The Ruby Circle (3). All unsere Wahrheiten - Jana Hoch - E-Book

The Ruby Circle (3). All unsere Wahrheiten E-Book

Jana Hoch

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Beschreibung

Das fulminante Finale der SPIEGEL-Bestseller-Reihe rund um die Highclare Academy für alle Fans von Romance- und Dark-Academia ab 14 Jahren. So düster, gefährlich und romantisch wie nie zuvor. Nachdem sich Louisa Theos dunkelstem Geheimnis stellen musste, bleibt nichts wie vorher. Sie kann nicht glauben, was der Master nach der Challenge am See öffentlich gemacht hat. Um die Wahrheit herauszufinden, beschließt Louisa, mit Annie zu sprechen – der einzigen Person, die ihr sagen kann, was wirklich passiert ist. Doch auch der Master hat ein Interesse an Annie. Er treibt sein perfides Spiel weiter und setzt dem Ruby Circle eine Frist: Wenn Annie nicht innerhalb weniger Wochen gefunden wird, wird er alle Geheimnisse der Highclare Academy hochgehen lassen. Als dann auch noch Theo wiederauftaucht, weiß Louisa gar nicht mehr, was sie tun soll. Kann sie es wagen, ihm noch einmal zu vertrauen, und vor allem: Werden ihre Gefühle für Theo der Wahrheit standhalten können? Weitere Bücher von Jana Hoch: The Ruby Circle (1). All unsere Geheimnisse The Ruby Circle (2). All unsere Lügen Royal Horses (1). Kronenherz Royal Horses (2). Kronentraum Royal Horses (3). Kronennacht Dancing with Raven. Unser wildes Herz Weitere Infos zur SPIEGEL-Bestseller Autorin unter jana-hoch.de oder auf Instagram + TikTok unter @janahoch.autorin.

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Seitenzahl: 503

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TheRubyCircle. All unsere Geheimnisse

TheRubyCircle. All unsere Lügen

Royal Horses. Kronenherz

Royal Horses. Kronentraum

Royal Horses. Kronennacht

Dancing with Raven. Unser wildes Herz

© Tanja Saturno

Jana Hoch wurde 1992 in Hannover geboren und lebt heute immer noch in der Nähe der Stadt. Seit frühester Kindheit hat es sie begeistert, eigene Welten und Charaktere zu entwickeln und diese auf Papier festzuhalten. Die Pferdetrainerin nutzt jede freie Minute zum Schreiben – der perfekte Tag beginnt für sie bei Sonnenaufgang, mit dem Laptop auf dem Schoß und einer Tasse Kakao, und endet auf dem Rücken ihres Pferdes Jamie.

Mehr Infos unter www.jana-hoch.de und auf

Instagram und TikTok unter @janahoch.autorin

HINWEIS

Dieses Buch kann sensible Themen enthalten.Weitere Informationen dazu am Ende des Buches.(Achtung: Diese Hinweise enthalten Spoiler!)

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

1. Auflage 2024

© 2024 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten.

Der Verlag behält sich eine Nutzung des Werkes für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Text: Jana Hoch

Cover und Innenillustrationen: Clara VathBeigelegte Illustration: Courtney Fricke, @courtmakes_art

E-ISBN 978-3-401-81094-2

Besuche uns auf:www.arena-verlag.de

@arena_verlag

@arena_verlag_kids

Für Lynn!Als Erinnerung an einenganz besonderen Tag <3

HAVERTON HOUSE

»Strebe nach Großem«

HavertonHouse ist der Teil des RubyCircles, dem wohl die reichsten und berühmtesten Mitglieder der HighclareAcademy angehören. Das luxuriöse Anwesen lässt keine Wünsche offen, doch hinter den Mauern gibt es auch viele Konkurrenzkämpfe, Intrigen und Geheimnisse.

BELMONT HOUSE

»Ehre, Pflicht, Weisheit«

Wer Mitglied im BelmontHouse ist, kann sich einer leuchtenden Zukunft gewiss sein. Hier wird großer Wert auf Fleiß, Ehrgeiz und Leistung gelegt, doch wer dem nicht gerecht wird, kann alles wieder verlieren.

SIR ARCHER REMINGTON

»Ewig treu, ewig verbunden«

SirArcherRemington bleibt sowohl in Sachen Größe als auch Luxus hinter den beiden anderen Häusern der HighclareAcademy zurück. Doch seine Mitglieder präsentieren sich als empathisch, offenherzig und tolerant. Stipendiaten werden hier gern gesehen, weswegen die anderen Häuser oft abfällig auf SirArcher herabblicken.

PROLOG

Eineinhalb Jahre zuvor

Theos Schläfen pochten. Er blinzelte, aber seine Lider fühlten sich so schwer an, dass sie gleich wieder zufielen. Er drehte sich zur Seite. Ein Fehler. Sofort schoss ihm ein stechender Schmerz in den Kopf. Theo fluchte leise, wartete, bis das Dröhnen langsam abebbte, und zwang sich dann, die Augen zu öffnen. Es dauerte einen Moment, bis sich sein Sichtfeld vollends scharf stellte. Der Wecker zeigte bereits kurz nach zwei Uhr nachmittags. Shit. Die Party gestern Abend musste wirklich heftig gewesen sein. Er versuchte, sich daran zu erinnern. Daran, wann er nach Hause gekommen war. Aber da war nichts, nur Schwärze in seinen Gedanken. Der letzte Abend und die ganze Nacht waren wie ausgelöscht, verborgen hinter einer Wand aus dichten Nebelschwaden. Hölle, was um alles in der Welt hatte er denn bitte eingeworfen? Alkohol konnte jedenfalls nicht für diesen Zustand verantwortlich sein, denn er wusste, wie er sich fühlte, wenn er zu viel trank. Und das hier war eindeutig schlimmer.

Theo schloss die Augen, presste sich die Handflächen aufs Gesicht und konzentrierte sich darauf zu atmen. Es dauerte einen Moment, doch schließlich wurde der Kopfschmerz schwächer und es gelang ihm, sich aufzusetzen und sich umzusehen: graue Wände, Schwarz-Weiß-Fotografien und Kohlezeichnungen an den Wänden. Eindeutig sein Zimmer in HavertonHouse. Wenigstens das. Er musste also schon mal nicht herausfinden, wo er war. Eine Sekunde lang empfand er fast so etwas wie Erleichterung. Zumindest so lange, bis er seine Decke hochzog, die halb aus dem Bett heraushing.

O nein, bitte nicht. Selbst halb im Delirium erkannte er sofort, was vor ihm auf dem Boden lag. Ein schwarzer Slip aus Spitze. Auch das noch. Er hatte sich also auf dem Gründerball nicht nur abgeschossen, sondern auch ein Mädchen abgeschleppt – keine Ahnung, wen. Absolut betrunkener Sex. Na toll. Sofort fühlte er sich wie ein totales Arschloch. Das war wirklich gar nicht seine Art und dafür würde er sich später entschuldigen. Nur … musste er zuvor herausfinden, bei wem. Leichter gesagt als getan, denn aktuell konnte er sich nicht einmal daran erinnern, überhaupt jemanden mit auf sein Zimmer genommen zu haben. Geschweige denn daran, wie er überhaupt in sein Zimmer gekommen war.

Theo ließ seinen Blick über den Boden gleiten, über die funkelnden High Heels, die neben einem der Sessel lagen, bis zu dem dunklen BH, keinen Meter davon entfernt. Er lauschte, ob er jemanden im Bad hören konnte, aber da war nichts. Kein Geräusch. Wer auch immer in der vergangenen Nacht bei ihm gewesen war, war nicht mehr hier. Ein paar Minuten lang saß er einfach nur da, gegen das Kopfteil seines Bettes gelehnt.

Ganz allmählich kamen einzelne Erinnerungsfetzen zurück. Er war auf dem Gründerball gewesen, zusammen mit seinen Freunden: Bellamy, Eden, Grayson. Und Annie. Auch Atlas war dabei gewesen. Eden hatte die ganze Zeit erzählt, wie legendär die Ferien werden würden, die er mit der Verlobten seines Dads auf einem Anwesen in Marokko verbringen und dabei seine Stiefschwester in spe kennenlernen würde – er hatte keine Zweifel daran gelassen, wie gut er sie kennenlernen wollte. Theo schüttelte den Kopf, bereute es aber gleich darauf und unterdrückte ein Stöhnen. Ganz blöde Idee. Er biss die Zähne zusammen, zählte innerlich bis zehn und schwang dann in Zeitlupe und darauf bedacht, ja keine falsche Bewegung zu machen, die Beine aus dem Bett. Als er sich vorbeugte und langsam Gewicht auf seine Füße brachte, wurde ihm kurz schwarz vor Augen und er musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen.

Fuck. Was für ein verdammtes Teufelszeug hatten seine Freunde da angeschleppt? Und was viel wichtiger war: Warum hatte er es genommen? Er verabscheute Drogen und jedes Mal, wenn Eden oder Grayson welche organisierten, um eine Party aufzumischen, lehnte er ab. Die Kontrolle zu verlieren und später nicht mehr zu wissen, was er getan hatte, war sein persönlicher Albtraum. Ein Albtraum, der nun Realität geworden war.

