The Hurricane Wars - Thea Guanzon - E-Book

The Hurricane Wars E-Book

Thea Guanzon

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Beschreibung

Sie sind Todfeinde - Und die Einzige Hoffnung für ihre Welt

Talasyn ist ein Findelkind und kannte bisher nur den alles verzehrenden Krieg gegen das Nachtimperium. Als einzige noch lebende Lichtweberin kämpft sie mit ihrer Magie an vorderster Front. Eines Tages kreuzt sich ihre Klinge mit der von Alaric, dem Kronprinzen des Nachtimperiums. Obwohl sie erbitterte Feinde sind, springt ein Funke zwischen ihnen über und beide schrecken vor dem letzten tödlichen Schlag zurück. Bald wird klar, dass Talasyns Schicksal mit dem von Alaric verwoben ist. Nur, wenn sie ihre magischen Kräfte vereinen, können sie eine nie da gewesene Bedrohung abwenden. Doch wie kann sie sich mit dem Mann verbünden, der ihr so viel Leid gebracht hat - ganz gleich, welche unerwarteten Gefühle er auch in ihr auslöst?

»Ein unglaubliches Debut mit einer prickelnden Liebesgeschichte. Opulent, atmosphärisch, magisch.« KERRI MANISCALCO

Teil 1 der HURRICANE-WARS-Trilogie

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Seitenzahl: 682

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Prolog

Teil I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Teil II

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

Inspiration

Danksagung

Die Autorin

Impressum

Thea Guanzon

The Hurricane Wars

Roman

Ins Deutsche übertragen von Sabrina Železný

ZU DIESEM BUCH

Talasyn ist ein Findelkind und kannte bisher nur den alles verzehrenden Krieg gegen das Nachtimperium. Als einzige noch lebende Lichtweberin kämpft sie an vorderster Front gegen die mächtigen Sturmschiffe des Nachtkaisers Gaheris. Eines Tages kreuzt sich ihre Klinge mit der von Alaric Ossinast, dem Kronprinzen des Nachtimperiums, der über die Schatten gebietet. Obwohl sie erbitterte Feinde sind, schrecken sie beide vor dem letzten tödlichen Schlag zurück. Als sich Talasyns wahre Identität offenbart, wird klar, dass ihr Schicksal untrennbar mit dem von Alaric verwoben ist. Nur wenn sie ihre magischen Kräfte vereinen, können sie eine nie da gewesene Bedrohung abwenden, einen Kataklysmus, der vor keiner Grenze halt- machen würde. Aber wie kann Talasyn sich mit dem Mann verbünden, der ihr so viel Leid gebracht hat? Zerrissen zwischen der Pflicht gegenüber ihrem Volk und den unerwarteten Gefühlen, die Alaric in ihr auslöst, wird sie in eine Allianz gestürzt, die sie ins Herz der Schatten führen wird.

Ich hab’s für die Ratten getan.

PROLOG

Er hörte das Mädchen, bevor er es sah: ein hohes goldenes Summen, das durch den Kampflärm schnitt wie das erste Aufflammen des Sonnenaufgangs.

Eisschollen schwankten knirschend unter seinen Stiefeln, als er quer über den gefrorenen See auf das Geräusch zurannte.Es rief nach ihm inmitten all des übrigen Lärms, der die Winterluft erfüllte – die Schreie, das Knattern der Armbrüste, der Kanonendonner. All das drang aus der brennenden Stadt, die jenseits des uralten Waldes am Seeufer lag.

Die aufgefächerten Lücken zwischen den Sumpfkiefern gaben den Blick frei auf goldrote Glutadern der Zerstörung; die nadeligen Baumwipfel zeichneten sich unter den sieben Monden scharf gegen eine Rauchkrone ab.

Auch hier über dem Eis hing Rauch in der Luft, doch es war Rauch des Aethers, nicht des brennenden Infernos.In wabernden Ringen erblühte Schatten auf Frost und fing jeden ein, der aus der Stadt zu fliehen versuchte – außer ihm und seinen Legionären. Jede der dunklen Barrieren teilte sich auf seinen Wink vor ihm, bis schließlich …

Da stand sie.

Einzelne Strähnen hatten sich aus ihrem zerzausten Zopf gelöst. Das kastanienbraune Haar flatterte im Gebirgswind undumrahmte ein ovales Gesicht mit Sommersprossen und olivfarbener Haut.Kampfbereit stand sie auf dem schwankenden Eis, in ihren Händen loderte Licht gegen die wirbelnde Dunkelheit. Einer seiner Männer lag zusammengesunken zu ihren Füßen.

Er stürmte auf sie zu und parierte mit seiner Waffe ihren Todesstoß gegen seinenLegionär. Im Rückwärtstaumeln fand ihr Blick seinen; der goldene Widerschein ihrer Magie setzte ihre braunen Iriden in Brand, und vielleicht konnte ein Krieg auch so beginnen: zwischen zwei Herzschlägen. Inmitten der Nacht.

Er stürzte sich auf sie.

1. KAPITEL

In einem Land, in dem jeder Tag recht nachdrücklich der letzte zu sein drohte, waren Kriegshochzeiten eine mehr als willkommene Abwechslung.

Trotzdem hätte es wohl sieben Tage lang Steine regnen können, ohne dass auch nur einer von ihnen einen verfügbaren Kleriker getroffen hätte, der eine Trauung vornehmen konnte.

Die meisten Kleriker waren an der Front und sangen für Sardovias Truppen von Mahagir Säbelherz und seinem Mut, oder sie geleiteten die Seelen sterbender Soldaten in die ewig dämmrigen Weidenhaine von Adapa der Schnitterin.

Doch durch eine selten glückliche Fügung war noch ein Kleriker in der Gebirgsstadt Frostklamm geblieben, in der Talasyns Regiment stationiert war. Hier hatten ihre Kameraden Khaede und Sol – Piloten wie sie selbst – beschlossen, das Ehegelöbnis abzulegen.

Nicht, dass es in irgendeiner Weise ein Geheimnis gewesen wäre, warum man diesen Großvater zurückgelassen hatte, dachte Talasyn. Aus einer schummrigen Ecke des strohgedeckten Langhauses beobachtete sie, wie der gebückte Alte in seiner blassgelben Robe sich abmühte, einen großen Zinnkelch über das knisternde Feuer zu wuchten, dessen Flammen sich auf seiner marmorglatten Glatze spiegelten. Mit dünner, zittriger Stimme haspelte er sich durch die Schlussworte des Eheritus, während die Braut ihn finster anstarrte.

Khaedes Blick hätte durch Metallglas schneiden können. Es grenzte an ein Wunder, dass er den gebrechlichen kleinen Mann nicht auf der Stelle in Streifen schlitzte. Der Kleriker schaffte es endlich, den rauchgewärmten Kelch erst dem Bräutigam, dann Khaede an die Lippen zu halten, sodass das Paar von dem goldenen Litschiwein trinken konnte – das geweihte Getränk Thonbas, der Göttin des Heims und des Herdfeuers.

Von ihrem Platz am Rand applaudierte Talasyn gemeinsam mit den übrigen Soldaten, als der Kleriker Khaede und Sol mit brüchiger Stimme für auf Lebenszeit verbunden erklärte. Ein scheues Grinsen huschte über Sols Gesicht, und Khaede küsste ihn rasch, ihr Zorn auf den stümperhaft agierenden Priesterwarverraucht. Die lauten Jubelrufe ihrer Kameraden hallten von den dicken Kalksteinwänden wider.

»Na, bist du vielleicht die Nächste, Pilotin?«

Die gutmütige Stichelei kam von irgendwo hinter Talasyn, und sie verdrehte die Augen. »Unsinn.« Als Khaedes engste Freundin bekam sie schon während des ganzen Abends ähnliche Flachsereien zu hören und war es langsam wirklich leid. »Als ob ich das jemals in Betracht ziehen würde …« Ihr Denken holte ihre Zunge ein, als sie sich umwandte und erkannte, wer der Spaßvogel war. Hastig nahm sie Haltung an. »… mit allem Respekt, Herr!«

»Steh bequem«,sagte Darius. Unter seinem dichten Bart zeichnete sich ein belustigtes Lächeln ab.

Als Talasyn vor fünf Jahren zur Armee gekommen war, hatte der Steuermannnoch graumeliertes Haar gehabt; jetzt war es fast völlig grau. Er senkte die Stimme, damit ihn außer Talasyn keiner der Umstehenden hören konnte: »Die Amirantemöchte dich sprechen.«

Talasyns Blick huschte dorthin, wo sie eben schon Ideth Vela in der Menge entdeckt hatte. Die Oberbefehlshaberin über Sardovias Truppen war gerade auf dem Weg in ein Nebenzimmer, begleitet von einem korpulenten Offizier, der einen pechschwarzen Walrossbart zur Schau trug. »General Bieshimma ist schon aus Nenavar zurück?«

»Gerade angekommen«, erwiderte Darius. »Wenn ich es richtig verstanden habe, ist die Mission ziemlich in die Hose gegangen, und er musste den Rückzug antreten.Er und die Amirantewollen etwas sehr Wichtiges mit dir besprechen, also – los.«

Talasyn bahnte sich ihren Weg durch die Menge, wobei sie nicht zögerte, ihre Ellbogen einzusetzen. Den Blick hielt sie fest auf die Tür am anderen Ende des Langhauses gerichtet, hinter der Bieshimma und die Amiranteverschwunden waren. Talasyn brannte vor Neugier – und das lag nur zum Teil daran, dass die Oberbefehlshaberin sie sehen wollte.

Die verbitterte Staatenliga des Sardovischen Allbunds hatte General Bieshimma zu den geheimnisvollen Inseln südöstlich des Kontinents entsandt: ins Nenavar-Dominium,in der Hoffnung, ein Bündnis zu schmieden. Oder vielleicht eines wiederzubeleben, wenn man den alten Geschichten glauben durfte. Der General war ein ehemaliger politischer Berater, der sein Amtsabzeichen gegen Schwert und Schild eingetauscht hatte. Es war erwartet worden, dass er all sein diplomatisches Geschick aufbieten würde, um Nenavars Königin davon zu überzeugen, Sardovia im Kampf gegen das Nachtimperiumbeizustehen. Seine rasche Rückkehr ließ nur den Schluss zu, dass seine Mission nicht nach Plan verlaufen war, aber dennoch – Bieshimma war in Nenavar gewesen.

