The Pure Wish Of The Demon - Monique Edler - E-Book

The Pure Wish Of The Demon E-Book

Monique Edler

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Beschreibung

Während Jaro ein junger, introvertierter und verschlossener Träumer ist, welcher die Schönheit in den kleinen Dingen des Lebens sieht, ist Li Wang die pure Sünde im Ansehen des Himmels. Beide Männer könnten nicht unterschiedlicher sein und doch gibt es etwas, dass diese so fremdartige Beziehung ausmacht. Sie sind Geistverwandte. Wo es Licht gibt, wird es allzeit einen Schatten geben. Solange es Tag ist, wird immer eine Nacht folgen. Von der naiven und unschuldigen Art des jüngeren Jaros angezogen, findet sich der Prinz der Verkommenheit schon alsbald in einem nie endenden Strudel aus Fragen und Ereignissen wieder, von dem er nur zu gerne Abstand nehmen würde. Sein Ruf des Monsters der Unterwelt gerät jedoch ins Wanken, da ihm das weiche Herz seines Jüngers immer deutlicher macht, was ihm all die 300 Jahre seiner ewigen Existenz in der Welt der Kultivierenden gefehlt hatte. Keine Liebe, die einfach ist, war je wirklich aufrichtig, weshalb es im Falle der beiden Männer nach nur kurzen Zeit zu einem schmerzvollen Bruch kommt. Jaro kann Li Wang nicht aufgeben, zu sehr verlangte es seiner Seele nach ihm und auch der Prinz des Kults der Unsterblichkeit würde lügen, wenn er bestritt, wie süchtig er nach der Anwesenheit des Jungen geworden war. Ein so reines und gutes Herz, wie es der Bursche besaß, würde ihm in einer so unheilvollen Welt das Leben kosten und so einigten sich die Götter des Schicksal darauf ihn stark zu machen, ihm seine guten Eigenschaften zu rauben indem sie ihm einen Schicksalsschlag und Verrat nach dem anderen schenkten. Kann Li Wang ihn, den, den er so sehr begehrte, dass er sich selbst danach sehnte, ein kurzes glückliches Leben mit ihm zu führen, retten? Kann eine Sünde die Reinheit eines Herzens bewahren? Als wären die Prüfungen und Hiobsbotschaften nicht genug für die keimende Liebe, so erfährt Li Wang alsbald davon, dass Jaro die Klebstoff für ein unheiliges Relikt ist, welches dem Anwender nach dem Sammeln dutzender Seelen einen Wunsch gewährt. Es bedeutete seinen sicheren Tod. Gerade als er ihn in Sicherheit wusste, kommt der Verrat aus den eigenen Reihen.

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HINA

The Pure Wish Of The Demon

Hiermit möchte ich mich ganz besonders bei den Menschen

bedanken, die mich stets unterstützten!

Sie standen mir so einige Male des Kopfzerbrechens bei

und machten mir Mut!

Vielen Dank!

M. Peters

S. Hüll

A. Kuntz

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 – Wie eine zärtliche Brise

2 – Das Schicksal spinnt seine eigenen Fäden

3 – Beißender Schmerz, feuchte Schnauze

4 – Wie Platzregen in seiner Seele

5 – Gebrochene Flügel

6 – Ruhelose Nächte

7 – Der kleine Spalt

8 – Ein einziger Augenblick

9 – Das erste Ziel

10 – Im Herzen des Abgrunds

11 – Der Wunsch im Inneren

12 – Wiedersehen

13 – Ein erster Verdacht

14 – Das Gefühl von Schuld

15 – Sonnenblumen 1

16 – Sonnenblumen 2

17 – Ein Herz in Flammen

18 – Das Rad der Zeit

19 – heißer Atem

20 – der faule Apfel

21 – Dornige Wahrheit

22 – Der Puppenmacher 1

23 – Der Puppenmacher 2

24 – Der Puppenmacher 3

25 – Der Puppenmacher 4

26 – Wind der Veränderung

27 – Der Preis der Wahrheit

28 – Die Erkenntnis

29 - Eine Frage von Geduld

30 – Aufziehender Sturm

31 – Im trügerischen Auge des Sturms

32 – Der Sturm

The Pure Wish Of The Demon

- Vorwort -

Der Donner des tobenden Sturmes peitschte Unmengen des weißen Puders gegen das zerbrechliche Glas. Es gab nicht nach. Ebenso wenig tat es die Dunkelheit, die seither durch die Menschenmengen zog und ihr Unwesen trieb. Keiner konnte dem Greifen der eigenen Gefühle entkommen. Das Böse wohnte in jedem von uns inne und niemand konnte behaupten, nicht selbst bereits seinen Begierden nachgegeben zu haben. Es fiel immer leichter, die Schuld von sich zu weisen, um sein Gewissen zu erleichtern, doch was tat man in Wirklichkeit? Man schob dieses Gedankengut nur in eine der kleinen, unzähligen Ecken seines Herzens und ließ es dort faulen und verderben. Wie Gift, welches man freiwillig schluckte und hoffte, man würde nicht daran zugrunde gehen.

Immer wieder polterte das lose Geäst der Krone des Ahorns, welcher diesen Ort in ein beängstigendes Rot tauchte, gegen die Wände. Es knarzte und brach schlussendlich.

Die Splitter umzogen von eisigen Kristallen, flogen wirr und ohne ein wirkliches Ziel umher, bis sie an ihrem Hindernis zerschellten. Es blieb mir schlicht unmöglich, mir vorzustellen, welch ein Wunder in der Lage sein könnte, diese Welt zu reinigen.

Von wem wollte man verlangen, dieses Ungeheuer, welches wir schufen, zu bezwingen? Gab es ein Ausweg aus diesem fürchterlichen Sturm?

Ich raffte mich auf, stütze mich schwer atmend an einen der losen Stützbalken, die der Wind noch nicht herauszerren konnte. Jeder Atemzug ließ meine Lunge zu kleinen, eisigen Zapfen aus Eiseskälte werden.

Ich konnte die Spitzen meiner Finger kaum noch wahrnehmen, das Sehen gänzlich unmöglich und doch trieb ich mich an, weiterzugehen. Auch wenn hier nichts und niemand mehr war, den ich retten konnte. Ich sollte überleben, so wollte es das Schicksal. Warum hatte ich sonst noch genug Kraft übrig, um mich solcher Fragen zu widmen? Sterben war keine der Optionen, die mir blieb.

Ich stand wackelig auf meinen eigenen Beinen und versuchte meinen Oberkörper gegen eine Böe zu stemmen, doch sie schien so unerbittlich zu sein, wie die dunkle Aura in diesem Dorf. Der metallische Geruch des Blutes und der Duft des Kummers verbaten mir tief Luft zu holen. Mit eisernem Willen stapfte ich durch den Schnee, meine Füße kaum noch spürend. Wenn ich etwas nicht fühlte, konnte es schließlich auch nicht wehtun. Oder?

Die Pfützen aus gefrorenem Blut zeichneten ein Kunstwerk der Dämonen. Ein Trugbild des Teufels.

Schändlich. Mordlustig. Endgültig.

Es gab nun keine Wahl mehr für all diese traurigen Seelen. Sie wurden, wie soviel andere Dörfer zuvor schon, von durch ihre eigene Negativität zum Lockvogel der dunklen Wesen.

Niemand entkam. Nur ich lebte noch.

Ich irrte wie ein herrenloser Welpe durch die verschneiten Gassen, immer hoffend, jemandes Atem zu spüren. Vergebens. Unwillkürlich wischte ich die vielen Flocken aus meinem Gesicht, welches ebenso kalt wie mein Inneres schien.

Seufzend hielt ich mich an einem der letzten Pfosten eines alten Zaunes fest, schob mich weiter durch die tiefe Decke aus Kälte, bis ich selbst glaubte, kaum noch zu atmen.

Plötzlich hörte ich es!

Ein Wimmern. Ein Überlebender.

Dies musste ein Wunder sein. Ich stapfte und schob mich in die Richtung eines kleinen Hohlraums inmitten eines riesigen, fast kahlen Ahorns. Das Gehölz, welches mir nicht den Weg versperrte, peitschte frontal gegen mich, so als wollte es mich von der Höhle fernhalten. Ich gab nicht auf, kämpfte gegen jedes bisschen meiner klagenden Muskeln und erreichte sie.

Immer wieder ertönte das Wimmern und Keuchen einer jungen Frau. Ich zögerte, doch warf einen fragenden Blick auf sie.

Sie vergrub ihre Hände über ihrem sichtlich geformten Bauch und bäumte sich bei jedem Atemzug Schmerzverzerrt auf. Wie sollte ich ihr helfen?

»Herr, gnädiger Herr!«, raunte sie verschwitzt nach meiner Hand greifend.

Sie wusste wohl nicht, wer ich war. Ein gnädiger Herr? Welcher Herr würde zulassen, dass so viele Menschen starben und konnte nur tatenlos dabei zusehen? Ich empfand Abscheu mir selbst gegenüber. Ein Verbrecher, mehr würde meiner Bezeichnung nicht gerecht.

»Was fehlt Ihnen?«, fragte ich ihr meine Hand reichend.

Sie griff fest zu und schrie auf, als ein erneuter Schmerzschub ihren gesamten Leib schüttelte.

Jetzt erlaubte ich mir einen genaueren Blick auf sie zu werfen. Ich konnte zwischen dem Schweiß und den Schmerzensfalten nur klare, blaue Augen ausfindig machen. Ich hatte solche Augen selten sehen dürfen.

»Mein Kind!«, schrie sie und presste meine Hände auf ihren eiskalten Bauch.

