt ihm nur kurz zu. Sie untersucht mich, wobei sie einen Zauberstab über mich schweben lässt und leise Sprüche murmelt. Es könnte vielleicht Latein sein oder auch Griechisch, auf jeden Fall ist es kein Englisch.
»Die Seelenbestie hat sie bereits mit ihrem Bann belegt und sie driftet ab in die Dunkelwelt. Allerdings konnte sie ihr nur einen Teil des Hoffnungspotenzials rauben. Mit etwas Magie und viel Glück kann ich sie zurückholen.«
Ein zufriedenes Lächeln umspielt ihre Lippen, während ihre Augen von einer inneren Ruhe zeugen. Gleichzeitig wirkt auch Vaters Miene, als ob eine unsichtbare Last von seinen Schultern genommen wird.
»Zunächst werde ich mich jedoch um ihre Verletzung kümmern.« Sie tippt mit dem Stab gegen meine Seite, in die das Biest seine Krallen geschlagen hat, und die immer noch blutet. Wieder flüstert sie leise Worte in dieser unbekannten Sprache. Schon spüre ich, wie es an dieser Stelle irgendwie arbeitet. Es kribbelt seltsam, als würden Ameisen über meine Haut laufen – und manche hineinbeißen.
Ich will den Kopf drehen, doch es geht nicht. Dafür verschließt sich die Wunde langsam, während das Kribbeln immer stärker und unangenehmer wird. Schließlich hört die Blutung auf und ich fühle nur noch ein leichtes Pochen an der Seite. Ich stöhne auf, versuche, gegen die Benommenheit anzukämpfen, die auf einmal wieder mit stahlharten Fingern nach mir greift, mich in ihren Sog reißen will. So sehr ich mich auch dagegen wehre, ich kann nicht verhindern, dass die Müdigkeit mich kontrolliert. Ist das das dieser Bann, den die Hexe – Melanie? – eben erwähnt hat? Als gehorche ich einem Zwang, schließe ich die Augen.
»Öffne die Lider!«, befielt Melanie mir.
Ich versuche wie in Trance, die Augen wieder zu öffnen. Aber ich kriege sie nur halb auf. Anscheinend reicht das, denn Melanie nickt zufrieden.
»Gut.« Sie führt den Zauberstab an meine Schläfe, während sie mit der anderen Hand nach meinen Fingern greift. Erneut formuliert sie einen Zauber. Er hört sich irgendwie anders an als der zuvor. Sie spricht die Worte kraftvoller, mit mehr Nachdruck – und sie klingen wie ein verbaler Angriff. Wie kleine Geschosse prasseln sie auf mich ein, stechen mich am ganzen Körper und setzen mich in Brand. Ich stöhne.
»Was machst du da? Du verletzt sie noch!«, zischt Papa.
»Anders geht es nicht. Der Bann hat sich fest in deiner Tochter vergraben, weil er sich nicht lösen will. Entweder reiße ich den Zauber mit Gewalt weg oder sie teilt Isabels Schicksal. Willst du das etwa, König Cedric?«
Hastig schüttelt Papa den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Mach bitte weiter.«
Melanie nickt knapp, dann sagt sie den Zauber wieder auf. Seine Krallen bohren sich regelrecht in mich hinein und quälen mich. Es wirkt, als greife etwas mit glühenden Fingern in meinen Körper hinein.
»Aufhören! Es tut so weh. Bitte, bitte, ich kann nicht mehr.« Ich heule auf vor Schmerzen.
Doch Melanie kennt kein Erbarmen. Ihre Worte kommen in immer schnellerer Folge, sie keucht, während ihr Zauber an mir zerrt und reißt. Irgendwann durchfährt meinen Körper ein noch schmerzhafterer Ruck. Es fühlt sich an, als stoße Melanie glühende Eisen in mich hinein.
Erneut schreie ich. Ich hoffe, dass sie endlich Erbarmen kennt. Dann löst sich der Zauber. Die Schmerzen verschwinden und die Nebelschwaden lösen sich auf. Ich bin wieder in der Realität, wenn auch nicht mehr in meiner eigenen.
Keuchend lässt Melanie den Zauberstab sinken. Dann sieht sie erneut auf und lächelt mich an. »Du hast dich gut geschlagen, Ashley. Dieser Bannzauber war unglaublich stark. Es tut mir leid, wenn ich dir weh getan habe.«
Unerwartet sanft streicht sie mir über die Haare, bevor sie einen leisen Spruch murmelt. Sofort überkommt mich bleierne Müdigkeit und ich schlafe ein. Ohne Schmerzen.
