The House Trap - Emma Read - E-Book

The House Trap E-Book

Emma Read

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Beschreibung

Kannst du das Rätsel lösen und aus dem Haus entkommen? Eigentlich hätten Claude, Deliah und Sam aufpassen sollen – doch plötzlich ist Claudes kleine Schwester Amity verschwunden. Auf der Suche nach ihr wagen sich die drei tief in den verbotenen Wald, in dem schon viele Kinder verschwunden sind, und entdecken dort Manvers Hall, ein riesiges Herrenhaus. Alles ist für eine Party vorbereitet und die Gäste müssten jederzeit eintreffen. "Wenn sich die Tür schließt, beginnt das Spiel!", steht auf der Einladung – und tatsächlich müssen die Kinder bald feststellen, dass die Türen verschlossen sind und sie das Haus nicht verlassen können. Sie können nur entkommen, wenn es ihnen gelingt, die Rätsel des verrückten Architekten des Hauses zu lösen. Doch wie soll das gehen, wenn der schon seit neunzig Jahren tot ist und das Haus nur noch von Geistern bewohnt wird? Wird es Deliah, Claude, Sam und Amity gelingen, dem Haus zu entkommen? Ein nervenaufreibender Jugendthriller voller Rätsel und überraschender Wendungen, den du nicht mehr aus der Hand legen wirst. Für alle Fans von Escape-Rooms und Exit-Games!

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Seitenzahl: 293

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Für James.Für all die Zeit, die wir gemeinsamim Haus festgesessen haben.

EMMA READ

THE HOUSE TRAP

DIESEM SPIEL ENTKOMMST DU NICHT

Aus dem Englischenvon Sarah Heidelberger

Inhalt

KAPITEL 1: Das Ende

KAPITEL 2: Mädchenfußball

KAPITEL 3: Die Badwell Woods

KAPITEL 4: Das Haus mitten im Nirgendwo

KAPITEL 5: Die Ankunft

ERDGESCHOSS

KAPITEL 6: Etwas Verborgenes

KAPITEL 7: Hinweise und Geheimnisse

KAPITEL 8: Allzeit bereit!

KAPITEL 9: Schlaf, Kindchen, Schlaf

KAPITEL 10: Kekse zum Frühstück

KAPITEL 11: Endlich draußen

ERSTER STOCK

KAPITEL 12: Bart

KAPITEL 13: Neue Runde, neues Glück

KAPITEL 14: Die Versöhnung

KAPITEL 15: Ein leises Lied

KAPITEL 16: Helft uns

KAPITEL 17: Hallo, Deliah

ZWEITER STOCK

KAPITEL 18: Leo

KAPITEL 19: Liebes Tagebuch

KAPITEL 20: Spuk in den Badwell Woods

KAPITEL 21: Die Mini-Villa

KAPITEL 22: Dinge, die nachts poltern

KAPITEL 23: Zwei Seiten

KAPITEL 24: Merkwürdige Erscheinungen

KAPITEL 25: Irgendwas stimmt nicht

KAPITEL 26: Zu viele Geheimnisse

KAPITEL 27: Die Wände

KAPITEL 28: Die Sinkhöhle

KAPITEL 29: Das Verschwinden der Hypatia Archimedes Batstone

KAPITEL 30: Die Uhren ticken anders

KAPITEL 31: Allein im Dunkeln

KAPITEL 32: Leb wohl!

KAPITEL 33: Falltür

KAPITEL 34: Der Abstieg

KAPITEL 35: Die Maschine

KAPITEL 36: Wir können nicht heraus

KAPITEL 37: Hypatias Abschied

KAPITEL 38: Es tut mir leid

KAPITEL 39: Eine letzte Prüfung

KAPITEL 40: Der Dachboden

KAPITEL 41: Wo sind denn alle?

KAPITEL 42: Das Ende?

Danksagung

KAPITEL 1

Das Ende

Deliah saß im Schneidersitz auf dem dicken Teppich im Wohnzimmer der Laurents und löste ein extraschweres Sudoku. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie irgendwo eine falsche Zahl eingetragen hatte, aber sie machte trotzdem weiter. Gefühle waren keine Fakten, und außerdem lag es nicht an ihr, wenn sie einen Fehler gemacht hatte. Sondern daran, dass sie in Gedanken woanders war.

Ein Stockwerk weiter oben, um genau zu sein.

Sie ließ den Stift über den Zahlenkombinationen auf der Seite kreisen, über den Kästchen und waagrechten und senkrechten Reihen, die alle dieselbe Summe ergaben. Sudokus waren geordnet und logisch … tröstlich. Aber nicht tröstlich genug, um sie von dem Gelächter abzulenken, das von oben durchs Haus hallte.

In zwei Tagen würde Deliahs vermeintlich bester Freund Claude mit seiner Familie nach Cornwall umziehen. Deliah und ihre Mum waren hier, um sich zu verabschieden. Um ihre jahrzehntelange Freundschaft zu feiern, sich gegenseitig regelmäßige Besuche zu versprechen, sich zu umarmen und ein paar Tränchen zu verdrücken und Kartons durch die Gegend zu schleppen.

Aber aus irgendeinem Grund saß Deliah jetzt allein hier unten, während Claude und Sam, sein neuer bester Freund aus der Schule, im Spielezimmer saßen und Escape Room II auf der Switch daddelten.

Was ja auch in Ordnung war. Vollkommen in Ordnung.

Deliah kritzelte das misslungene Rätsel durch, faltete die Zeitung zusammen und warf den Stift darauf. Dann sah sie sich nach einer neuen Beschäftigung um, aber die Wohnzimmerregale waren längst ausgeräumt. Nur ein einzelnes gerahmtes Foto stand noch darin – ihr zuliebe, wie sie vermutete. Es war absolut peinlich, ein altes Polaroidbild von Claude und ihr im Planschbecken. Deliah mit ihrem hummerroten Sonnenbrand und Claude mit seiner braunen Haut hätten nicht unterschiedlicher aussehen können. Trotzdem waren sie damals ein Herz und eine Seele gewesen, wie das Foto bewies: die gleichen Plastiksonnenbrillen, die gleichen T-Shirts, das gleiche breite Grinsen.