Immer noch benommen, wankte er ins Bad, stützte sich mit den Händen auf dem Waschbecken ab und betrachtete sein Spiegelbild: seine viel zu blasse Haut und die tiefen Ringe unter den Augen. Gott, sah er fertig aus. So als wäre er über Nacht um Jahre gealtert. Und so fühlte er sich auch, jede Bewegung kostete ihn Kraft. Als er den Wasserhahn aufdrehte, kam ihm das Geräusch unnatürlich laut vor. Er hielt seine Hände darunter und befeuchtete sich das Gesicht. Dann stand er einfach da und wartete, bis sein Kreislauf sich etwas erholt hatte und er sich zutraute, zurück in sein Zimmer zu gehen. Erst da bemerkte er das goldglänzende Kleid auf dem Boden vor der Tür. Eine Welle von Hitze durchflutete ihn und sammelte sich in seinem Kopf. Nein, nein, nein! Nicht Annie. Das durfte nicht wahr sein. Bitte nicht Annie. Was hatte er sich denn nur dabei gedacht?

Fieberhaft durchforstete er seinen Kopf nach einer Erinnerung, ob noch ein anderes Mädchen gestern Abend ein goldenes Kleid getragen hatte. Es musste so gewesen sein, denn er hätte doch nie … Ach verdammt, was versuchte er sich da gerade einzureden?

Du mieses Arschloch, verfluchte Theo sich selbst, setzte sich wieder auf die Bettkante und stützte die Ellenbogen auf den Knien ab. Das konnte einfach nicht sein. Warum Annie? Warum von allen Mädchen an der Academy ausgerechnet Annie?

Er stöhnte auf. Wenn er wenigstens gewusst hätte, was er gestern Abend alles zu ihr gesagt hatte oder was genau zwischen ihnen geschehen war … Wobei, Letzteres lag wohl auf der Hand. Scheiße! Was, wenn er damit alles noch viel schlimmer gemacht hatte? Der Gründerball hatte ein Neuanfang für sie beide werden sollen, verdammt noch mal. Er hatte Annie zeigen wollen, dass er für sie da war. Nicht auf romantische Art, wie sie es sich wünschte. Aber immerhin als Freund, auf den sie sich verlassen konnte. Und jetzt das.

Verfluchter Mistkerl. Er beugte sich vor, um das Kleid aufzuheben. Als seine Finger die hauchzarten Träger berührten, durchzuckte es ihn plötzlich wie ein Blitz.

Verweinte Augen, zerlaufenes Make-up. Und dann … Annies Stimme: »Wie konntest du mir das antun?«

Der Stoff glitt ihm aus den Fingern und er ließ ihn fallen, als hätte er sich daran verbrannt. Annie. Was hatte er ihr angetan?

Kurz wanderte sein Blick zu den anderen Sachen von ihr, die verstreut auf dem Boden lagen, und ihm wurde übel. Konnte es sein, dass er …?

Doch gleich darauf schloss Theo die Augen und verdrängte diesen Gedanken. Nein, er würde erst mit Annie reden, bevor er sich irgendetwas wild zusammenreimte.

Also wartete er ab, bis das Schwindelgefühl besser wurde, duschte und zog sich an. Dann machte er sich auf den Weg ins Foyer, nahm ausnahmsweise den Aufzug und eilte über den Korridor, in dem Annies Zimmer lag. Nachdem er an ihre Tür geklopft hatte, stand er eine Ewigkeit davor, ohne dass etwas geschah. Theo wollte sich schon umdrehen und gehen – da öffnete sich die Tür schließlich doch, nur einen kleinen Spaltbreit.

Als Annie dahinter zum Vorschein kam, war es, als wollten Theos Schuldgefühle ihn unter sich begraben. Sie sah noch viel schlimmer aus als er. Ihre Augen waren rot geweint, die Lippen spröde und farblos. Dunkle Make-up-Schlieren zogen sich über ihre Wangen.

Wie konntest du mir das antun?Annies Wimmern schrillte kreischend durch seinen Kopf. Warum hatte sie das gesagt? Hatte er etwa …

»Ich habe jetzt keine Zeit für dich«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang wie Schleifpapier und in ihren Augen stand etwas, das er nicht deuten konnte, vielleicht weil er es noch nie zuvor in ihnen gesehen hatte. Zumindest nicht im Zusammenhang mit ihm.

»Können wir bitte … reden? Über gestern Nacht?«, presste Theo heraus. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm zwei Sätze jemals so schwer gefallen waren. Immer noch hingen seine Augen an ihren, suchten nach einer Erklärung. Nach einem Ausweg. Nach irgendetwas, das ihm zeigte, dass er mit seiner Vermutung falschlag.

Sag mir, dass es nichts zu reden gibt. Weil ich dich nicht angefasst habe.

Doch Annie schwieg. Sie schaute ihn nur an, immer noch mit diesem Ausdruck, der ihm langsam das Herz zusammendrückte und ihn innerlich erkalten ließ. Plötzlich wusste er, was es war. Ein Anflug von Panik. Annie hatte Angst. Angst vor ihm.

Mach dir keine Sorgen, Theo, war plötzlich die Stimme des Psychologen in seinem Kopf, den er als Teenager regelmäßig aufgesucht hatte, um seine Vergangenheit und insbesondere seinen Vater hinter sich lassen zu können. Den Mann, der seine Mutter vergewaltigt hatte. Dieser Mensch definiert nicht, wer du bist.

Und was, wenn doch? Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Was, wenn er kein bisschen besser war als dieses Schwein?

»Annie … bitte. Ich weiß nicht mehr, was gestern Abend passiert ist. Aber wenn ich …« Theo brach ab, fuhr sich durch die Haare, wusste nicht, wie er etwas ausdrücken sollte, für das es keine Worte gab. »… wenn ich dir etwas getan habe, wenn ich mich dir irgendwie … aufgezwungen habe, dann …«

»Scheiß auf gestern Nacht. Geh einfach.« Annies Stimme war kaum ein Flüstern und doch fühlte sich jedes einzelne Wort an, als würde es ihm in die Haut schneiden.

»Annie.«

»Nein.«

Noch immer machte sie die Tür nicht ganz auf und hatte sich so hingestellt, dass sie sie im Zweifel mit ihrem Körper zudrücken konnte. Als ihm das auffiel, machte Theo sofort einen Schritt zurück. Eine eisige Hand legte sich in seinen Nacken. Gleich darauf wurde ihm schwarz vor Augen und verschwommene Bilder stiegen in ihm auf.

Annie, die nur in Unterwäsche vor ihm stand. Der fahle Schein der Nachttischlampe, der Schatten auf ihre nackte Haut malte.

»Hör sofort auf damit.«

Ihre Hände auf seiner Brust. Eine schallende Ohrfeige. Das Brennen auf seiner Wange.

Eine Sekunde lang sah Theo sie ganz deutlich vor sich, wie sie das Kinn gesenkt hatte, bis ihr die langen braunen Haare wie ein Vorhang vors Gesicht fielen. So als wollte sie sich dadurch schützen und sich tief in sich selbst zurückziehen.

Auch jetzt schaffte Annie es kaum, ihn anzusehen. Ihre Finger umklammerten die Türkante so fest, dass ihre Knöchel hervortraten, und als der blasslila Cardigan von ihrer Schulter rutschte, bemerkte Theo sie sofort: die blauen Flecken an ihrem Arm. Heilige Scheiße!

»Annie, was …?« Automatisch ging er wieder auf sie zu und wollte eine Hand nach ihr ausstrecken, aber Annie schob den Cardigan hastig wieder hoch und zischte: »Wag es ja nicht, mich anzufassen.«

Sofort zuckte er zurück. Schluckte. »Annie … ich … Es tut mir so leid.« O Gott, das war nicht ansatzweise das, was er gerade ausdrücken wollte. »Ich weiß nicht genau, was gestern Nacht passiert ist, aber ich wollte nie …«

»Du kannst nichts tun, um letzte Nacht wiedergutzumachen«, fauchte sie ihn an. Auf einmal war ihre Stimme zurück und klang beinahe schrill. »Du bist ein Scheißkerl, TheoVanderton, und ich bin fertig mit dir. Ein für alle Mal. Also verschwinde einfach!«

Sie wollte ihm die Tür vor der Nase zuknallen, aber Theo war schneller, drückte eine Hand dagegen und hielt sie auf.

»Bitte, Annie, lass uns darüber reden«, flehte er sie an, gab aber sofort nach, als er sah, wie ihre Augen sich vor Schreck erneut weiteten.

Du machst ihr Angst, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf und die Panik in ihm wurde zu einem Sturm, der keinen klaren Gedanken mehr zuließ.

