The Haven (Band 2) - Rebellion - Simon Lelic - E-Book

The Haven (Band 2) - Rebellion E-Book

Simon Lelic

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Beschreibung

Unter den Straßen Londons liegt er verborgen, versteckt vor den Erwachsenen: The Haven. Ein geheimer Zufluchtsort für Flüchtlingskinder, Straßenkids und Waisen – wie Ollie.   Kaum ist Maddy Sikes besiegt, wartet auf das Ermittlungsteam des Haven schon die nächste Aufgabe. Kinder verschwinden im Internat Forest Mount, darunter auch Jacks Bruder Errol. Sein letztes Lebenszeichen ist eine beunruhigende Mail: Schüler werden in ein Verlies gesperrt, um Informationen über ihre einflussreichen Eltern zu erpressen. Sofort brechen Ollie und seine Freunde auf zu einer gefährlichen Undercover-Mission, bei der nicht nur Errols Leben auf dem Spiel steht …   Die Fortsetzung der rasanten Actionreihe! In Band 2 nimmt Simon LelicJungs und Mädchen ab 12 Jahren mit auf ein neues Abenteuer von Ollie und seinen Freunden, die es aus dem düsteren Untergrund diesmal in gefährliche Wälder verschlägt. Nervenkitzel garantiert! Für Fans von Top Secret und Agent 21.   Rebellion ist der zweite Band der The Haven-Reihe.

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FÜR DIE COUSINEN UND COUSINS:

Inhalt

Prolog

1  King PJ

2  Erbitterte Rivalen

3  Schule ist ätzend

4  Die letzte Nachricht

5  Ollie raus!

6  Geisterkommando

7  Tunnelblick

8  Schlangengrube

9  Krähennest

10  Schuldzuweisungen

11  Plan B

12  Neue Rekruten

13  Entlarvte Schwindler

14  Nachtpatrouille

15  Streng geheim

16  Geheimnisvoller Gast

17  Nach Einbruch der Dunkelheit

18  Mitternachtstreffen

19  Blutige Jagd

20  Menschenopfer

21  Dunkelste Geheimnisse

22  Todesfalle Verlies

PROLOG

Errol war schon tief in den Wald vorgedrungen, als er das Monster bemerkte.

Natürlich hatte er bereits Gerüchte über dessen Existenz gehört. Das hatten alle. Das war nahezu das Erste, was man als Neuankömmling in Forest Mount zu Ohren bekam. Die meisten Schüler taten so, als würden sie nicht daran glauben: ein Monster im Wald? Das ist doch Kinderkram. Das haben die Lehrer nur erfunden, um uns Angst einzujagen – damit wir tun, was sie sagen.

Aber Errol wusste, dass sie es insgeheim eigentlich doch alle taten. Er konnte es daran erkennen, wie sogar die älteren Jungs nachts durch die Fenster des Schlafsaals spähten und bei jedem knarzenden Dielenbrett und jeder schreienden Eule zusammenschreckten.

Und jetzt bestand kein Zweifel mehr. Hier draußen in der Dunkelheit, ganz allein, spürte Errol, dass das Monster real war. Er hatte Schritte gehört, dessen war er sich sicher. Aber keine menschlichen. Vielmehr den leisen, schleichenden Gang von etwas, das im Wald zu Hause war.

Er eilte weiter, der tanzende Schein der Taschenlampe zu seinen Füßen offenbarte seine Panik. Ein Ast griff nach seinem Rucksack, versuchte, ihn Errol zu entreißen, und nach einem kurzen Kampf ließ er ihn zurück. Es war sowieso nichts von Wert darin. Wechselkleidung, ein paar Brötchen, die er vom Frühstück geklaut hatte … nichts, wofür es sich lohnte, kostbare Zeit zu verlieren. Alles Wichtige – eigentlich das einzig Wichtige: ein Foto seiner schon lange verschollenen Schwester – steckte in der vorderen Tasche seiner Jeans. Sollte irgendjemand auch nur versuchen, ihm das wegzunehmen – ein teuflischer Baum, ein Monster im Wald oder gar Colton Crowe, der Schülersprecher und Schultyrann –, würde Errol sich mit aller Kraft zur Wehr setzen.

Für einen kurzen Moment machte ihm der Gedanke an seine Schwester Mut und er marschierte mit neuer Entschlossenheit weiter durch das Dickicht. Er würde entkommen. Auf jeden Fall. Und er würde seine Schwester an dem Ort wiederfinden, den sie den Haven nannte. Seit Tagen schon hatte Errol seine Flucht geplant und er würde unter keinen Umständen versagen. Nicht, wenn er so nah dran war.

Und dann tauchte er vor ihm auf. Er war es doch, oder? Der Waldrand. Der Schatten der Mauer: die letzte Hürde, die ihn von der Freiheit trennte. Sie lag knapp zwanzig, dreißig Meter entfernt von ihm.

Ein Knurren durchbrach die Stille.

Errol stolperte vor Angst und war kurz davor hinzufallen, als er es zum zweiten Mal hörte. Ein fieses, kehliges Knurren.

Er wirbelte herum und prallte gegen einen Baum – der, er hätte es schwören können, zuvor nicht da gewesen war. Die Taschenlampe glitt dabei aus seiner Hand, traf auf etwas Hartes am Waldboden und erlosch sofort. Der Mond hoch über den Baumkronen war jetzt die einzige Lichtquelle und schien auf ihn hinunter wie der Scheinwerfer eines Wachpostens.

Und Errol begann zu rennen.

Die Schule befand sich zu seiner Rechten – selbst in der Dunkelheit konnte man ihre bedrohlich aufragenden Mauern unmöglich übersehen – und Errol änderte seine Richtung, bis sie wieder in seinem Rücken lag.

Hinter ihm knackte es. Laut. Gleich darauf noch einmal. Was auch immer ihn da jagte, es war groß und schnell.

Plötzlich drang von der Seite noch ein Geräusch zu ihm. Doch es klang nicht wie das Monster, sondern wie …

»Beeilt euch. Wir verlieren ihn.«

»Keine Sorge. Der entwischt uns nicht. Nicht, wenn ich es irgendwie verhindern kann.«

Aufsichtsschüler.