Wie konnte sie so unfassbar viel schwitzen, obwohl in ihr die Kälte wohnte?

Ich blickte auf ihre Wölbung und begriff, in welchem Umstand sie sich befand. Sie ist schwanger!

Sie gebar gerade einen Nachkommen ihres Namens. Klirrend und klappernd vor Schmerz presste sie leise Schreie in diese Nacht voller Unheil.

Kein guter Zeitpunkt, um ein Kind zu bekommen, aber dies wusste sie besser als ich.

Blut lief ihre Schenkel entlang und tropfte auf die Erde, auf der sie sich befand. Obwohl die kleine Höhle etwas Schutz gab, lag das weiße Puder auf ihr und ließ ihr Haar aufweichen.

»Helft mir! Ich bitte Euch, gnädiger Herr«, keuchte sie nicht wissend, wie ihre Zukunft aussehen würde.

Ich nickte.

Ich drängte mich zwischen ihre Beine, umfasste die Knie und schob diese etwas weiter auseinander.

»Ihr müsst etwas mehr pressen!«, bat ich, stets hoffend das Richtige zu tun.

Sie rang nach Sauerstoff und krallte sich tief in meine Handgelenke, während sie erneut bebenartig eine Welle aus Schmerz ertrug und das kleine Köpfchen schon in dieser Welt verweilte.

»Noch ein wenig mehr!«, bat ich sie nicht wissend, wie viel Kraft es sie bereits gekostet hatte, durchzuhalten, bis Hilfe kam. Bis ich sie fand.

Ihre Augen schlossen sich, so erschöpft und müde musste sie sein. Diese Frau durfte nicht kurz vor dem Ziel aufgeben. Nur noch ein wenig mehr und sie würde ihr eigen Fleisch und Blut in den Armen halten.

»Ich kann nicht ...«, japste sie der Erschöpfung erliegend.

Verunsichert betrachtete ich das viele Blut, welches zwischen ihren dünnen Schenkeln am Kopf des Kindes aus ihr wich.

Ahnend, dass dies nicht normal war, packte ich sie an ihren Knien und drückte diese fest gegen ihren Oberkörper. Keuchend bog sie ihren Rücken durch und wimmerte dem eisigen Schneesturm entgegen.

Ich erreichte, was ich erreichen musste. Sie war wieder etwas klarer um ihren Geist und so in der Lage ein weiteres Mal zu pressen. Ihre Atmung schien gänzlich zu versagen, als ich endlich das kleine, blutige Kind in den Armen hielt und es ihr auf die Brust legen durfte.

Es schrie nicht. Es blieb stumm.

Vielleicht war ich zu spät gewesen und sie lag bereits zu lange in den Wehen? Möglich wäre es.

Sie weinte.

Viele Tränen kosteten die ersten Sekunden des Säuglings auf dieser Erde. Er wurde bereits so sehr geliebt, ohne selbst zu wissen, was diese Liebe ist.

Blut bettete seine Mutter, welche ihm in solchen Zeiten das Leben schenken konnte. Still umklammerte die junge Frau ihr Mündel und sah mich eindringlich an.

»Nehmt ihn mit Euch, gnädiger Herr.«

Ihre Stimme so ernst und schwach, dass ich nicht wusste, welche Antwort und welcher Ton angemessen sein könnten, dieser Bitte nachzukommen. Ehe ich einen Entschluss fassen konnte, fielen ihre Arme leblos neben sie.

Der Blutfluss verebbte und mit ihm die letzten Atemzüge dieser Fremden.

Welch eine Tragödie.

Sie hatte ihren letzten Wimpernschlag für seinen Ersten gegeben.

Ich vernahm noch immer keinen Ton des Säuglings, so wagte ich es ihn an mich zu nehmen. Kaum mehr lebendig als tot, erfasste er meine blutigen Finger.

Er konnte nur mühsam atmen und doch griff er mit seinen wenigen Minuten auf dieser Erde nach seinem Leben.

Mein Blick ruhte auf ihm.

Sie konnte ihm noch nicht einmal einen Namen geben. Entschlossen riss ich mir meinen Mantel, welcher mit einem dicken Fell besetzt war, vom Körper und hüllte ihn darin ein. Nun wurde mir allmählich klar, weshalb ich noch nicht in die Welt der Toten gehen durfte. Dieser kleine Junge war vermutlich der einzige Überlebende dieser Ausrottung eines gesamten Clans.

Fest umklammerte ich das kleine Wesen in meinen Armen, welches ich mit meinen verschmutzten Händen an mich drückte, um es zu wärmen. Viel war nicht übrig von meiner Körperwärme und doch war ich bereit, ihm jedes bisschen davon zu geben.

Ich trat aus der kleinen Einhöhlung hervor, den peitschenden Wind kaum standhalten könnend. Schweifend überblickte ich die Situation und fand nun endlich die Kraft, den ersten Schritt zu tun.

Ich würde dich retten, denn ich konnte deiner Mutter nicht mehr geben, als die Gewissheit, in Frieden ruhen zu können, wenn du in Sicherheit bist. So bitter dieser Gedanke auch schmeckte, ich schluckte ihn.

»Jaro, wir haben noch einen langen Weg vor uns.

1 – Wie eine zärtliche Brise

Es war wieder einer dieser Tage, an denen er es leid war, existent zu sein. Es langweilte ihn fürchterlich, den Befehlen seines Vaters zu gehorchen. Töten und Berge von faulenden Leichen anhäufen. Mehr kannte und konnte er nicht.

Li Wang wurde gezeugt im Schoße einer Hure, und so sah das Bestehen einer solchen Brut aus. Eigentlich konnte er sich glücklich schätzen, überhaupt auf freiem Fuß zu sein, doch wenn man wie er eine Ewigkeit alt war und sich der Sterblichkeit der anderen immer bewusster wurde, schien die Unendlichkeit kein guter Zeitrahmen für ein Leben zu sein. Blut behaftete seine Kleidung, getränkt in einem metallischen Duft aus Verderben und Pein.

Li Wang seufzte, streifte seine langen Finger an der schwarzen Schärpe mit Goldstickereien ab, welche seine Taille schmückte und trat neben sein Kunstwerk aus Menschenleibern. Es stank bestialisch.

Erste Raubvögel zogen ihre Kreise um das köstlich angerichtete Festmahl.

»Was soll ich sonst tun?«, brummte er erhaben und doch monoton in die Stille des Todes.

Seine Finger wurden von einem dicken, dunklen Nebel in Empfang genommen. Seine Aura verdichtete sich, zog über seinen Körper, angefangen bei seinen Haarspitzen.

Sein langes Haar hing in einem Zopf bis weit über seine Hüfte, nur zwei Strähnen lugten an seiner Stirn hervor. Glatt wie Seide schimmerte das tiefe Schwarz im Licht des Sonnenaufgangs.

Als seine Aura zurück zu ihrem Besitzer kehrte, sammelten sich in den Pfützen der Leichenberge kleine Rinnsale aus Menschenblut. Jeder Tropfen schien zu dampfen, zu tanzen und in den Dunst seiner düsteren Erscheinung überzugehen.

»Hier konnte ebenso kein Teil des Jīngshén-Kristall gefunden werden.«

Ihm war bis heute nicht genau bewusst, weshalb sein Vater dieses Relikt erneuern wollte, aber immerhin gab es ihm eine langfristige Beschäftigung.

In einem so ewigen Leben, wie Li Wang es führte, war es eine willkommene Abwechslung, sich einer Sache widmen zu können. Getötet hatte er oft und das auch ohne einen ersichtlichen Grund. War es der Geist der Langeweile, welcher ihn plagte oder die Frage nach einem Sinn seines Lebens? Ein Gewissen besaß er nicht, zumindest war dies seine eigene Ansicht.

Er schätzte sich selbst nicht als etwas Besonderes ein, doch war er unweigerlich der Sohn einer Legende von Xuè Shān, Li Bao. Wenn man bedachte, dass dies mehr der Wirklichkeit entsprach, als es die wilden Geschichten der Clans taten, konnte man den Groll über den Clan Li verstehen.

Seit jeher gab es selten einen merkwürdigen Mord, ohne das man der Kultivierung der Lis die Schuld zuwies. Verübeln konnte man es allerdings keiner Menschenseele, denn dieser Clan gehörte zu einem Kult, welcher sich mit der Unsterblichkeit und der Nutzung von menschlichen Energien beschäftigte. Man nannte ihn nicht umsonst den Teufelsclan. Es gab viele Ungeheuerlichkeiten, welche man sich kaum wagte vorzustellen, diese allein von dieser Familie ausgeübt worden waren.

Ein schwarzes Wappen mit einer goldfarbenen Stickerei versetzte das Volk förmlich in Angst und Schrecken. Der goldene Wolf wurde von einem Raben umflogen, was für die Macht und Grausamkeiten dieser Blutlinie stand.

Li Wang schob seinen Unterrock elegant an seine richtige Stelle, woraufhin die vielen Schichten Stoff leicht im Wind wehten. Für einen Moment schloss er seine kastanienbraunen Augen und genoss den Wimpernschlag Ruhe.

Der Wind gab ihm schon immer etwas, dass er ihm nie zurückgeben könnte. Frieden. Ruhe. Besänftigung.

Er konnte ausatmen und dem Treiben seiner Selbst entkommen.

Ihm fehlte ein Stück, doch er wusste nicht, was dieses Loch in ihm zu bedeuten hatte. Immer wieder erwischte er sich dabei, wie er verstohlen in der Gegend umher streunte. Wonach auch immer er suchte, er musste es finden. Schnell. Dieses Gefühl in ihm stach bitterböse hervor und er hasste es, wenn er die Kontrolle über Dinge verlor, wenn er sich einen Makel eingestehen musste. Makel waren ein Todesurteil.