»Ich … es …«, versuchte er es noch mal, doch Annie unterbrach ihn: »Nein, kein Wort mehr darüber. Ich kann das nicht und ich will auch nie wieder daran denken. Nicht an dich oder irgendetwas, was mit dir zu tun hat.« Ihre Stimme wurde immer lauter, die Worte kamen schneller und schneller über ihre Lippen. »Ich wünschte, ich hätte dich niemals kennengelernt. Dann wäre jetzt alles noch in Ordnung. Aber ich … ich wollte es ja nicht sehen.«

»Was?«

»Dass du mich kaputt machst!«, schrie sie ihn an. »Ich dachte, du würdest mir helfen wollen, ich dachte, dass deine Worte wirklich etwas bedeuten. Aber du …« Nun sah Annie ihm direkt in die Augen und die Abscheu und Wut, die sich darin spiegelten, ließen Theo endgültig erstarren. »… du hast die ganze Zeit nur mit mir gespielt. Ich glaube, ich habe dich nie richtig gekannt. Denn du bist das mieseste Arschloch von allen hier! Und ich hasse dich. Ich hasse dich so sehr, TheoVanderton.«

Damit drückte sie die Tür zu und als sie ins Schloss fiel, hörte er sie auf der anderen Seite aufschluchzen.

»Es ist alles deine Schuld!«, schrie sie noch. »Du hast mein ganzes Leben zerstört!«

Dann erklang das Geräusch der Badezimmertür und schließlich war da nichts mehr. Nur Stille.

Der Milliarden-Erbe schweigt – wie lange will TheoVanderton sich noch verstecken?

Fast sechs Wochen ist es nun her, seit die Meldung an die Öffentlichkeit ging, dass TheoVanderton (20), Sohn von Anthony und DeliahVanderton, seine Mitschülerin BethanyLawrence (19) beim Gründerball vor eineinhalb Jahren vergewaltigt haben soll. Sowohl Lawrence, die inzwischen an einer Universität in Kanada studiert, als auch Vanderton haben sich bisher nicht zu den Anschuldigungen geäußert.

Wir haben exklusiv mit HaruNakamura (18), einem Schüler der HighclareAcademy, gesprochen, der am Tag der Enthüllung live dabei war.

Haru, Sie kennen TheoVanderton persönlich. Können Sie uns mehr darüber erzählen, wie es zu den Anschuldigungen kam?

Natürlich, gerne. Bei uns an der HighclareAcademy werden regelmäßig Spiele gespielt, bei denen Wetten abgeschlossen werden oder die Mitglieder des sogenannten RubyCircles, der Gemeinschaft unserer drei Häuser, gegeneinander antreten. Seit einiger Zeit gibt es ein neues Spiel, bei dem es darum geht, seine brisantesten Geheimnisse zu verteidigen. Verliert man oder nimmt nicht teil, wird dieses Geheimnis an die Presse weitergeleitet.

Das heißt, TheoVanderton hat bei einer dieser Mutproben mitgemacht? Hat das etwas mit den Aufnahmen zu tun, die in den sozialen Medien viral gegangen sind? Jene, auf denen er einen Freund aus dem vereisten See rettet?

Einen Freund würde ich ihn jetzt vielleicht nicht nennen. Aber ja, genau darum ging es.

Und dann hat er dieses Spiel verloren? Oder wie genau kam es dazu, dass die Informationen an die Presse gelangt sind?

Details kann ich Ihnen leider nicht verraten, denn ich habe geschworen, die Geheimnisse des RubyCircles zu wahren. Deshalb nur so viel: Am Ende der Challenge wurde uns allen ein Video zugespielt. Zunächst waren da Zeitungsausschnitte aus der Vergangenheit, Schlagzeilen über Theos leiblichen Vater R.T.Hammerton, der seine Mutter vergewaltigt haben soll. Und dann tauchte plötzlich dieser Polizeibericht auf, in dem Theo sich angeblich selbst beschuldigt, Bethany vergewaltigt zu haben.

Sicher können Sie sich vorstellen, dass wir es alle zuerst gar nicht glauben wollten. Immerhin ist dieser Vorwurf ganz schön heftig. Theos Freundin ist auch völlig ausgerastet.

Seine Freundin? Meinen Sie etwa LouisaBennet? Shiyas Tochter, von der wir erst kürzlich erfahren haben?

Ja, ganz genau. Die beiden waren erst seit Kurzem zusammen und ziemlich heftig verknallt. Aber ich denke mal, das ist jetzt auch vorbei.

Zurück zu dem Polizeibericht, der ja inzwischen in zahlreichen Zeitschriften abgedruckt wurde und in dem Theo sich selbst angezeigt hat. Haru, was denken Sie darüber? Als Freund und Mitschüler? Wie wahrscheinlich ist es, dass dieses Dokument echt ist?

Schwer zu sagen. Niemand weiß, wer hinter dem aktuellen Spiel steckt. Aber Fakt ist, dass dabei schon einige Geheimnisse von Mitschülern aufgedeckt und mit Beweisen belegt worden sind, die alle gestimmt haben. Von daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Dokument echt ist, schon ziemlich hoch.

Und was glauben Sie, warum Theo sich noch nicht zu den Anschuldigungen geäußert hat?

Die Vandertons sind eine der einflussreichsten Familien Amerikas, vielleicht der ganzen Welt. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum es noch keine Stellungnahme gab, aber Fakt ist, dass sich inzwischen sicher die besten Anwälte der Upper Eastside mit diesem Vorfall beschäftigen. Und da TheoVanderton seit Wochen nicht mehr gesehen wurde, scheint es wohl zu ihrem Plan zu gehören, ihn vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Was das zu bedeuten hat? Das kann sich jeder selbst überlegen.

Ich denke allerdings, dass sich die Vandertons in naher Zukunft dazu äußern werden. Irgendwann werden schließlich auch die Geschäftspartner und Aktionäre Fragen stellen. Die Vanderton Group hat in den letzten sechs Wochen ein Rekordtief an der Börse erreicht und wir sprechen hier immerhin nicht nur über Theos Ruf, sondern auch über wirtschaftliche Einbußen in Millionenhöhe.

Und was ist mit BethanyLawrence? Immerhin könnte sie diese Sache doch aufklären, oder? Wir haben versucht, sie in Kanada zu erreichen, jedoch leider keinen Kontakt herstellen können.

Kanada, ja? (lacht)

Was amüsiert Sie daran so sehr?

Ach nichts, nur die Tatsache, dass Sie scheinbar glauben, Bethanysei tatsächlich in Kanada. Die Wahrheit ist nämlich, dass ihre Familie das lediglich erzählt, um zu vertuschen, dass sie vor eineinhalb Jahren spurlos verschwunden ist und seither niemand weiß, wo sie sich aufhält.

Was soll das heißen?

Das heißt, dass Bethany untergetaucht ist und zu allen an der HighclareAcademy den Kontakt abgebrochen hat. Warum, weiß niemand.

Wollen Sie damit andeuten, dass es einen Zusammenhang zwischen ihrem Verschwinden und den Anschuldigungen gegen TheoVanderton geben könnte?

Ich war noch nicht an der HighclareAcademy, als das alles passiert ist, aber ich denke, es wäre schon ein ziemlicher Zufall, dass zwischen Bethanys Verschwinden und Theos Anzeige nur wenige Tage liegen. Auf jeden Fall können wir gespannt sein, was in den kommenden Wochen diesbezüglich noch alles ans Licht kommt.

Möchten Sie zum Abschluss noch etwas sagen?

Ja, unbedingt. Sollte jemand das hier lesen und Bethany kennen oder wissen, wo sie sich aufhält, schreibt mir gerne eine Mail oder kontaktiert mich auf Instagram. Ihre Freunde versuchen verzweifelt, sie zu finden, und es wäre eine große Erleichterung zu wissen, dass es ihr gut geht.

27.12. (23:41)

Louisa, ich habe einen großen Fehler gemacht. Ich hätte dich nie verlassen dürfen. Überhaupt habe ich so viele Dinge getan und gesagt, die ich unendlich bereue. Die letzten Wochen waren verdammt hart, aber es ist etwas passiert, das alles verändert. Für mich und auch für uns. Falls es überhaupt noch eine Chance für ein Uns gibt. So oder so würde ich gerne mit dir reden und dir alles erklären. Besteht die Möglichkeit, dass wir uns treffen?

28.12. (13:11)

Bitte ignorier mich nicht. Ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist – richtig sauer. Und du hast jedes Recht dazu. Aber bitte lass mich noch einmal mit dir reden und dir diese ganze Sache erklären. Das ist alles zu viel und zu privat, um es dir zu schreiben.

30.12. (23:01)

Scheiße, Louisa, du hast mich blockiert. Oder?

01.01. (00:01)

Happy New Year. Ich bin nicht sicher, ob du das überhaupt liest, aber ich will, dass du weißt, dass ich an dich denke. Ich wünschte, ich könnte jetzt bei dir sein. Ich liebe dich.

03.01. (01:12)

Ich habe bei dir zu Hause angerufen, aber niemanden erreicht. Und meine Mails an dich kommen zurück. Ich gehe mal davon aus, dass das Absicht ist und du auch diese Nachrichten von mir nicht liest. Aber falls du es doch tust, ruf mich bitte an. Es ist wirklich wichtig.

05.01. (10:44)

Okay, du liest es wirklich nicht, oder?