Talasyn verspürte ein Flattern im Magen, eine Mischung aus Faszination und Unbehagen, wie stets, wenn sie an das Nenavar-Dominium dachte. Sie war noch nie dort gewesen, hatte überhaupt noch nie Sardovias immer enger werdende Grenzen überquert. Doch schon die kleinste Erwähnung des abgeschiedenen Archipels inmitten des Immermeers erzeugte ein seltsames Gefühl von Leere in ihr. Als habe sie etwas sehr Wichtiges vergessen – und sie wollte unbedingt herausfinden, was es war.

In ihren zwanzig Jahren hatte sie noch keiner Menschenseele von ihrem merkwürdigen Gefühl der Verbundenheit mit Nenavar erzählt. Es war ein Geheimnis, zu zerbrechlich, um laut ausgesprochen zu werden. Aber sich mit jemandem zu unterhalten, der gerade von dort zurückgekehrt war, schien Talasyn ein guter erster Schritt in die richtige Richtung zu sein.

Trotz ihrer Ungeduld ging sie langsamer, als sie an einem der Hauptgefreiten vorbeikam, die General Bieshimma auf seiner diplomatischen Mission begleitet hatten. Die Wangen des Jungen waren von der Kälte draußen gerötet, und Schneeflocken schmolzen auf dem Stehkragen seiner Uniform, während er einer kleinen Gruppe verzückt lauschender Hochzeitsgäste von seinem Abenteuer erzählte.

Auch alle anderen trugen Uniform, Talasyn ebenso: Wollhosen, dicke Stiefel und einen gefütterten Mantel in der Farbe von Orangenschalen. Für hübsche Kleider oder eine aufwendige Zeremonie war keine Zeit; diese Hochzeit war ein gestohlener Moment in einer Gefechtspause.

»Es lief genauso schlecht wie das letzte Mal, als wir einen Abgesandten ins Nenavar-Dominium schickten«, sagte der Hauptgefreite gerade. »Das ist ein paar Jahre her, wisst ihr noch? Wobei ich ihnen zugutehalte, dass sie uns haben an Land gehen lassen, anstatt uns schon am Hafen abzuweisen. Gerade lange genug, dass wir uns ausruhen und die Vorräte aufstocken konnten. Die Königin, die Zahiya-lachis, wollte uns trotzdem nicht empfangen. Bieshimma kam an den Hafenwachen vorbei und hat sich zu Pferde auf in die Hauptstadt gemacht, aber es scheint, dass sie ihn nicht einmal in den Königinnenpalast gelassen haben. Die Sorgen von Fremdlingen sind nicht die Sorgen des Dominiums– das meinten die Hafenwachen, als wir unser Anliegen vortrugen.«

Ein Bogenschütze beugte sich mit einem verschwörerischen Funkeln in den Augen vor. »Hast du Drachen gesehen, als du dort warst?«

Talasyn blieb stehen, und ringsum erstarb jede Unterhaltung, als mehrere Soldaten neugierig die Hälse reckten.

»Nein«, sagte der Hauptgefreite. »Aber ich war auch nur am Hafen, und der Himmel war bedeckt.«

»Ich glaube nicht, dass es sie wirklich gibt«, sagte ein Infanterist und schnaubte. »Alles, was wir haben, sind Gerüchte. Wenn ihr mich fragt, ist das schlau von den Nenavarenern – sie lassen den Rest von Lir glauben, dass es bei ihnen Drachen gibt. Die Leute lassen dich in Ruhe, wenn du möglicherweise eine Armee riesiger feuerspuckender Würmer zur Hand hast.«

»Ich würde töten für einen riesigen feuerspuckenden Wurm«, meinte der Bogenschütze wehmütig. »Schon mit einem würden wir den Krieg gewinnen.«

Die Gruppe begann zu diskutieren, ob ein Drache wohl ein Sturmschiff zum Absturz bringen konnte, und Talasyn setzte ihren Weg fort. Im Weitergehen rauschte ihr plötzlich eine Flut vager Bilder durch den Kopf, wie aus dem Nichts und binnen eines Atemzugs.Sie bekam sie kaum zu fassen, so rasch verschwanden sie wieder. Das Schlängeln glatter Schuppen im Sonnenlicht. Und vielleicht eine Krone – scharf wie Diamant, klar wie Eis. Das Gespräch der Soldaten hatte etwas in Talasyn aufgeschreckt, das sich jetzt an die Oberfläche kämpfen wollte.

Was in aller Welt …

Sie blinzelte. Und die Bilder verschwanden.

Vermutlich war es einfach ein Effekt des Kiefernrauchs, der von den zahlreichen Feuerstellen aufstieg und das Langhaus durchzog, nicht zu reden von der Hitze, die die zusammengedrängte Menge ausstrahlte. Sol war freundlich, liebenswert und höchst beliebt, was sich darin äußerte, dass fast ein Viertel des Regiments zu seiner Hochzeit erschienen war.

Sie waren jedenfalls eindeutig nicht wegen seiner Braut gekommen – die kratzbürstige Khaede mit der spitzen Zunge –, aber allein Sols Liebe für sie hätte für die von Hunderten gereicht.

An der geschlossenen Tür zum Nebenzimmer angekommen warf Talasyn einen Blick zurück zu den Frischvermählten. Überschwängliche Gratulanten umringten die beiden und schwenkten Krüge mit heißem Ale, während die Regimentskapelle ein lebhaftes Stück auf Querpfeife, Horn und Ziegenfelltrommel spielte. Ein überglücklicher Sol drückte Kuss um Kuss auf Khaedes Handrücken, und ihr Versuch eines finsteren Stirnrunzelns scheiterte kläglich. Beide strahlten so sehr, wie es ihnen in ihrer Pilotenuniform möglich war; die Kränze aus getrockneten Blumen um ihre Hälse waren der einzige Hinweisauf ihren Status als Brautpaar.

Hin und wieder ruhte Khaedes freie Hand einen Moment lang auf ihrem noch flachen Bauch, und Sols schwarzblaue Augen leuchteten gegen seine eichenbraune Haut wie das Immermeeran einem Sommertag.

Talasyn fragte sich, wie die beiden für ein Baby sorgen wollten inmitten eines Krieges, der mittlerweile den ganzen Kontinent erfasst hatte. Aber sie freute sich für die zwei. Und sie war nicht eifersüchtig, jedenfalls nicht wirklich, auch wenn der Anblick der Frischvermählten in ihr wieder das gleiche alte Verlangen schürte, mit dem sie als Waise nun schon zwanzig Jahre lang lebte: die Sehnsucht nach einem Ort, an den sie gehören konnte; nach einem Menschen, zu dem sie gehören konnte.

Sol lachte leise über etwas, das Khaede sagte, und beugte sich vor, um sein Gesicht in ihrer Halsbeuge zu bergen, seinen Arm um ihre Taille geschlungen. Talasyn fragte sich, wie es wohl sein musste, mit jemandem so zu lachen. Von jemandem so berührt zu werden. Schmerz durchzuckte sie, als sie es sich vorstellte – nur ein kleines bisschen, das Phantom einer Umarmung.

Ein betrunkener Soldat stolperte an ihr vorbei und ließ Ale über den Boden bis auf Talasyns Stiefel spritzen. Der saure Geruch biss in ihre Nase, und sie zuckte zusammen, einen Herzschlag lang überwältigt von Kindheitserinnerungen an Aufseher,die nach eingeweichtem Getreide und saurer Milch stanken. Männer harscher Worte und harter Hände.

Jahre her jetzt. Längst vorbei. Das Waisenhaus im Armenviertel von Schildschnabels Haupt war wie der Rest der Stadt zerstört worden, all die bösartigen Aufseher vermutlich unter den Trümmern zerquetscht. Und Talasyn konnte schlecht wichtige Dinge mit ihren Vorgesetzten besprechen, wenn sie sich von etwas verschüttetem Ale so durcheinanderbringen ließ.

Sie straffte sich und zwang sich, ruhig zu atmen, dann klopfte sie energisch an die Tür des Nebenzimmers.

Wie zur Antwort drangen die tiefen Bronzeklänge der Warngongs durch die Kalksteinmauern und zerschnitten die Heiterkeit wie mit Klingen.

Musik und Gespräche erstarben. Talasyn und ihre Kameraden sahen sich um, doch das Warnlied der Wachtürme dauerte an. Für einen Moment standen alle wie erstarrt, ungläubig, aber nach und nach lief Bewegung wie eine Flutwelle durch das Langhaus, als die Hochzeitsgäste aktiv wurden.

Das Nachtimperium griff an.

Talasyn stürmte in die silberne Nacht hinaus. Adrenalin pulsierte durch ihre Adern, dämpfte ein wenig die Eiseskälte, die in ihr ungeschütztes Gesicht biss. Ringsum wurden überall in Frostklamm die Lichter gelöscht; die warmgoldenen Vierecke erleuchteter Fenster verdunkelten sich. Eine Vorsichtsmaßnahme, um kein allzu leichtes Ziel für Luftangriffe zu werden, doch viel würde sie nicht nützen. Alle sieben Monde Lirs standen am Himmel, einige zu-, andere abnehmend, und tauchten die verschneiten Berge in helles Licht.

Und falls die kesathischenTruppen ein Sturmschiff hatten, würde die Stadt darunter ohnehin eine Pusteblume in einem Windstoß sein. Ihre Häuser waren aus Stein und Mörtel, mit hölzernen Dachstühlen und gedeckt mit mehreren Strohschichten – robust genug, um den Elementen zu trotzen. Aber gegen die Blitzkanonen des Nachtimperiumskonnte nichts bestehen.