Und wenn Errol es sich nicht einbildete, gehörte die zweite Stimme Colton Crowe.

Jetzt hatte er die Wahl: vom Monster gefressen oder zurück zur Schule gezerrt zu werden, zweifellos geradewegs in Professor Strains Büro. Errol war sich nicht sicher, was schlimmer wäre.

Sein Bauchgefühl sagte ihm, stehen zu bleiben und sich hinter einem Baum zu verstecken, aber da das Monster ganz in der Nähe sein musste, traute er sich nicht. Stattdessen legte er einen Schritt zu, in der Hoffnung, dass die Aufsichtsschüler ihn nicht entdecken und einfach an ihm vorbeiziehen würden – übersah jedoch in der Finsternis eine Baumwurzel und fiel mit einem kleinen Aufschrei auf den Waldboden.

»Da!«

Der Strahl einer Taschenlampe blitzte auf und schweifte durch die Bäume direkt in seine Richtung. Dahinter lauerte Crowe. Auch wenn Errol ihn jenseits des grellen Scheins nicht wirklich erkannte, konnte er ihn sich nur zu gut vorstellen: das vorspringende Kinn, die silbernen Augen, das zurückgekämmte Haar, schwarz wie die Krähe, die seiner Familie den Namen Crowe gab.

»Schnappt ihn!«

Die Aufsichtsschüler stürmten auf ihn zu, ohne weiter darauf zu achten, wie viel Lärm sie dabei machten. Und von der anderen Seite näherte sich Errol noch etwas anderes – das sich auf keinen Fall um seine Beute würde bringen lassen.

Er rappelte sich hoch und rannte auf die Lücke vor ihm zu, die sich immer mehr schloss.

»Weglaufen bringt doch nichts! Wo könntest du schon hin?«

Der Klang von Crowes Stimme war übel genug, aber das, was aus der anderen Richtung zu ihm drang, war noch schlimmer. Wieder dieses Knurren, das näher und näher kam …

Der Waldrand. Er lag direkt vor ihm. Und die Mauer befand sich keine zwanzig Schritte weiter.

Errol brach durch die letzte Baumreihe und preschte im Mondlicht über das offene Gelände. Es war die Zielgerade, die letzten paar Meter, bis er in Sicherheit war.

Sechs Schritte …

Fünf …

Vier …

»Hab dich!«, hörte er eine Stimme hinter sich, als ihn etwas an der linken Schulter streifte. Eine Hand? Eine Klaue?

Errol sprang. Ihm blieb nichts anderes übrig. Und im Sturz hörte er Gelächter und das Monster aus dem Wald, das mit den Zähnen knirschte.

1KING PJ

Der Schlag traf Ollie an der Schläfe, bevor er ihn überhaupt kommen sah. Es war nur ein Klaps, stark genug, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber zu schwach, um ihn außer Gefecht zu setzen. Das Mädchen spielte mit ihm. Trotz der vielen Trainingsstunden und der vielen harten Arbeit war Ollie nach wie vor hoffnungslos unterlegen. Der Kampf würde vorbei sein, bevor er richtig angefangen hatte.

Kopf hoch, redete sich Ollie gut zu. Lange Hände. Und bleib auf den Ballen, wie Song es dir beigebracht hat. Das ist kein Übungskampf mehr. Das ist real.

Er tänzelte nach rechts und wich einem weiteren Tritt in Richtung seiner Schläfe aus. Dann machte er einen Satz nach vorne und probierte es mit einem Front-Kick, stieß jedoch nur ins Leere. Bevor er wusste, wie ihm geschah, starrte Ollie auch schon zur Decke. Er hatte sein Bein nicht mehr rechtzeitig zurückziehen können, bevor ihn das Mädchen am Fußgelenk gepackt und nach hinten gekippt hatte.

Bei der Landung verschlug es Ollie derart den Atem, dass er am liebsten einfach liegen geblieben wäre. Dann wäre es zumindest vorbei, seine Blamage besiegelt.

Aber eine Lektion hatte Song ihm nicht beibringen müssen: Gib niemals auf. Ollies Pflegemutter Nancy hatte ihm das von klein auf eingetrichtert. Und jetzt, da sie nicht mehr da war – wie Ollies Eltern war auch Nancy von Maddy Sikes ermordet worden –, war er entschlossener denn je, sie nicht zu enttäuschen.

Als das Mädchen dazu ansetzte, Ollie auf den Boden zu drücken, rollte er zur Seite. In einer einzigen Bewegung war er wieder auf den Füßen – er schwankte zwar ein wenig, befand sich aber im Vorteil, weil er das Mädchen überrumpelt hatte. Er trat noch einmal zu, und obwohl das Mädchen versuchte, ihn zu blocken, erwischte er diesmal sein Ziel mit dem Ballen.

»Yame!«, rief Song, die japanische Anweisung für Aufhören. Für jemanden, der normalerweise nicht viel sagte, war sie im Dojo erstaunlich bestimmt.

Ollie zog sich an sein Ende der Matte zurück. Seine Gegnerin – ein neunjähriger Braungurt namens Vanessa – ging an ihres. Sie verbeugten sich und der letzte Teil von Ollies erster Karateprüfung war vorbei.

»Danke, Vanessa«, sagte Song, »dass du dich bereit erklärt hast, Ollie eine Lektion zu erteilen. Und dafür, dass du ihn nicht gleich in den ersten zehn Sekunden umgehauen hast. Ich weiß, dass du es gekonnt hättest, wenn du gewollt hättest.«

Das Mädchen wurde rot und verbeugte sich noch einmal.

»Was dich betrifft, Ollie«, fuhr Song fort, »deine Deckung war völlig offen und du hast jeden einzelnen Tritt laut angekündigt. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du deine Bewegungen tarnen musst? Erst antäuschen, dann zuschlagen.«

»Ich weiß, ich …«

»Und bring deine Atmung unter Kontrolle! Ich konnte dich vom anderen Ende des Dojos keuchen hören. Auch wenn du müde bist, darfst du es nicht zeigen.«

Ollie ließ den Kopf hängen. Damit konnte er wohl seinen ersten Gürtel vergessen. Da er erst vor ein paar Monaten, kurz nachdem er ein Mitglied des Haven geworden war, mit dem Karateunterricht begonnen hatte, war Ollie immer noch ein Weißgurt. Doch er hatte gehofft, sich nun endlich den gelben Gürtel zu verdienen.