Als nun auch der letzte Tropfen des fremden Blutes einer jungen Frau in seiner Aura verschwand, war kaum mehr als Staub und Asche von den Bewohnern dieses Ortes übrig.

Da er wusste, dass sein Vater ihn nicht heimkehren lassen würde, ohne ein Stück des Jīngshén-Kristalls, welches unabdingbar war, um die Schriften des Abgrundes lesen zu können, beschloss er seinen Weg in einem Dorf weiter abseits der normalen Pfade fortzusetzen.

Er brauchte kein Gefolge, da er ohnehin eine derart starke Präsenz ausstrahlte, dass nur die wenigsten es wagen würde, in sein Sichtfeld zu gelangen. Sie würden es bereuen.

Vor etwas mehr als 300 Jahren wurde dieser Jīngshén-Kristall in 5 Teile zersplittert.

Die Macht, die von diesem magischen Werkzeug ausging, war zu stark, zu unberechenbar und die Anwendung kostete nicht selten Leben. Oft wurde es mit dem Tor zur Unterwelt beschrieben, düster und mystisch. Niemand konnte genau sagen, in welchen Bezirken ein Teil dieses Höllenkristalls versteckt lag, doch aufgeben war keine Option. Zumindest nicht, wenn dies hieß, wieder in den alltäglichen Trott zurückkehren zu müssen.

Li Wang konnte vor einiger Zeit, dank langjährigen Recherchen, eines dieser Kristallstücke finden. Dieses lag unter dem Ahnengrab des Huǒyàn Clans nahe des Pfades nach Liú, des Hauptwohnsitzes dieses Kultistenclans.

Die Erinnerung blinzelte er in Sekunden davon.

Er hatte unzählige knochige Leichname gesehen und untersuchen müssen, bis er an einem Schwert mit auffälligem Stein innehielt. An nicht wenigen davon war er selbst beteiligt gewesen.

Noch immer erkundigte der Geruch von Verwesung jede Zelle seines Körpers. Süß und verdorben.

Er hatte mit einem leichten Fluch die Scheide des Schwertes mit dem Namen 'Federtanz' zerstört. Schnell zersprang das Material und übrig war nur dieses Stück des Kristalls geblieben. Schließlich kam er durch eines der vielen Gerüchte an diesen Ort, wo nun kaum noch Spuren von Leben zu vernehmen waren.

Er schritt durch die Wälder, immer den Wind als treuen Begleiter an seiner Seite. Ihm folgte stetig der Duft einer Katastrophe in Form kleiner, dunkler Nebelschwaden. Und die Melancholie, die der Ewigkeit.

Es war weniger als eine Woche vergangen, als er sich der Stadt des Namens Lilia näherte. Der starke Regen zog unwillkürlich an seinem Gemüt und so stapfte Li Wang durch die dünnen Bambuswälder und erkämpfte sich endlich einen Blick auf die unzähligen Wasserlilien, wie sie vom Winde fortgeschwemmt wurden.

Der Duft des nassen Grases unter seinen Füßen ließ ihn kurz verweilen.

Keine Menschenseele schien bei einem solchen Unwetter das Haus verlassen zu wollen.

Um so besser beschloss er, denn so würde es weniger Arbeit für ihn geben.

Er hatte kein Bedarf, heute das Leben dieser Menschen zu nehmen. Melancholie stimmte ihn ruhig, aber distanziert. Kalt, aber nicht monströs.

Li Wang sprang auf einen der Bäume kaum merklich, kaum hörbar und doch schwankte der Ast des Ahorns. Was auch immer ein solches Holzgewächs hier zu suchen hatte, denn es passte so gar nicht zum restlichen Erscheinungsbild des Ortes. Er war prächtig ausgebaut, tief verwurzelt und seine rote Baumkrone schien den ganzen Zauber von Lilia in sich aufzusaugen.

»Fassen Sie mich nicht an!«, schrie plötzlich eine männliche Stimme.

Li Wang straffte seinen Oberkörper und blickte in die Richtung, in der er die Person vermutete.

Eine Windböe streichelte seine Wangen und das Haar wirbelte in schwarzen Strähnen um sein Gesicht. Die dunklen Wimpern blinzelten den Staub, der aufgewirbelt wurde hinfort.

Erneut rief die Stimme, dass man sie nicht berühren sollte.

Er erspähte den Ort des Geschehens. Es war ihm fast lästig, nun doch auf Bewohner zu treffen.

Dies hieß Arbeit. Morden. Seine Ruhe stören.

»Was tut dieser Bengel da?«, dachte Li Wang laut, als er sah, wie ein Junge, kaum älter als 15 im Wasser zu ertrinken drohte, aber sich weigerte, sich retten zu lassen.

Sollte er doch einfach absaufen, was ginge das ihn etwas an? Der Müll brachte sich schließlich selten allein hinaus, also sollte er dankbar sein, dass der Tod diesen Knirps bald ereilen würde und die Ruhe der Nacht zurückkehren konnte.

»Jaro! Stell dich nicht immer so an!«, keifte ein junges Mädchen den ertrinkenden Jungen an.

Sie streckte ihre Hände nach ihm aus, doch er hielt sich kaum genug über Wasser, als das er sie erfassen könnte. Die Wellen schlugen ihm mit voller Kraft in sein zartes Gesicht.

Er war noch ein Kind.

»Was macht das schon für einen Unterschied?«, kommentierte ein weiterer junger Mann, welcher sich neben dem Mädchen positionierte, das Geschehen.

»Für uns keinen, Bruderherz. Aber stell dir nur unseren wehrten Vater vor, wenn wir ohne sein Küken heimkämen!«, jammerte das Weib, dessen Stimme schon fast an das Krächzen einer Wildsau erinnerte.

Nun schien auch dem Bengel neben ihr schlagartig klar zu werden, was ihnen blühen würde, sobald sie ihn hier sterbend zurückließen.

Er bewegte sich ein wenig näher zu ihr, streckte die Hand ebenso nach dem Bündel im Wasser aus und rief ihm zu, dass er nicht so ein egoistischer Nichtsnutz sein solle.

Jaro weigerte sich mit allem, was er an Kraft aufbringen konnte. Sichtlich erschöpft peitschten ihm die Blüten der Lilien ins Gesicht und hinterließen einen süßen Duft.

Der Regen preschte und hämmerte auf den weißen Schopf ein, ohne Gnade.

Wild zappelte er umher, doch helfen lassen konnte und wollte er sich nicht. Tatsächlich machte es für ihn keinen Unterschied, ob er lebte oder aber starb. Jaro gehörte nirgends dazu.

Er war geduldet, weil der Clanführer ihn hier her brachte und für ihn sorgte, trotz der daraus resultierenden Gerüchte. Aber so war nun einmal das Volk. Sie waren hässlich zueinander und die Menschlichkeit schien kaum noch in einem Herzen Platz zu finden.

Jaro verabscheute es, auf dieser Erde wandeln zu müssen, wenn sein Leben daraus bestand, eine Plage und eine Belastung für den Clan Hui zu sein.

Was konnte er schon tun? Er hatte kaum genug spirituelle Energie, um ein Schwert zu halten, geschweige denn einen Zauber zu nutzen. Er war nutzlos und machtlos. Alles, was er tat, waren Nichtigkeiten, verschwindend geringe Arbeiten.

Für das Schlachtfeld war er ungeeignet und so blieb ihm nur eine Art nützlich zu sein. Wie oft hatte er sich in den Wäldern verlaufen auf der Suche nach Kräutern und Blüten zum Heilen der vielen Verletzten? Nicht besonders selten.

Eine Schlacht war nicht nur Ruhm und Ehre. Tod, Trauer, Schmerz und Verluste gehörten dazu. Unzählige Wunden hatte er versorgt. Kaum zählbar. Eine dieser Wunden war sein eigenes Herz. Wann immer er daran dachte, wie schön das Leben sein könnte, fiel er in dieses Loch, geschaffen von Krieg und Machtgier. Alles färbte sich augenblicklich tiefrot und das Rauschen in seinen Ohren ließ ihn in die Knie gehen.

Bis heute hatte der Jüngling nicht verstanden, weshalb er nicht zurückgelassen wurde. Oft hänselte man ihn, grenzte ihn aus und doch gab er ihnen nie die Schuld für ihr Handeln. Irgendwie verstand er die Menschen ja. Er sah merkwürdig aus und war außerordentlich schwach, fast nicht stark genug, eine Pflanze von ihren Wurzeln zu trennen. Immer wieder machte man sich lustig über sein weißes, langes Haar, die weißen Wimpern, die viel zu helle Haut und diese fremden, kühlen, blauen Augen.

»Jaro! Du hast keine Erlaubnis zu ertrinken, wenn es Ärger für uns bedeutet!«, jammerte das Mädchen an seinen Haaren ziehend.

»Du Missgeburt! Weshalb fällst du uns immer zur Last?«, brummte der junge Mann und zerrte ebenso an den langen Strähnen Jaros.

Viele der Lilien und Seepflanzen erschwerten es den Beiden deutlich.

Er selbst überblickte kaum noch die Wasseroberfläche und doch fürchtete er sich vor den Berührungen seiner Geschwister. Das Donnern des Himmels ließ ihn erstarren.

Noch immer beobachtete Li Wang das Geschehen und brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass dieser Jüngling freiwillig ins Wasser gesprungen sein musste, denn er hatte nicht nach Hilfe gerufen, verweigerte jede rettende Hand. Es schien nicht so, als könnte er schwimmen.