Dank seiner Lage im sardovischen Hochland war Frostklamm von jeher eine friedliche Siedlung gewesen, die zwischen den immergrünen Decken der Kiefernwälder döste. In dieser Nacht jedoch war die Stadt ins Chaos gestürzt. In Pelz gehüllte Stadtbewohner stürmtenin die Schutzräume und riefen verzweifelt nach ihren Angehörigen, während die Soldaten in fieberhafter Eile umherhasteten. Es geschah, was alle befürchtet hatten – und weshalb Talasyns Regiment überhaupt hierher entsandt worden war.

Während Bogenschützen ihre Positionen auf den Mauern einnahmen, Fußsoldaten in den Straßen Barrikaden errichteten und Pilotenzum Landeplatzeilten, kniff Talasyn die Augen zusammen und spähte zum Sternenhimmel empor. Wahrscheinlich gab es kein Sturmschiff, befand sie, denn dessen wuchtige Silhouette hätte sie längst sehen müssen.

Sie beschleunigte ihre Schritte und schloss sich demGedrängeRichtung Landeplatzan. Dutzende von Armeestiefeln trampelten Schnee zu Matsch. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie den Stadtrand erreichten, wo die schlanken Korakelmit ihren orangerot gestreiften Allbundsegeln an Plattformen aus Wabenstahl angedockt lagen. An den Enden gewölbt wie Kanus, trugen die kleinen Luftschiffe den Beinamen »Wespen« – wegen ihrer Winzigkeit und ihres tödlichen Stichs. Sie glänzten im hellen Mondlicht.

Im Sprint zu ihrem Korakel lief Talasyn jetzt neben Khaede, die auf dem Weg zu ihrem eigenen war.

»Nicht dein Ernst!«, rief Talasyn über das Getöse aus Warngongs und von Offizieren gebellten Anweisungen. »Du bist im zweiten Monat –«

»Nicht so laut«, zischte Khaede. Ihr Profil zeichnete sich scharf gegen die fallenden Schneeflocken ab. »Das Bohnensprösschen und ich bekommen das hin. Mach dir lieber um dich selbst Gedanken.« Sie klopfte Talasyn auf den Arm und war fort, bevor diese antworten konnte, verschluckt vom Gedränge der Piloten.

Talasyn suchte den Landeplatz nach Sol ab und fluchte unterdrückt, als sie entdeckte, dass seine Wespe sich bereits in der Luft befand. Sie bezweifelte, dass er sich vom Dienst abgemeldet hatte – wenn sie sich nicht irrte, stand Khaede und Sol ihr erster Kampf als Ehepaar bevor.

Doch ihr blieb keine Zeit, darüber weiter nachzudenken. In einiger Entfernung schossen nun Korakel des Nachtimperiumsüber einen bewaldeten Gebirgskamm. Sie wurden als Wölfe bezeichnet – bösartige Dinger mit spitzem Bug, die in Rudeln jagten und bis an die Zähne bewaffnet waren. Es waren so viele, dass sie den Blick auf den Horizont versperrten. Ihre silberschwarzen Segel flatterten im kalten Wind.

Talasyn sprang in das Cockpit ihres Schiffs, zog die braunen Lederhandschuhe aus ihrer Manteltasche und betätigte in rascher Abfolge die wohlvertrauten Hebel. Die Wespe setzte Segel, und die kristallenen Aetherherzen, die eingebettet im Schiffsrumpf saßen, leuchteten in hellem Smaragdgrün auf. Knisternde Windmagie, die sardovische Verzauberer aus der Dimension der Böenfeste hineingeleitet hatten, erweckte das Schiff zum Leben. Rauschen drang aus dem Sendeempfänger, einer kastenförmigen Vorrichtung voller Ziffernblätter und leitender Metalldrähte. Das Aetherherz in seinem Innern glühte weiß, aufgeladen mit Magie von den Sturmpfaden, einer von Stürmen durchzogenen Dimension, die Klang erzeugte. Für gewöhnlich war das Donner, doch sie konnte auch so verändert werden, dass sie Stimmen durch die sogenannten Aetherwellen über große Entfernungen übertrug.

Talasyn hatte die Finger um das Steuerrad geschlossen, ihr Schiff stieß grüne Dämpfe magischer Entladung aus und hob ab. Sie schloss sich der Pfeilspitzenformation der anderen sardovischen Luftschiffen an. »Was ist der Plan?«, fragte sie in die Sprechmuschel ihres Sendeempfängers,hörte ihre Stimme über die von ihrem Regiment genutzte Frequenz widerhallen.

Sol antwortete von der Spitze der Formation in dem ruhigen und unbekümmerten Tonfall, der ihm nur im Kampf gelang. Seine Stimme drang aus einem Horn über dem Sendeempfänger und füllte das Cockpit von Talasyns Korakel: »Wir sind zahlenmäßig eins zu zehn unterlegen, daher sind die üblichen Defensivstrategien unsere beste Wahl. Versucht, sie von den Stadtmauern fernzuhalten, bis alle Bewohner in den Schutzräumen sind.«

»Verstanden«, sagte Talasyn. Sie konnte es nicht riskieren, ihm von Khaede zu erzählen – nicht, während so viele ihrer Kameraden zuhörten, nicht, wenn sie ihn absolut fokussiert brauchten. Doch sie konnte sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Gratulation zur Hochzeit, übrigens.«

Sol lachte. »Danke.«

Die sardovischen Wespen formten einen dichten Schwarm um Frostklamms Stadtmauern, und die kesathischeFlotte kam ihnen frontal entgegen.

Zwar konnte eine Wespe nichts gegen die mehrstufigen Repetierarmbrüste und die eisenschleudernden Salvengeschütze ausrichten, mit denen die Wölfe des Nachtimperiums ausgestattet waren, sie machte diese Unterlegenheit aber durch ihre enorme Wendigkeit mehr als wett. Ein Vorteil, den Talasyn in den nächsten schwindelerregenden Minuten voll ausschöpfte. Sie schoss durch die Nachtluft, wich einem tödlichen Bolzen nach dem anderen aus und feuerte selbst einige der Armbrüste am Schiffsheck ab. Den feindlichen Korakeln fehlte es an Beweglichkeit, sodass sie in den meisten Fällen traf, Segeltuch zerfetzte und Holzrümpfe splittern ließ.

Aber es waren einfach zu viele Wölfe, und so dauerte es nicht lang, bis sie durch den Schutzring brachen und sich dröhnend Frostklammsmondbeschienenen Strohdächern näherten.

Und in der Ferne …

Talasyn rutschte das Herz in die Hose, als sie die monströse zweimastige Silhouette eines kesathischenPanzerschiffs erkannte, das sich auf smaragdgrünen Aetherwirbeln über einen schneebedeckten Gipfel schob. Zwei sardovische Fregatten, aufgegetakelt und mit geblähten Segeln, schossen ihm aus dem nahe gelegenen Tal entgegen, in dem sie auf genau diesen Moment gelauert hatten.

Es würde ein Blutbad sein. Doch zumindest hatte das Nachtimperiumkein Sturmschiff. Solang kein Sturmschiff da war, hatten sie noch eine Chance.

Talasyn lenkte ihr Schiff dorthin, wo der Kampf am wildesten tobte, und lenkte ihre Wespe kopfüber ins Getümmel. Sie focht und flog wie nie zuvor. Aus den Augenwinkeln sah sie um sich her die Schiffe ihrer Kameraden in Flammen aufgehen, an Mauern oder in Baumwipfeln zerschellen. Eben noch hatten sie alle sicher und sorglos im Langhaus gestanden und die Hochzeit von Khaede und Sol gefeiert.

Das war ein Trugbild gewesen. Kein warmer Ort, kein freudiger Moment war sicher vor dem Wirbelsturmkrieg. Was immer Kesaths Nachtimperiumberührte, zerstörte es.

Erste schwache Glut glomm in Talasyn auf, kroch aus ihrem Innersten in ihre Fingerspitzen, glühte wie Nadeln unter der Haut.

Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Niemand darf es wissen.

Du hast es der Amirante versprochen.

Talasyn schluckte das Brennen hinunter, brachte das Inferno in ihrer Seele zum Schweigen. Zu spät bemerkte sie, dass mehrere Wölfe ihren kurzen Moment der Ablenkung genutzt hatten, um ihr erfolgreich in die Flanke zu fallen. Jetzt hämmerten die Eisenprojektile von allen Seiten auf ihr Luftschiff ein, und plötzlich war da nur noch freier Fall, als sie dem wartenden Boden entgegenstürzte.

2. KAPITEL

In ihrem Traum war sie wieder fünfzehn Jahre alt und Schildschnabels Haupt eine Stadt aus gestampftem Lehm, Tierhaut und Holzgittern, die sich wie ein instabiler Schichtkuchen aus dem strohfarbenen Gras der Großen Steppe erhob, zwischen hochaufragende Mauern aus Lehmziegeln und Salz geschmiegt. Talasyn floh vor den Wachen, die Taschen ihrer zerlumpten Kleidung vollgestopft mit Fladenbrot und getrockneten Beeren. Mit jedem angestrengten Atemzug verfluchte sie die Wachsamkeit der Ladenbesitzerin.

Schildschnabels Haupt war mehr in die Höhe als in die Breite gebaut – gebaut gewesen. Seine Einwohner lernten von Kindesbeinen an, wie man sich nach oben bewegte, höher und höher, und Talasyn bildete keine Ausnahme. Sie kraxelte über Leitern und Simse, hechtete über Dächer und sprang über die klapprigen Brücken, die die Gebäude miteinander verbanden. Die Wachen folgten ihr und ließen ihre Vogelknochenpfeifen schrillen. Sie rannte und rannte, kletterte noch höher, spürte schon den vertrauten Schmerz der Stadt in den Gliedern. Furcht rauschte durch ihre Adern, als die Wachen nach ihren Füßen griffen. Doch sie floh weiter, hinauf und empor, Luft und Himmel, bis sie die Befestigungen an der westlichen Stadtmauer erreichte. Der eisige Wind grub seine Finger hart in ihr Haar und stach in ihre aufgesprungenen Lippen, während sie sich auf die Mauer wuchtete und hinter ihr noch immer beharrlich die Pfeifen schrillten.