»Ich bin durchgefallen«, sagte er zu Song. »Oder?«

Um Songs Taille war ein abgenutzter schwarzer Gürtel geknotet. Sie trug ihn schon seit so vielen Jahren beim Training, dass er fast wieder weiß war.

Im Haven unterrichteten sich die Kinder und Jugendlichen untereinander – außer Tante Fay, der Gründerin des Haven, waren im Gebäude keine Erwachsenen erlaubt – und Song war nicht nur das Mathegenie des Haven, sondern auch die Karatetrainerin. Wie Ollie gehörte sie zu der Handvoll Jugendlicher aus dem Ermittlungsteam des Haven, der Kerngruppe, die die Organisation leitete und die gefährlichsten Missionen durchführte. Der Haven war eine Zufluchtsstätte für Kinder und Jugendliche, die in Schwierigkeiten steckten, und oft mussten Ollie und die anderen ihr Leben aufs Spiel setzen, um für die Sicherheit ihrer Schützlinge zu sorgen.

Song sah Ollie offensichtlich enttäuscht an. Und dann lächelte sie.

»Ich habe nicht gesagt, dass du durchgefallen bist, Ollie. Nur, dass du es besser hättest machen können.« Sie nahm die Hände hinter ihrem Rücken hervor. »Hier.«

Zu Ollies Verwunderung verbeugte sich Song und hielt ihm einen ordentlich gefalteten gelben Gürtel hin.

»Aber … ich habe verloren. Du hast es selbst gesagt – Vanessa hat mich fertiggemacht.«

»Vanessa wird dich immer fertigmachen können, Ollie. Ich habe nie erwartet, dass du sie schlägst. Aber du hast während des Kampfs die richtige Einstellung an den Tag gelegt. Wärst du auf dem Boden geblieben, nachdem dich Vanessa umgehauen hat, hätte ich dich durchfallen lassen. Doch du bist wieder aufgestanden und hast sogar einen Punkt erzielt.«

Ollie sah zu Vanessa hinüber und stellte fest, dass sie ihn anlächelte. Diesmal lief Ollie rot an.

Die anderen Schüler im Dojo klatschten Beifall und Ollie ließ sich von Song helfen, seinen neuen Gürtel umzubinden. Eigentlich hätte es keine große Sache sein sollen. Schließlich war es nur ein gelber Gurt und er war noch weit davon entfernt, auch nur annähernd so gut zu sein wie die anderen in seiner Karateklasse. Trotzdem empfand Ollie es als einen Erfolg und er konnte einen Anflug von Stolz nicht unterdrücken. Nancy wäre auch stolz auf ihn gewesen, dessen war er sich sicher.

»Ollie?«

Der Applaus ebbte ab und alle Blicke richteten sich auf die Tür. Dort stand Sol, Ollies bester Freund. Er war auch im Ermittlungsteam und hatte Ollie mehr als jeder andere das Gefühl gegeben, wirklich zum Haven zu gehören. Außerdem war Sol der zuverlässigste und treueste Freund, den Ollie je gehabt hatte.

»Entschuldigt die Unterbrechung«, sagte Sol. »Aber du wolltest, dass ich komme und dich hole, falls es Neuigkeiten gibt.«

»Geht’s um Flea?«, fragte Ollie. »Ist er zurück?«

Sol nickte. »Ja. Sie sind alle zurück. Und Flea ist verletzt.«

Es war seltsam. Ollie hatte viel mehr Zeit in ihrem provisorischen unterirdischen Zuhause verbracht als im eigentlichen Haven, bevor er zerstört wurde, und doch vermisste er das alte Gebäude. Obwohl es eine Bruchbude gewesen war und in weiten Teilen so einsturzgefährdet, dass seine jungen Bewohner es nicht nutzen konnten, hatte er sich dort von Anfang an heimisch gefühlt. Es war einmal eine Bücherei gewesen und Ollie erinnerte sich an den Geruch von Büchern, als man ihn das erste Mal durch die Türen des Haven geführt hatte.

Die stillgelegte Londoner U-Bahn-Station, die ihnen jetzt als Stützpunkt diente, roch hingegen nur feucht. Hier gab es keine Eingangshalle, die sich wie im alten Gebäude über drei Etagen erstreckte, mit einer prächtigen Mitteltreppe und holzvertäfelten Galerien. An ihrer Stelle reihten sich muffige Lagerräume und ausgediente Tunnel aneinander – manche größer, manche kleiner, aber alle mit niedrigen Decken und dreckigen, bröckelnden Kacheln gefliest.

Die Haupthalle, wie sie sie nannten, war hier unten ihr größter Raum. Darin hatten sich einmal die Rolltreppen befunden, die nach Schließung der Station versiegelt worden waren, weshalb der Bereich praktisch zweigeteilt war. Alle einhundertsechsundvierzig Kinder und Jugendlichen des Haven konnten sich hier notfalls versammeln, doch eigentlich benötigten sie einen doppelt so großen Raum.

Andernorts waren die Gänge, die einmal zu den Bahnsteigen geführt hatten, in Schlafsäle umgewandelt worden. Sie waren zwar mit ein paar Stockbetten ausgestattet, aber die Kinder und Jugendlichen schliefen größtenteils mit Decken auf dem blanken Boden. Die Geisterstation war als Notunterkunft eingerichtet worden, außerdem hatten sie eine recht große Menge an Vorräten und Zubehör aus dem alten Haven retten können, nachdem das Feuer, das ihn zerstört hatte, gelöscht worden war. Nach dem Verkauf der Uhr, die Ollie Maddy Sikes kurz vor ihrem Tod vom Handgelenk gerissen hatte, war auch noch etwas Geld übrig. Doch es fehlte ihnen an Platz und Ollie war mehr als einmal neben dem Fuß seines Nachbarn auf seinem Kissen und einmal mit Sols Zeh in seinem Nasenloch aufgewacht.