Können wir anfangen?«

Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, nickte ich und sofort kam eine Frau auf mich zu, korrigierte noch einmal meine Frisur und puderte mir mit einem Pinsel die Nase.

»So ist es perfekt«, stellte sie fest, bevor sie mich beherzt zu der Sofaecke im Zentrum des Fernsehstudios schob, wo Shiya bereits auf mich wartete. Alles war bis ins Detail perfektioniert worden, damit die Aufnahmen wirkten, als würde man uns ganz privat und quasi hautnah erleben: Auf dem Tisch in der Mitte standen frische Blumen, daneben lag ein Stapel Bücher, Teelichter flackerten in pastellfarbenen Gläsern. Sogar die Kissen auf dem Sofa hatte man mehrfach umdrapiert, bis sie die optimale Anordnung zu haben schienen, um meinen persönlichen Niedergang vor der Kamera festzuhalten.

Verdammt, was machte ich hier nur? Das war das Einzige, was mir durch den Kopf ging, als ich mich Shiya näherte und mich neben sie auf die cremefarbenen Polster sinken ließ. Sogar unsere Kleidung war farblich aufeinander abgestimmt worden. Shiya trug ein elegantes weißes Etuikleid – wie unschuldig! – und mich hatte man in ein blassrosa Perlenstrickmonstrum gesteckt, das ein wenig zu eng war und an den Nähten kratzte. Ich sah aus wie die brave Tochter im Old-Money-Stil. Oder aber wie eine Verwandte von Pouchi, meinem Plüscheinhorn. Zum Glück hatte man mich wenigstens nur dezent geschminkt. Shiya wollte, dass es wirkte, als wäre das Interview einfach ein privates Gespräch. Ein echter und nahbarer Ausschnitt aus ihrem Leben. Und aus meinem. Eine Mutter und ihre verlorene Tochter, die endlich wieder zusammengefunden hatten. Ein vermeintlich intimer Moment, der sie ihren Fans wieder näherbrachte, die in den vergangenen Monaten das Vertrauen in sie verloren hatten.

»Du siehst großartig aus.« Shiya betrachtete das Werk des Stylingteams mit einem zufriedenen Lächeln auf den geschminkten Lippen. »Allerdings solltest du dein Gesicht etwas entspannen, wenn wir gleich anfangen.«

Fast hätte ich gelacht. Die hatte Nerven. Mich entspannen? Wo doch alles in mir gerade schrie, wieder aufzustehen und aus der nächsten Tür zu rennen. Ich nickte bloß und versuchte, ein unechtes Lächeln aufzusetzen, während die Filmcrew sich in Stellung brachte. Jetzt kam auch PenelopeLawrence, die Moderatorin, dazu und ließ sich uns gegenüber in einen Sessel sinken, ihre Kameraidentität schon fest auf die Gesichtszüge getackert. Alles an diesem Moment fühlte sich falsch an. Ich wollte ihn einfach nur hinter mich bringen, auch wenn mir schon vor den Minuten graute, in denen es losging und mir Fragen gestellt wurden.

Ich schaute zu meinen Dads, die mit stoischen Mienen am Rand des Geschehens standen und jede Bewegung der Anwesenden genau beobachteten. Sie hatten es sich nicht nehmen lassen, mich heute zu begleiten. Zum einen, um mir den Rücken zu stärken, aber auch, um Shiya zu signalisieren, dass sie sich nicht alles erlauben konnte, weil sie sonst eingreifen würden. Dad hatte von Anfang an nicht gewollt, dass ich das Interview gab, und mir ins Gewissen geredet, weil meine Unterschrift auf Shiyas Vertrag nicht rechtsgültig war – immerhin hatte ich das Dokument vor meinem achtzehnten Geburtstag unterzeichnet. Doch nachdem Shiya angekündigt hatte, die Medienhetzjagd gegen mich und meine Familie wieder aufzunehmen, sollte ich mich weigern, mit ihr vor die Kamera zu treten, hatte ich eingewilligt. Unter einer Bedingung: Im Anschluss würde sie mich in Ruhe lassen. Für immer.

Mit schweißnassen Fingern zog ich mein Handy hervor und schrieb meiner besten Freundin Kami schnell, dass es gleich so weit war. Dabei glitt mein Blick wie so oft über meine Kontakte und ein dumpfes Ziehen breitete sich in meiner Mitte aus. Es fühlte sich an, als wäre da ein Loch in mir, seit ein Name in meiner Liste fehlte. Theo.

Als wir in den Weihnachtsferien meinen Geburtstag nachgefeiert hatten, hatte Kami ihn für mich blockiert und aus meinen Kontakten entfernt, damit ich nicht täglich seinen Namen sah oder durch seine Nachrichten scrollte. Das wäre ein wichtiger Schritt, hatte sie gemeint, weil ich sonst ständig an ihn denken und es mir noch schwerer machen würde, von ihm loszukommen. Ich selbst hatte es nicht über mich gebracht, weil es sich auf eine komische Art und Weise so endgültig angefühlt hatte. Und das, obwohl es längst zu Ende gewesen war. Immerhin hatte Theo deutliche Worte dafür gefunden.

Ich wünschte wirklich, wir hätten uns schon eher kennengelernt. Vielleicht hätten wir dann eine Chance gehabt. Aber so, wie die Dinge jetzt stehen, gibt es die wohl eher nicht.

Die Sache war eindeutig. Doch dieser kleine Schritt, das Löschen seines Namens aus meinem Handy, hatte mich dennoch an meine Grenzen gebracht.

Seitdem war kein Tag vergangen, an dem ich nicht an Theo gedacht und mich gefragt hatte, ob diese Leere in mir drin und das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können, jemals besser werden würden. Ich träumte jede Nacht von ihm und wenn ich morgens aufwachte und feststellte, dass er nicht mehr da war, war es, als befände ich mich noch immer mitten in einem Albtraum.

»Bitte machen Sie sich bereit«, sagte der Kameraassistent in diesem Moment und als ich den Kopf hob, kam es mir vor, als würde ich ihn zum ersten Mal sehen – obwohl er mir am heutigen Tag bestimmt mehrmals über den Weg gelaufen sein musste. Ein dunkler Bart, freundliche braune Augen. Ein Gesicht unter vielen, das zusammen mit den anderen um mich herum zu einer einzigen Masse verschwamm. Ich wusste jetzt schon, dass ich mich später am Abend nicht mehr an die Details des Interviews würde erinnern können. Es war, als hätte mein Unterbewusstsein einen Schutzschild hochgezogen, der mich zwar funktionieren, aber nichts mehr richtig wahrnehmen ließ.

»Lächeln«, erinnerte mich Shiya und gegen meinen inneren Widerstand ankämpfend, hob ich meine Mundwinkel. Wieder huschte mein Blick zu meinen Dads und auch sie machten den Eindruck, als würden sie nur zu gerne den Kameramann tackeln, mich unter den Arm klemmen und nach draußen stürmen. Aber das ging nicht. Dieser Schritt war wichtig, damit das ganze Drama rund um Shiya endlich ein Ende fand und sie uns – meine Dads, Granny und mich – in Ruhe ließ. Er war wichtig für meine Freiheit. Zumindest versuchte ich, mir das einzureden. Denn ein Teil von mir fragte sich gleichzeitig, ob ich mir gerade nicht das letzte bisschen davon nahm. Das letzte bisschen Selbstachtung. Meine eigene Wahrheit. Meine Stimme.

In diesem Augenblick leuchtete an der Kamera ein Licht auf und als der Mann dahinter uns zunickte, wusste ich, dass es nun kein Zurück mehr gab. Ruhig bleiben, sagte ich mir. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Die Hände ineinander verschränkt, überließ ich es Penelope und Shiya, das Gespräch zu eröffnen. Dabei lächelte ich die ganze Zeit über steif und hoffte inständig, dass man mir nicht ansah, wie verloren ich mich fühlte. Mit etwas Glück wirkte ich einfach nervös und von meinen Gefühlen überwältigt. Das konnte man einem gerade einmal achtzehn Jahre alt gewordenen Mädchen, dem es gelungen war, seine Mutter – einen internationalen Superstar – wiederzufinden, wohl kaum verübeln.

Von den ersten Minuten des Interviews bekam ich wenig mit. Alles rauschte irgendwie an mir vorbei. Erst als Penelope mich direkt ansah, wusste ich, dass ich mich nun nicht länger verstecken konnte.

»Louisa, möchtest du etwas sagen?«, fragte sie und lächelte mich so offen an, dass ich es ihr beinahe abnahm. »Was ist es für ein Gefühl, heute auf diesem Sofa zu sitzen? Was bedeutet das für dich?«

Augenblicklich begann mein Gesicht zu glühen und ich räusperte mich, um etwas Zeit zu schinden. Mir war klar, was Shiya jetzt von mir erwartete: eine Show, die einzig und allein dazu diente, ihren Ruf wiederherzustellen. Trotzdem wollte ich nichts sagen, was meinen Empfindungen komplett widersprach.