Sie hatte vorgehabt, auf der Mauer die Stadt zu umrunden und schließlich wieder hinunterzuspringen in die Gassen der unteren Armenviertel, wo sie mit den anderen Unterschichtlern lebte und wo es für die Wachen zu mühsam sein würde, eine verwaiste Straßenratte wegen ein paar Brotlaiben und einer Handvoll Obst weiter zu verfolgen. Aber als sie sich auf dem Lehmziegelsims balancierend aufrichtete und tief unter ihr die Große Steppe lag, eine endlose Weite voll Langgras und gelb leuchtendem Kaninchenstrauch – da sah sie es.

Das Sturmschiff.

Seine ovale Silhouette ragte am Horizont auf; Blitzkanonen baumelten Gliedmaßen gleich von Bug bis Heck. In Talasyns Erinnerung war es fünfhundert Meter lang. In ihrem Traum war es so groß wie ganze Welten.

Hunderte Aetherherzen triebenes an, dank Kaiser Gaheris’ durchtriebenen Verzauberern erfüllt mit Regen-, Wind- und Wassermagie, die saphirblau, smaragdgrün und weiß durch die Metallglasplatten des durchscheinenden Schiffsrumpfs pulsierte. Das Sturmschiff näherte sich der Stadt mit der grimmigen Endgültigkeit einer Flutwelle und brachte schwarze Gewitterwolken mit sich. Unter ihm neigte sich das endlose Gräsermeer, duckte sich unter dem Sturm aus der Böenfeste, den die gewaltigen Turbinen unter dem sich verfinsternden Himmel erzeugten.

Talasyn stand starr vor Schreck. In ihrer Erinnerung war sie geflohen und in den ersten Schutzraum getaucht, den sie finden konnte, doch in diesem Traum verweigerte ihr Körper den Gehorsam. Das Sturmschiff kam näher und näher, der Wind peitschte ihr wie Eisenbolzen ins Herz und plötzlich …

Sie erwachte.

Sie riss die Augen auf, und ein Keuchen entkam ihr. Dichter Rauch strömte in ihre Lungen, und sie hustete, fühlte ihre sengende Kehle krampfen. Die Welt leuchtete rot und funkelte von Metallglasscherben. Talasyns Hände, noch in Handschuhen, mühten sich mit der Schnalle an ihrer Taille ab, bis der Gurt nachgab und sie in den Schnee stürzte. Die Scherben eines zersplitterten Bullauges regneten neben ihr nieder.

Einen Moment lang war sie orientierungslos, dann verflüchtigte sich der Nebel ihrer Bewusstlosigkeit, und der Schleier zwischen Träumen und Wirklichkeit zerfiel in Splitter aus Feuer und Winter. Talasyns Herz pochte schneller, als sie seine Schläge zählen konnte. Sie war nicht in Schildschnabels Haupt,und sie sah auch kein Sturmschiff des Nachtimperiums den Himmel verfinstern. Stattdessen war sie irgendwo außerhalb Frostklamms und schaute über die Schulter zu ihrer Wespe, die abgestürzt auf der Seite lag, die schlanken Tragflächen bizarr verdreht, die gestreiften Segel verzehrt von den Flammen aus dem zerbrochenen Aetherherz, das gespeist von Magie aus dem Feuerwirbel die Lampen betrieben hatte. Nach und nach griffen sie auf das restliche Schiff über.

Langsam atmete Talasyn ein und aus, bis die Zeit zu ihr zurückkehrte. Bis sie wieder zwanzig Jahre alt war und alle Spuren von Zivilisation auf Sardovias Großer Steppe längst vergangen waren – ausgelöscht von Kesaths Truppen, als Strafe für die Weigerung, sich dem Nachtkaiser zu unterwerfen.

Wenn Sardovia heute Nacht im Kampf unterlag, drohte seinem Hochland das gleiche Schicksal – Frostklamm war das Tor dorthin.

Sie hustete den letzten Rest Rauch aus und kroch vom Wrack weg. Die Wölfe hatten ihre beschädigte Wespe weit über den Sumpfkiefernwald trudeln lassen, an den die Stadt grenzte – bis hinüber ans andere Ufer des vereisten Bergsees.

Über Eisschollen und dunkles Wasser und durch die Lücken zwischen dicken Baumstämmen erhaschte sie einen Blick auf zerstörte Gebäude, umherhastende Silhouetten, auf Brände. Keine Spur von den Korakeln, Kesaths Panzerschiff oder den sardovischen Fregatten, was hieß, dass beide Seiten nun am Boden weiterkämpften. Sie musste eine ganze Weile bewusstlos gewesen sein.

Allmählich wich ihr Schwindelgefühl, und ihre Beine gehorchten ihr wieder. Talasyn stemmte sich hoch, stand auf, kämpfte sich über den See, folgte dem heimtückischen Pfad von einer Eisscholle zur nächsten.

Beim unrasierten Bart des Weltvaters, die Luft hier draußen war noch kälter als das Herz des Nachtkaisers. Durch die silbrigen Dunstschwaden, die sie mit jedem Atemzug ausstieß, sah Talasyn eine panische Menge aus dem Wald am anderen Ufer drängen: sardovische Soldaten ebenso wie Stadtbewohner. Einige strebten auf die Höhlen zu, während andere ihr Glück auf dem Eis versuchten. Das Licht von Lirs sieben Monden fiel auf sie alle, zeichnete die Umrisse der weißen Berge ringsum scharf.

Ich muss es über den See schaffen, dachte Talasyn. Ich muss es zurück nach Frostklamm schaffen. Ich muss weiterkämpfen.

Sie hatte das bewaldete Ufer fast erreicht, als sich Dunkelheit zwischen den Bäumen hervor und über den Schnee schlängelte und die Eisschollen in schleichender Schwärze verschlang.

Schlitternd kam Talasyn zum Stehen, und die Dunkelheit kreiste sie ein, kräuselte sich vor Aether. Dies war weder die Dunkelheit der Nacht noch Rauch von den Kämpfen, die sich jetzt ins Gebirge verlagert hatten. Sie war tiefer und schwerer, lebendiger. Sie bewegte sich, wand sich über den gefrorenen See wie Tentakel.

Talasyn war solchen Schatten schon auf vielen Schlachtfeldern begegnet. Ringe wie diesen bildeten sie, um Gegner effektivdarin festzusetzen. Sardovische Regimenter hatten auf schmerzhafte Weise gelernt, dass der Versuch, diese Barrieren zu durchbrechen, mit schweren Verletzungen endete – oder sie sogleich in Stücke riss.Es war eine bevorzugte Taktik der schattengeschmiedetenKrieger, die die gefürchtete Legion des Nachtimperiums bildeten. Wenn Kaiser Gaheris sie zum Spielen herausgelassen hatte, standen Frostklamms Chancen mit einem Mal beträchtlich schlechter, diesen Angriff abzuwehren.

Gleiches galt für Talasyns Überlebenschancen.

Sie stand starr wie eine Statue, lauschte auf das Knirschen von Schritten auf Eis und auf die Schreie von Menschen, die sie durch das undurchsichtige Schwarz in der Luftnicht sehen konnte.

»Fangt die Nachzügler ab«, befahl eine kehlige Männerstimme – schmierig wie Öl und vor allem nicht weit entfernt.

Talasyn verbiss sich einen Fluch. Wenn die Legion den See absuchte, bedeutete das, dass sie in der Stadt nicht länger gebraucht wurde und Sardovias Regiment sich zerstreut hatte. Frostklammwar verloren, die strategisch wichtigste Siedlung des Hochlands in den Klauen des Nachtimperiums,und der Rest der Region würde folgen.

Entsetzen und Panik durchströmten sie gleichermaßen und wichen dann heißer Wut. Sie hatte das hier nicht gewollt; die Leute von Frostklamm hatten das nicht gewollt. Niemand in Sardovia hatte das.

Noch vor wenigen Stunden hatte ihr Regiment Khaedes und Sols Zukunft gefeiert, und jetzt wurden sie auf dem Eis niedergemacht wie Wühlmäuse. Ausgelöscht, einer nach dem anderen. Es gab nur noch sie, die Nacht, das schwarze Wasser und die lauernden Schattengeschmiedeten, die sie eingekreist hatten wie in einem Käfig.

Sie würde so nicht enden.

Und mit Talasyns Zorn glomm auch ein Fünkchen Glut in ihrem Innersten auf.

Sie fühlte es brennen wie vorhin auch schon, doch diesmal intensiver. Scharf, strahlend, nach Gerechtigkeit gierend.

Es tat weh. Es fühlte sich an, als stünde ihr ganzes Sein in Flammen. Sie musste es freilassen, bevor es sie verzehrte.

Lass es niemanden sehen, hatte die Amirante sie gewarnt. Du bist noch nicht bereit. Sie dürfen es nicht wissen.

Sie werden dich jagen.

Talasyn schloss die Augen und versuchte sich zu fokussieren, ihre Gefühle wie Galle hinunterzuschlucken. Kaum gelang ihr das, bebte das Eis unter ihren Füßen; sie hörte Frostkristalle unter schweren Schritten knirschen.

Ihr Nacken prickelte unter einem Blick, der zweifellos das aufgestickte Wappen des Sardovischen Allbundsauf der Rückseite ihres Mantels fixierte – ein Phönix, wie er auch die Segel ihrer Schiffe zierte.

»Hast du dich verflogen, Vögelchen?«

Wieder diese ölige Stimme. Gemessene Schritte näherten sich, und Talasyn hörte das grollende Rauschen,das darauf hinwies, dass das Schattentor aufgestoßen worden war. Das Feuer in ihr brandete auf, als habe ein Damm endlich nachgegeben.

Es gab keinen Fluchtweg mehr.

Ich werde nicht sterben. Nicht hier. Nicht jetzt.