»Was ist passiert?«, fragte Ollie seinen Freund, als sie vom behelfsmäßigen Dojo in Richtung der von ihnen eingerichteten Krankenstation eilten. »Ist Flea schwer verletzt?«

»Ziemlich«, erwiderte Sol, »aber er wird’s überleben. Er wollte uns nicht sagen, was passiert ist. Meinte, dass er auf dich warten wollte. Damit er nicht alles zweimal erklären muss.« Sol sah Ollie mit einem Funkeln in den Augen an. »Eigentlich hat er gesagt, dass er warten wollte, bis King PJ ihn mit seiner Anwesenheit beehrt.«

Ollie zuckte zusammen. »King PJ?«

»Also ich fand, dass es ganz gut klingt«, erklärte Sol lächelnd.

Ollie lächelte halbherzig zurück. So schlimm konnten Fleas Verletzungen nicht sein, wenn ihm noch genügend Energie blieb, um sich eine neue Beleidigung für Ollie einfallen zu lassen. Seit Ollie die Führung des Haven übernommen hatte, schien das zu Fleas Lebensaufgabe geworden zu sein. Genau genommen hatte er sich das von ihrer ersten Begegnung an zur Aufgabe gemacht.

»Was ist mit den anderen? Ist sonst noch jemand verletzt?«

»Fleas behämmerte Groupies meinst du?«, fragte Sol.

Bevor Ollie sich einverstanden erklärt hatte, die Nachfolge des vorherigen Haven-Anführers anzutreten, hatte er auf eine Abstimmung bestanden. Mehr als achtzig Kinder und Jugendliche hatten für Ollie gestimmt, während etwa sechzig Flea bevorzugten, den einzigen anderen Kandidaten für den Posten.

»Du solltest sie nicht so nennen«, tadelte Ollie ihn. »Wir sind alle auf derselben Seite, schon vergessen?«

»Hm«, gab Sol zurück. »Erzähl das Flea und seinen Groupies.«

Ollie runzelte die Stirn, schwieg aber dazu. Er wusste, dass Sol Fleas Widerwillen, Ollie in der Führungsrolle zu akzeptieren, noch persönlicher nahm als er. Ollie selbst tat sein Bestes, sich nicht daran zu stören. Wenn überhaupt, hatte er insgeheim das Gefühl, dass Flea und seine Anhänger nicht ganz unrecht hatten. Sie saßen seit Monaten hier unten in der stillgelegten U-Bahn-Station fest, ohne dass Ollie auch nur die geringste Ahnung hatte, wie er einen Ort finden sollte, der mehr ihrem vorherigen Zuhause entsprach. Und auch wenn die Aufgabe des Haven darin bestand, Kindern und Jugendlichen in Schwierigkeiten zu helfen und ihnen in Notzeiten eine Zuflucht zu bieten, hatten sie in letzter Zeit weder Missionen durchgeführt noch Neuankömmlinge aufgenommen. In den vergangenen Monaten waren sie lediglich über die Runden gekommen, mehr nicht, und das war die nackte Wahrheit.

»Hi, Ollie«, trällerte ein Stimmenpaar. Ollie blinzelte und hob den Kopf.

»Hi, Leo. Hi, Mia.«

Beide Kinder, an denen sie gerade vorbeigekommen waren, standen voll hinter Ollie, und er schöpfte Mut daraus, dass sie ihn so überschwänglich begrüßt hatten. Doch ein paar Schritte weiter kehrte ihnen eine andere Gruppe Teenager in einem der engen Tunnel demonstrativ den Rücken zu. Ollie verstand nicht, was sie einander zuraunten, aber als er das hämische Grinsen und spöttische Flüstern bemerkte, konnte er es sich sehr wohl denken.

Er erinnerte sich daran, wie er zum ersten Mal mit Dodge durch die Flure des Haven gegangen war und die anderen Kinder und Jugendlichen Dodge wie einen Helden gegrüßt hatten. Das wollte Ollie nicht – seine Anhänger überschätzten seine Fähigkeiten sowieso schon völlig –, die Vorstellung, dass die Bewohner des Haven Partei für die eine oder andere Seite ergriffen, gefiel ihm kein bisschen. Ollie war sich bewusst, dass es durchaus zur Spaltung der Gemeinschaft kommen könnte, wenn sich die Situation nicht bald verbesserte.

»Lass es nicht an dich ran, Ollie«, sagte Sol. »Die kommen schon noch drüber hinweg. Irgendwann sogar Flea. Du musst ihnen nur Zeit geben.«

Ollie wollte nicht so richtig daran glauben, gab sich aber alle Mühe, es nicht zu zeigen.

»Außerdem«, fuhr Sol mit einem grimmigen Lächeln fort, »werden wir uns wohl um wichtigere Dinge sorgen müssen, nachdem wir gehört haben, was Flea zu sagen hat.«

2ERBITTERTE RIVALEN

»Hübscher Pyjama, PJ.«

Das war das Erste, das Flea zu ihm sagte, als Ollie sich seinem Krankenbett näherte. Flea hatte ihm diesen Spitznamen gleich bei ihrer ersten Begegnung in der Kanalisation verpasst, bei der Ollie einen alten Dinosaurier-Pyjama getragen hatte, und Flea würde ihn das auf keinen Fall vergessen lassen. Ollie in seinem Karateanzug zu sehen, war offensichtlich eine zu verlockende Steilvorlage, der er nicht widerstehen konnte.