***
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, bis ich aufwache. Davon, mich fit zu fühlen, bin ich weit entfernt. Die Seite, in der sich das Biest verkrallt hat, schmerzt noch. Mit den Fingerspitzen taste ich nach der Wunde. Die Haut ist lediglich etwas dünner als normal und sie fühlt sich leicht gespannt an. Ansonsten verrät nichts mehr, welche schreckliche Wendung der gestrige Abend angenommen hat.
Wieder sehe ich Mama vor mir, in die sich die Seelenbestie verbissen hat, und meine Augen brennen. Verzweifelt kämpfe ich gegen den unwiderstehlichen Drang zu weinen an. Auf einmal legt sich eine weiche Pfote auf meinen Arm. Verwirrt schaue ich zur Seite und erblicke einen großen, braun-beige gemusterten Maine-Coone-Kater, der mich vertrauensvoll mit dem Kopf anstupst. Sanft kraule ich ihn hinter den Ohren und er schnurrt wie ein angelassener Dieselmotor.
»Na, du bist ja ein Lieber«, flüstere ich.
»Das ist Gizmo. Er hat dich anscheinend in sein Herz geschlossen«, ertönt Papas ruhige Stimme. Aus dem Augenwinkel erhasche ich eine Bewegung und drehe meinen Kopf. Doch das tut meinem Körper definitiv nicht gut. Schmerz durchströmt mich und ich stöhne auf.
Papa erhebt sich von seinem Sessel, kommt zu mir. Sein Gesicht überziehen mehr Falten als bei unserem Wiedersehen gestern, er wirkt müde. Doch er lächelt mich an. »Gott sei Dank. Du weilst wieder unter den Lebenden.«
»Na ja, so halbwegs«, erwidere ich mit trockener Stimme. Meine Kehle brennt. »Ich fühle mich, als wäre ich unter die Räder gekommen. Und ich bin entsetzlich durstig.« Der stattliche Kater drückt mir seinen Kopf wieder entgegen und ich streichele ihn weiter. Offenbar genießt er seine Streicheleinheiten, denn sein Schnurren wird noch lauter.
»Wenn so viel Magie durch den Körper geflossen ist, ist das immer so.« Er betracht mich und den Kater kopfschüttelnd. »Dass ich Gizmo einmal so anhänglich sehe, hätte ich auch nicht gedacht. Sonst faucht er alle außer Willow und mich an. Aber dich haben schon immer alle Tiere geliebt.« Papa lächelt kurz, dann wird er wieder ernst. Er nimmt eine Karaffe vom Nachttisch und schenkt Wasser in feingeschliffenes Kristallglas ein. Aus seiner Tasche holt er eine Phiole heraus und zählt zehn Tropfen ab. »Hier, mein Schatz, das wird dir helfen, wieder zu Kräften zu kommen.«
Dankbar nehme ich das Glas und trinke das Wasser mit einem einzigen Schluck aus. Es schmeckt köstlich, irgendwie reiner und klarer als bei uns. Papa setzt sich zu mir ans Bett, hebt eine Hand an, als ob er sie auf meine Wange oder Stirn legen will, aber ich weiche ihm aus. Finster starre ich ihn an.
»Nicht! Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du unsere Familie einfach in der Mitte durchschnitten hast und dir die bessere Hälfte genommen hast. Isabel. Deinen Liebling. Und mich hast du glauben lassen, ihr wärt beide tot. Bloß weil du dich in eine andere verknallt hast!« Am liebsten würde ich brüllen, aber dafür bin ich viel zu schwach. Doch diese Wut muss aus meinem Körper, sonst zerfrisst sie mich.
Er seufzt, legt die Hand auf den Schoß. Tiefe Trauer liegt in seinem Blick. »Es tut mir unfassbar leid, was wir dir zugemutet haben. Ich wollte das nicht, aber die Realitätsgestalterinnen hielten das für den besten Weg.« Er legt seine Finger vorsichtig auf mein Handgelenk und diesmal lasse ich die Berührung zu.
Verdammt, das ist immerhin mein Vater! Der für mich gegen höllische Bestien gekämpft hat. Trotzdem tut der Gedanke, der ungewollte Teil des Zwillingspaares zu sein unfassbar weh. Tränen steigen in mir auf, rollen ganz langsam über meine Wange und ich wische sie nicht weg.