Talasyn wirbelte zu ihrem Angreifer herum.

Der Legionär maß mindestens zwei Meter, sein Körper war vollständig von einer Obsidianplattenrüstung bedeckt. Die Fäuste steckten in Panzerhandschuhen und hielten ein mächtiges Großschwert aus purer Dunkelheit, durchzogen von silbernen Aetherfäden. Die Schneide knisterte, als er sie über Talasyns Kopf hob.

Es war genauso wie an jenem Tag, an dem Schildschnabels Haupt zerstört worden war: Instinkt. Ihr Körper, der mit allen Mitteln ums Überleben kämpfte.

Die Magie breitete sich schwingengleich in ihr aus.

Talasyn parierte das schattengeschmiedete Schwert mit einer leuchtenden Welle. Vor ihrem inneren Auge erschien das Aethergewebe, das alle Dimensionen band und alle Elemente in sich trug, und sie zog an den Fäden, öffnete den Weg zum Lichtgespinst. Es schoss aus ihren gespreizten Fingern, roh und formlos und wild auf ihren Ruf hin, und es tauchte die unmittelbare Umgebung in strahlendes Gold.

Als das zuletzt geschehen war – als Kesaths Truppen in den Trümmern von Schildschnabels Haupt nach Überlebenden gesucht hatten, an denen sie ein Exempel statuieren konnten –, war der Soldat, dessen Armbrust auf Talasyn gezielt hatte, auf der Stelle tot gewesen. Das Lichtgespinsthatte ihn mit Haut und Haar verschlungen. Der riesenhafte Legionär jetzt schaffte es, den Angriff zu blocken, indem er sein Schwert in einen langen dunklen Schild verwandelte. Das Leuchten prallte mit einem feurigen Aufblitzendagegen. Doch Talasyn war verzweifelt und hatte die Überraschung auf ihrer Seite, und der Legionär schrie auf, als Licht Schatten verschlang und er in seiner versengten Rüstung zu Boden geschleudert wurde.

Sardovias Truppen waren zu spät für Schildschnabels Haupt gekommen, aber eben noch rechtzeitig, um jene zu retten, die den Sturmschiffangriff überstanden hatten. SteuermannDarius hatte Talasyn den kesathischen Soldaten töten sehen und sie hastig weggeführt, direkt zur Amirante.

Hier auf dem Hochlandeis würde ihr niemand zu Hilfe kommen. Sie war auf sich gestellt, bis sie es zurück zu ihrem Regiment in Frostklammschaffte.

Und niemand würde sich ihr in den Weg stellen.

Fokus, hatte die Amirante während ihrer Übungsstunden wieder und wieder gesagt. Worte zum Nachdenken: Aether ist das Hauptelement, das alle anderen zusammenhält und alle Dimensionen miteinander verbindet. Von Zeit zu Zeit kommen Aethermanten zur Welt. Menschen, die den Pfaden des Aethers auf bestimmte Weise folgen können.

Regensänger. Feuertänzer. Schattengeschmiedete. Windrufer. Donnerberührte. Verzauberer.

Und du.

Das Lichtgespinst ist der Faden, und du bist die Spinnerin. Es wird tun, was du befiehlst.

Darum … sag ihm, was du willst.

Der große Legionär lag auf dem Eis wie eine auf den Rücken gedrehte Schildkröte. Seine klobige Rüstung wies an mehreren Stellen Risse auf, aus denen Blut sickerte.

Talasyn fixierte ihn aus zusammengekniffenen Augen und streckte einen Arm zur Seite aus, zupfte mit gespreizten Fingern am Schleier zwischen dieser Welt und den anderen. Ein weiteres Mal öffnete sie das Lichtgespinst,und eine Waffe erschien in ihrer Hand: beschworen aus einer der Sphären magischer Energie, die im Aether existierten. Die breite Klinge ähnelte den langen Dolchen, die schon so manchem sardovischen Fußsoldaten im Nahkampf das Leben gerettet hatten – mit dem Unterschied, dass sie vollkommen aus goldenem Licht und silbernem Aether gefertigt war. Ihre gezackten Kanten erhellten die Finsternis wie Sonnenfunken.

Trotz seiner Maske war die Panik des Schattengeschmiedeten beinahe greifbar. Er stemmte sich auf die Ellbogen und rutschte rückwärts, als Talasyn sich ihm näherte. Seine Beine schienen ihm den Dienst zu versagen, und früher einmal hätte sie vielleicht gezögert, jemanden zu töten, der so wehrlos außer Gefecht gesetzt war. Doch er gehörte der Legion an, und der Wirbelsturmkrieg hatte sie abgehärtet. Verlust um Verlust hatte das Kind weggeschliffen, das sie einst gewesen war, und übrig war nur noch Zorn.

Und Sonnenlicht.

Talasyn stieß ihm den Dolch in die Brust – oder zumindest versuchte sie es.

In dem Bruchteil einer Sekunde, bevor die Dolchspitze auf die Brustplatte seiner Rüstung traf, trat etwas …

… jemand …

… aus der Dunkelheit …

… und Talasyns Dolch schluggegen die halbmondförmige Klinge einer Sturmsense, beschworen durch das Schattentor.

Ihre Konzentration war gebrochen, der lichtgewebte Dolch zerstob, sodass Talasyns Finger sich leer in die Luft krallten.Purer Instinkt ließ sie rückwärts hechten und gerade so dem nächsten ausladenden Schlag ihres Angreifers entgehen.

DasLicht der sieben Monde warf Schattensprenkel auf einen anderen Legionär. Zwar war er nicht so groß wie der, den Talasyn soeben zu Fall gebracht hatte, aber nichtsdestotrotz beeindruckend hochgewachsen und breitschultrig. Über einem langärmligen Kettenhemd trug er einen gegürteten Brustharnisch aus schwarzem und karminrotem Leder, dazu dornenbesetzte Schulterpanzer, rotgeschuppte Armschützer und schwarze Panzerhandschuhe mit krallenförmigen Fingerspitzen. Die pelzbesetzte Kapuze seines nachtschwarzen Mantels rahmte ein bleiches Gesicht ein, dessen unterer Teil von einer Halbmaske aus Obsidian verdeckt wurde – darauf geprägt zwei Reihen gefährlich scharfer, ewig gefletschter Wolfszähne.

Ein albtraumhafter Anblick. Und obwohl Talasyn diesem Schattengeschmiedetennoch nie begegnet war, wusste sie doch, wer er war. Sie wusste, was die silberfarbene Chimäre auf der Brosche an seinem Schlüsselbein bedeutete: der Kopf eines brüllenden Löwen auf dem schlangenartigen Körper einesAals, der sich auf den Hufen einer Spindelhornantilope aufbäumte – das kaiserliche Siegel von Kesath.

Furcht presste ihr den Atem aus den Lungen, messerscharf wie der Gebirgswinter.

Man erzählte sich, Alaric vom Hause Ossinast, Herr der schattengeschmiedeten Legion und Gaheris’ einziger Sohn und Erbe, habe stechende graue Augen. Diese Augen hier leuchteten in klirrend kaltem Silber – der Glanz seiner Magie unter den sieben Monden.

Diese Augen blickten direkt in ihre.

Man hatte Talasyn vor ihm gewarnt. Sie hatte gewusst, dass sie ihm eines Tages würde gegenübertreten müssen.

Dieser Tag war zu schnell gekommen.

Schon war Alaric über ihr mit seiner flackernden Sense aus Tinte und Rauch, und Talasyns Entsetzen stand ihr zweifellos ins Gesicht geschrieben, zeigte sich im Beben ihrer Lippen. Sie handelte rein instinktiv, als sie das Lichtgespinsterneut beschwor, diesmal in Gestalt zweier Dolche – einer in jeder ihrer zitternden Hände. Die Sense prallte hart gegen den Dolch in ihrer Rechten, sandte Schwingungen durch ihren Arm, als sie ihn über den Kopf hob.Talasyn legte alle Kraft in den Versuch, Alaric wegzustoßen, doch er fing sich rasch wieder und griff erneut an.

Und es begann.

Im Rahmen ihrer Ausbildung hatte sichTalasyn oft Übungskämpfe mit der Klingenmeisterin der sardovischen Armee geliefert, aber auch der heftigste Schlag eines Metallschwerts reichte nicht ansatzweise an pure pulsierende Magie aus dem Schattentor heran – und das Üben mit einer Mentorin war ein Kinderspiel verglichen mit jemandem, der sie zu töten versuchte. Vor allem, wenn dieser Jemand fast doppelt so groß war wie sie und von Kindesbeinen an in den Techniken der Schattengeschmiedetenunterwiesen.

Talasyn konnte nur ausweichen und parieren, während Alaric sie über die Eisschollen trieb, sein verletzter Untergebener war vergessen. Jede der dunklen Barrieren zerstob, sobald sie sie durchquerten, ganz als banne er sie – aber warum? Vielleicht bereitete es ihm sadistische Freude, das hier in die Länge zu ziehen und mit Talasyn zu spielen, wie eine Katze mit einer Maus gespielt hätte. Erfahren würde sie es wohl nie, und sie hatte nicht vor, ihn zu fragen.

Der Kronprinz von Kesath war erbarmungslos wie ein Gewitter – kraftvoll und überall gleichzeitig. Aetherfunken stoben auf, wo Schatten in Licht schlingerte: ein Mal, zwei Mal, millionenfach. Schwächere Eisstellen knackten unter den Sohlen von Talasyns Schneestiefeln, Seewasser spritzte auf und tränkte schmerzhaft kalt ihre wollene Hose. Seine Klinge ließ ihre beiden klein erscheinen, und mehr als einmal versuchte Talasyn, ihren verzweifelten Willen in einen Schild zu zwingen, wollte erreichen, was ihr seit ihren Anfängen in der Aethermantie nicht gelungen war. Doch sie konnte es immer noch nicht.