Claudes Mum Sara redete ständig davon.

»Soooo niedlich«, sagte sie dann mit ihrem kaum merklichen französischen Akzent, durch den es eher wie »niedliesch« klang. Wenn sie Pech hatten, kniff Sara ihnen dabei in die Wangen, als wären sie immer noch vier. »Schaut euch nur an, wie strahlend ihr lächelt.«

Nicht, dass sie damit unrecht hatte: Sie sahen wirklich glücklich aus.

Deliah stellte sich vor, wie jemand das Bild in der Mitte zerriss und Claude und sie für immer getrennt wurden.

Sara kam mit einem Glas Eistee für sie herein. »Ich hoffe, du lässt dich von den Jungs nicht ausschließen?«

»Alles in Ordnung, Sara. Ehrlich. Ich steh nicht so auf Escape Room.«

Und außerdem ist sowieso alles egal. Weil unsere Freundschaft Vergangenheit ist.

Claudes Mum hob eine Augenbraue und rührte in ihrem eigenen Tee herum. »Wie auch immer, es ist sowieso an der Zeit, dass ihr ein bisschen frische Luft schnappt.« Sie trat an den unteren Treppenabsatz. »Claude? Sam? Bewegt eure Hintern nach unten!«

Als Antwort kam träges Gebrummel, dass sie »nur schnell speichern« müssten, dann stampften die Jungs lustlos die Treppe nach unten. Claude ging voraus. Er sah seinem Dad inzwischen ähnlicher als sein Dad selbst. Vor allem, seit er sogar am Samstag nur noch Designer-Shirts und gebügelte, wie mit dem Lineal hochgekrempelte Hosen trug.

Deliah trank ihren Tee aus. Er schmeckte nach Sommer.

»Sicher, dass du das noch nie gespielt hast? Hat fast so gewirkt, als ob du einen siebten Sinn hast.« Sam schlug Claude auf die Schulter und band sich seinen ausgewaschenen Hoodie um die Hüfte.

Claudes Mum nahm ihren Sohn sanft beim Kinn. »Vergiss nicht, dass du mehr als einen Besucher hast, Claude. Ja? Und Deliah ist eine ganz besondere Gästin.«

Sam zog ein übertrieben gekränktes Gesicht. »Und ich? Bin ich etwa kein ganz besonderer Gast, Mrs. L?«

Claudes Mum musterte ihn eingehend. »Hm … Du bist natürlich auch wichtig.« Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln und wuschelte ihm durch sein struppiges braunes Haar. »Aber unsere entzückende Dee hier kennen wir, seit sie ungefähr sooo groß war.« Lachend hielt sie Daumen und Zeigefinger aneinander. »Und jetzt ab nach draußen mit euch dreien. Handys auf den Tisch, ihr habt so lange Bildschirmverbot.«

Deliah ahnte schon, was als Nächstes kommen würde.

Als ich in eurem Alter war …

»Als ich in eurem Alter war, sind wir nach dem Frühstück rausgegangen und erst wieder reingekommmen, wenn wir Hunger hatten.«

Deliah und Sam stöhnten im Chor auf, klatschten aber trotzdem ihre Handys auf den Tisch.

Claude war das Ganze sichtlich peinlich. »Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Spiele wie Escape Room sind total sozial. Die Zeiten haben sich geändert, Mum.«

»Nicht so sehr, wie du vielleicht denkst.« Sara klopfte auf den Tisch, bis auch Claude sein Handy herausgerückt hatte, dann reichte sie Deliah ihren Rucksack und schob noch eine Packung Schokoladenkekse hinein. »Seid bitte wieder da, ehe es dunkel wird.«

Auch wenn Deliah sich beschwert hatte, war sie eigentlich froh, aus dem Haus zu kommen. Sam und Claude hatten sich länger oben eingeigelt, als sie mitbekommen hatte, und langsam lief ihnen die Zeit davon. Auch wenn Claude keinen Hehl daraus machte, dass er sie ausgetauscht hatte, wollte sie sich gern richtig von ihm verabschieden. Danach konnte sie ihre einst so enge Freundschaft hinter sich lassen und ihn vergessen. In Gedanken hatte sie ihren Plan schon mehrmals durchgespielt. Aber dabei hatte sie nicht mit Sam gerechnet.

Sie berührte den halben Ammoniten in ihrer Tasche, strich erst über die raue Außenseite und dann über die glatte, wellige Urkreatur, die sich im Inneren zusammenrollte.

Auch das Fossil war Teil ihres Plans. Zur Sicherheit steckte sie es in ihren Rucksack zu ihrem Taschenmesser und der Taschenlampe.

Die Erwachsenen redeten die ganze Zeit wehmütig vom »Ende einer Ära«. Deliah dagegen war erleichtert, dass es bald vorbei sein würde. Dann hatte sie es hinter sich, anstatt den langsamen, peinlichen Tod ihrer Freundschaft ertragen zu müssen, während sie sich immer und immer weiter auseinanderlebten.

Claudes Dad steckte den Kopf aus dem Wintergarten, wo die Erwachsenen saßen und den alten Zeiten hinterhertrauerten.

»Schätze, das ist das letzte Mal, dass ich euch daran erinnern muss, euch vom Wald fernzuhalten«, rief er und riss Deliah dabei aus ihren Träumereien.

Innerlich – aber wirklich nur innerlich – verdrehte sie die Augen. Schließlich ging es hier um die Badwell Woods, nicht um irgendeine undurchdringliche Wildnis.