»Das ist alles ziemlich überwältigend für mich«, brachte ich schließlich heraus. »Noch vor wenigen Wochen hätte ich diesen Moment nie für möglich gehalten.«

Das stimmte. Denn nachdem Shiya mir eine große Summe Geld geboten hatte, damit ich sie in Ruhe ließ, hatte ich nicht erwartet, dass sich unsere Wege noch einmal kreuzten.

»Das kann ich mir nur zu gut vorstellen«, sagte Penelope und es fiel mir schwer, mir die Antwort zu verkneifen, dass sie sich rein gar nichts vorstellen konnte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie es für mich gewesen war, als ich Shiya und sie Anfang Dezember getroffen und meinen Namen unter ihren Vertrag gesetzt hatte. Und sie hatte ebenfalls keine Ahnung, dass Shiya ihr damals in den Rücken gefallen war und mir im Tausch heimlich die Kontaktdaten ihrer verschwundenen Nichte ausgehändigt hatte. BethanyLawrence. Das Mädchen, hinter dem der Master her war. Das seit meinem Neustart an der HighclareAcademy so viele Fragen aufwarf. Das Mädchen, das Theo angeblich vergewaltigt haben sollte. Bei diesem Gedanken zog sich alles in mir zusammen. Noch immer wollte ich es nicht wahrhaben, konnte es nicht glauben. Theo, mein Theo, der sich in unserer Beziehung immer so respektvoll und sensibel verhalten hatte, sollte Annie das angetan haben? Das passte einfach nicht zusammen. Und doch hatte er den schrecklichen Vorwurf bestätigt und sich sogar selbst angezeigt.

Meine Kehle wurde enger, als ich daran dachte, wie er Anfang Dezember zitternd am See gelegen und das Tablet des Masters in den Händen gehalten hatte, den Polizeibericht vor Augen, in dem Wissen, dass die ganze Welt nun sein Geheimnis kannte. Dass ich es nun kannte und ihn dafür hassen würde. Und das tat ich auch, denn für so eine Tat gab es keine einzige Entschuldigung, selbst wenn Theo unter dem Einfluss von Atlas’ Drogen gestanden hatte. So etwas war einfach abscheulich und machte mich unendlich wütend, sprachlos und traurig. Ebenso wie die Tatsache, dass Theo mir nicht einmal die Chance gegeben hatte, persönlich mit ihm zu reden. Ja, er hatte mir einen Brief geschrieben, aber das war nicht dasselbe. Denn das, was ich gewollt hatte, war, ihm in die Augen zu sehen, während er mir alles erklärte. Wenn es denn überhaupt eine Erklärung gab.

Ich merkte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, und sofort legte Shiya mir eine Hand auf die Schulter. Erst dachte ich, dass ich es gerade versaut hatte, doch dann erkannte ich, dass sie lächelte. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was sie und Penelope in der letzten Minute besprochen hatten, schien meine Gefühlsregung ganz hervorragend dazu zu passen.

»Ich sehe schon, das ist für euch beide heute wirklich ein höchst emotionales Erlebnis«, säuselte die Moderatorin und betrachtete mich, als wäre ich ein tapsiger Hundewelpe, der gerade ein Kunststück gelernt hatte. Shiya nickte und strich sich über die langen dunklen Haare. Sie hatte sie nicht wieder blondiert, fiel mir auf. Vermutlich, damit wir uns noch ähnlicher sahen. Das hinreißende Mutter-Tochter-Gespann. Nichts weiter als eine einzige Lüge.

»In den vergangenen Monaten wurde so vieles, unsere Beziehung zueinander betreffend, verzerrt dargestellt«, antwortete Shiya. »Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass uns das beide schwer belastet hat.«

Nein, sie übertrieb absolut nicht. Ich unterdrückte ein Husten und musste mich zusammenreißen, um nicht den Kopf zu schütteln. Diese Frau war so unglaublich berechnend.

»Eigentlich hatten wir vor, uns erst einmal im Privaten richtig kennenzulernen und nicht sofort an die Öffentlichkeit zu gehen«, fuhr sie fort. »Aber nach den jüngsten Vorkommnissen und den völlig verfälschten Aussagen der Presse war es für uns nicht mehr auszuhalten.«

Wohl eher für sie. Denn mich hatten die Reporter hinter den Mauern der HighclareAcademy nicht erreichen können. Seit herausgekommen war, dass ich nie gelogen hatte und dass Shiya tatsächlich meine Mutter war, hatte ich ihnen keine Chance mehr gegeben, mich irgendwo abzufangen. Die Anfragen, die bei uns zu Hause eingegangen waren, hatten meine Dads gelesen und direkt vernichtet.

Penelope sah mich abwartend an, als wollte sie, dass ich auch noch etwas sagte. Doch da mir nichts einfiel, womit ich meine Selbstachtung nicht gänzlich im Klo herunterspülte, nickte ich nur. Das schien ihr zu genügen, denn sie wandte sich wieder Shiya zu und führte das Gespräch mit ihr fort.

Erneut flossen ihre Worte durch mich hindurch und es kam mir so vor, als wäre ich gar nicht wirklich da. Hin und wieder antwortete ich etwas und einmal berichtete ich davon, wie ich von unserer familiären Verbindung erfahren und versucht hatte, Kontakt zu meiner Mutter aufzunehmen.

»Am Anfang habe ich es natürlich nicht geglaubt«, sagte Shiya daraufhin und blinzelte ein paar Fake-Tränen weg. »Wenn man in der Öffentlichkeit steht, ist es keine Seltenheit, dass einige Leute versuchen, einem näherzukommen. Umso dankbarer bin ich, dass Louisa nicht aufgegeben hat.«

Sie wischte sich über die Augen und mir wurde klar, dass nun der Moment gekommen war, in dem alle schauspielerischen Register gezogen wurden. In dieser Sekunde blendete ich alles aus. Ich wollte nicht hören, wie sie der Welt ihre erfundene Geschichte präsentierte, in der sie ihr kleines Mädchen hatte zurücklassen müssen und in der keine Minute verstrichen war, in der sie sich nicht fragte, wie es mir ging.

Am liebsten hätte ich einfach die Augen zugekniffen. Oder geschrien. Doch ich tat nichts dergleichen, sondern saß nur wie versteinert da, als Shiya sich schließlich zu mir drehte und mich mit tränenverschleiertem Blick in die Arme schloss. Genau so muss ein Beutetier empfinden, war alles, woran ich denken konnte. Kurz bevor ihm von einer Anakonda das letzte bisschen Leben ausgequetscht wird.

Vor lauter Rührung wischte sich auch Penelope mit einem Taschentuch über die Augen und wartete geduldig, bis Shiya ihre oscarreife Performance mit einem letzten leisen Schluchzer beendete und sich wieder aufrichtete. Sie fächerte sich Luft zu und tat, als würde ihr jetzt erst auffallen, dass sie gerade vor laufender Kamera so emotional geworden war.

»Tut mir wirklich leid«, sagte sie und Penelope winkte ab. »Es ist nur verständlich, dass das euch beiden sehr nahegeht. Besonders, da so vieles in der letzten Zeit verfälscht wurde und ihr es so schwer hattet, wieder richtig zueinanderzufinden.«

Shiya seufzte und ich drehte leicht den Kopf, damit niemand mitbekam, wie mir kurz die Gesichtszüge entgleisten. Es war rein gar nichts verfälscht worden. Zum ersten Mal seit Jahren hatte die Presse einen Eindruck davon bekommen, wer Shiya wirklich war. Aber das durfte ich hier natürlich nicht sagen. Mir fiel es immer schwerer, die Fassade aufrechtzuhalten.

Ein kurzer Blick zu meinen Dads genügte, um zu erkennen, dass auch ihre Geduld sich dem Ende zuneigte. Pa hielt bereits die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete die Szenerie, als würde er sie nur zu gerne beenden, indem er alle niederrannte, die ihm im Weg standen, und mich hier rausschaffte.

»Was mich und sicher auch die Fans noch interessieren würde«, setzte Penelope da wieder an. »Was habt ihr für die Zukunft geplant? Wie genau wird sich euer weiteres Kennenlernen gestalten?« Ich hatte gehofft, dass Shiya antwortete. Doch die Moderatorin schaute zu mir. »Louisa, wie geht es jetzt weiter?«

Gar nicht. Es gibt keine Zukunft. Und schon gar kein Wir.

»Nach allem, was in der letzten Zeit los war, haben wir beschlossen, dass wir unsere Beziehung erst einmal aus der Öffentlichkeit heraushalten und uns einander ganz privat weiter annähern wollen«, sagte ich mechanisch.

»Was bedeutet das konkret?«

Erneut musste ich mich zu einem Lächeln zwingen. Aber bevor ich etwas sagen konnte, übernahm Shiya das Wort. »Das heißt, dass wir uns treffen und ganz normale Dinge tun wollen, die andere Mütter und Töchter auch tun, ohne dass es von den Medien sofort bewertet oder falsch dargestellt wird.«

Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange. Ja, auch das gehörte zu meinem Deal mit ihr dazu: zwei Treffen kurz nach dem Interview, bei denen wir den Paparazzi gezielt die Chance gaben, Fotos von uns zu machen und diese in Shiyas Interesse zu verbreiten.