Mehrmals öffnete sie gefährlich weit ihre Deckung, wenn sie an der Beschwörung eines Schilds scheiterte, sodass seine Sense durch die provisorische Waffe schlug, die sie im letzten Moment hastig zustande brachte, und ihr scharfe Schattenschnitte an den Armen beibrachte.

Und schließlich stand sie ganz am Rand der Eisscholle, Alaric schwang die Sturmsense, und Talasyn blieb keine Zeit, sich zu drehen, zu blockieren, und sie wusste nicht, wie man einen Schild schuf …

Sie führte ihre Hände zusammen. Aus den beiden Dolchen wurde ein Morgensternflegel,dessen Schaft sie in Alarics Richtung schwenkte. Die goldene Kette wickelte sich um die Sensenklinge und zog sich zu,und mit aller Kraft zerrte Talasyn ihn zu sich.

Er verlagerte das Gewicht und stemmte seine Stiefel ins Eis, was ihren Versuch vereitelte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie standen nur wenige Zentimeter voreinander, jeder von ihnen nur eine unbedachte Bewegung von einem Sturz in den See entfernt, ihre Waffen ineinander verhakt. Alarics Kapuze war ihm irgendwann vom Kopf geglitten und hatte einen zerzausten Heiligenschein schwarzen Haars preisgegeben. Die Augen über dem Zähnefletschen seiner Halbmaske blickten stechend und irritierend wachsam. Er war so groß, dass sie das Kinn heben musste, um seinen Blick zu erwidern.

Sie atmete schwer von der Anstrengung, und auch er wirkte ein wenig außer Atem; seine breite Brust hob und senkte sich in ungleichmäßigen Abständen. Doch als er sprach, klang seine Stimme sanft und tief – so tief, dass sie die Nacht noch weiter zu verdunkeln schien.

»Mir war nicht bekannt, dass Sardovia eine neue Lichtweberinzur Verfügung steht.«

Talasyns Kiefer spannte sich an.

Vor neunzehn Jahren war etwas geschehen, das heute als die Verheerungbezeichnet wurde: Zwei Nachbarstaaten des Sardovischen Allbundshatten einander den Krieg erklärt. Auf der einen Seite Sonnhain, die Heimat aller Lichtweberdes Kontinents, auf der anderen das schattengeführte Königreich von Kesath. Nachdem Ozalus Ossinast durch die Hand von Lichtwebernums Leben kam, bestieg sein Sohn Gaheris den Thron und führte Kesath zum Sieg, woraufhin Sonnhaingewaltsam annektiert wurde. Zugleich trat Kesath aus dem Sardovischen Allbundaus und nannte sich fortan Nachtimperium.Gaheris hatte den Titel des Nachtkaisersangenommen, seine schattengeschmiedeteLegion alle Lichtwebergetötet und ihre Schreine zerstört. Auf dem ganzen Kontinent war keine Spur von ihnen geblieben. Mit einer Ausnahme.

»Dein mörderischer Tyrannenvater hat eine übersehen«, spie Talasyn, schnellte auf die Zehenspitzen und rammte ihre Stirn gegen seine.

Ihr Blickfeld explodierte in weiß glühenden Schmerzsplittern, zwischen denen sie Kesaths Prinz zusammenzucken sah. Die tiefschwarze Sense entglitt seinem Griff, er hob seine Hand dorthin, wo – wie Talasyn inständig hoffte – ein Riss in seinem Schädel klaffte.

Doch sie blieb nicht, um es genauer herauszufinden. Sie ließ ihren Morgenstern wieder zu einem Dolch werden, den sie sauber in Alarics Schulter trieb. Er stöhnte auf.

Talasyn wirbelte herum, ließ die leuchtende Klinge verschwinden und rannte mit rasenden Kopfschmerzen über Eisschollen im Mondlicht auf die Bäume zu.

Sie blickte kein einziges Mal zurück, aus Angst davor, was sie sehen würde.

3. KAPITEL

Das Wehklagen eines Horns schallte in dem Moment über die Berge, als Talasyn sich in ein Dickicht aus Sumpfkiefern und Dornbüschen fallen ließ. Es war das Signal zum Rückzug, also änderte sie die Richtung und hielt nicht länger auf die Stadt selbst, sondern die Docks zu. Gesicht und Arme waren zerkratzt und blutig, ihr gefütterter Mantel schweißgetränkt, und die Echos von Adrenalin und Schmerz rauschten in ihren Ohren.

Sie trat aus dem Schutz der Bäume.

Das schwelende Inferno von Frostklamms Überresten tauchte den Abendhimmel in blutiges Rot. Die großen Holzkaracken des Sardovischen Allbunds setzten soeben im rauchgeschwängerten Wind die Segel. Die Kiele waren bereits ein Stück in der Luft, aber lange Strickleitern hingen seitlich von den Decks. Fliehende Soldaten und Stadtbewohner kletterten wie Ameisen daran empor.

Talasyn beschleunigte ihre Schritte in Richtung der größten Karacke, der Sommerwind, mobilisierte ihre letzten Kräfte und kletterte mühsam die erste Leiter hinauf, die sie zu fassen bekam. Eine Mischung aus Erleichterung und böser Vorahnung erfasste sie.

Ihre Kameraden hatten sie noch nicht zurückgelassen, doch sie waren im Aufbruch begriffen – und hatten gegen das Nachtimperium noch mehr an Boden verloren.

Verluste, die sie sich nicht leisten konnten.

Auf Händen und Knien kam Talasyn auf dem Deck auf. Alles war Chaos. Leute hasteten umher, Heiler versorgten die schlimmsten Wunden. Inmitten all des Drecks und Bluts konnte Talasyn die Soldaten nur anhand von Uniformfetzen von den übrigen Passagieren unterscheiden.

Die Strickleitern wurden eingeholt, und über dem schneebedeckten Hochland stach die Karacke in die Wolkensee smaragdgrüner Magie. Talasyn warf einen letzten Blick auf Frostklamm, dessen brennende Dächer und zertrümmerte Mauern in der Ferne kleiner wurden. Sie wandte sich ab, ertrug es nicht länger, die Überreste eines Ortes zu betrachten, an dem sie friedvolle Glücksmomente erlebt hatten. Ihr Blick fiel auf ein Paar wenige Meter entfernt. Und was von ihrer Welt übrig war, fiel in sich zusammen.

Khaede kauerte gegen ein Schott gelehnt da und hielt Sols schlaffen Körper in den Armen. Sein Kopf ruhte auf ihrem Schoß. Ihre Uniformen waren fleckig von dem Blut, das aus einem klaffenden Loch in seiner Brust quoll. Ein rotgetränkter Armbrustbolzen lag neben ihnen auf den Holzplanken.

Noch ehe sie auf wackeligen Beinen zu ihnen ging, wusste Talasyn, dass Sol fort war. Der Blick seiner schwarzblauen Augen war starr in den Himmel gerichtet.

Tränen strömten über Khaedes Wangen. Sie streichelte sein dunkles Haar, und der Ehering, den er ihr erst wenige Stunden zuvor an den Finger gesteckt hatte, schimmerte in Mondlicht und Lampenschein.

»Er hatte es fast geschafft«, flüsterte Khaede, als sie bemerkte, dass Talasyn sich neben sie setzte. »Unsere Wespen mussten bruchlanden, wir haben uns zu den Docks durchgeschlagen. Wir sind die Leiter hoch … er wollte, dass ich zuerst gehe … und als ich mich umdrehte, um ihm aufs Deck zu helfen, da steckte …«, sie nickte in Richtung des Bolzens, »dieses Ding in seiner Brust. Es ging so schnell, ich hab nicht einmal gesehen, wie es passierte. Ich …«

Zittrig atmete Khaede durch und verstummte. Sie schniefte nicht einmal, auch wenn ihre Tränen weiter flossen. Ihre Hand glitt über Sols Herz und verharrte dort, gleich neben der Stelle, wo der kesathischeArmbrustschütze ihn getroffen hatte; die tödliche Wunde färbte ihre Finger noch tiefer rot.

Talasyn fühlte sich hilflos, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wusste, dass Khaede normalerweise verachtete, was sie für Mitleid hielt; dass sie ein Mensch war, der jeden Trostversuch heftig zurückwies. Talasyn konnte nicht einmal um Sol weinen: Ihre jungen Jahre auf der Großen Steppe hatten den Teil von ihr, der Tränen vergoss, schon längst abgestumpft. Bisher hatte sie das auf seine Art als etwas Gutes betrachtet – hätte sie um jeden im Kampf Gefallenen geweint, sie hätte nie wieder aufhören können –, doch jetzt blickte sie auf Sols leblosen Körper und erinnerte sich an sein herzliches Lächeln, an seine gutmütigen Scherze. Sie dachte daran, wie glücklich er ihre Freundin gemacht hatte, und ihr Taubheitsgefühl ekelte sie an. Schließlich verdiente er doch diese Tränen, für die sie zu erschöpft war?

Ihr Blick glitt zu Khaedes Bauch, und Galle brannte in ihrer Kehle. »Du musst Vela sagen, dass du schwanger bist. Dann kann sie dich freistellen …«

»Ich kämpfe, bis ich nicht mehr kann«, unterbrach Khaede sie mit einem tiefen Knurren in der Stimme. »Wage es ja nicht, ihr davon zu erzählen. Ich bin die beste Pilotin des Allbunds.Ihr braucht mich.« Sie legte die Hand, die nicht auf Sols regloser Brust lag, auf ihren Bauch. »Dem Baby wird es schon gut gehen.« Ihre Unterlippe zitterte, bevor sie entschlossen die Lippen zusammenpresste. »Es ist stark. Wie sein Vater.«

Khaedes ebenso betrübter wie entschlossener Gesichtsausdruck brachte Talasyn dazu, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Stattdessen sah sie sich auf dem betriebsamenDeck nach dem Kleriker um, der die Trauung vollzogen hatte – nur um eine blassgelbe Robe unter einem behelfsmäßigen Leichentuch hervorlugen zu sehen, das eine reglose Gestalt verhüllte.