Auf einmal schrillte hinter ihr noch eine weitere Stimme auf. »Hey, Moment, wartet auf mich!«

Claudes kleine Schwester Amity schoss an ihnen vorbei auf die Terrasse. Auf ihrem Rücken hüpfte ein goldener Paillettenrucksack, und ihr Fransenschal flog hinter ihr her wie ein Superhelden-Cape.

Claudes Dad winkte Claude mit einem angebissenen haitianischen Fischbällchen zu. »Pass ein bisschen auf Ami auf, ja? Danke, Großer.«

»Na toll«, brummte Claude.

KAPITEL 2

Mädchenfußball

Die vier rannten so schnell über den sonnigen Rasen der Laurents, dass sie den Mauerseglern Konkurrenz machten, die auf der Jagd nach Insekten durch den Himmel schossen. Amity rappte irgendeinen TikTok-Song vor sich hin, für den sie eigentlich noch viel zu jung war, und hüpfte die Trittsteine entlang, während Sam die Zehen unter einen Fußball schob und ihn hochkickte. Deliah rief ihm zu, dass er zu ihr spielen sollte, aber stattdessen kickte er den Ball noch zweimal hoch und schoss ihn dann rüber zu Claude.

Deliah verdrehte die Augen und kletterte über die flache Steinmauer am Ende des Gartens auf die dahinterliegende Wiese. Die anderen kamen ihr hinterher.

»Bist du traurig, dass ihr umzieht?«, fragte sie Amity.

»Ja, aber in unserem neuen Haus wohnen wir direkt am Strand.« Amity strahlte. »Es ist so cool da, Dee! Ich freu mich schon drauf, dir alles zu zeigen. Es gibt Felsenbecken und Dünen, und ich darf Surfen lernen!«

»Wenn überhaupt, lernst du Sand essen«, bemerkte Claude.

Aber Amity achtete gar nicht auf ihren Bruder, sondern sprang auf, um einem weißen Schmetterling hinterherzujagen, der vorbeiflatterte.

»Ich fänd’ es toll, direkt am Meer zu wohnen«, sagte Deliah wehmütig. Sie wusste genau, dass sie das neue Haus der Laurents nie zu Gesicht bekommen würde. »Ihr habt so ein Glück.«

»Ich würde überall hinziehen, solange wir nur wegkommen aus dem Haus, in dem wir gerade wohnen«, murmelte Sam, während er versuchte, Claude den Ball wegzugrätschen.

»Komm, Dee!«, rief Amity und rannte zu einer riesigen Eiche. »Kletterst du mit mir auf den Baum rauf?«

Deliah lächelte. Es war eine ganze Weile her, dass sie auf einen Baum geklettert war. Seit sie auf die Maysfield Academy ging, hatte sie für diese Art Sachen kaum noch Zeit. Ihren Freundinnen aus der Siebten – bald Achten – waren Netflix und YouTube wichtiger, als draußen zu sein. Bisher hatte sie noch kein anderes Mädchen gefunden, das ähnliche Hobbys hatte wie sie. In der Siebten – dem ersten Jahr an der neuen Schule – war es vor allem darum gegangen, sich anzupassen, anstatt sich abzuheben.

Sie rannte hinter Amity her. Das wilde Trommeln ihrer Turnschuhe auf dem Gras ließ ihre Sorgen für einen Augenblick verfliegen.

Amity zog sich schon hoch ins dichte, grüne Laub.

Deliah atmete tief durch und füllte ihre Lungen mit der warmen Juliluft, die getränkt war mit dem Duft des letzten Bärlauchs für dieses Jahr. Irgendwie schienen die Ferien nie lang genug zu sein. Die Aussicht auf das neue Schuljahr hing bereits im Wind wie eine Drohung.

»Wenn du dich hier neben mich quetschst, können wir Sachen auf Claude werfen.« Amity reichte Deliah ein Tic Tac. »Ich weiß genau, dass du willst.«

»Aber ich werf doch keine Sachen auf ihn«, protestierte Deliah und schob sich das Tic Tac in den Mund, anstatt es als Geschoss zu verwenden.

Allerdings hätte sie nichts dagegen gehabt, Sam zu bewerfen. Am besten mit Steinen.

Amity zuckte mit den Achseln. »Egal. Ich weiß trotzdem, dass du Claude nicht mehr magst. Keine Sorge, ich kann’s nachvollziehen.«

Claude überprüfte, ob das Gras feucht war, dann nutzte er Sams und seinen Hoodie als Tormarkierungen.

»Quatsch, natürlich mag ich ihn noch. Er ist nur einfach … anders geworden.« Sie war selbst überrascht, wie tief die Enttäuschung war, die sie auf einmal empfand. Die neue Schule hatte ihn echt verändert. »Er war mal cool. Also, nerdig und schräg, meine ich. Was ja eigentlich eher uncool ist.«

»Total! Er ist so aaaalt geworden. Ich meine, du ja auch, aber Claude hält sich echt für den Tollsten mit seinen schnöseligen Klamotten und dem blöden neuen Haarschnitt.« Sie verstellte ihre Stimme. »Uuuh, ich bin ja so wichtig, ich bin Sportsprecher und hab Hausaufgaben und einen Blazer, uuuuh!« Amity verdrehte so heftig die Augen, dass ihre Pupillen fast nicht mehr zu sehen waren. Dann holte sie etwas aus ihrer Hosentasche und schleuderte es auf Claude. Es war ein Tannenzapfen, und er verfehlte ihren Bruder um gefühlte hundert Meter.

»Ach, das ist eigentlich gar nicht mein Problem mit ihm. Wir haben einfach nichts mehr gemeinsam.«

Doch Amity redete einfach weiter. »Den ganzen Tag scheucht er mich nur durch die Gegend. Aber das macht ihn auch nicht zufriedener. Stattdessen war er in letzter Zeit total maulig.« Ohne Vorwarnung stieß sie sich mit den Händen ab, sprang vom Baum und landete gebückt auf allen vieren wie eine Katze. »Wer hat Lust, noch eine letzte Höhle zu bauen, bevor wir wegziehen?«

Sam zog ein abfälliges Gesicht. »Sind wir nicht ein bisschen zu alt für so was?«

Amity ignorierte ihn und rannte davon, um Stöcke zu sammeln.