Er würde lieber sterben, als die Hand zu ergreifen, die ihm helfen konnte? Aus falschem Stolz? Selten hatte ihn etwas so interessiert wie das Handeln dieses Kindes.

In den ewigen Jahren seiner Lebzeiten verhielten sich die Menschen immer gleich. Sobald der Tod sie zu umarmen schien, bettelten sie um ihre kümmerliche, nichtssagende Existenz.

Dieses Kind nicht. Er warf es bereitwillig weg.

Aus einem unerklärlichen Grund schien Li Wang sich in ihn hineinversetzen zu können. Wie oft hatte er sich schon ein Ende seiner Tage herbeigesehnt? In über 300 Jahren vergaß er die Anzahl seiner Gedanken darüber. Hatte er Mitleid? Er? Das Monster, welches nichts konnte außer Abschlachten und Türme aus Innereien zu bauen?

Immer heftiger zogen sie an seinen Haaren, sodass Jaro anfing zu keuchen.

Die Beiden rissen so kräftig an seinem Haar, dass sie bei der nächsten Windböe nach hinten fielen und in der Hand ein Büschel der Strähnen hielten. Weiß und weich.

»Schwester! Dieser Bastard wehrt sich so!«

»Lass uns verschwinden und jemanden zur Hilfe holen!«, wisperte das Mädchen und warf das Büschel auf den matschigen Grund zu ihren Füßen.

Sie zog sich an ihrem Bruder hoch, der ebenso schnell die Beine in die Hand nahm, um zu verschwinden.

Krächzende und fluchende Worte waren alles, was sie für den Ertrinkenden erübrigen konnten.

»Endlich...«, japste Jaro, dessen Kopf unter Wasser glitt und ein Teppich aus schneeweißem Pelz die Oberfläche des Sees schmückte.

Die Wellen schlugen über ihm zusammen und wuschen die kleinen Blüten und Blätter aus seiner Mähne. In wenigen Atemzügen würde wieder diese Ruhe einkehren, die zu einer solch regnerischen Nacht gehörte.

Li Wang sah sich um, doch fand nichts außer Stille und die Laternen, die kaum noch fähig waren zu flackern, da der heftige Wind ihnen alle Kraft nahm.

Seine düstere Aura schien selbst dem Regen einen Schrecken einzujagen. Ein verirrter Vogel glitt an ihm vorbei, tieffliegend und achtsam. Seine Flügel kaum stark genug, ihn zu tragen. Sein Gefieder zerzaust. Sein Krächzen Schutz suchend.

Der Mond strahlte hell, doch die Wolken schoben sich vor ihn und bedeckten seinen weißen, vollen Körper.

Li Wang sah, wie die letzten Reste des Kindes die Oberfläche verließen und im trüben Wasser von Wellen zerrissen wurden.

Ihm lag nichts an einem einzigen Menschenleben. In seinen Augen waren sie schwache, kranke Kreaturen nicht fähig, ihren verklärten Ansichten zu entkommen. Allein seine Aura reichte aus, um die spirituelle Energie aus jedem zu ziehen, der es wagte, zu nah zu kommen.

Selbst wenn er versuchte, einen großen Teil zu unterdrücken, so hinterließ er eine Art unvergleichlichen Stempel auf jeder Seele, die er berührte.

Die letzten Bläschen trieben an die Oberfläche und der Kultist war sich sicher, dass es nun zu Ende ging mit dem Kind, dessen Aussehen so fremdartig war, dass auch er über seine Herkunft spekulierte.

Ein Blatt des roten Ahorns, getrieben vom Klagelied des Baumes, umfuhr ihn.

»Verdammt!«, fluchte er sich nicht bewusst, weshalb er noch immer an diesem See inmitten eines Sturmes stand und seine Hand tief in das Gewässer gleiten ließ.

Es musste ein Teufel sein, der ihn trieb, nach dem dünnen Handgelenk des Kindes zu spähen, zu greifen und ihn aus dem Wasser zu hieven.

Schnell waberte die dunkle Aura um das dünne, schmächtige Gelenk Jaros. Langsam kroch der Nebel in tiefem Schwarz um die Haut aus Porzellan und drang in sie hinein. Li Wang wusste, dass er ihm womöglich nicht mehr helfen konnte und doch verdiente er, dessen Gedanken er teilte, Frieden.

Kaum hatte er ihn aus dem Wasser gezerrt, gruben und bohrten sich die Nebelschwaden wie scharfe Messer in das helle Fleisch des leblosen Jünglings.

Jaro bäumte sich auf. Er spürte es mit jedem Schlag seines Herzens. Ob er wollte oder nicht.

Nun warf sein Retter einen genauen Blick auf das schmächtige Wesen in seiner Hand.

Er war so fremdartig und schwach von spiritueller Energie, dass selbst der Rabenprinz überrascht war, dass Jaro sich überhaupt solange über dem Wasser halten konnte.

An ihm hing ein weißer Fetzen Stoff, weiß und rein, doch es fehlte ein Wappen, eine Zugehörigkeit.

»Wer bist du?«, flüsterte er und bettete den Jungen am Pier, an dem allerdings kein Boot zu finden war.

Das Wasser tropfte und durchzog den Menschenkörper, sodass auch Li Wang die Kälte spüren musste. Sein Verstand kapitulierte bei dem Versuch, sich selbst zu erklären, weshalb er ihm half. Seine Aufgabe war es zu töten, nicht zu retten. Er wusste nicht einmal wie man etwas am Leben hielt, geschweige denn wie man es nicht auslöschte.

Noch weniger schien er sich erklären zu können, weshalb dieses unterkühlte Kind eine solche Wärme ausstrahlte, dass er in seiner Nähe zur Ruhe und Besinnung kam.

Wie konnte diese Gestalt eines Menschen so viel geben, aber selbst nichts an spiritueller Energie besitzen?

Der Wind umschloss die Beiden und summte eine leidige Melodie. Klagend und weinend. Seine Auraschwaden wickelten ihn fast gänzlich ein, bereit ihm jedes noch so kleine bisschen Kraft und Lebenswillen zu rauben.

Unklar war, weshalb sie es nicht bereits taten. Selten verhielt sich seine spirituelle Präsenz so zaghaft, fast vorsichtig.

Er wich zurück, strich mit seinem Blick erneut über das Kind.

Die Gestalt vor ihm schlug mit den Zähnen aufeinander, da ihn die beißende Kälte des nassen Gewandes fest im Griff hatte und sein Inneres in tobende Aufruhr versetzte.

Die bleiche Haut lief bläulich an, doch die schmächtige Brust hob sich noch immer leicht. Er lebte.

Diese Begegnung beunruhigte ihn so sehr, dass er sich bereits abwandte und seinen Weg fortsetzen wollte.

»Was zum...«, knurrte er, denn sein Inneres weigerte sich heftig, den Körper einfach frierend zurückzulassen.

Eilige schnürte er seinen schwarzen Umhang vor dem Hals auseinander, entfernte mit einem Zauber die Symbole, welche für ihn standen und hüllte den Jungen darin ein. Etwas der bedrohlichen Aura haftete an dem Fellbesatz und streichelte Jaros Halsansatz.

In 300 Jahren ist ihm nie eine solche Situation unter gekommen, umso verunsicherter war er.

Seufzend zog er sich von dem halbtoten Bündel Elend zurück, dem Regen folgend.

Er ließ ihn dort am Pier zurück. Der Rest lag an ihm selbst.

Li Wang setzte seinen Weg fort auf der Suche nach dem Kristall, der jeden Wunsch erfüllen konnte, so sagte man.

2 – Das Schicksal spinnt seine eigenen Fäden

Ein Jahr später.

Ein Jahr, in dem zu viel passierte und doch alles gleich blieb. Menschen starben, Monster töteten weiterhin.

Jaro lebte noch immer.

Er selbst würde sich nicht mehr zu den Lebenden zählen, dafür vegetierte er zu sehr vor sich hin.

Er konnte sich an kaum etwas erinnern und das mochte gut für ihn sein, denn die Schreie, die ihn des Nächtigens quälten und nach ihm riefen, reichten ihm vollkommen aus.

Die Kutsche holperte hastig über eine Baumwurzel und der Käfig, indem er saß, wackelte gefährlich unter dem Gewicht der Menschen, die sich samt ihm in diesem Holzgefängnis befanden. Wie es zu dieser Situation gekommen war, konnte er sich selbst nicht erklären, zu wirr das Chaos in seinem Kopf. Alles was in ihm tobte, waren die Menschen, die er liebte, in Flammen stehend oder bis auf ihre Knochen unkenntlich zerfetzt.

Jaro zitterte bei den Bildern in seinem Kopf.

Übelkeit und Schwindel überkamen ihn und drohten ihn umzuwerfen. Der Schmerz in seiner Brust schien unermesslich zu steigen und seinem Geist weit voraus zu sein.

An seiner Stirn prangerte eine Wunde, die von einem der Männer kam, dessen Identität er nicht ausmachen konnte. Mit einer Schwertscheide hatten sie immer wieder auf ihn eingeschlagen. Bis zur Besinnungslosigkeit. Hart und skrupellos. Was danach geschehen war, konnte er nur erahnen.

Sein Blick verschwamm. Seine Erinnerungen ertranken im Meer des Schmerzes. Er strich mit seinen Fingerspitzen über die pochende Wunde, als ein kleines Mädchen seine Hand ergriff.

»Wo bringen die Männer uns denn hin, großer Bruder?«, flüsterte sie ängstlich.

Jaro erstarrte.

Er ertrug Berührungen nicht, denn wann immer man ihn berührte, zogen tausende Schwerthiebe durch seinen Körper, sein Magen drehte sich bestialisch und er schien ein Bilderband ihrer Seele vor sich zu sehen.