Sie würde es also selbst tun müssen. So, wie sie es für andere auf Schlachtfeldern überall auf dem Kontinent getan hatte, wo sie zu weit entfernt von Schreinen und Heilhäusern gewesen waren.

Talasyn beugte sich über Sol und schloss sanft seine blicklosen Augen, seine Haut totenkalt unter ihrer Berührung. »Möge deine Seele Schutz zwischen den Weiden finden«, murmelte sie, »bis alles Land im Immermeerversinkt und wir einander wiedersehen.«

Neben ihr atmete Khaede rau ein, es klang fast wie ein Schluchzen. Die Karacke flog weiter, über Berge und Täler, auf Rudern aus Winter und Sternenlicht.

»Warum hat Kesath kein Sturmschiff eingesetzt?«

Talasyns Frage brach das angespannte Schweigen, das sich nach der Lagebesprechung im Büro der Amirantebreitgemacht hatte. Sie hatte dabei geholfen, Sol in ein Leichentuch zu hüllen und Khaede vor einer halben Stunde in einer freien Koje untergebracht. Jetzt saß sie Vela gegenüber und trug statt ihres feuchten, angesengten Mantels eine Decke um die Schultern.

»Mit Blick auf das Gelände und die herrschenden Bedingungen wären noch harschere Wetterverhältnisse katastrophal für alle Beteiligten gewesen. Lawinen können der Moral einen ziemlichen Dämpfer verpassen.« Vela sprach mit ruhiger Autorität. »Ganz zu schweigen davon, dass Frostklammim Vergleich zu Städten an der Küste oder in den Ebenen recht klein ist. Die Zahl der Opfer in der Bevölkerung und den eigenen Reihen wäre zu hoch gewesen.«

»Deshalb haben wir kein Sturmschiff genutzt«, betonte Talasyn.

»So ist es.« Der Hauch eines bitteren Lächelns huschte über die wettergegerbtenZüge der Amirante. Letztes Jahr hatte ihr ein Legionär das linke Auge ausgestochen, an dessen Stelle jetzt eine kunstvoll gefertigte Augenklappe aus Kupfer und Stahl saß – die sie nur noch respekteinflößender wirken ließ. »Was Kesath betrifft, vermute ich, dass sie glaubten, für ihren Sieg keines zu brauchen. Ich vermute ebenfalls, dass es ihnen genügt hat, uns zu vertreiben und nicht weiter zu verfolgen, weil sie bekommen haben, was sie wollten.«

»So ist es«, sagte SteuermannDarius knapp. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand, ein blasses Abbild des gut gelaunten Offiziers, mit dem Talasyn im Langhaus gesprochen hatte. »Jetzt, da er Frostklammhat, ist Gaheris in der perfekten Position, um den Rest des Hochlands zu erobern. Es wird nicht lange dauern, bis er den König auf dem Berg unterworfen hat.« Als Vela nicht antwortete, seufzte Darius und sah sie mürrisch an. »Ideth, der Allbund verliert mit jedem Jahr mehr Gebiete. Bald wird es keinen Ort mehr geben, an den wir fliehen könnten.«

»Was sollen wir dann deiner Meinung nach tun?«, konterte Vela. »Aufgeben ist keine Option. Das wussten wir beide, als wir Kesath verließen. Gaheris hat deutlich gemacht, dass jeder einen grausamen Tod sterben wird, der der Bestimmungseines Reiches im Weg steht.«

Nun schwieg Darius, auch wenn er nicht den Blick vor dem der Amirante senkte. Nicht zum ersten Mal fühlte sich Talasyn wie ein Eindringling – als wohne sie einem Gespräch bei, das nicht für ihre Ohren bestimmt war. Vela und Darius hatten ihre eigene stumme Sprache. Sie kannten einander, seit Vela als neue Rekrutin zu Kesaths Flotte gekommen war, und vor zehn Jahren waren sie zusammen mit einigen anderen Offizieren und loyalen Soldaten übergelaufen. Sie hatten acht Sturmschiffe mit über die Grenze nach Sardovia gebracht.

Vela und Darius waren entschlossen zu verhindern, dass die grausame Herrschaft des Nachtkaisers sich über den gesamten Kontinent ausdehnte. Doch der Wirbelsturmkrieg zog sich nun schon lange hin, Sardovia blieben nur noch fünf Sturmschiffe, und Talasyn sah erste Risse in der Fassade ihrer Befehlshaberin.

Müde rieb sich Darius übers Gesicht. »Wenn Bieshimma nur erfolgreich gewesen wäre«, murmelte er. »Wenn das Nenavar-Dominiumnur seine Hilfe zugesagt hätte.«

»Es war von Anfang an wenig aussichtsreich«, sagte Vela. »Sie hatten ja schon unseren vorherigen Gesandten abgewiesen. Ich bin sicher, die Nenavarener bereuen noch immer das letzte Mal, als sie einem sardovischen Staat Hilfe schickten.«

Wieder beschleunigte sich Talasyns Puls – wie bei allem, das in irgendeiner Form mit dem Dominiumzu tun hatte. »Dann stimmt es also?«, platzte sie heraus. »Nenavar hat Luftschiffe geschickt, um den Lichtwebern von Sonnhain während der Verheerung zu helfen?«

Sie hatte die alten Geschichten gehört – sie wurden in Tavernen und auf Marktplätzen geflüstert und in den Kasernen erzählt.

»Ja«, bestätigte Vela. »Ich war damals Quartiermeisterin in Kesaths Flotte. Ich sah Nenavars Flottille von Weitem, aber sie hat unsere Küste nie erreicht. Kaiser Gaheris sandte ihnen den Sturmschiff-Prototyp entgegen.«

»Das Lieblingsprojekt seines Vaters«, ergänzte Darius und verzog angewidert die Lippen. »Ozalus war gerade im Kampf gefallen, Gaheris frisch gekrönt – und wütend und verzweifelt. Also befahl er den Einsatz des ersten Sturmschiffs. Es war noch nicht getestet worden, doch es funktionierte. Nenavars Schiffe hatten keine Chance.«

Talasyn sah es förmlich vor sich: geradlinig peitschende Windböen, sintflutartige Regenfälle, Wellen zerstörerischer Blitze, die sich über dem Dunkelblau des Immermeersentfalteten und die Luftschiffe des Dominiumszermalmten wie Streichhölzer. Nachdem Kesath Sonnhainannektiert hatte und zum Nachtimperiumgeworden war, hatten sie noch mehr dieser grauenhaften Waffen gebaut. Riesige gepanzerte Schiffe, die fast unmöglich zu zerstören waren und auf dem Land unter sich verheerende Schädenanrichteten.

Jedes Sturmschiff benötigte Hunderte Aetherherzen, um voll funktionsfähig zu sein. Doch Kesaths Minen waren beinahe erschöpft, und so hatte Gaheris den Blick auf die Bestände der Nachbarländer gerichtet. Die verbleibenden Staaten des Sardovischen Allbunds hatten sie ihm verweigert. Also beschloss Gaheris, sich Sardovias Aetherherzbestände mit Gewalt zu nehmen, und begann, eine Allbund-Stadt nach der anderen zu erobern. Mit jedem Sieg wurde sein Nachtimperiumstärker. Vela, Darius und ihre Männer hatten rebelliert und Sardovias Streitkräften die Sturmschifftechnologie gebracht. Und hier waren sie nun, ein Jahrzehnt später, und fochten einen endlosen Krieg.

»Da wir gerade von Gaheris sprechen«, sagte Vela, und ihr einäugiger Blick flackerte zu Talasyn, »und von Vätern und Söhnen …«

»Stimmt.« Darius wurde noch ernster. »Alaric Ossinast weiß also, dass du eine Lichtweberinbist.«

Talasyn nickte.

»Mittlerweile wird er Gaheris informiert haben«, meinte Vela. »Sie werden vor nichts Halt machen, um dich auszuschalten. Nicht nur, weil deine Magie ihre aufheben kann – für sie ist das persönlich. Gaheris musste mit ansehen, wie die Lichtweber von Sonnhain seinen Vater töteten, und er hat seinem Sohn den gleichen Rachedurst eingeflößt. Du hast eine Zielscheibe auf dem Rücken.«

»Es tut mir leid«, murmelte Talasyn, ihre Wangen heiß vor Scham.

Sardovia hatte Piloten gebraucht, und sie hatte Begabung für das Manövrieren der Wespen gezeigt. Aber sie war immer wieder davor gewarnt worden zu offenbaren, dass sie Aethermagie kanalisieren konnte; dass sie die Grenze zwischen den Dimensionen überschreiten und eine ganz bestimmte dazu bringen konnte, sich ihrem Willen zu beugen.

»Du hast getan, was du musstest, um zu überleben«, räumte Darius ein. »Aber das bedeutet, dass es für dich an der Zeit ist, mit dem ernsthaften Training zu beginnen.«

»Training allein wird nicht reichen«, sagte Vela grimmig. »Jedenfalls nicht lang. Zum Glück haben wir möglicherweise eine Lösung dafür gefunden.« Ehe Talasyn nachfragen konnte, wandte sich die Amirante an Darius: »Sieh nach, ob Bieshimma schon da ist.«

Er war es. Erst, als Darius beiseitetrat, um Bieshimma einzulassen, fiel Talasyn ein, dass die drei bereits im Langhaus in Frostklammmit ihr hatten sprechen wollen. Die Erinnerung an die Hochzeit tat weh, und dennoch spürte sie einen Hauch ihrer alten Neugier durchschimmern – zusammen mit einer gesunden Portion Argwohn.

Der Offizier mit dem schwarzen Walrossbart quittierte Talasyns Salutieren nur mit einem verhaltenen Brummen. Sie nahm es nicht persönlich; Bieshimma wirkte höchst gedankenverloren, während er auf Velas Schreibtisch etwas entrollte, das nach einer Karte aussah.