»Und wie ich sehe, hat dir Song einen Mitleidsgürtel geschenkt«, fuhr Flea fort. »Wie schade, dass dir Gelb eigentlich gar nicht steht.«

»Schön, dass du in Sicherheit bist«, erwiderte Ollie. »Und glücklicherweise an einem Stück.«

»Hm, na ja«, brummte Flea. »Ein paar von uns können sich schon um sich selbst kümmern. Wir haben es nicht nötig, bei einem Mädchen Selbstverteidigungsstunden zu nehmen.«

»Pass bloß auf«, sagte Jack, die neben Fleas Bett in ihrem Rollstuhl saß. Jack war einer der intelligentesten Menschen, die Ollie je getroffen hatte – sie war das Gehirn und die IT-Expertin des Ermittlungsteams – und Ollie wusste aus Erfahrung, dass sie mindestens genauso kämpferisch war wie Song. Jacks Temperament passte zu ihrer kurzen Igelfrisur. »Wenn Song hier wäre, würdest du die Klappe nicht so weit aufreißen«, warnte sie ihn. »Und wenn du nicht blutend daliegen würdest, würde ich dir höchstpersönlich ein paar Lektionen erteilen.«

»Achte nicht auf meinen dämlichen Bruder, Ollie«, meldete sich eine Stimme zu Wort. Ollie drehte sich um und entdeckte Lily am Fuß von Fleas Bett. Etwa ein Dutzend Leute, einschließlich Ollie und Sol, hatten sich darum geschart, die meisten davon Fleas Anhänger. So hämisch, wie sie über Fleas Witze gekichert hatten, bestand kein Zweifel, was sie von Ollie hielten.

»Und herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung«, sagte Lily. »Du kannst echt stolz auf dich sein.«

Ollie bedankte sich mit einem Nicken, doch als er in ihre sanften braunen Augen blickte, sah sie weg. Seit diesem schicksalhaften Tag in der Kanalisation war Lily immer nett zu Ollie gewesen. In letzter Zeit benahm sie sich ihm gegenüber jedoch merkwürdig. Ständig fand sie irgendeinen Vorwand, um nicht mit Ollie zu reden oder um den Raum zu verlassen, sobald er hereinkam, und Ollie hatte keine Ahnung, warum. Für ihn hatte sich nichts geändert. Na ja, außer der Sache mit Dodge. Und Ollies Wahl zum Anführer des Haven. Und dass sie gezwungen waren, unter der Erde zu leben, in Räumen, die nach alten Turnschuhen stanken, und mit Atemluft, die nach Ruß schmeckte.

Aber davon einmal abgesehen hatte sich nichts verändert, gewiss nicht zwischen ihnen beiden. Er fragte sich, ob sie wütend auf ihn war oder einfach nur enttäuscht wie so viele andere hier auch.

Bei dem Geräusch qualvollen Hustens wandte Ollie sich um. Ihm fiel zum ersten Mal auf, wie viel auf der Krankenstation los war, nicht nur wegen Flea. Auch alle anderen Betten waren belegt, hauptsächlich mit jüngeren Kindern. Auf den ersten Blick ließ sich nicht erkennen, was ihnen fehlte, aber das Husten des Mädchens hinter ihm hatte wie ein auf Kies entgleisender Zug geklungen.

Jack tauchte neben Ollie auf. »Es klingt schlimmer, als es ist«, sagte sie. »Meint zumindest Galen.«

Galen übernahm so gut sie konnte die Rolle einer Ärztin, und Ollie beobachtete, wie sie sich liebevoll um einen ihrer Patienten in der Nähe des Eingangs kümmerte. Galen war sechzehn Jahre alt, das Höchstalter für Jugendliche im Haven, und seit ihrer Ankunft als Elfjährige hatte sie sich selbst in Heilkunde unterwiesen.

»Was fehlt ihr?«, wollte Ollie von Jack wissen und zuckte zusammen, als das kleine Mädchen erneut hustete.

»Krupp«, antwortete Jack. »Außer Flea leiden alle anderen Patienten an irgendwelchen Atembeschwerden. Vor allem Asthma. Galen vermutet, dass es an der Luft hier unten liegt. Sie greift unsere Lungen an.« Jack beugte sich ein klein wenig nach vorne und senkte die Stimme. »Wir müssen hier raus, Ollie. Und zwar schnell.«

Flea hatte mitgehört. »Und ob wir aus diesem Rattenloch rausmüssen«, schimpfte er. »Wenn ihr mich fragt, hätten wir das alte Gebäude gar nicht erst verlassen sollen.«

Seine Fans nickten alle zustimmend.

Ollie konnte nicht verbergen, dass er seinen Ohren nicht traute. »Was willst du damit sagen? Es stand in Flammen. Wir hatten keine andere Wahl.«

»Man hat immer die Wahl, PJ. So, wie wir die Wahl haben, wer das Kommando dieses sinkenden Schiffs übernimmt.«

»Diese Wahl haben wir schon getroffen, Schnellmerker«, warf Sol ein. »Wir haben uns für Ollie entschieden.«

»Stimmt«, gab Flea zu. »Aber da hatten noch alle den Eindruck, PJ hätte irgendwie die Stadt gerettet. Nur für wen würden sie jetzt wohl stimmen, wenn sie noch einmal wählen könnten?«

Ollie spürte, wie er vor Unbehagen rot anlief. Als er um sich blickte, bemerkte er, dass Lily betreten ihre Füße betrachtete.

»Wenn es nach mir gegangen wäre«, fuhr Flea fort und hob die Stimme, damit ihn alle hören konnten, »hätten wir den alten Haven auf keinen Fall abbrennen lassen. Wir wären geblieben und hätten das Feuer gelöscht, statt wie verängstigte Tiere wegzurennen.«

Sol übertönte das zustimmende Raunen. »Du warst selbst dort, als das Feuer ausgebrochen ist«, sagte er zu Flea. »Ich kann mich nicht erinnern, dass du damals nach einem Eimer Wasser gegriffen hättest.«

»Wie der Zufall so wollte, war ich ein kleines bisschen beschäftigt«, schoss Flea zurück. »Jemand musste Maddy Sikes stoppen.«

»Das war Ollie! Du bist ihm nur gefolgt!«

»Woher weißt du das, Sol? Warst du dabei? War außer Lily irgendeiner von euch dabei?« Flea ließ den Blick über die Gruppe schweifen und richtete ihn dann wieder auf Sol. »Ihr könnt glauben, was ihr wollt. Aber die Wahrheit ist, dass ich uns in den Flughafen geschleust habe. Ich habe uns an Bord des Flugzeugs gebracht. Und ich habe Maddy Sikes abgelenkt, damit wir uns den Sprengzünder zurückholen konnten.«