»Das klingt wundervoll.« Penelopes Lächeln verriet, dass ich bisher alles richtig gemacht hatte, und endlich spürte ich, dass wir uns dem Ende des Interviews näherten. Noch ein paar abschließende Worte, ein letztes strahlendes Lächeln für die Zuschauer. Dann war es geschafft. Als das Kamerateam uns ein Zeichen gab, atmete ich erleichtert auf. Plötzlich fühlte ich mich nur noch erschöpft. So als wären die schweren Steine, die ich auf meinen Schultern getragen hatte, mit einem Mal in meinen Magen gesackt.

Sofort waren meine Dads bei mir und ich ließ mich von ihnen in eine Umarmung ziehen. Doch statt Erleichterung spürte ich nur eine seltsame Taubheit in meinem Inneren und eine leise Stimme in mir fragte sich, ob ich gerade wirklich das Richtige getan hatte.

Ja, definitiv. Um das zu beantworten, musste ich nur an die Reporter vor unserem Gartentor denken, an die zugezogenen Gardinen und die bedrückte Stimmung im Haus. Im letzten Jahr waren wir wochenlang belagert worden und irgendwann hatten wir uns in unseren eigenen vier Wänden, in dem Haus, das wir alle so liebten und das für gewöhnlich immer eine warme und gemütliche Atmosphäre verströmte, nicht mehr wohlgefühlt. Dad war kaum noch in den Garten gegangen und die Nachbarn hatten angefangen, über uns zu reden. Darüber, dass wir uns ihrer Meinung nach jetzt ja für etwas Besseres hielten und dass wir nur Unruhe in die Nachbarschaft brachten, seitdem ich angefangen hatte, so nach Aufmerksamkeit zu gieren. Letzteres hatte mich besonders verletzt, weil es einfach nicht stimmte. Aber es hätte auch keinen Sinn gehabt, darüber zu diskutieren. Denn das hatte Pa durchaus getan, damit jedoch für noch mehr Gesprächsstoff bei den Nachbarn gesorgt. Inzwischen hatte sich das Ganze beruhigt, aber ich wollte um jeden Preis vermeiden, dass wieder alles so hochkochte. Und wie ich Shiya kannte, hätte sie ohnehin keine Ruhe gegeben, bis sie ihren Willen bekam.

Außerdem hatte ich es jetzt hinter mir. Nach heute standen lediglich noch die nervigen Fototermine an. Dann war ich Shiya für immer los.

»Louisa, möchtest du auch ein Glas?«, hörte ich da ihre Stimme und als ich mich umdrehte, sah ich, wie Penelope gerade eine Flasche Champagner öffnete.

»Nein, danke.« Dieser Tag war weiß Gott keiner, den ich feiern wollte. Auch meine Dads verneinten und reichten mir meine Jacke. Doch als wir entschlossen auf den Ausgang zusteuerten, war Shiya auf einmal wieder an meiner Seite.

»Warte. Wir sollten zusammen rausgehen. Denk an die Reporter draußen und den Eindruck, den wir vermitteln wollen.«

Ich stieß ein Schnauben aus und verzog das Gesicht. »Ich habe nicht vor, noch länger zu warten.«

Wie gut das tat. Jetzt, da die Kameras ausgeschaltet waren, konnte ich endlich zeigen, wie ich wirklich empfand. Doch Shiya ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie war immer noch perfekt in ihrer Rolle, ihre Maske verrutschte keinen Millimeter.

»Gut«, sagte sie mit einem Lächeln und stellte ihr Glas ab. Dann winkte sie jemanden aus dem Team herbei, um ihr den Mantel und die Handtasche zu bringen. »Ich sagePenelope Bescheid, dass wir gehen, und gebe den anderen ein Zeichen, damit alles entsprechend vorbereitet wird.«

Vorbereitet? Was wollte sie denn vorbereiten? Würde etwa gleich einer ihrer Mitarbeiter nach draußen stürmen und den Reportern etwas zurufen, wie: Achtung, macht euch bereit. Sie kommen! Ich verdrehte die Augen. Wenn ich so darüber nachdachte, wollte ich es eigentlich gar nicht wissen.

Es dauerte nur fünf Minuten, bis Shiya zurückkam, ihre Securityleute und die Stylistin im Gepäck. Bevor ich auch nur einen Satz sagen konnte, zückte die Frau ihre Pinsel und verteilte erneut eine Puderwolke auf meiner Haut. Anschließend zupfte sie meine Haare zurecht.

»Ich bin keine Anziehpuppe«, knurrte ich. Aber sie ignorierte mich und trat erst zurück, nachdem sie mir noch eine lose Strähne mit Haarspray festgeklatscht hatte. Shiya nickte zufrieden. Dann legte sie mir einen Arm um die Schultern und führte mich unter dem Protest meiner Dads von ihnen weg.

»Wir treffen sie später wieder«, informierte sie mich knapp, während sie mich in Richtung eines langen Korridors schob. »Sie nehmen einen anderen Ausgang.«

O ja, klar. Ging ja gar nicht, dass die Paparazzi mitbekamen, dass ich eine Familie hatte, die mich tatsächlich liebte und nicht bloß so tat. Als am Ende des Flurs eine Tür für uns geöffnet wurde, konnte ich von draußen bereits Stimmen hören. Kurz schloss ich die Augen und versuchte, mich irgendwie auf das vorzubereiten, was mich da gleich erwartete.

»Wir machen es genau wie besprochen«, raunte Shiya mir zu. »Egal, was wir gefragt werden, du sagst einfach gar nichts und lächelst nur. Klar?«

Ich starrte sie perplex an – wann hatten wir das denn besprochen? –, doch da waren wir auch schon beim Ausgang angekommen. Ihr Griff um meine Schulter verstärkte sich und kaum, dass wir über die Schwelle getreten waren, ging das Blitzlichtgewitter los. Tatsächlich war die Straße voll von Paparazzi und hätten ShiyasSecurityleute uns nicht abgeschirmt, hätten sie uns ihre Mikrofone wohl direkt vor die Nase gehalten.

»Shiya, schau zu uns! Ja, so!«

»Louisa, was bedeutet es für dich, die Tochter einer solchen Ikone zu sein?«

»Werden wir Sie beide jetzt häufiger zusammen sehen?«

Die Fragen überschlugen sich, vermischten sich zu einem einzigen wogenden Gemurmel. Nur eine Stimme drang plötzlich klar und deutlich zu mir durch.

»Louisa, was sagen Sie zu den Vorwürfen gegen TheoVanderton?«

Beim Klang seines Namens versteifte ich mich und drehte mich dann langsam um, um zu sehen, wer mir die Frage gestellt hatte. Sofort bohrten sich Shiyas Fingernägel in meine Schulter und brachten mich dazu weiterzulaufen, geradewegs auf die Reihe schwarzer SUVs zu, die bereits auf uns warteten.

»Sind Sie TheoVandertons Freundin?«, rief derselbe Reporter mir nach. »Ist es wahr, dass er ein Mädchen an Ihrer Schule vergewaltigt hat?«

»Ja«, mischte sich nun auch ein weiterer Reporter ein. »Haben Sie davon gewusst?«

»Ist er auch Ihnen gegenüber übergriffig geworden?« Wieder der erste. »Was macht das mit Ihnen, jetzt wo die Wahrheit ans Licht gekommen ist? Wie fühlen Sie sich?«

Mir wurde schwindelig und schwarz vor Augen. Aber Shiya ließ mir keine Zeit für Schwäche. Mit eisernem Griff drängte sie mich vorwärts. Die Tür zur Rückbank wurde geöffnet und während ich ins Innere des Wagens eintauchte und auf meinen Platz rutschte, hallten die letzten Worte des Mannes noch einmal in mir nach. Was macht das mit Ihnen? Wie fühlen sie sich?

Jetzt, ohne die Blitzlichter und die zahlreichen Stimmen um mich herum, drangen diese Fragen tiefer zu mir durch und hinterließen ein Gefühl von Schwere und ein schmerzhaftes Stechen in meiner Brust. Ja, wie fühlte ich mich? Kraftlos. Noch immer völlig überfahren von den Informationen, die ich nach wie vor am liebsten gar nicht glauben wollte. Es gab Momente, in denen ich mir zu hundert Prozent sicher war, dass Theo das niemals getan haben konnte. Und dann wieder andere, in denen die Realität mir förmlich den Boden unter den Füßen wegzog. In solchen Augenblicken kam ich mir dumm und naiv vor, wie eine Verräterin – wie ein schlechter Mensch, weil ich immer noch Gefühle für Theo hatte und mir wünschte, ich hätte all das nie erfahren. Dass wir wieder zusammen sein konnten und es zwischen uns wieder so würde wie früher. Gleichzeitig schämte ich mich für diese Gedanken, weil die rationale Stimme in mir fand, dass ich diese Gefühle gar nicht mehr haben durfte.

Denn auch, wenn ich weiterhin versuchte herauszufinden, was an jenem Abend wirklich geschehen war, waren die Chancen groß, dass Theos Vermutung darüber der Realität entsprach. Und wenn er Annie vergewaltigt hatte, konnte ich nicht mehr mit ihm zusammen sein. Nie wieder. Nur verdammt … Warum vermisste ich ihn dennoch mit jeder Faser meines Körpers?