Die Amirante winkte Talasyn näher. Sie gehorchte und trat neben Darius. Aus der Nähe sah sie, dass die alte, schon verblassende Karte Sardovias südöstliche Küstenlinie zeigte – und das Nenavar-Dominium, dazwischen das Immermeer.Im Gegensatz zu den liebevoll ausgeführten Einzelheiten auf dem sardovischen Teil der Karte war Nenavar nur als eine Ansammlung von Inseln dargestellt: grob skizziert und größtenteils unbeschriftet, als habe der Kartenzeichner keine Zeit gehabt, das Gelände genauer zu studieren.

Was Sinn ergab, vermutete Talasyn. Die Karte musste an Bord eines Luftschiffs erstellt worden sein, und nur die tollkühnsten aller Besatzungenwürde mit einem größtenteils hölzernen Schiff länger als nötig in einer Himmelsgegend verweilen, die Gerüchten zufolge von feuerspeienden Drachen bewacht wurde.

Dennoch gab es auch frische Tintenmarkierungen auf dem braunstichigen Papier: Ortsnamen, Orientierungspunkte und Notizen. Am auffälligsten war das schwarze X über einer Bergkette, auf halbem Weg zwischen Port Samout – wo Bieshimmas Luftschiff angedockt gewesen war – und Eskaya, der Hauptstadt des Dominiums, wohin der General offenbar im Alleingang gestürmt war, zumindest hatte das der Hauptgefreite erzählt.

»Wie ich schon sagte, bevor wir so unhöflich von kesathischem Abschaum unterbrochen wurden«, knurrte Bieshimma, »ich halte es für machbar.«

Er tauchte einen Stift in ein in Reichweite stehendes Tintenfass und skizzierte in einer raschen Abfolge von Strichen eine Route. »Eine einzelne Wespe ist definitiv unauffälliger als eine Karacke, also muss sie nicht den gleichen Umweg nehmen wie wir. Wenn sie Zentral-Sardovia über Schiffers Leidverlässt und sich bis zur Küste über dem Wald hält, kann sie einen sauberen Abgang hinlegen. Und solang sie sich von den Außenposten bei den Salzinseln fernhält, wird das Nachtimperium nichts mitbekommen.«

Talasyn hob eine Augenbraue. »Warum habe ich das Gefühl … Sir«, fügte sie eilig hinzu, als Bieshimma ihr einen scharfenBlick zuwarf, »dass diese sie,über die wir reden, eigentlich ich bin?«

»Weil es so ist.« Velas Tonfall war so streng, dass Talasyn sich jede weitere Bemerkung verkniff. Die Amirantewar furchterregend, wenn sie es darauf anlegte – eine kesathische Überläuferin stieg nicht zur Oberbefehlshaberin der Allbundsarmeeauf, indem sie Albernheiten duldete.

»Inzwischen haben diese erbärmlichen Plaudertaschen, die mir als Eskorte aufgebürdet wurden, zweifellos schon verbreitet, dass ich mich im Alleingang auf den Weg in die Dominiumshauptstadt gemacht habe«, sagte Bieshimma an Talasyn gewandt.

So direkt angesprochen konnte sie nur mit den Schultern zucken, was wohl Bestätigung genug war.

»Ich dachte, vielleicht könnte Nenavars Zahiya-lachis mir eine Audienz nicht verwehren, wenn ich schon vor ihrer Tür stehe.« Bieshimmas Miene verfinsterte sich. »Unglücklicherweise haben mich die Palastwachen beinahe mit ihren Speeren durchbohrt. Und mein Pferd ebenfalls. Ich floh auf dem armen Tier, ohne auch nur einen Blick auf Königin Urduja erhascht zu haben. Doch dafür habe ich etwas anderes gesehen.« Er deutete auf das X. »Auf dem Rückweg nach Port Samout leuchtete der Himmel zu meiner Linken plötzlich so gleißend hell auf, als sei die Sonne heruntergestürzt. Eine Lichtsäule schoss von einem Berggipfel empor und erhellte den Himmel im Umkreis von mehreren Kilometern. Ich konnte dem nicht näher auf den Grund gehen, da ich so schnell wie möglich zum Luftschiff zurückkehren musste. Nachdem ich eine solche Szene vor ihrem Palast gemacht hatte, befürchtete ich doch, Urduja würde womöglich meinen Kopf und die Köpfe meiner Besatzung fordern. Aber ich weiß, was ich gesehen habe.« Der General straffte sich und begegnete Talasyns fragendem Blick. »Es war ein Lichtriss«, erklärte er. »So etwas gab es auf dem Kontinent nicht mehr, seit Gaheris in Sonnhaineinmarschierte und alle Instanzen des Lichtgespinstsdort zerstörte.«

Talasyns Augen weiteten sich. Ein Lichtriss. Ein Riss zwischen Aether und materieller Welt, wo das Lichtgespinstexistierte, ohne dass es beschworen werden musste. Ein Nexuspunkt,den sie nutzen konnte, um ihre Magie zu verfeinern und zu verstärken. Ganz so wie die Legion des Nachtimperiums,die an Kraft und Fertigkeiten gewannen, weil Kesath von zahllosen Dunkelrissen gesprenkelt war. Hoffnung und Aufregung durchzuckten sie.

Dann fiel ihr wieder ein, wo genau dieser Lichtriss sich befand, und ihre anschwellenden Gefühle wandelten sich zu etwas, das eher Furcht ähnelte. Sie sah Vela an. »Ihr wollt, dass ich nach Nenavar gehe. Allein.«

»Es tut mir leid, dass ich das von dir verlangen muss«, sagte die Amirante,»aber General Bieshimma vermutet ganz richtig, dass eine Wespe eher unbemerkt bleibt. So, wie die Dinge mit dem Dominiumverlaufen sind, bezweifle ich, dass sie dir freies Geleit gewähren, egal, wie viele Gesandte wir noch schicken. Und wir haben keine Zeit, überhaupt noch welche zu schicken. Das Nachtimperium kommt näher.«

Talasyn schluckte. »Also muss ich mich einschleichen.«

»Geh rein, verbinde dich mit dem Lichtriss, komm wieder zurück«, sagte Vela. »Und lass dich nicht erwischen.«

»Leichter gesagt als getan«, grummelte Talasyn, ehe ihr einfiel, dass sie hier besser keine Witze reißen sollte.

Vela runzelte die Stirn. »Ich meine es ernst, Pilotin. Wir können es nicht riskieren, Nenavar noch mehr zu verärgern, als es ein gewisser Jemand mit seiner kleinen Eskapade bereits getan hat.«

Sie warf Bieshimma einen Blick zu, als wolle sie seine Reaktion abschätzen,doch er verzog keine Miene.

»Das habe ich verdient«, meinte er.

Velas Lippen zuckten. Doch sie sprach an Talasyn gewandt weiter. »Glaub mir, würde ich annehmen, dass es etwas nützt, das Dominiumin dieser Angelegenheit um Unterstützung zu bitten …«

»Nein, Ihr habt recht, Amirante«, unterbrach Talasyn sie und schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Zeit.«

Nach zehn Jahren Krieg war Sardovias Gebiet auf die Hälfte seiner einstigen Größe geschrumpft. Mittlerweile weniger als die Hälfte, jetzt, da das Hochland so gut wie verloren war. Es gab keine andere Option. Dies war ihre letzte Hoffnung.

»Das Mädchen kann nicht einfach unvorbereitet in Dominiumsgebiet segeln.« Darius ergriff zum ersten Mal das Wort, seit Bieshimma dazugekommen war. »Wenn sie erwischt wird, wenn sie sich nicht freikämpfen kann …«

»Guter Punkt.« Vela überlegte eine Weile, ohne ihren Blick von der Karte zu lösen; sie studierte die Meilen, die auf dem Weg zum Lichtriss zurückgelegt werden mussten. »Dann in zwei Wochen. Talasyn, ab morgen wirst du intensiver mit mir und Klingenmeisterin Kasdar trainieren. Wenn wir dich nach Nenavar schicken, wirst du fähig sein, dich selbst zu verteidigen.«

»Das lässt außerdem mir genug Zeit, den Landweg zum Lichtriss so detailliert wie möglich zu skizzieren«, sagte Bieshimma. »Ich werde das mit den wenigen historischen Dokumenten und Spionageberichten abgleichen, die uns zur Verfügung stehen. Ich werde mein Bestes tun.« Er rollte die Karte zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und salutierte Vela, bevor er das Büro verließ.

Wieder allein mit Vela und Darius befand Talasyn, dass die Amirantebesorgt wirkte – ungewöhnlich für eine so stoische, unerschütterliche Frau.

»Vierzehn Tage sind nicht annähernd genug Zeit, aber mehr können wir dir nicht einräumen«, murmelte Vela. »Alaric wird nicht vergessen, dass du ihn im Kampf übertroffen hast, Talasyn. Er war ein hochmütiger, zäher Junge, der zu einem stolzen, unversöhnlichen Mann herangewachsen ist. Ich will mir gar nicht vorstellen, was er tun wird, wenn ihr einander wiederbegegnet.«

»Vielleicht habe ich ihn ja umgebracht«, schlug Talasyn mit einem Hauch von Optimismus vor. »Ihr wisst schon. Als ich ihm in die Schulter gestochen habe.«

Darius lachte freudlos auf. »Das würde so viele unserer Probleme lösen, nicht wahr?«

»Es braucht mehr als eine lichtgewebte Dolchklinge in der Schulter, um Alaric zu töten«, entgegnete Vela. »Er ist der mächtigste Schattengeschmiedeteseit Jahrhunderten. Es hat seinen Grund, dass er schon mit achtzehn Jahren Herrder Legion wurde. Wenn du ihm das nächste Mal gegenübertrittst, Talasyn, musst du bereit sein.«

Bei der Erinnerung an den dunklen Prinzen, dem sie auf den Eisschollen begegnet war, schlug Talasyn das Herz bis zum Hals. Der tödliche Tanz, in den er sie hineingezogen hatte. Sie dachte daran, wie seine grauen Augen unter dem Licht der sieben Monde silbern geglüht hatten. Wie er sie betrachtet hatte, als sei sie seine Beute.

Sie erzitterte.

4. KAPITEL

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