Jaro redete sich ein, das läge an seinem niedrigen spirituellen Bewusstsein.

Er hustete, zuckte zurück und wartete auf das kommende Stechen in seiner Magengrube.

Sein Gesicht verzog sich und er rutschte mit dem Rücken in die leere Ecke des Käfigs.

Das Mädchen schien beunruhigt und wollte sich ihm nähern, streckte ihre kleine Kinderhand ereut nach ihm aus und fragte immer wieder, ob er krank sei. Ihr Blick weinerlich wie ein Grashalm voller Morgentau.

Jaro biss die Zähne aufeinander.

»Wir fahren an einen lustigen Ort«, presste er schmerzverzerrt hervor und die kleinen Kinderaugen begannen zu leuchten.

Ein mildes Lächeln zauberte er auf seine zerkauten Lippen, das weiße Haar zu einem tiefen Zopf gebunden und warf ihr sein letztes Bonbon zu, welches er in seinem schwarzen Umhang aufbewahrte.

Viele Schrammen und Wunden überzogen den schmächtigen Körper des Jungen.

Er ahnte, dass dieser Ort, an den sie gebracht wurden, kaum so lustig werden würde, wie er es dem Mädchen versprach. Jaro fühlte sich verlogen.

Seine Kehle zerfiel zu Staub, so einen schrecklichen Durst verspürte er.

»Iss es schnell, bevor sie es dir wegnehmen«, keuchte er, ehe das kleine Mädchen die schöne Verpackung aus glänzendem Papier aufwickelte und das Karamell mit funkelnden Augen betrachtete. Sie hielt es wie einen kostbaren Schatz, sicher und fest.

Eine der Wachen schien auf sie aufmerksam geworden zu sein und räusperte sich, sodass sie die Süßigkeit schnell in ihrem Mund versteckte. Sie lächelte bis über beide Ohren.

Die Atmosphäre war erdrückend, alles roch modrig, nach Resten von Erbrochenem und bereits der bissige Geruch von Verwesung kroch in die Nasen der Gefangenen. Jaro und seine Mitgefangenen wurden schon eine ganze Weile durch die Gegend transportiert, aber wie lange es wirklich war, konnte er nur schätzen. Zu oft verließ ihn sein Bewusstsein und gab ihn frei für die tiefe Umarmung der Ohnmacht. Zu begreifen fiel ihm schwer. Er kratzte in der verstecktesten Ecke seines Hirns nach Hinweisen, wieso man sein Dorf in Trümmer legte und wieso man ihn wohl verschonte?

Der Jüngling hoffte zwischen all dem Geklapper der Schwerter und dem dumpfen Rollen der Kutschräder, dass es noch mehr geschafft hatten, am Leben zu bleiben. Er hasste es, zu schwach gewesen zu sein, um auch nur irgendetwas tun zu können. Irgendetwas!

Er konnte nichts tun – gar nichts.

Alles, was er getan hatte war, sich auf seinen Retter und Clanführer Hui Chu zu verlassen. Er schützte Jaro mit seinem Leben und bezahlte einen hohen Preis. Einen Preis, den er niemals begleichen konnte.

Die Schuld lastete schwer auf seinen schmalen Schultern. Kaum kam der Gedanke an dieses Szenario in sein inneres Auge zum Vorschein, schüttelte ihn ein berstender Schmerz in seinem Herz. Jeder Atemzug trieb sein Leiden tiefer in den Bruch seines Armes. Bebend, zerreißend, zerstörerisch.

Die Luft schien dünner zu werden und Jaro wusste, dass ihm die Schwärze Erbarmen zeigen würde und ihn zu sich holte.

Nur wage vernahm er die Kutschräder, das lästige Getuschel der Männer in ihren schwarzen Gewändern. Es folgte die erlösende Ohnmacht, die er dankbar annahm.

Wie hoch die Sonne stand, konnte der Jüngling kaum erkennen, nur wage wich der Dunst der Schläfrigkeit von ihm, nur um ihn in Windeseile wieder in Besitz zu nehmen.

Das Holpern und Trampeln der Pferde schüttelte ihn häufig aus dieser umklammernden Besinnungslosigkeit. Es mussten schon einige Tage vergangen sein, als er endlich die Kraft aufbrachte, mehr als einen Wimpernschlag lang die Augen zu öffnen.

Alles, was er sah, waren modrige Bäume, tief liegende Äste und Lianen, die mehr vertrockneten Seilen glichen als einer saftigen Ranke.

Ein dicker Nebel schien durch die steinigen Felswände zu dringen. Es roch nach Feuchtigkeit und die Kälte glitt augenblicklich zurück in seinen Leib, wie ein treuer Begleiter.

Müde zog er sich an einem der Holzstäbe hoch und erspähte das kleine Mädchen, dessen Hand zu einer Faust geballt vor ihrer Brust ruhte. Anfänglich hielt er die Luft an. Beißende Gerüche quälten seine sensible Nase unaufhörlich.

Keuchend hob er seinen Arm und wischte sich mit dem Handrücken über die faulende Wunde an seinem Kopf. Eitrige Flüssigkeit strömte heraus, färbte seinen weißen Ärmel leicht gelb und ließ seinen Magen einen erneuten Purzelbaum schlagen.

Er verzog das Gesicht angewidert, denn selbst der erschöpfte Knochen seines Armes bebte bei jedem Stolpern der Räder. Sein Umhang schien ihm ein wahrer Freund, denn er schirmte etwas des eisigen Windes ab.

Gerade als er sich aufsetzte, blockierte ein Baumstumpf den Weg und ließ eines der Pferde aufbocken, was einen ruppigen Halt des Wagens mit sich brachte.

Er hustete und rang nach Luft, als die kleinen Hände des Kindes leblos an ihren Seiten herunterglitten.

Eilig blickte er nach ihrer Brust in der stillen Hoffnung, sie würde sich heben. Vergebens.

Die dunklen, lockigen Haare lagen in zotteligen Knoten auf ihren Schultern. Ihre Lippen trocken und von nun an versiegelt.

Ein übler Schauer durchfuhr ihn. In all der Zeit hätte ihm eine solche Grausamkeit vertraut vorkommen müssen, doch er konnte sich nicht damit abfinden, dass eine Unschuldige ihr Leben ließ. Grundlos. Das war nicht fair!

Sein Blick fuhr über die restlichen beiden Gestalten, alles Frauen.

Alle glichen in ihrer Position der des Mädchens.

Kalt. Leblos. Vergangen wie eine welke Blume.

Er schluckte diese bittere Erkenntnis. Es tat weh. Fürchterlich weh.

Diese Ungerechtigkeit brannte wie ein Buschfeuer in seinem Herzen und vernichtete alles, woran er zu glauben schien. Jaro konnte nicht anders, ließ eine Träne über seine Wange gleiten, bis diese an seinem Kinn abperlte und auf dem Fellbesatz landete. Zu schwer lag sein klopfendes Stück Fleisch in der Mitte seiner Brust.

Nachdem einige der Männer den Stumpf beiseitegeschoben hatten, trabten die Tiere wieder an, schnauften und wieherten. Nur zwei Peitschenhiebe später folgten sie den Anweisungen der Männer. Folgsam, aber in ständiger Angst.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis es ihm ähnlich erging wie diesen Frauen.

Jaro hoffte einmal mehr, diese Zeit würde nicht mehr allzu lang auf sich warten lassen.

Dieses Elend quälte seinen Verstand erneut in die Knie.

»Verzeih mir ...«, murmelte er benebelt, als er das goldene Papier in der kleinen Kinderhand entdeckte, welches sie zu schützen versucht hatte.

Fest an sich gedrückt, war es ihr Leuchten im Anblick des Sterbens gewesen.

Ergeben von Kummer und grenzenloser Trauer überließ er sich erneut der Ohnmacht.

3 – Beißender Schmerz, feuchte Schnauze

Eine Laterne flackerte erschöpft in den letzten Zügen ihrer Existenz und spendete etwas Licht in dieser erdrückenden Dunkelheit.

Ein Zeitgefühl besaß Jaro nicht mehr, zu oft gingen die Wärter ein und aus, warfen ein Stück trockenes Mantou, eine Art Dampfgebäck, durch die Gitterspalten. Es häuften sich die vertrockneten Lebensmittel in seiner Zelle.

Er hatte schlichtweg keine Kraft, die Hände nach dem Gebäck auszustrecken. Zu sehr riss der Schmerz des gebrochenen Armes ihn in kleine Teile.

Sein Hungergefühl hatte sich ebenso verselbstständigt und ihn verlassen.

Es war nur noch ein wenig seines Selbsterhaltungstriebes vorhanden, welcher ihm in dieser schweren Zeit beistand. Von den schlimmsten Träumen geplagt, schüttelte ihn ein starker Husten. Es waren kaum noch Menschen in den anderen Zellen zu hören.

Der Kerker musste unter der Erde sein, denn er war aus purem Stein und an der Wand perlten einige Tropfen einer Quelle ab.

Er machte das seichte Licht der Laterne aus und richtete sein Blick in diese Richtung. Fliegen schwirrten umher, Mücken taten es ihnen gleich. Das leise Rascheln von Mäusen im Stroh durchsickerte diese tonnenschwere Stille.

Tränen quollen aus seinen Augen bei der Erinnerung an all das Leid, welches ihm seither widerfahren war.

Er hätte in diesem See ertrinken sollen. Er hätte nicht überleben dürfen, nur um den Tod auf die lange Bank zu schieben. Er ereilte ihn nun umso fordernder.

»Das ist doch gegen die Vorschriften!«, prustete eine männliche, krächzende Stimme.