»Gut gemacht«, riss Shiya mich aus meinen Gedanken und ich hob ruckartig den Kopf. Doch sie sah mich nicht einmal an, sondern schaute aus dem Fenster, während sie weitersprach. »Wenn alles so läuft wie geplant, sollte diese Sache bald erledigt sein.«

Ich antwortete nicht und beobachtete nur, wie sie ihren Lippenstift aus der Tasche zog und sich nachschminkte. Nicht länger in blassen Pastelltönen wie beim Interview, sondern dunkelrot. Dann zückte sie ihr Handy, rief jemanden an und informierte ihn in knappen Sätzen, dass sie auf dem Weg nach Hause war und dringend ein Bad, eine Massage und einen Espresso Martini benötigte, um sich von den Strapazen dieses Tages zu erholen. Von dieser lästigen Angelegenheit. Von mir.

Ich ließ mich tiefer in meinen Sitz sinken. Die echte Shiya war zurück. Und zum ersten Mal empfand ich Erleichterung über die Kälte, die augenblicklich von ihr ausging. Das quälende Schauspiel war endlich vorbei.

Wir fuhren zuerst zum Flughafen, wo Shiya sich in knappen Worten von mir verabschiedete und mich daran erinnerte, dass bereits in der kommenden Woche das nächste Treffen anstand: eine Shoppingtour durch London, bei der ich selbstverständlich durchgehend glücklich vor mich hin lächeln würde.

»Mein Fahrer holt dich ab«, ließ sie mich noch wissen, ehe sie mit schnellen Schritten davonstöckelte, eingerahmt von ihren Securityleuten. Ich wurde zu einem anderen Fahrzeug gebracht, in dem bereits meine Dads warteten, und als ich dem Fahrer unser Ziel nannte, sah mich Dad durch die Gläser seiner Brille hindurch ernst an.

»Bist du ganz sicher, dass du zurück an die HighclareAcademy möchtest?«

Ich nickte. Wir hatten dieses Gespräch in den vergangenen Wochen immer wieder geführt, zuletzt, als die Weihnachtsferien geendet hatten und die Frage im Raum stand, ob es nicht besser war, an eine andere Schule zu wechseln. Meine Dads hatten nicht gewollt, dass ich zurück an die Academy ging. Nach allem, was dort geschehen war, hatten sie Angst um meine Sicherheit und ich konnte sie verstehen. Wäre ich an ihrer Stelle gewesen, hätte ich mir auch Sorgen gemacht. Immerhin trieb ein Unbekannter, der sich der Master nannte, dort seit Monaten sein perfides Spiel mit uns. Es hatte scheinbar harmlos begonnen: Als im vergangenen Sommer rote Briefe mit Aufgaben an einige Schüler und Studenten verschickt worden waren, hatte sich zunächst niemand ernsthaft Gedanken darüber gemacht. Doch dann hatte der Master angefangen, die Geheimnisse ausgewählter Mitglieder des RubyCircles zu enthüllen und an die Presse zu schicken. Und spätestens seit er Theo und Atlas Ende des letzten Jahres dazu gezwungen hatte, durch einen vereisten See zu schwimmen, wussten alle, wie gefährlich und krank er war.

Trotzdem hatte ich entschieden, dass ich auf jeden Fall zurückkehren wollte. Nicht nur, weil ich an der HighclareAcademy Freunde gefunden hatte, echte Freunde, die zu mir hielten. Sondern auch, weil die Schule in den kommenden Monaten der einzige Ort sein würde, an dem ich mich, abgeschirmt von den Paparazzi, wie ein halbwegs normaler Mensch fühlen konnte. Ich zweifelte nicht daran, dass sich die Reporter wieder auf mich stürzen würden, sobald das Interview am Wochenende ausgestrahlt wurde. Und wenn dann noch die gemeinsamen Auftritte mit Shiya folgten und ich erneut von allen gefilmt und verfolgt wurde, sobald ich auf die Straße trat … Nein, das würde ich nicht aushalten.

Also atmete ich tief durch, schnallte mich an und schaute erst zu Dad und anschließend zu Pa, der seine langen dunklen Haare heute hochgebunden trug.

»Ich bin mir ganz sicher.«

Sie nickten, wenn auch nicht gerade glücklich.

»Na gut, einverstanden«, brummte Pa und fuhr sich mit der Hand über seinen Bart. »Aber falls dir irgendetwas komisch vorkommt oder du auch einen dieser Briefe erhältst, gibst du uns Bescheid, okay, little One?«

»Versprochen.« Ich lächelte sie dankbar an und war froh, dass sie mich während der Fahrt nicht noch einmal auf den Master oder auf Shiya ansprachen. Alles, was ich jetzt wollte, war duschen, meine Klamotten wechseln und anschließend zum Stall fahren. Nach diesem Tag brauchte ich meine Ruhe – und Pferde um mich.

Als wir die Academy erreichten und das riesige Eingangstor vom Sicherheitspersonal für uns geöffnet wurde, dämmerte es bereits, die Beleuchtung ließ die historische Fassade von HavertonHouse erstrahlen.

»Ich hab euch lieb«, sagte ich zum Abschied. Ich drückte meine Dads noch einmal an mich. Am liebsten hätte ich sie ewig weiter festgehalten und während der schwarze Wagen langsam davonrollte, spürte ich, wie sich ein Kloß in meinem Hals festsetzte. Rasch verschwand ich im Haus, doch kaum, dass ich die Treppe in den ersten Stock erklommen hatte, kam mir Atlas entgegen, ganz in Schwarz und mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen. Ich spürte regelrecht, wie seine dunklen Augen an mir hinaufglitten, über das lächerliche Kleid bis zu meinen nahezu festbetonierten Haaren. Als sich unsere Blicke trafen, zuckte einer seiner Mundwinkel.

»Ein paar Stunden mit deiner Mutter und du siehst aus wie ein neuer Mensch«, begrüßte er mich. »Wie fühlt es sich an, seine Seele verkauft zu haben?«

»Sag du es mir, Satan«, knurrte ich zurück, was ihm ein kurzes, ehrliches Lächeln entlockte. Er blieb vor mir stehen und begutachtete kurz die rosafarbenen Designerpumps, die ich auf dem Weg nach oben ausgezogen hatte und nun in einer Hand trug. Plötzlich wurden seine Züge wieder ernst. »Hat Penelope irgendetwas gesagt, was uns wegen Annie weiterbringt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Wenn wir nicht gerade vor der Kamera waren, ist sie mir aus dem Weg gegangen. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass sie auch ziemlich froh war, dass sie mich nun nie wiedersehen muss.«

Seit ich sie bei unserem ersten Treffen in Shiyas Villa auf ihre Nichte angesprochen hatte, hatte sich Penelope mir gegenüber wie ein Stein verhalten. Sie wusste etwas, vermutlich sogar, wo Annie sich gerade aufhielt. Aber fest stand, dass wir aus ihr nichts herausbekommen würden. Und Annies Telefonnummer – das wertvolle Pfand, gegen das ich meine Freiheit eingetauscht hatte – hatte sich leider als komplette Sackgasse erwiesen. Egal, wer von uns sie in den letzten Wochen angerufen hatte, Atlas oder ich: Annie war nicht rangegangen und hatte auch auf die Nachrichten nicht reagiert, in denen wir ihr berichteten, was an der Highclare los war.

Atlas nickte nachdenklich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Na gut, das war ja zu erwarten. Dann müssen wir halt weitermachen wie bisher.«

»Das heißt also, dass ich all meine Informationen mit dir teile und du mich ständig vertröstest?«, fragte ich trotzig, woraufhin Atlas eine Augenbraue hob.

»Soweit ich mich erinnere, hast du bisher erst eine einzige Information mit mir geteilt, die uns noch dazu absolut nichts genützt hat«, erinnerte er mich. »Und es macht keinen Sinn, dir etwas zu erzählen, das noch nicht sicher ist. Ich bin an etwas dran. Mehr brauchst du aktuell nicht zu wissen.«

Ich schnaubte. »Als wir beschlossen haben, dass wir in dieser Sache Partner sind, habe ich mir darunter eigentlich etwas anderes vorgestellt.«

»Oh, jetzt wird es interessant. Was denn?« Seine Stimme hatte einen rauchigen Klang angenommen und ein kleines, diabolisches Lächeln zupfte an seinem Mund. Es erinnerte mich daran, warum ich Atlas nicht ausstehen konnte.