Sam stützte einen Fuß auf den Ball. »Kicken wir weiter, Bro?«

Deliah kletterte vorsichtig den Baum runter. »Okay.«

Sams rechte Braue schoss in die Höhe. »Du willst mitmachen, McDeery?«

»Ja, will ich«, antwortete Deliah.

»Hör auf. Du spielst doch nie im Leben Fußball.«

»Tu ich wohl«, widersprach sie.

»Hätte nicht gedacht, dass du überhaupt Sport machst.«

»Mach ich aber.« In Deliahs Bauch zwickte die Wut.

»Hm … Aber nur, dass du’s weißt: Ich mache keine Ausnahmen für Mädchen. Wenn du mitspielen willst, bekommst du’s mit richtigem Jungsfußball zu tun.«

Deliahs spontane Reaktion bestand darin, sich vor der Auseinandersetzung zu drücken. Aber aus irgendeinem Grund sorgte das »Ende einer Ära« dafür, dass sie sich behaupten wollte. Mit etwas Glück würde sie Sam sowieso nie wieder über den Weg laufen, wenn Claude erst einmal weggezogen war.

Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Ich hab die ganze Grundschule lang Fußball in der Schulmannschaft gespielt. Und wir haben drei Jahre in Folge die Bezirksmeisterschaft gewonnen.«

»Aber das war Mädchenfußball, stimmt’s?«

Hitze kroch Deliahs Hals hoch und breitete sich auf ihren Wangen aus. Sie bereute es, überhaupt etwas gesagt zu haben. Obwohl sie andererseits gern noch viel mehr gesagt hätte. Zum Beispiel: Ich verstehe nicht, wo der Unterschied liegt. Zwei Beine, zwei Füße, ein Gehirn … Wobei man über das mit dem Gehirn in deinem Fall sicher streiten kann. Doch die Worte wollten einfach nicht herauskommen.

»Na ja, dann kicken wir eben ein bisschen lahm durch die Gegend.« Sam grinste fies.

Claude drängte sich zwischen sie. »Kommt schon, ihr zwei, lasst uns einfach spielen. Deliah ist …« Die Pause, die er machte, war viel zu lang. »… ziemlich gut.«

»Nehmt bloß keine Rücksicht auf mich.« Deliah stahl Sam den Ball unterm Fuß weg und führte ihn am Fuß in Richtung Wald, fädelte sich zwischen den »Torpfosten« hindurch und kickte ihn anschließend hoch, um ihn mit einem Kopfball zwischen den Bäumen zu versenken.

»Alles klar, wir haben verstanden. Und jetzt geh ihn holen.« Als sie sich nicht rührte, lief Sam rot an. »Ich sagte, hol meinen Ball zurück!«, schrie er und rannte auf sie zu. »Den hab ich von meinem Dad bekommen!«

»Erst wenn du dich entschuldigst.«

»Wieso sollte ich mich entschuldigen? Ist doch nicht mein Problem, dass du so überempfindlich bist.«

»Ich bin nicht überempfindlich.«

»Ich geh dann mal den Ball holen«, sagte Claude in einem unendlich gönnerhaften Tonfall.

»Du bist nicht unser Trainer, Claude. Ich warte nur, bis Sam sich für sein sexistisches Verhalten entschuldigt hat«, sagte Deliah.

»Ich muss mich für gar nichts entschuldigen. Im Gegensatz zu dir.«

»Könnt ihr bitte einfach aufhören zu streiten?« Jetzt klang Claude fast schon väterlich.

»Mensch, Claude, du bist doch nicht die Vereinten Nationen.« Deliah funkelte ihn wütend an. »Könntest du bitte endlich mal aufhören, allen zu sagen, was sie zu tun und zu lassen haben?«

»Dann hör du auf, dich zu benehmen, als wären wir noch in der Grundschule«, fuhr Claude sie an.

Deliah war gerade dabei, so richtig wütend zu werden, da schob sich eine schwarze Gewitterwolke vor die Sonne, und die Wiese wurde in Dunkelheit gehüllt. Das passte ja bestens zu ihrer Laune! Die Temperatur sank schlagartig, und damit wurde auch ihr Streit weniger hitzig. Deliah, Sam und Claude sahen in den Himmel hinauf.

Ganz plötzlich kam die Sonne wieder hervor, und die Vögel zwitscherten begeistert weiter. Deliah richtete den Blick auf Sam, beschloss aber nach ein paar Sekunden, dass er ihr eigentlich egal sein konnte, und wandte sich seufzend zum Wald um.

»Genau, vergiss es«, sagte Sam, der sich auch wieder entspannt zu haben schien. »Ist doch kein Thema.«

Er ging an ihr vorbei zum Waldrand, stieg über die Brombeerranken und holte den Ball. »Also, wollen wir spielen?«

Doch Deliah runzelte die Stirn. Etwas fehlte.

»Claude? Wo ist Amity?«

KAPITEL 3

Die Badwell Woods

Amity war weder zurück ins Haus gegangen noch irgendwo in Rufweite der Wiese, und Claude hatte schlechte Laune, weil Sara ihn angemeckert hatte, nachdem er ins Haus gestiefelt war.

»Die kommt schon wieder«, sagte Sam, der eindeutig keine jüngeren Geschwister hatte – oder zumindest keine, die ihm etwas bedeuteten.

»Bestimmt ist sie in den Wald gegangen, um Holz für ein Tipi zu sammeln. Weit weg kann sie nicht sein, sie ist doch noch klein«, sagte Deliah.

