The School of Muses - T.V. Ahrens - E-Book

The School of Muses E-Book

T.V. Ahrens

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Beschreibung

Ich bin eine Muse ... Wer mich berührt, der hat eine gute Idee. Wer mich küsst, der hat einen großartigen Einfall. Wer gar das Bett mit mir teilt, dessen Kunst wird unsterblich. Aber wie weit wirst du gehen ... für die perfekte Idee? In Annetts Innerem kämpfen zwei Kräfte um die Herrschaft über ihr Handeln: Sie selbst, die wohlerzogene junge Frau, der ihr Job als Kindermädchen bei einer bekannten Band größte Erfüllung bringt - und eine kraftvolle Muse namens April, die ihren Körper ohne Rücksicht auf Verluste im Dienste der Inspiration einsetzen möchte. Grenzen sind April dabei herzlich egal. In "The School of Muses" werden die ersten beiden Teile der Ebook-Reihe zum Sammelband vereint: "Der Kuss der Muse" und "Der Pakt der Muse". ** Inklusive bisher unveröffentlichtem Bonusmaterial! **

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Seitenzahl: 234

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Danksagung

Für meine treuen Fans, die mich zu Recht darauf hingewiesen haben, dass die Muse auch auf Papier erscheinen muss.

Für Melanie, die sich mit 4.000 Worten einfach nicht zufriedengeben wollte und die »School of Muses« so möglich gemacht hat.

Und für April, die mich nächtelang vollgequatscht, samstags morgens um 4.30 Uhr geweckt und mein Hungergefühl unterdrückt hat, damit der erste Band innerhalb von unfassbaren 17 Tagen von einer Idee zu einem fertigen Produkt werden konnte.

Die Handlung und alle handelnden Personen in diesem Werk sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Band I: Der Kuss der Muse

Prolog

Kapitel: Eins

Kapitel: Zwei

Kapitel: Drei

Kapitel: Vier

Kapitel: Fünf

Kapitel: Sechs

Kapitel: Sieben

Band II: Der Pakt der Muse

Kapitel: Eins

Kapitel: Zwei

Kapitel: Drei

Kapitel: Vier

Kapitel: Fünf

Kapitel: Sechs

Kapitel: Sieben

Band I

Der Kuss der Muse

Prolog

Wir stehen keuchend vom Boden auf, unsere T-Shirts klatschnass, unsere Köpfe rot. Was ist hier gerade zwischen uns passiert? Wie konnte ich mich darauf einlassen? Der Rest des Haushaltes kommt angelaufen. Kein Wunder bei den Geräuschen, die gerade aus diesem Zimmer kamen. Keiner von uns beiden hat einen Gedanken daran verschwendet, die Zimmertüre zu schließen, es ging alles viel zu schnell. Aber jetzt? Jetzt schießt mein Puls erneut in die Höhe. Doch dieses Mal aus Scham. Ich kann ihm nicht einmal in die Augen sehen, und in den Gang hinaus kann ich schon gar nicht sehen, als das Getrampel der anderen auf der Treppe laut wird. Nur ein Gedanke fräst sich durch meinen erhitzten Kopf. Der, dass ich keine Ahnung habe, wie das hier gerade geschehen konnte.

»Was zur Hölle ist denn hier los?«, fragt Tommy völlig perplex, als die Meute im Türrahmen seines Zimmers versammelt ist. »Warum seid ihr beide komplett durchgeschwitzt?«

Gute Frage, Mann. Verdammt gute Frage!

Eins

Hamburg.

Einige Wochen zuvor.

Endlich ist es soweit: Freitagabend, mein Lieblings-Eventkeller am Hamburger Stadtrand, ganz vorne links vor der Bühne. Und die Band, die tiefer aus meiner Metalweibchen-Seele spricht, als selbst ich es meistens kann – Arctic Pitch! Ja, die zwei Vorbands waren ganz nett. Ja, ich höre auch noch andere Musik. Manchmal. Aber die Art, wie mein persönlicher Gott – mein Toni – das Letzte aus sich und seinen Stimmbändern herausholt, das ist Magie! Es ist die Liebe zu seiner Kunst. Und es ist eine gehörige Portion Wahnsinn, die das Genie möglich macht. Jetzt bewegen sich die Scheinwerfer. Die ersten paar Takte von »Closer To The Wolves« kommen aus den Boxen. Als der erste Fuß vor der aufgeheizten Masse erscheint, kennen das Pfeifen und Gebrüll keine Grenzen mehr.