Jaro erkannte sie sofort, denn dieser Wachmann stand öfter vor dem Kerkereingang.

Wie konnte er ein solch hämisches Gelächter vergessen? Er mochte nicht viel mitbekommen haben, aber ausreichend, um zu wissen, welch einen üblen Charakter dieser Mensch besaß.

Innerlich sträubte er sich bei dem Gedanken an die Worte aus seinem Mund. Wenn seine Frau nur wüsste, was er einigen der gefangenen Frauen hier antat, würde sie ihn je wieder in ihr Gemach lassen? Dürfte er ihr je wieder beiwohnen?

»Befehlshaber Tang! Schauen Sie doch! Was sollen wir tun?«, grunzte der Mann, dessen Name wohl so wenig Bedeutung hatte, dass der Befehlshaber ihn nicht mit diesem ansprach.

»Es scheint mir so, als seien Sie überfordert? Ist es nicht Ihre Aufgabe, dass solche Dinge nicht geschehen?«, knurrte der Befehlshaber Tang schon förmlich, aber immer noch mit einem so hochnäsigen Ton, dass sich bei seiner Stimmlage Jaros Faust ballte, bis die Knöchel weiß hervortraten.

Sein Kiefer spannte sich an, bereit etwas zu sagen, was er sicher bereuen würde, als er zwei pelzige Pfoten erblickte. Schwarz und glänzend im Licht der letzten Laternenstrahlen.

Riesige Pranken raubten ihm den Atem und machten ihm klar, wie verrückt er geworden sein musste.

Seine Atmung setzte aus und fing sich wieder nur um eine Gelegenheit später kläglich zu versagen.

»Schaut, werter Befehlshaber Tang! Sie ist stehen geblieben!«, gab der lausige Wärter von sich und deutete auf die pelzigen Pfoten.

»Worauf warten Sie noch? Muss ich Ihnen alles kleinlichst auftragen, oder schaffen Sie es, die Zelle zu öffnen, damit sie fressen kann?«, gab der straffe Mann mit einem äußerst sadistischen Tonfall von sich.

Die Vorfreude tanzte ein Solo in seiner Stimme.

Kurz weiteten sich die Augen des Wärters, als er schon die Schnalle seines Gurtes ertastete, an dem ein dicker, rostiger Schlüsselbund pendelte.

»Jawohl, ehrenwerter Meister Tang.«

Jaro vernahm all diese Dinge in einer Trance, die er kaum in Worte fassen konnte. Weich und schwebend.

Gefressen werden? Von was? Einem Bären? Einem anderen Menschen...?

Er traute diesen Missgestalten all diese Dinge zu, als die Schlüssel bereits im Schloss drehten und klackten. Schweiß rann seine Stirn in dicken Rinnsalen hinab, versickerte in seinen Wunden. Es brannte höllisch.

Er verlor bei jeder verstrichenen Sekunde mehr an Selbstbeherrschung.

Alles schien schnell, aber auch quälend langsam zu passieren.

Der Schmerz und die Angst präsent und doch so weit entfernt, dass er sie weder greifen noch besiegen konnte.

»Nun gut, dann wollen wir die Dame nicht beim Fressen stören.«

»So soll es sein«, erwiderte der Mann ergeben und schloss sich dem Verlassen des Kerkers an.

Das Blut pumpte so stark gegen seine Venen, dass er glaubte, sie würden bersten und er würde eine riesige Pfütze hinterlassen. Das Rauschen in seinen Ohren flüsterte ihm leise zu, dass er in Gefahr war und doch versagte jede Zelle seines Körpers und gehorchte ihm nicht.

Taub und sich der Realität verweigernd, presste er endlich etwas Sauerstoff in seine Lungen, als er nun das gesamte Tier vor sich sah. Majestätisch, mystisch und surreal.

Vor ihm schlich ein schwarzes Tier, groß, elegant und erschreckend leise. Wenn Jaro es nicht mit eigenen Augen sehen würde, so könnte er nicht glauben, was vor ihm saß.

»Ein Jaguar...?«, keuchte er dem schwarzen Ungetüm entgegen, welches vor ihm her schlich und seine Schnauze vorsichtig näherte.

Sollte es das gewesen sein? Sollte er von dieser riesigen Raubkatze zerfetzt werden? War ein Menschenleben so schnell verbraucht? Wer hielt sich ein solches Biest? Entsorgte man so Gefangene?

Der Kopf verstand nicht, was die Augen erblickten.

Die Berührung mit dem Raubtier stand kurz bevor, als er sich schon der Ermüdung seines gebrechlichen Körpers hingeben wollte. Zu viele Dinge, Schläge und Krankheiten hatte er ausgehalten.

Ein rasselnder Ton ließ ihn in sich zusammenfahren, als die für ihn überraschend feuchte Schnauze seine Handfläche berührte.

Er kniff die Augen zusammen, dem Schmerz entgegenkommend, wenn sie ihre scharfen Zähne in sein Fleisch bohrte. Er wartete vergebens. Der Schmerz blieb aus.

Die Bestie biss nicht zu. Sie schnüffelte interessiert an ihm, seinen Haaren und seiner dreckigen Kleidung. Jeden Millimeter liebkoste die feine Nase.

Jaro ertrug dieses schwere Gefühl kaum noch, schwebend zwischen Angst und Freude. Der Tod bedeutete das Beenden allen Übels, aber auch das Ende aller Erinnerungen an die wenigen Momente mit Clanführer Hui. An die Zeiten, an denen es sich nicht wie ein schweres Verbrechen anfühlte zu existieren. Sorglos frei wie ein Vogel zu sein.

Das Gurgeln des Tieres wurde stärker, der Druck auf seiner Brust ebenso. Die Wildkatze hatte sich blindlings über ihn gelegt und die Pfoten prangten demonstrativ auf seinem Oberkörper. Es war nur ein kurzer Augenblick, das Flackern des Lichtes. Dann trafen sich die jadegrünen Augen mit den seinigen fremdartigen Blauen.

Die Zeit stand still. Die Angst wich, unerklärliches Vertrauen wuchs in seiner Brust heran.

Das Band des Schicksals knüpfte sich in diesem zaghaften Schreckensmoment mit nur einem einzigen Blick.

Die Wärme ihres Körpers durchfuhr den Jüngling und schmolz das Eis in seinen Füßen hinfort.

Nur den riesigen Froststurm in seiner Brust vermochte die Hitze des Tieres nicht zu beseitigen.

Jaro ergab sich der Schwere des Tieres und der Müdigkeit. Sollte sie ihn fressen, wenn das sein einziger Verwendungszweck war.

Erschöpft und unterbewusst streckte er die rechte Hand nach der Katze aus, worauf ein tiefes Knurren seine schimmelige Zelle erhellte.

Seine Knochen bebten regelrecht von dem Geräusch, doch er gab nicht nach. Er ließ seine Handfläche über die samtigen Ohren gleiten, bis hin zur Schnauze. Seine Fingerspitzen verweilten zwischen den Jadeaugen, bis er müde dem Wiegenlied des Schlafes folgte.

4 – Wie Platzregen in seiner Seele

»Hochverehrter zweiter Sohn Li Wang, es gibt Schwierigkeiten mit ihrem weiblichen Begleiter«, stammelte ein Bediensteter vor sich her und deutete mit dem Gesicht zu dem leeren Fleck neben dem stählernen Thron.

Seine Stimme glich mehr einem Flüstern, so leise und eingeschüchtert klangen seine Worte. Aber würde es jemandem wundern, wenn man wusste, wozu Li Wang in der Lage war, wenn man ihn reizte? Da vermochte es jeden in Angst und Schrecken zu versetzen.

»Wozu habe ich einen Haufen Versager, wie Ihr es seid, wenn ich mich doch selbst um jedes Anliegen kümmern muss?«, murrte er den Bediensteten mit finsterer Miene an.

Der arme Kerl schluckte bitter aus Furcht, man würde seine Überreste vom Boden kratzen müssen, für den Fall das überhaupt ausreichend von ihm übrig blieb.

Dunkle Nebelschwaden durchzogen den Körper des Mannes, dessen Haar bedrohlich zu seinen Schritten wippte, als er sich erhob.

»Mein Versagen ist nicht zu entschuldigen, gnädiger Herr!«, wisperte der Diener, welcher sein ganzes Leben bereits an ihm vorbeiziehen sah.

»Das ist richtig.«

Er wank ihn mit einer eleganten Bewegung ab, damit er sich selbst ein Bild von dieser nervigen Situation machen konnte.

Der Kultist schien frustriert, denn noch immer gab es kein weiteres Gerücht, Fährte oder Zeugen, die ihm einen dieser Splitter beschaffen konnten.

Er war es nicht gewohnt, solange an einer einzigen Sache arbeiten zu müssen, vor allem nicht, wenn sein Vater ihm im Nacken saß, wie eine läufige Hündin.

Er seufzte darauf wartend, dass der Diener nun endlich erklärte, warum er es sich erdreistete, in sein Sichtfeld zu gelangen. Mutig oder Lebensmüde? Li Wang wusste es nicht.

»Euer Jaguar, mein Herr, wie soll ich es sagen ...«, stoppte er und griff sich verzweifelt nach Worte ringend an den Hinterkopf.

»Wie wäre es mit den Tatsachen und zwar zügig?«, befahl der Rabenprinz bissig.

Ergeben verbeugte sich der Diener und fuhr fort.

»Sie kommt nicht mehr aus den Kerkern.«

Nun schien er sichtlich überrascht, denn normalerweise trieb sie sich nicht an solchen Orten herum, wie dieses Loch, in dem Ratten und das Gesindel hausten.