»Da würde sie nie reingehen«, murmelte Claude eher hoffnungsvoll als überzeugt vor sich hin.

»Ach, komm schon«, schnaubte Sam verächtlich. »Wegen der paar Gruselgeschichten? Verschwundene Kinder … Das glaubt doch kein Mensch!«

»Claude schon«, widersprach Deliah. »Claude glaubt neuerdings so ziemlich alles, was man ihm erzählt.«

Claude zuckte zusammen, als hätte sie ihm mit ihren Worten einen Schlag in die Magengrube verpasst. Aber es gelang ihm schnell wieder, seine übliche Besserwisser-Miene aufzusetzen. »Nein, im Wald ist es echt gefährlich. Mum und Dad haben uns schon total oft davor gewarnt. Wegen der Sinkhöhlen von den alten Minen. Ehrlich, in den Badwell Woods sind schon viele Kinder verschwunden. Aber mit Gruselkram hat das nichts zu tun. Sie sind einfach in die Löcher gefallen. Deswegen ist drinnen im Wald jetzt alles umzäunt.«

Sam tat so, als würden ihm vor Angst die Lippen zittern.

Aber Claude achtete gar nicht auf ihn, sondern blickte zwischen den Bäumen hindurch in den Wald. »Allerdings …«

Deliah folgte seinem Blick und versuchte, im dichten Grün etwas auszumachen. »Was denn … Claude?«, fragte sie leicht genervt, weil er sich alles aus der Nase ziehen ließ.

Claude verdrehte die Augen. »Ami ist überzeugt, dass in dem Wald irgendwas Merkwürdiges versteckt ist. Ein Spionageversteck oder Aliens oder so. Na ja, ihr kennt sie ja.«

Deliah musste lächeln. Ja, und ob sie Ami kannte. »Das glaubt sie nur, weil sie nie in den Wald reindurfte. Aber wenn es dadrinnen wirklich so gefährlich ist, wie du sagst, sollten wir deinen Eltern besser sagen, dass sie weggelaufen ist.«

»Mum wird mich umbringen!«, protestierte Claude. »Ich sollte diese Woche ein bisschen auf Ami aufpassen, während unsere Eltern den Umzug organisieren. Wahrscheinlich versteckt sie sich nur, um mich zu ärgern.«

»Mich nervt sie schon durch ihre bloße Existenz«, sagte Sam, und Claude lachte zögerlich mit, während sie den Wald betraten.

Deliah stieg über das Brombeergestrüpp am Waldrand hinweg und rief dabei laut nach Amity. Nichts deutete darauf hin, dass sie ein Gefahrengebiet betraten. Ganz im Gegenteil. Der Wald wirkte hell und lebendig, Sonnenlicht fiel durch das dichte, glänzende Laub. Kühle Luft kitzelte Deliah im Nacken und vertrieb den Sommerschweiß von ihrer Haut.

Ein Eichhörnchen huschte eine Astgabel hoch und keckerte ihnen wütend zu, und zwei bunte Schmetterlinge tanzten durch einen Lichtstrahl. Deliah strich mit der Hand über einen Baumstamm und blendete das Geläster der Jungs aus, die an ihr vorbeiliefen. Sollten sie reden. War ihr doch egal, was die beiden über sie dachten! Sie stellte sich vor, wie sie ganz allein durch den Wald streifte, den Mustern und Linien der Natur folgte, die ihre ganz eigene Ordnung bildeten. Mathe, Logik, Vernunft – das war ihre Welt, in der alles einen Sinn und seinen Platz hatte. Nichts war kompliziert. Anders als in ihrem restlichen Leben.

Am liebsten würde ich für immer hier drinnen bleiben.

Auf einmal bemerkte sie, dass die Jungs vor ihr stehen geblieben waren, als wären sie auf eine unsichtbare Grenze gestoßen. Als Deliah zu ihnen aufschloss, begriff sie auch, weshalb. Die Luft war anders. Falsch irgendwie.

Selbst die Bäume waren nicht dieselben. Ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinab. Das schimmernde grüne Blätterdach wich hier einer anderen Baumart mit grauen, knorrigen Stämmen. Ihr Laub war dichter und dunkler, obwohl die einzelnen Blätter vertrocknet waren und bereits abfielen. Als wäre hier schon der Herbst eingekehrt.

Sie wich einem Polster aus herabhängendem Moos aus, das an wirres grünes Haar erinnerte, und stieß dabei gegen etwas Klebriges – Harz, das aus einer Wunde in einem Baumstamm drang und dabei langsam, aber unerbittlich einen großen schwarzen Käfer verschlang.

Deliah verzog das Gesicht. Die Natur konnte manchmal so grausam sein.

Kehr um!

»Amity!«, rief sie. Aber niemand antwortete.

Vor ihr sackte der Boden weg, als würde sie in einen Krater hinabsteigen, und die Baumwurzeln standen aus dem steilen Abhang hervor wie Krallen, die versuchten, sich über den Rand des Abgrunds zu schieben. Deliah wollte die Jungs an die Sinkhöhlen erinnern. Sie musste an die Kinder denken, die darin verschwunden waren. Und an Tunnel, die bis zum Mittelpunkt der Erde reichten. Aber die beiden waren schon weitergelaufen. Claude stieg vorsichtig wie ein ängstliches Reh über Farne und abgebrochene Zweige. Deliah zögerte. Sie wurde das merkwürdige Gefühl nicht los, dass sie die wahre Welt hinter sich ließen.

Kopfschüttelnd wies sie sich zurecht, keinen solchen Unsinn zu denken. »Amity!«, rief sie wieder.

Die üppigen grünen Bäume am Waldrand waren inzwischen nicht mehr zu sehen. Hier wuchs nur noch diese dunklere Art, die an Steineichen erinnerte. Inzwischen waren sie richtig tief im Wald. Deliah schauderte.