»Du weißt genau, was ich meine.« Ich verdrehte die Augen, in der Absicht, dabei so genervt wie möglich auszusehen, damit er mit diesem Mist aufhörte. »Du lässt mich völlig im Dunkeln. Schon die ganzen Ferien über und auch jetzt. Ja, die Handynummer mag uns nicht weitergebracht haben. Aber du hast bisher gar nichts dazu beigetragen, Annie zu finden.«

»Das denkst du.«

»Ja, das denke ich, weil du mir nie etwas sagst.«

Es hatte mich all meine Überwindung gekostet, mich ausgerechnet mit Atlas zusammenzutun. Aber in dieser einen Angelegenheit verfolgten wir das gleiche Ziel: Wir wollten dem Master das Handwerk legen. Und Annie finden. Atlas, um zu klären, warum sie so plötzlich verschwunden war und sich nie wieder bei ihm gemeldet hatte. Und ich, um sie nach Theo zu fragen. Danach, was in der Nacht nach dem Gründerball geschehen war, und ob es stimmte, was die Presse über ihn schrieb.

»Hab noch ein wenig Geduld«, sagte Atlas, immer noch diesen dunklen Klang in der Stimme, der mich wahnsinnig ankotzte. Er beugte sich leicht vor und als er mir so nah kam, dass uns nur noch wenige Zentimeter trennten, blickte ich ihm finster entgegen. Das entlockte ihm jedoch nur ein weiteres Lächeln.

»Bis nächste Woche. Ich denke, dann weiß ich bereits mehr.«

»Und dann weihst du mich ein?«

»Ja, natürlich«, raunte er, viel zu dicht an meinem Ohr. »Immerhin sind wir doch … Partner.«

Ich schlug ihm auf die Brust und er trat lachend einen Schritt zurück, ehe er mir noch einmal zunickte und mich dann einfach stehen ließ.

»Wehe, du verarschst mich!«, rief ich ihm hinterher und verfluchte ihn innerlich. Hab noch ein wenig Geduld. Nein, die hatte ich nicht. Theo war seit Anfang Dezember untergetaucht und alles, was mir geblieben war, waren die unzähligen Artikel, die die Presse über ihn schrieb und laut denen er sich im Upper Eastside Apartment der Familie verschanzte. Hinzu kamen zahlreiche Theorien über ihn und Annie, eine haarsträubender als die andere. Aber das half mir alles nicht weiter. Was ich brauchte, waren Antworten. Die Wahrheit. Sonst nichts. Und da Theo sich an jene Nacht nicht mehr richtig erinnern konnte, musste ich unbedingt mit Annie sprechen und sie danach fragen. Ich brauchte Klarheit, für mich, für meine Gefühle, für das ganze verdammte Chaos, das in mir herrschte, seit Theo in den Helikopter gestiegen und verschwunden war.

Mit zusammengebissenen Zähnen stapfte ich in mein Zimmer, zerrte mir Shiyas Kleid vom Körper und schlüpfte in meine Reitsachen. Dann zog ich mir eine Mütze über den Kopf, fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage und holte mein Fahrrad. Es war Mitte Januar und der Wind pfiff mir eisig kalt ums Gesicht, als ich mich auf den Weg zur Reitanlage machte. Aber genau das brauchte ich gerade, um nach einem Tag wie diesem nicht vollkommen den Halt zu verlieren. Es war, als würde die Kälte mir bei jedem Stich in die Haut zuflüstern: Jetzt reiß dich zusammen!

Nur konnte ich nicht sagen, wie lange ich das noch durchhalten würde. Die vergangenen Wochen hatten mich ausgezehrt. Einerseits, weil die Gedanken an Theo mich überallhin und sogar bis in meine Träume verfolgten. Zum anderen, weil ich das Gefühl hatte, mich immer weiter von mir selbst zu entfernen. Besonders heute.

Tief durchatmend trat ich fester in die Pedale, in der Hoffnung, die Tränen, die sich in meinen Augen sammelten, zurückdrängen zu können. Es half, aber nur so lange, bis ich den Stall betrat und Twisters Boxentür aufschob. Als mein Schecke mir den Kopf zuwandte und mich freundlich anbrummelte, konnte ich sie nicht länger aufhalten. Ich schlang Twister die Arme um den Hals und drückte meine Nase in seine Mähne, während immer mehr Tränen über meine Wangen liefen. Es war, als wäre in mir ein Damm gebrochen. Ein Damm, der schon seit Tagen brüchig war und nur unter größter Anstrengung gehalten hatte. Aber hier, in der Stille des Abends, nur das leise Rascheln von Stroh und das sanfte Schnauben der Pferde um mich herum, zerbrach er endgültig in seine Einzelteile und überschwemmte mich mit all den Empfindungen, die ich in der letzten Zeit so entschieden in meinem Inneren zurückgedrängt hatte.

Die Welle fegte mich regelrecht von den Füßen und ich ließ mich, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, ins Stroh sinken und legte meine Stirn auf meine Knie. Das war zu viel, viel zu viel für eine einzelne Person. Ich wollte das nicht fühlen, nichts davon. Nicht all den Schmerz, der sich angesammelt hatte und nun so sehr auf meine Brust drückte, dass ich kaum noch Luft bekam. Nicht die Wut. Auf Theo, aber auch auf mich selbst, weil ich zugestimmt hatte, mich von Shiya instrumentalisieren zu lassen. Wie hatte ich auch nur eine Sekunde glauben können, dass ich das hinter mich bringen konnte, ohne dafür einen Teil meiner Identität einzubüßen? Meine Stimme, meine Wahrheit, meine Werte. All das, was mich ausmachte. Aus irgendeinem Grund war ich davon ausgegangen, dass ich dieses Fernsehstudio betreten und in Shiyas inszenierter Show mitspielen konnte, ohne einen einzigen Kratzer abzubekommen. Wie naiv von mir.

Ich wünschte, ich hätte mit Theo darüber reden können, denn ich war mir sicher, dass er wie so oft die richtigen Worte gefunden hätte, damit ich mich besser fühlte. Doch allein der Gedanke an ihn und der Wunsch, seine Stimme zu hören, sorgten dafür, dass sich etwas in mir vor Schmerzen krümmte.

Was … wenn er doch unschuldig ist? Was, wenn es für alles eine Erklärung gibt?

Sofort meldete sich Kamis Stimme in meinem Kopf: Das ändert gar nichts, immerhin hat er einen dicken, fetten Schlussstrich unter eure Beziehung gezogen, schon vergessen?

Nein, wie könnte ich? Ich rieb mir die Schläfen und dachte daran, wie viele Nächte ich mir nun schon mit den Gedanken an ihn um die Ohren geschlagen hatte. Nur, um mich anschließend zu verfluchen. Zum einen für die dunklen Ringe unter meinen Augen, aber auch weil ich mich in einer verdammten Traumwelt verlor, in der absolut nichts echt war. Es hatte keinen Sinn, sich mit Szenarien zu beschäftigen, die nicht der Realität entsprangen. Und doch … tat ich es immer und immer wieder und ertappte mich täglich dabei, wie ich mir vorstellte, Theo würde plötzlich wieder an der Highclare auftauchen und mir sagen, dass alles nur ein großes Missverständnis gewesen war.

Inzwischen gab es so viele Zukunftsvarianten in meinem Kopf – solche, in denen ich ihm verzieh, aber auch jene, in denen ich mich von ihm abwandte – dass ich sie schon gar nicht mehr zählen konnte. In Momenten wie diesem hasste ich mich für jede einzelne davon.

Er ist nicht hier, sagte ich mir dann selbst. Er hat dich verlassen. Also hör endlich auf, ihn in deine Scheinwelt zu projizieren. Das hat keinen Sinn.

Ja, das wusste ich und auch, dass ich damit aufhören musste, wenn ich wollte, dass es mir besser ging. Trotzdem konnte ich es nicht. Etwas in mir war noch nicht bereit dazu, Theo endgültig gehen zu lassen, und manchmal, wenn ich mich richtig mies fühlte, wirkten die Gedanken an ihn wie eine Droge. Ein klitzekleines Glücksgefühl inmitten des Wirbelsturms, der in mir tobte.

»Scheiße«, entwich es mir, als mir das klar wurde, und ich erhob mich langsam und klopfte mir das Stroh von der Hose. Twister stupste mich an und ich streichelte ihm über die Stirn. Doch nicht einmal seine Nähe schaffte es gerade, mich aus dem tiefen Loch herauszuziehen, in dem ich mich befand.

»Wird schon wieder«, flüsterte ich ihm zu, drückte ihm einen Kuss auf die Nüstern und verließ seine Box. Auf dem Weg nach draußen ging ich bei Skye vorbei, Theos rotgoldener Stute, die er mir zur Verfügung gestellt hatte. Ich hatte sie trainiert, seit er die Academy verlassen hatte, und mittlerweile vertraute sie mir so weit, dass ich vermutlich bald in einer kleineren Prüfung mit ihr starten konnte. Doch jedes Mal, wenn mir mit Skye ein Durchbruch gelang, wenn sie mir frei durch die Reithalle folgte oder eine Runde im Parcours ohne Fehler beendete, wollte ich Theo am liebsten sofort anrufen und ihm davon erzählen. Und dann fiel mir wieder ein, dass Kami ihn blockiert hatte. Aus gutem Grund.

Skye schnaubte, legte ihren Kopf auf meiner Schulter ab und verharrte so. Ich streichelte ihr über das Gesicht. »Du vermisst ihn auch, oder?«, fragte ich und schaute zu den Boxen hinüber, in denen noch vor Kurzem Alaska und Coco