»Sie weigert sich seit einigen Tagen zu fressen und weicht nicht von der Seite dieser Frau.«

»Einer Frau?«, hakte Li Wang skeptisch nach. Er wusste nichts von einer Frau.

Dies konnte nur das Werk seines geistesgestörten Erzeugers sein.

Nickend schob der Diener sich zur Seite und machte seinem Herren den Weg frei, da dieser sich bereits auf den Pfad zu den Verliesen befand.

Für Li Wang ergab das dumme Geschwätz keinen Sinn, denn er kannte seine Begleiterin schon zwei Jahre und bisher duldete sie niemanden in seiner Nähe, vor allem keine Frauen. Aus welchem Grund sollte sie diese Ansicht nun ändern?

Es versprach interessant zu werden und zudem erlöste ihn diese Abwechslung von seinem Dasein als König der Verkommenheit.

Sein schwarzes Gewand saß perfekt an seinem robusten Körper, die goldenen Stickereien verzierten dieses Kunstwerk. Sein Haar, akkurat zu einem Zopf gebunden, welcher durch eine Haarnadel samt Kopfschmuck perfekt hielt und dem Ganzen die Krone aufsetzte. Nicht umsonst genoss er den Ruf, der schönste Teufel dieser Welt zu sein.

Sein Lederbesatz der Schärpe strahlte inmitten des ganzen goldenen Garnes der Muster. Sein Gewand ließ sich von seiner dunklen Aura tragen und schwebte in kleinen Abständen vor seinem Körper. Er wirkte wie ein Gott – ein Todesgott.

Erhaben setzte er seinen Weg durch die Thronhalle Xuè Shān's fort, gefolgt von den unzähligen Kammern der Dirnen seines Vaters. Widerlich.

Überall roch es nach Lust und Verdorbenheit.

Ihm wurde förmlich schlecht. Wie konnte man noch übler aussehen, wenn es um den Bezug auf den eigenen Charakter ging, als er? Sein Erzeuger schaffte es um Längen. Wie konnte er so schäbig das Andenken seiner Mutter beschämen?

Er würde sich aufregen, wenn er nur noch einen Moment weiter darüber nachdachte und in der Regel endete dies nicht zum Vorteil seiner Stellung.

Nicht, dass er sich besonders viel aus diesem Chaos an Bestimmungen und Vorschriften machte, aber die Bequemlichkeit, die ein solches Leben an einem solchen Ort bedeute, durfte man nicht außer Acht lassen.

Elegant wusch er sich eine seiner Strähnen, welche den zaghaften Schwingen seiner Aura erlagen, hinters Ohr.

Seine Präsenz war einnehmend und für Diener, die sich dessen nicht bewusst waren, erdrückend. Er betäubte mit nur einem Blick die Seelen, zerschmetterte Knochen und ließ das Blut kochen, wann immer ihm danach war. Li Wang war Perfektion.

Die dicken, schwarzen Schwaden strömten aus jede seiner Poren und schlängelten sich um die langen Fingernägel, den schlanken Hals und die tiefschwarzen Wimpern. Sein herrlicher Duft nach Alkohol, Räucherstäbchen und Teeblättern verzückte jeden noch so resistenten Geruchssinn. Dennoch fühlte er sich nicht komplett.

In ihm wuchs ein Loch, welches er trotz seiner erhabenen Schönheit nicht zu stopfen wusste, und dies stimmte ihn zornig. Rastlos. Wenn er es verglich, dann mit einem Blinden, dem man versuchte zu erklären, in welchen Farben ein Feld voller Frühlingsblumen blühte.

Heimweh nach einem Ort, den es nicht zu geben schien.

Endlich am Eingang des Tores zum Verlies angekommen, erklomm ihn der vertraute Geruch des Todes. Fest umklammerte er ihn, wie ein weinendes Kind die Brust der Mutter.

»Hier ist sie, ihre Begleiterin, mein Herr!«, murmelte der Diener, dessen Existenz auf des Schwertes Schneide stand.

Bückend, mehr kniend wies er Li Wang mit seiner ungepflegten Hand in einer ruppigen, zögernden Bewegung den Weg.

Noch immer schwang die Panik in seinen Augen umher und gab ihn nicht frei. Schweiß rann seine Stirn in dicken Perlen hinab.

»Licht«, befahl Li Wang knapp.

Sofort zündete der Oberbefehlshaber, welcher hastig dazu geeilt war, eine neue Laterne an, dessen öliger Geruch tief in den Felswänden verankert war. Es roch wie verbranntes Leder. Ekelerregend.

»Seht selbst, mein Herr. Überzeugt euch mit eigenen Augen von ihrem Verhalten«, wagte sich Meister Tang zu Wort, brüchig und untertänigst.

Li Wang wies ihn zum Schweigen mit einem kühlen Seitenblick und gab ihm so zu verstehen, dass er genug gesprochen hatte und es nun besser für sein Wohl war, wenn er schwieg.

Einen letzten Schritt trennte ihn nun von der vermeintlichen Frau. Diesen überbrückte er federleicht, kaum hörbar. Er hielt inne, als ein wildes Fauchen und Knurren durch die Gitterstäbe gelang.

Ungewöhnlich für sie.

Er fürchtete sich nicht vor ihr, aber er wusste gut genug, dass mit ihr nicht zu spaßen war, wenn die junge Jaguardame ihre Krallen ausfuhr. Sie besaß eine ruhige, gehorsame Natur. Irgendetwas passte ihr so gar nicht in den Kram und verärgerte seine 'Kleine'.

»Seien Sie achtsam!«, keuchte der Diener besorgt.

Das würde er nur einen Herzschlag später zutiefst bereuen. Niemand wagte es, ihm einen Befehl zu geben. Niemand.

Ein einziger Blick reichte, um ihn in wenigen Sekunden zu Staub zerfallen zu lassen.

Meister Tang schluckte, obwohl er das Gemüt des Thronerbens kannte. Es schockte ihn immer wieder, wie erbarmungslos sein Herr war.

Die schwarze Jaguardame schirmte die vermeintliche Frau vor seinem Blick ab, sodass er trotz des Protestes ihrerseits einen Schritt auf sie zuging. Li Wang erlebte zum ersten Mal, dass sie es wagte, ihn zu bedrohen. Ihre jadefarbenen Augen eng zu Schlitzen geformt, scharb sie mit ihren Krallen über den Steinboden.

»Was hast du da?«, sprach der Meisterkultist sie nun ruhig an.

Nicht sicher, ob die Person hinter der Raubkatze noch lebte, streckte er seine Hand nach ihr aus.

Einen kurzen Moment wirkte es so, als würde sie nach ihm schnappen, doch das war auch für sie zu viel des Guten. Nach einem beschwichtigenden Streicheln erhob sie sich und machte Platz.

Es roch übel. Fast hätte er angewidert den Kopf abgewandt, als er die weißen Haarspitzen und den dazugehörigen Umhang erkannte.

Er stockte. Sein Gehirn arbeitete im Akkord.

»Du schon wieder?«, flüsterte er in die seichte Dunkelheit.

Li Wang beugte sich hinunter und rieb etwas des Haares aus den Wunden. Irgendwo darunter befand sich das Gesicht. Er brauchte nicht lang, bis er wusste, wer dieser halbtote Jüngling war.

Mit den langen Haaren könnte man ihn wirklich für eine Frau halten, doch die leichte Ausbeulung des Stoffes in der Höhe seines Schoßes widerlegte diese Erscheinung.

Seine Hand fuhr über den schmutzigen, mehr grauen als weißen Stoff. Eilig umspielten seine Fingerkuppen das schmale Kinn des Jünglings.

Li Wang spürte noch immer die Wärme seiner Jaguardame, welche ihn mit Adleraugen beäugte und nicht bereit war, ihre Krallen ruhen zu lassen.

Wie kam er hierher? Er würde es herausfinden, dies wäre nur eine Frage der Zeit, aber es schockierte ihn, in welch desolatem Zustand der Junge vor ihm war. Blutergüsse an den Kieferknochen, ein zertrümmertes Schlüsselbein und übel riechende Eiterwunden an seiner Stirn. Dürr und ausgemergelt.

Der Arm wirkte seltsam verdreht. So hatte er ihn das letzte Mal nicht zurückgelassen.

Er bemerkte die vielen vertrockneten Gebäcke, die unberührt vor sich her gammelten. Ratten fraßen kleine Löcher hinein.

Es geschah etwas, dessen er sich zum Zeitpunkt des Geschehens nicht bewusst war. Das Loch in seinem Inneren weitete sich, zog an seinem Gemüt. Er kannte dieses Empfinden nicht, dass ihm so bitter bekam wie der Salbeitee, den er nicht einmal seinen Feinden geben würde. Fast würgte er.

Seine Magengegend drehte sich und es rumpelte darin bitterböse. War Li Wang krank? Unwahrscheinlich. Jemand wie er mit einer ewigen Existenzberechtigung in der Welt würde nicht erkranken.

»Überlassen wir sie ihrem Schicksal ehrenwerter zweiter Sohn?«, lautete die Frage des Meister Tangs, welcher sich der Gefahr nicht bewusst war, in der er mit jedem weiteren Wort schwebte.

Als sein Untergebener einen Schritt auf Jaro zuging, sprang eine riesige schwarze Gestalt auf und brüllte warnend bereit, ihn in seine Bestandteile zu zerlegen. Ehrfürchtig und panisch trat er zurück.

»Bring mir die Kammerzofe Song Ai. Sie soll ihn versorgen.«

Dieser Befehl kam wie gelegen, um sich schnellstmöglich aus dem Staub zu machen und so nickte Meister Tang ergeben und verschwand in den schwachen Strahlen des Lichts.