Hol Ami, und dann nichts wie raus hier!

Sie legte einen Zahn zu und lief unter weiterem Rufen hastig den Jungs hinterher.

Claude bedeutete ihr, still zu sein und zu lauschen, ob Amity vielleicht etwas erwiderte.

»Nichts.« Sam schleuderte genervt einen Stock durch die Gegend. »Nicht mal der leiseste Pieps. Alter, deine Mum wird dir den totalen Einlauf verpassen.« Er lachte, als Claude beunruhigt das Gesicht verzog. Aber er hatte nicht ganz unrecht.

»Es ist nicht nur Amity – die Vögel singen hier drinnen auch nicht. Es gibt überhaupt keine Geräusche. Findet ihr nicht, dass es merkwürdig still ist?«, bemerkte Deliah. »Voll gruselig, finde ich.«

»Ich hab euch doch gesagt, dass der Wald verbotenes Gebiet ist«, sagte Claude.

Auf einmal wich aller Ausdruck aus Sams Gesicht. Er atmete stockend ein und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Pssst, was war das?« Er hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, beugte sich lauschend vor und blickte konzentriert in die Tiefen des Waldes. Dann atmete er langsam aus und machte große Augen. Mit einem großen Satz sprang er auf Deliah zu, packte sie an den Armen und kreischte ihr »Die Waldhexe!« ins Gesicht.

Deliah und Claude schrien auf, dann verpasste sie Sam einen Stoß vor die Brust. Er stolperte rückwärts weg und prallte gegen einen Baum, wobei er so heftig lachte, dass es so wirkte, als müsste er sich gleich übergeben. »Ihr solltet mal eure Gesichter sehen – total genial!«

Und dein Gesicht macht mich krank.

Aber Deliahs Herz pochte noch so wild, dass sie kein Wort herausbrachte. Hilfesuchend sah sie sich nach Claude um, aber der tat so, als würde er Sams Witz super finden, und lachte mit.

Ihr zwei habt einander echt verdient.

Tränen brannten ihr in den Augen, aber zum Glück wurde sie von einem Ast gerettet, der ganz in der Nähe knackte, worüber sie so erschrak, dass sie vergaß, verletzt zu sein. »Was war das?«

»Kommt«, sagte Claude und zog Sam in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. »Vielleicht war das ja Amity!«

Er rief weiter nach seiner Schwester, inzwischen aber nicht mehr genervt, sondern eher flehend. Die Luft war stickig, und Mücken schwirrten um ihre Gesichter.

Sam hastete weiter. »Schaut, hier ist ein Zaun.« Er schob sich den Hoodie-Ärmel über die Hand und zog das wirre Gestrüpp auseinander, hinter dem eine Reihe von wurmzerfressenen Holzpfählen zum Vorschein kam, zwischen denen rostiger Stacheldraht aufgespannt war. »Sonderlich abschreckend wirkt der aber nicht.« Wie zum Beweis setzte er über den Zaun.

Delia zupfte einen Wedel von einem großen, flachen Farn und wischte das Schild sauber, das lose von einem Pfosten baumelte.

TODESGEFAHR – BETRETEN VERBOTEN

Auf der anderen Seite des Zauns zerrte Sam etwas aus dem Unterholz. »Hey, Bro, ist das nicht Amitys Schal?«

KAPITEL 4

Das Haus mitten im Nirgendwo

»Alles klar, wir müssen zurück nach Hause und den Erwachsenen Bescheid sagen«, verkündete Claude. Sein Blick zuckte zu dem Schal, der schlaff von Sams Hand baumelte. »Sie ist meine Schwester, ich habe die Verantwortung, also treffe ich die Entscheidungen.«

»Wie du meinst.« Sam ging einfach weiter. »Na los, lauf zu deiner Mummy. Ich suche so lange weiter. Ehrlich, du tust ja so, als würde es drei Meter hinterm Zaun plötzlich gefährlich werden.«

Deliah seufzte.

So ungern sie es auch zugab, sie musste ihm recht geben. Sie kletterte über einen besonders dicht überwucherten Abschnitt des Zauns. »Offensichtlich ist sie hier gewesen. Meinst du nicht, wir sollten zumindest noch ein bisschen nach ihr schauen? Was, wenn sie verletzt ist oder verängstigt?«

»Genau, Claude. Außerdem, was ist mit deiner Mum, die dich umbringen wird?« Als Sam umbringen sagte, malte er mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Ehrlich, deine Mum ist ganz schön angsteinflößend.«

Widerwillig schob Claude ein Bein über den Zaun. Doch der Pfosten, auf den er sich stützte, gab nach. Mit einem leisen Aufschrei fiel er auf die andere Seite und umklammerte panisch seinen Oberschenkel.

»Der war rostig«, sagte er und zeigte ihnen das Blut an seinen Fingern und den Riss in seiner Hose. Darunter war seine Haut aufgeritzt. »Ist Rost giftig?«

Sam zog ihn auf die Beine. »Jetzt sei mal kein Mädchen. Komm, weiter.«

Deliah musterte ihn finster. Sam und sein ewiger Sexismus gingen ihr so unbeschreiblich auf die Nerven! Vielleicht war es besser, wenn sie ohne die beiden wieder zurück zum Haus ging.

Aber … was war das? Zu ihren Füßen ragte etwas aus dem Unterholz. Es handelte sich um ein ramponiertes laminiertes Schild, das vermutlich irgendwann einmal am Zaun gehangen hatte und jetzt von der Natur zurückerobert wurde. Die Plastikhülle bröselte, und es war Wasser hineingelaufen. Trotzdem konnte man noch erkennen, um was es sich handelte.

Ein Vermisstenplakat.

»Schaut mal, da drüben!«, rief Claude. Einige Meter weiter hing am Zaun ein ähnlich verwittertes Plakat. Und dahinter schimmerte in einem der wenigen Lichtkegel, die durchs Blätterdach fielen, noch eins auf.