Sol prustete. »Damit Ollie ihn zurückholen konnte, meinst du wohl. Nach allem, was ich gehört habe, Flea, hast du die meiste Zeit in einem der Sitze geschlafen.«

»Ich habe nicht geschlafen, ich war bewusstlos! Für kurze Zeit. Ich möchte mal sehen, wie du den Schlag wegsteckst, den ich abgekriegt habe, und trotzdem noch rechtzeitig zu dir kommst, um den Piloten zu retten.«

»Einen der Bösewichte«, gab Sol zurück. »Toll gemacht, Flea. Und überhaupt haben wir es nur Ollie zu verdanken, dass du …«

»Es reicht.« Lily war fast den Tränen nah. »Ollie und Flea haben beide dazu beigetragen, Maddy Sikes aufzuhalten. Okay? Das haben wir alle. Dodge eingeschlossen.«

Ein unbequemes Schweigen trat ein. Dodges Namen nicht zu erwähnen, war eine unausgesprochene Regel im Haven geworden, vor allem, weil keiner von ihnen so recht wusste, wie sie sich an ihn erinnern sollten, vermutete Ollie.

»Warum erzählst du uns nicht einfach, was passiert ist, Flea?«, forderte Ollie ihn auf. »Wie bist du verletzt worden? Ich dachte, es sollte nur eine Erkundungsmission werden?«

Flea wechselte offenbar nur widerwillig das Thema. Diesen Streit wollte er unbedingt ausfechten, so viel stand fest, und er hatte eindeutig das Gefühl, dass er ihn gewann. Doch als ihm die Reaktion seiner Zwillingsschwester auffiel, schluckte er hinunter, was auch immer er hatte erwidern wollen.

»Das war es auch«, grummelte er stattdessen. »Aber manchen Leuten gefällt es anscheinend nicht besonders, beobachtet zu werden.«

Jack hatte den Streit stumm verfolgt, aber da sich jetzt alle wieder auf die vorliegende Sache konzentrierten, beugte sie sich in ihrem Rollstuhl vor.

»Was hast du herausgefunden, Flea? Was hast du gesehen?«

Flea wandte sich Jack zu und verzog entschuldigend das Gesicht. Jack war das einzige Mitglied des Ermittlungsteams – das aus Ollie, Sol, Lily, Flea, Jack und Song bestand sowie Erik, dem Sprachexperten der Gruppe –, das Flea immer mit Respekt behandelte. Hauptsächlich, weil er Angst vor ihr hatte, und heute war ihm außerdem klar, dass Jack unbedingt gute Neuigkeiten hören wollte. Denn Flea und die anderen waren überhaupt erst ihretwegen zu dieser Mission aufgebrochen. Oder, genau genommen, wegen Jacks jüngerem Bruder, von dessen Existenz Ollie gar nichts gewusst hatte.

Jack hatte ihren Bruder Errol seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Sie waren als kleine Kinder kurz nach dem Tod ihrer Mutter voneinander getrennt worden. Ihr Stiefvater Rufus hatte beschlossen, dass zwei Kinder zu viel für ihn wären, vor allem, da eines von ihnen im Rollstuhl saß. Er gab Jack in Pflege und meldete ihren Bruder in einem Internat an. Aber während all der Zeit und durch alle Höhen und Tiefen, die sie seitdem durchgemacht hatten, waren Jack und Errol immer in Kontakt geblieben. Fast täglich hatten sie einander E-Mails geschrieben – bis die E-Mails ihres Bruders vor knapp zwei Wochen abrupt aufgehört hatten. Kurz nachdem Errol nach Forest Mount gekommen war, einem privaten Internat im grünen Norden Londons. Schlimmer noch, in den Wochen zuvor hatte er ihr von merkwürdigen Vorkommnissen an der Schule berichtet. Ollie kannte zwar nicht alle Einzelheiten, hatte aber gesehen, wie sehr es Jack beunruhigt hatte. Flea hatte sich bereit erklärt, die Lage vor Ort abzuchecken, und war eindeutig auf mehr gestoßen als erwartet.

»Von deinem Bruder fehlte jede Spur«, beantwortete Flea Jacks Frage. »Aber wir waren von der Schule noch gute fünfzig Meter entfernt, als uns jemand vom Gelände verjagt hat. Sie hatten Suchscheinwerfer, Schlagstöcke, Wachhunde. Und … noch was anderes.«

»Was meinst du mit noch was anderes?«, hakte Lily nach.

»Ich … Ist doch egal.«

Als Ollie Fleas Blick begegnete, sah Flea als Erster weg. Das war noch nie passiert.

»Der entscheidende Punkt ist«, fuhr Flea fort, »dass diese Schule schwerer bewacht ist als der Buckingham-Palast. Sie befindet sich oben auf einem Hügel wie eine mittelalterliche Burg oder so was. Auf einer Seite fällt der Hügel steil nach unten ab, praktisch wie eine Klippe. Eine einzige Straße führt zu den Toren hinauf, aber sonst gibt es nichts drum herum außer Wald. Dort haben sie uns entdeckt, als wir versucht haben, uns durch das Dornengestrüpp zu zwängen …« Flea unterbrach sich noch einmal. »Dort bin ich verletzt worden. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich schwören, dass eine der Baumwurzeln nach oben gegriffen und mich am Bein gepackt hat.«

Flea senkte den Blick und hob sein T-Shirt hoch, unter dem direkt unterhalb des Brustkorbs ein blutgetränkter Verband zum Vorschein kam.

»Ich bin gestolpert und unglücklich gelandet. Wahrscheinlich auf einem Ast. Der steckte wie ein Speer in meinem Bauch.«

Er schob das T-Shirt mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder runter, was auch Ollie zusammenzucken ließ.

»Dann hatte ich also recht«, sagte Jack, deren sonst gelassene Stimme zitterte. »Errol hatte recht. An dieser Schule geht irgendwas vor sich. Irgendwas, das der Rest der Welt nicht mitbekommen soll. Aber vielleicht hat Errol es gesehen. Vielleicht ist er deshalb verschwunden. Vielleicht haben sie … ihm wehgetan oder …«

Jack blickte verzweifelt um sich und ihre aufgebrachte Miene versetzte Ollie einen Stich.