Erlösend schnappte er hastig nach Luft, als er endlich das moderige Rattenloch eines Gefängnisses hinter sich ließ. Er würde einen Morgen erleben, zumindest wenn er nicht töricht genug war, Li Wang erneut unter die Augen zu treten.

Augenblicklich beruhigte sich seine Begleiterin und gesellte sich zu ihrem Kitten, welches sie selbst vor ihrem Herren beschützte.

5 – Gebrochene Flügel

Woche um Woche verzog sich der Mond vom Himmel und gab der Sonne den Vortritt, nur um sie dann erneut abzulösen.

Li Wang wusste nicht genau, wie lange Jaro schon in einem solchen Zustand gewesen war, aber er musste sicher schlimme Schmerzen durchgestanden haben.

Noch immer beherbergte sein Geruchsinn den eitrigen, süßen Geruch von den faulenden Wunden des Jünglings. Was ihm an dieser misslichen Lage jedoch am meisten Kummer bereitete, war die Tatsache, dass ihm ganz übel und mulmig wurde mit jedem Tag, an dem er nicht aufwachte.

Wenn es nach ihm ginge, würde er den Gedanken an dieses unvernünftige Kind einfach über den Horizont seines mentalen Empfindens werfen. Ihm war es suspekt und lästig.

Die Sonne schien ihre ersten Strahlen auf das wenige Grün, welches dieses Anwesen bewohnte. Diese Gedanken an seine Kindheit in diesem etwas abgelegenen Teil des Ortes Xuè Shān, wühlten wie Maden in seinem Herzen und fraßen kleine Löcher hinein. Es war so viel Zeit vergangen und dennoch trieb ihn die bloße Erinnerung daran eine Flut an Gefühlen durch den Körper. Still und an seinem Inneren zerrend für sich allein. Immerhin war es hier sicher, zumindest sicherer als im Hauptanwesen.

Li Wang saß in einer Baumkrone nicht weit von dem hölzernen Aufstieg zu dem kleinen Zimmer, in dem Jaro noch immer schlief. Tief und fest, nur schmerzverzerrte Laute und Tränen zeugten von dem Leben, welches in ihm innewohnte.

Zumindest den Schmerz in dessen stöhnenden Geräuschen, wann immer es donnerte oder einen lauten Knall gab, konnte man nicht überhören.

Man schmeckte und roch diese Gefühle förmlich. Es war zum verrückt werden.

»Oh! Wie wunderbar! Ihr seid endlich wach, werter Herr!«, japste Li Wangs Dienerin Song Ai durch die dünne Schiebetür, welche ihn von dem kleinen Garten trennte.

Kurz machte der Kultist Anstalten, seinen Platz inmitten des prächtigen Baumes zu verlassen, doch er besann sich zur Vernunft! Was war nur mit ihm los?

Da bemerkte er, wie der kleine Beutel auf das kränkelnde Husten des Jungen reagierte.

Es leuchtete schwach durch den schwarzen Seidenstoff und pulsierte leicht, sodass der Rabenprinz nicht anders konnte und den Inhalt hinauszog. Es wurde nur immer mysteriöser und verzwickter. Wieso sollte ein Teil des Kristalls auf die Stimme des Kindes reagieren? Der Kristall war doch so viel älter als der Knirps.

Er beäugte den ungetrübten Stein in seiner Hand und er pulsierte noch immer, bis er nach den ersten Worten des Jungen erlosch. Ihm fehlte jegliche Erklärung für dieses Spektakel, aber er würde es herausfinden, denn er hatte mehr als nur eine Lebensspanne.

»Fass mich nicht an!«, entkam es Jaro taumelnd, der sich kaum aufsetzen, geschweige denn wehren konnte.

Li Wang lauschte dem Tumult und kam noch immer nicht davon ab, dieses Kind für absolut unfähig zu halten. Man rettete ihm das Leben und das war der Dank?

Er schob dieses Verhalten auf das Menschsein.

»Verzeihen Sie! Aber sehen Sie her, ich trage Handschuhe, damit Ihre Wunden nicht infiziert werden. Ich berühre diesen Körper nur indirekt und ohne Sie zu belästigen, mein Herr«, verteidigte sich die Dienerin in ihrem blutroten Gewand.

Allgemein schien alles in Schwarz und Dunkelbraun gehalten zu sein. Sehr düster und weniger einladend. Jaro atmete durch und ließ vollkommen verwirrt seine Seelenspiegel durch den Raum gleiten. Plötzlich wurde ihm bewusst, was zu seinen Füßen lag.

»Du?«

»Ja, mein Heer, sie ist Euch nicht von der Seite gewichen, wie ein Muttertier, welches ihre Kitten bewacht!«, scherzte die schöne Brünette und lachte heiter, worauf sich Jaro wieder zurück ins Kissen drücken ließ.

»Nenne mich bitte einfach nur Jaro.«

»Es ist mir eine wirklich große Ehre, Jaro!«, erwiderte sie mit einem breiten Lächeln auf ihren schmalen Lippen.

»Und, wie heißt sie?«, hakte der Verletzte nach, während unbewusst seine Hand die feuchte Schnauze des Jaguars umfasste und streichelte.

»Sie? Sie hat keinen ...«, erklärte sie und stemmte die Hände in die Hüfte, als er sich erneut aufsetzte.

»Weshalb hat sie denn keinen?«

Song Ai reichte ihm eine Tasse warmen Tee und achtete peinlich genau auf ihre Handschuhe. Nicht selten gab es schwere Bestrafungen, wenn man die Befehle eines Li Wangs missachtete. Sie hinterfragte nicht die wahren Gründe dieser Handbedeckung, aber sie wusste, dass es einen haben würde. Schließlich hatte ihr Meister so vehement darauf bestanden, dass sie ihn nicht berühren dürfe.

»Sie ist eine Waise. Weshalb sollte sie einen Namen haben?«

Das traf, wo es nur treffen konnte.

Sein Blick trübte sich und er schob noch immer die Hand auf dem Kopf des Jaguars auf und ab.

Während Song Ai die kleine Schiebetür aufmachte, damit die warmen Strahlen der Sonne hineinscheinen konnten, schnurrte die Wildkatze entspannt und bettete ihr Haupt auf den Beinen des Jungen.

»Mailin.«

»Wie bitte?«, schien die Dienerin nicht zu verstehen, dass es von nun an ihr Name war.

»Ihr Name. Ich gebe ihr einen. Nur weil sie niemanden mehr hat, bedeutet dies nicht, dass sie nicht existiert. Sie ist doch hier, sie atmet und beobachtet uns. Mailin.«

Song Ai schien verblüfft, aber setzte sich zu den beiden auf ein kleines, hölzernes Bänkchen.

»Er gefällt ihr! Schau, wie sie dir vertraut! Normalerweise würde Mailin niemals gegen ihren Herren agieren, doch dich verteidigte sie, obwohl sie bei einem Kampf verlieren und somit ein Ende finden würde.«

Jaro hatte viele Fragen, aber war sich nicht sicher, ob er bereit für die Antworten war.

Als könnte die Dienerin seine Gedanken lesen, versicherte sie ihm, dass all seine Fragen zu einem Zeitpunkt aufgeklärt werden würden, wenn er am wenigsten damit rechnete.

Sein Arm schmerzte und seine Lippen waren so spröde und trocken.

»Trink!«, flüsterte die junge Frau und hielt ihm ein Schälchen mit übelduftenden Inhalt unter die Nase.

Mailin rümpfte die Nase. Jaro schien ebenso skeptisch und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die den Rabenprinzen fast zum Schmunzeln brachte.

Er konnte durch das Öffnen der Schiebetür einen guten Blick auf das Geschehen werfen.

Das weiße Haar glänzte und lag offen neben dem zierlichen Körper des Jungen, welcher würgte, nachdem er das Schälchen leer trank.

Er hustete und Li Wang lachte innerlich schadenfroh auf, denn er wusste, dass es widerlich schmeckte. Ein Rezept seiner Mutter, wann immer er erkrankt war.

»Was ist das?!«, röchelte Jaro, der nicht begriff, dass es zu seinem Besten war und die Dienerin keine bösen Absichten hatte.

»Nach was sieht es denn aus?«

»Ich hoffe, es ist keine ehrliche Antwort gewollt ...«, murmelte er sich den Rest aus dem Mundraum spülend.

»Es ist Kastanienwurzel.«

»Schmeckt mehr nach vergammeltem Kompost!«, verteidigte sich Jaro, der sich noch einmal schüttelte, bevor er sich von der viel zu teuer aussehenden Decke befreite und seine Beine Richtung Freiheit schob. Erlösend seufzte er.

Wieder musterte er den Stoff seiner Kleidung. Er war sich sicher, dass es jemandem gehörte, der seiner Statur glich. Es saß wie auf den Leib geschneidert. Das Wickelgewand schimmerte grau, silbern und die kleinen Stickereien am Kragen sowie auf der Schärpe wirkten verspielt, aber edel. Das Gewand schloss gute fünf Zentimeter über seinem Knöchel ab, sodass man die Strümpfe deutlich sah. Strahlend weiß.

Er zog sie sich mit dem ungeschienten Arm aus.

Jaro liebte es, die kleinen Dinge dieser Erde unter seinen Füßen zu spüren. Jeden Stein, der sich in seine zarte Haut bohrte und jeder noch so robuste Grashalm, wie er unter dem Gewicht des Jungen nachgab. Der weiche Sand, wie er zwischen seinen Zehen kitzelte und die Fersen weich machte.

Li Wang kniff die Augen scharf zusammen, als er den hilflosen Menschen sah, wie er sich über den Holzboden zog, nur um der Sonne seine hellen Augen entgegenzustrecken.