Deliah verglich sie mit dem, das sie gefunden hatte. Sie glaubte, dunkelbraune Haare und den Namen Dean ausmachen zu können. »Geht es um das gleiche Kind?« Sie hielt Claude ihr Plakat hin.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann es nicht richtig lesen, aber sie sind unterschiedlich.« Mit einem gequälten Blick drehte er sich weg.

»Wow«, murmelte Sam. »Dann sind die Geschichten also wahr.«

»Aber die Plakate sehen doch ziemlich alt aus, Claude. Ich bin mir sicher, dass es Ami gut geht«, sagte Deliah. Sie konnte nur hoffen, dass ihr nicht anzuhören war, was für eine Angst sie hatte.

Bitte mach, dass ihr nichts passiert ist.

Da schoss Claude auf einmal los, einen zugewucherten Pfad entlang, in die düstere Tiefe des Waldes. »Ich sehe was!«, rief er ihnen zu.

»Claude, warte!« Deliah rannte hinter ihm her. Immer wieder stolperte sie über die Wurzeln, die kreuz und quer über den kaum vorhandenen Pfad wuchsen. Die Bäume lichteten sich wieder, und vor ihr stand Claude auf einer Lichtung. Er war in Schatten getaucht. Aber nicht in die der Bäume, sondern in den einer riesigen, vornehmen Villa.

Sam kam dazu, verschränkte die Arme und runzelte die Stirn. »Krass, was ist das denn?«

Das Haus war zwar prunkvoll, aber gewohnt hatte hier schon lange keiner mehr. Die schmutzig grauen Außenwände waren überwuchert von Efeu, und der Boden ums Haus war bedeckt von einem Gewirr aus Farn und Brombeerranken. Die Villa stand da, als würde sie gar nicht richtig hierhergehören. Nicht einmal eine Straße oder einen richtigen Weg gab es. Bestimmt hatte es irgendwann eine Zufahrt gegeben, aber die musste der Wald zurückerobert haben.

Sam kämpfte sich bis zur Haustür vor. Sie stand einen Spaltbreit offen, und er wollte sie schon aufstoßen, da zog er die Hände im letzten Moment doch wieder weg. »Wusstet ihr, dass hier ein Haus steht?«

Claude und Deliah schüttelten die Köpfe.

»Glaubst du, Amity ist dadrinnen?« Deliah musterte das Haus.

»Finden wir’s raus«, antwortete Sam. Als sie zögerte, wandte er sich zu ihr um. »Komm schon, Dee-Dee. Du hast ja wohl keine Angst, oder?«

Dee-Dee? Würg.

»Und was, wenn es gar nicht so verlassen ist, wie es aussieht?«, warf sie ein. »Wir können da doch nicht einfach reingehen!«

Sam blickte an dem Gebäude hoch. »Dann klopfen wir eben.«

Claude rieb sich den Hinterkopf. »Das gefällt mir alles nicht. Irgendwas stimmt nicht mit dem Haus.«

Deliah stöhnte auf. »War ja klar, dass du das denkst. Und jetzt? Hast du Angst, dass es dadrinnen spukt?«

»Ganz schön de-mütigend, De-liah«, bemerkte Sam.

Sie schnaubte durch die Nase. »Und du ganz schön ätzend, Eavis.«

Sam zwinkerte ihr zu. »Ich weiß.«

Wenn du jetzt freundlicherweise in eine Sinkhöhle fallen könntest?

Claude ging zur Tür. »Das Haus schreit praktisch nach geheimem Spionageversteck. Wenn Amity es gefunden hat, dann ist sie garantiert auch reingegangen.« Er gab ein frustriertes Stöhnen von sich und nickte auffordernd Sam zu, der daraufhin an die Haustür klopfte.

»Hallo?«

Deliah rieb sich die Arme, auf denen sich Gänsehaut gebildet hatte.

Es gibt keinen Grund, Angst zu haben.

Sam wartete mit übertrieben gespanntem Gesichtsausdruck, dass jemand öffnete. »Hallo? Ist James Bond da? Oder ein verrückter Wissenschaftler? Eine Gruselhexe? Oder sonst irgendwer?« Aber auch, als er ein zweites Mal klopfte, kam keine Antwort, und er zuckte mit den Achseln. »Ich würde sagen, wir gehen rein.« Er griff nach der Klinke.

»Warte!«, rief Claude. »Irgendwas stimmt hier nicht … Das spüre ich einfach.«

Deliah verschränkte die Arme. Eine tiefe Enttäuschung machte sich in ihr breit. Wieso führte er sich so auf? Seit wann war er so … so spirituell drauf? Früher waren sie immer einer Meinung gewesen. Sie wollte gerade einen vernichtenden Spruch zum Thema gesunder Menschenverstand ablassen, da drang ein schriller Schrei aus dem Haus.

Claude drängte sich an Sam und Deliah vorbei und riss die Tür auf. »Das war Amity!«

KAPITEL 5

Die Ankunft

Das Foyer war mindestens viermal so groß wie der Eingangsbereich bei Deliah und selbst im Vergleich mit dem Haus der Laurents noch nobel. Und es war von dem makellosen, schwarz-weiß-gefliesten Boden bis zu den Samttapeten das genaue Gegenteil der verfallenen, überwucherten Ruine, vor der sie draußen gestanden hatten.

»Alter … Wenn hier keiner mehr wohnt, fress ich ’nen Besen«, murmelte Sam und strich über die staubfreien Blätter einer großen Topfpflanze.

»Kommt jetzt.« Claude klang inzwischen fast schon verzweifelt.

Sie ließen die Haustür offen stehen und wagten sich weiter ins Haus vor. Links vom Eingang befand sich ein kleiner Nebenraum mit einer gewölbten Decke. Bestimmt diente er als Garderobe, denn an einem hölzernen Kleiderbügel hing ein großer Mantel.