Lily nahm Jacks Hand. »Das wissen wir nicht«, tröstete sie ihre Freundin. »Vielleicht hatte Errol nur viel zu tun. Vielleicht musste er für Prüfungen lernen. Oder das Internet an der Schule ist ausgefallen.«

»Red keinen Blödsinn, Schwesterherz«, warf Flea ein und drückte aus, was alle dachten. Flea war mutig und kräftig, doch Taktgefühl gehörte nicht zu seinen Stärken. »Der Junge hat seiner Schwester fast jeden Tag geschrieben. Seit Jahren.«

Er sah Jack an, die mit blassem Gesicht zustimmend nickte.

»Dann wechselt er auf diese neue Schule und ein paar Monate später verschwindet er einfach so von der Bildfläche? Eine Schule, die ganz nebenbei von Sicherheitspersonal bewacht wird und … um das komplette Gelände herum über Verteidigungsanlagen verfügt?«

Er schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich sag’s ja nur ungern, Jack, aber für mich besteht nicht der geringste Zweifel, dass du recht hast. Irgendwas geht da vor sich. Errol steckt in Schwierigkeiten und andere Kids vermutlich auch. Bleibt nur die Frage …« Und da richtete Flea den Blick auf Ollie. »Was will unser furchtloser Anführer dagegen unternehmen?«

3SCHULE IST ÄTZEND

»Schaut mal«, sagte Jack. »Seht’s euch selbst an.«

Das ganze Ermittlungsteam war zusammengekommen. Song war vom Dojo zu ihnen gestoßen und Erik hatte schon im neuen Kontrollraum auf sie gewartet. Erik war schlank, blond und trug eine randlose Brille mit runden Gläsern. Wie Sol stand er voll und ganz hinter Ollie, weil er überzeugt war, dass er ihm sein Leben verdankte.

Als Jack auf ihren Laptop zeigte, versammelten sich die anderen noch dichter um sie, obwohl sie eigentlich schon sehr eng aneinandergedrängt standen. Einer der größten Verluste, die das Ermittlungsteam durch den Brand des alten Haven erlitten hatte, war der Bereich, den sie als Kontrollraum benutzt hatten. Er war die Schaltzentrale des Haven gewesen, der Ort, an dem Ollie und die anderen gemeinsam Einsätze besprochen hatten. An Ausrüstung hatten sie gerettet, was sie konnten: die Kanalisationspläne, ein paar angekokelte Möbelstücke sowie die rauchgeschädigten Überreste mehrerer Computer, die Jack wieder hatte flott machen können. Doch was sie am meisten vermissten, war der Platz.

Ihr Kontrollraum befand sich jetzt im alten Büro des Stationsvorstehers. Das klang zwar toll, aber in Wirklichkeit war es kaum größer als ein Abstellraum. Es bot nicht einmal genügend Platz für auch nur eins der Möbelstücke, die sie hatten retten können. Lediglich ein kleiner rechteckiger Tisch für den ramponierten Laptop passte hinein.

Jack saß in der Mitte, während ihre Finger über die Tastatur flogen. Song, Erik und Sol standen links von ihr, der Rest des Ermittlungsteams rechts. Ollie war unbehaglich eng an Flea gedrückt, der mit einem Arm seine Wunde schützte und den anderen Ellbogen in Ollies Rippen rammte. Ollie wäre ein wenig von ihm abgerückt, hätte er sich dann nicht näher an Lily heranschieben müssen. Aus irgendeinem Grund nahm er lieber Fleas Ellbogen in Kauf, als dessen Schwester zu nahe zu kommen.

»Hier«, sagte Jack, die gefunden hatte, wonach sie suchte. »Er ist seit Mai an dieser Schule, das ist also eine der ersten E-Mails, die er mir von dort geschickt hat.«

Gesendet: Montag 28/05, 01:35

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Re: Schule ist ätzend

Hi Jack,

was ich dir erzählt habe, stimmt wirklich. Ich hasse diesen Ort. Und es hat nichts damit zu tun, dass ich mich an ein neues Umfeld gewöhnen muss, wie du gesagt hast. Eine neue Schule ist zuerst immer schrecklich. Seit Mums Tod hab ich schon oft genug die Schule gewechselt. Der Neue zu sein, keine Freunde zu haben, nicht zu wissen, was angesagt ist und was dich zum Vollidioten abstempelt, ohne dass es dir überhaupt bewusst ist – ich hasse das. Aber mit Forest Mount ist es mehr als das.Schlimmer.

Da ist schon mal das Gebäude an sich. Es ist alt. Ich meine, richtig alt. Und es ist unheimlich, wie ein Museum, in dem es spukt.

Der Wald macht’s auch nicht besser. Er fängt direkt vor der Tür an. Und manche Leute hier sagen …

Egal. Auch wenn ich nicht an ihre bescheuerten Geschichten glaube, ist es hier schon furchterregend genug.

Und Professor Strain. Habe ich dir von Professor Strain erzählt? Er ist der Schuldirektor, aber eigentlich mehr so was wie ein fieser Diktator. Ich habe bisher nur einmal mit ihm gesprochen, das hat voll und ganz gereicht, glaub mir. Er hat mich in sein Büro gerufen. Das macht er mit allen Neuen, vor allem, wenn sie mitten im Halbjahr anfangen wie ich. Er ist groß und sieht ein bisschen wie Großmoff Tarkin inStar Warsaus. Ich habe versucht, so cool und ruhig zu tun wie Han Solo in der Szene, als Greedo ihn in der Cantina mit seinem Blaster bedroht, aber das hat nichts gebracht. Er hat mich trotzdem wie Rebellenabschaum behandelt.

Doch der Schlimmste, der Allerschlimmste ist Colton Crowe. Er ist der Schülersprecher. Eigentlich müsste er also nett sein, oder?

Das kannst du total vergessen.