Ist das etwa Pelz?

Hastig wandte Deliah den Blick ab und musterte die weiteren Türen, die vom Foyer abgingen. Es gab insgesamt drei, eine direkt gegenüber der Haustür, die anderen beiden links und rechts. Ohne sich absprechen zu müssen, nahmen sich Deliah und Sam die beiden Seitentüren vor und rüttelten lautstark an den Klinken. Doch es tat sich nichts. Claude hämmerte währenddessen gegen die mittlere Tür, die keine Klinke hatte, und brüllte dabei: »AMITY!«

Am liebsten hätte Deliah ihn zum Schweigen gebracht oder ihm zumindest gesagt, dass er leiser rufen sollte. Aber sie brachte es nicht übers Herz. Immerhin war Ami seine kleine Schwester.

Claude zerrte an den Klinken der Türen, die Deliah und Sam schon ausprobiert hatten. Überraschenderweise verkniff Sam sich jeden blöden Kommentar.

»Der Schrei kam von ihr, oder?« Claude blickte hilflos zwischen den Türen hin und her. »Jemand hat sie entführt!«

Deliah legte ihm eine Hand auf den Arm. »Hey, jetzt mach dir keine Sorgen. Wir finden sie schon noch. Vielleicht war sie das mit dem Schrei ja auch gar nicht! Oder sie spielt irgendein Spiel.« Sie merkte selbst, dass sie nicht sonderlich überzeugend klang.

Sam durchsuchte bereits die Schubladen an einem antiken Schreibtisch aus poliertem Holz, der neben der Haustür stand. »Vielleicht finde ich ja einen Schlüssel«, sagte er.

Deliah sah sich um. Rechts und links von der mittleren Tür standen wie Wachposten zwei hohe Topfpalmen, unter denen sich jeweils ein Beistelltischchen befand. Ein Blick in die Pflanzenkübel ergab nichts. Auf jedem Tisch befanden sich ein mit Eiswürfeln gefüllter Silberkübel mit einer Flasche Champagner darin und daneben auf einem verzierten Metalltablett leere Champagnergläser sowie ein Stapel Faltblätter. Doch ein Schlüssel war nirgends zu sehen. Deliah ließ den Blick durch den restlichen Raum schweifen, musterte die altmodischen Porträts, die goldgerahmten Spiegel, die alte Standuhr, die auf halb acht stehengeblieben war.

Wo waren sie hier? Wer wohnte in diesem Haus? Und wo waren die Bewohner gerade? Warum hatten sie die Haustür offen gelassen, die Türen im Inneren aber abgeschlossen? Und dann fiel Deliah noch etwas auf: Etwas fehlte. Etwas, das es im Foyer von prachtvollen, großen Häusern wie diesem sonst immer gab.

Wo ist die Treppe?

»Es gibt keinen Schlüssel«, sagte Claude panisch. Er hatte recht. Sie hatten alle Verstecke durchsucht, die in Frage kamen.

»Und was machen wir jetzt?«

Sam musterte die Porträts an den Wänden. »Keine Ahnung. Was würden Sie vorschlagen, Dr. Calhoun Elias Montgomery der Dritte? Oder können Sie uns vielleicht weiterhelfen, Emmy Fairweather, Gouvernante?« Er schnipste den beiden gegen die Gesichter. »Na? Habt ihr irgendwo hier drinnen ein kleines Mädchen versteckt? Zappelig und ziemlich nervig?« Die Porträts starrten ausdruckslos zurück.

»Vielleicht ist sie ja auch gar nicht hier«, schlug Claude hoffnungsvoll vor.

Ein fledermausatemleichter Lufthauch spielte mit den Faltblättern auf dem Tisch neben Deliah, und sie nahm eines.

Als sie es auseinanderfaltete, kam ein in einer wunderschönen Handschrift verfasster Reim zum Vorschein. »Hey, Jungs, schaut mal hier.«

Willkommen, Freunde, in Manvers Hall,auf meinem außergewöhnlichen Ball.Heut Abend spielen wir ein Spiel,an dessen End sich ändert viel.Löst all die Rätsel hier im Haus,Logik allein hilft euch hinaus.Denn beginnt das Spiel, seid ihr nicht mehr frei,bis ihr gelangt in Stockwerk zwei.An Hinweisen mangelt es nicht, lieber Gast,ein ~ reicht, und alles passt.Der letzte Raum wird euch imponieren,dann werdet ihr fraglos gern investieren.

Claude und Sam schienen nicht recht zu wissen, was sie damit anfangen sollten. Aber Deliah erkannte ein Rätsel, wenn sie eines vor sich hatte.

»Auf der Rückseite geht es noch weiter.« Sie drehte das Blatt um. »Da steht: Dr. Elias Batstone freut sich, Sie in seinem Wunderwerk moderner Technik willkommen heißen zu dürfen. Schaut mal.« Sie strich das Blatt glatt, damit die beiden lesen konnten, was darauf stand.

Bitte trinken Sie ein Glas von dem Ayala-Champagner,um die Zahnräder Ihrer Vorstellungskraft zu ölen.Im Laufe dieses unterhaltsamen Abends werden Ihnenmeine Assistenten mit mehr Champagner, Horsd‘œuvresund dem ein oder anderen Hinweis zur Seite stehensowie all jenen Damen eine helfende Hand bieten,die in Anbetracht meiner atemberaubenden Erfindungder Schwindel überkommt.

Das Spiel beginnt, wenn die Tür sich schließt.

»Das klingt ja cool. Wie eine Art echtes Escape-Game … Auch wenn der Typ ganz schön von sich überzeugt zu sein scheint«, bemerkte Sam. »Wollen wir es mal versuchen? Die Haustür schließen und das Spiel spielen? Herausfinden, was passiert?«

Deliah und Claude riefen im Chor ein entsetztes: »NEIN!«