Crowe ist für die Aufsichtsschüler verantwortlich, die so was wie seine Privatarmee sind. Normalerweise ist die Schuluniform hier schwarz und weiß, aber die Aufsichtsschüler tragen schwarze Hemden, schwarze Blazer, schwarze Hosen, alles in Schwarz. Und sie benehmen sich wirklich wie eine Armee und überhaupt nicht wie Aufsichtsschüler. In St.Hilda, wo ich vorher war, gab’s auch Aufsichtsschüler, aber die haben uns bloß ein bisschen herumkommandiert. Hier sind sie die totalen Fieslinge. Es ist, als würden sie geheime Folterstunden nehmen. Sie testen, wie man einen Finger so weit wie möglich nach hinten umbiegt, ohne dass er bricht. Wo man jemandem den Daumen reindrücken kann, damit er schreit, es aber keinen blauen Fleck hinterlässt. Und alle schwimmen im Geld ihrer reichen Mummys und Daddys. Wie Colton Crowe. Sein Vater ist zum Ritter oder so was geschlagen worden und die Eltern aller anderen sind auch wichtige Persönlichkeiten. Sie haben Adelstitel und Land undGeldund …

Da kommt jemand.

Sorry – muss los. Um diese Nachtzeit sollte ich nicht hier unten sein. Der Zutritt zum Computerraum ist nach sechs verboten. Das gilt für das ganze Erdgeschoss.

Ich vermisse dich, Jack. Ich wünschte, du wärst hier. Oder noch lieber wäre ich da, wo du bist.

Hab dich lieb,

E

»Warum nennt er sich Errol, der Adler?«, fragte Sol.

Jack zuckte nur mit den Schultern. »Er ist erst elf. Und er mag alles, was mit Natur zu tun hat. Als wir klein waren, hat er tote Tiere gesammelt: tote Schmetterlinge, tote Fliegen, sogar mal eine tote Spitzmaus, die er beim Spazierengehen gefunden hatte. Ich habe mich immer davor geekelt, aber Errol bestand darauf, es wäre Wissenschaft. Er wollte eine Koryphäe in Sachen Tiere werden.«

»Eine Koryphäe?«, wiederholte Sol skeptisch. »Du meinst, er wollte ein Nadelbaum werden? Echt jetzt?«

»Das wäre eine Konifere, Doofi«, sagte Lily. »Eine Koryphäe ist ein Fachmann auf einem bestimmten Gebiet.«

Der ganze Raum kicherte, aber Ollie hielt den Blick auf Jack gerichtet. In ihrem Gesicht war nicht einmal die Spur eines Lächelns, sondern nur derselbe besorgte Ausdruck wie vorhin auf der Krankenstation. Sie so aufgebracht zu sehen, war beunruhigend. Jack war sonst immer ein Fels in der Brandung. Die Person, die abgesehen von Tante Fay einem Erwachsenen am nächsten kam. Daher mangelte es ihr manchmal an Humor, aber nie so sehr wie gerade eben. Ollie begriff, dass Jack nicht einfach nur besorgt war, sie hatte richtig Angst.

»Hier«, sagte sie und scrollte durch ihren Posteingang. »Das kam ein paar Wochen später.«

Gesendet: Donnerstag 14/06, 03:50

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Re: Schule ist ätzend

Es ist sogar schlimmer, als ich dachte. Irgendwas geht hier vor sich, ich schwör’s. Etwas Schlimmes.

Ich und mein Freund George haben eine Abkürzung durch den Ostflügel genommen, weil wir spät dran waren für Geschichte. Das dürfen wir auch, es ist nicht verboten, aber die meisten Schüler vermeiden es lieber, weil sich Professor Strains Büro genau in der Mitte des Hauptflurs befindet.

Zuerst wollte George nicht, doch ich meinte bloß: Du hast die Wahl, George. Das Risiko eingehen, Professor Strain über den Weg zu laufen, oder todsicher nachsitzen zu müssen, weil du zu spät warst. Und wenn du nachsitzt, musst du die Zeit sowieso mit Professor Strain verbringen.

Natürlich nahmen wir dann die Abkürzung. Doch wir waren noch nicht mal halb den Flur hinunter, als wir Stimmen hörten. Und George schob sofort Panik. »Es ist Strain«, platzte er heraus, »er kommt!« Um ehrlich zu sein, habe ich das in dem Moment auch gedacht.

Aber als die Stimmen näher kamen, begriff ich: Es war nicht Strain. Es war Crowe. Und wir waren zwei Siebtklässler, ganz allein, niemand sonst war in der Nähe, und Crowe hat wahrscheinlich gedacht, dass das sein Glückstag ist. Und dem Klang nach begleiteten ihn auch noch mindestens zwei Aufsichtsschüler. Wir waren also nicht nur größenmäßig, sondern auch zahlenmäßig im Nachteil. Obwohl man bei Crowe schon das Gefühl hat, in der Unterzahl zu sein, wenn man ihm eins zu eins gegenübersteht.

»Hier rein«, sagte ich zu George, »schnell!«, und zog ihn durch die nächste Tür. In ein Klassenzimmer, das zum Glück leer war. Wir versteckten uns hinter der Tür und konnten gerade so über den Rand des Sichtfensters sehen.

»Ihr habt die richtige Entscheidung getroffen«, erklärte Crowe den Aufsichtsschülern, als sie sich näherten. »Mit den Infos, die ihr uns gegeben habt, bleibt euren Eltern nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Willkommen bei der Rebellion, meine Herren.«

Sie blieben in der Nähe von Strains Büro vor einer Wand stehen.Eine ganz normale Wand, dachte ich. Sie ist mit dunklem Holz vertäfelt, was in Forest Mount echt nichts Ungewöhnliches ist. Doch dann sah ich, wie Crowe auf eins der Holzpaneele drückte. Und rate mal, was dann passierte? Das Paneel glitt zur Seite und dahinter kam eine Geheimtür zum Vorschein!

George sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.

»Eine verborgene Passage«, flüsterte George. »Wetten, dass sie runter zu den Verliesen führt?«

»Denwas?«, hakte ich nach.

»Den Verliesen. Aus alten Zeiten. Anscheinend gibt es unter der Schule zwei ganze geheime Stockwerke. Sie haben dort früher Gefangene eingesperrt und gefoltert.«

Ich schwieg. Ich hörte zum ersten Mal von Verliesen in Forest Mount, aber ehrlich gesagt wunderte es mich nicht, dass es welche gab.