Dieser Rausch. Genau dafür bin ich hier. Und dann erscheint Toni. Er lächelt ganz kurz zu uns – der schwarzen Masse – hinab, fängt sich dann aber sofort wieder und beginnt zu singen. Viele sagen, er sei arrogant geworden über die Jahre. Dass ihm die Anbetung und der Erfolg zuviel geworden seien. Das kann ich nicht bestätigen. Natürlich kann ich es nicht mit letzter Sicherheit sagen, aber ich bin recht gut in diesen Dingen. Obwohl ich »Closer To The Wolves« sehr gelungen finde, kann ich doch nicht anders, als während des Liedes weiter zu grübeln. Wenn ich meine feinen Sinne hinauf schicke auf die Bühne, die schlabberigen Hosenbeine seiner grau-weißen Military-Hose hinauf schlüpfen lasse und in seine Seele blicke, dann fühle ich dort keine Arroganz, sondern eine seltsame Traurigkeit. Ob es eine tiefe Enttäuschung darüber ist, dass Viele seine Texte nicht so verstehen, wie sie gemeint sind? Dass sie die Analogien nicht sehen, oder sie ihnen vielleicht egal sind? Ich beneide ihn nicht darum, dass er sich ständig in dieses unfreiwillige Bad aus kochenden Hormonen begeben muss. Dass er sich, um seine Berufung leben zu können, dort oben hinstellen muss – auf seine eigene Art ein Sexobjekt.

Und hier ziehe ich eindeutig die Grenze für mich. Ja, ich bete sein Talent an. Seine Worte, seine Stimme, seine Kunst. Seinen Geist. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, jemals mit ihm körperlich zu werden. Ich bin zwar durchaus Single, aber dennoch kann und will ich diese Gedankenebene nicht betreten. Warum sollte ich das auch? Der Mann sieht zwar noch verboten knackig aus, aber er ist über 40 Jahre alt und ich gerade einmal 24. Wieso sollte mich sein bloßes Äußeres also beeinflussen? Im Übrigen hat der gute Mann Frau und Sohn. Er unterscheidet sich in dieser Hinsicht also kein bisschen von all den Papas, die an meinem Arbeitsplatz herumspringen, der KITA Sonnenwürmchen. Nun werden die Lieder noch langsamer. Noch trauriger. Herrje, ich bin schon jetzt beinahe heiser vom Mitsingen und Jubeln.

Ein Vater. Vielleicht liebe ich diese Tatsache am meisten an Toni. Denn zu viele gute Künstler entscheiden sich bewusst gegen die nächste Generation. Schließen aus, dass ihre Kinder das Gleiche durchmachen müssen wie sie. Damit nehmen sie ihnen jedoch auch die Chance, ebenso große Kunst zu machen. Ob Marilyn Manson und Co. das bedenken? Wer weiß.

Tonis kleiner Sohn sollte jetzt etwa sechs oder sieben Jahre alt sein. Und wenn auf Arbeit mal wieder zehn Mädchen gleichzeitig eine Heulattacke im dreifach gestrichenen C aufs Parkett legen, dann muss ich daran zurückdenken, welche Arbeit mich schon immer am meisten erfüllt hat: Nanny sein! Ein Kind zu versorgen, dafür aber rund um die Uhr, das hat mir bis vor wenigen Monaten sehr viel Glück und Freude gebracht. Doch jetzt? Die letzte Familie, bei der ich angestellt war, ist an die Elfenbeinküste umgesiedelt, also musste ich mich hier umsehen. Zunehmend habe ich aber das Gefühl, ich stecke hier fest. Werde eine ganz normale Arbeitnehmerin. Gezähmt. Eingeschliffen. Ideenlos, müde und resigniert. Und so wollte ich doch nie werden!

Ich schalte meine Grübeleien gewaltsam ab und vergrabe mich in der wunderbaren Musik.

»My colorful gaze –

still a clown.

And still laughing,

while my dream turns

into a nightmare. «

[*Übersetzung: »Mein farbenfroher Blick – immer noch ein Clown. Und immer noch lache ich, obwohl meine Träume sich in Albträume verwandeln.«]

Was soll ich dazu noch sagen? Wenn ich nicht so ein Feigling wäre, dann würde ich mir jeden Quadratzentimeter Haut mit seinen Zitaten bedecken lassen. Aber wie sagt der werte Herr Toni Nieminen doch so wunderbar treffend? »You build your own prison!«

Nach den Liedern aus dem Album »Unicum« drehen die Jungs zum Schluss noch einmal richtig auf. Die Masse tobt. Wie seltsam: Die meisten Fans – ganz besonders natürlich die männlichen – kommen noch immer bei den guten, alten Powermetal-Liedern am meisten in Wallung. Dabei können Toni und die anderen doch so unendlich viel mehr.

Ich halte mich jetzt etwas zurück. Natürlich mag auch ich die ganz alten Sachen, wo noch etwa jedes fünfte Wort »Wolf« ist. Aber ich bin auch komplett durchgeschwitzt, und ich muss gleich in die Märzkälte hinaus. Seht ihr? Ganz und gar erwachsen. Wie frustrierend.

Jetzt beginnt das letzte Lied: »The Winds I Ride«. Was für eine schöne Wahl. Seinen Fans am Ende noch einmal zu danken, mit den Worten: »I cross the highest mountains flying, 'cause you are the winds I'm allowed to ride«? Das hat einfach Klasse! Und jetzt, bei den letzten paar Takten, lassen es sich die Jungs natürlich nicht nehmen, die Sache noch etwas in die Länge zu ziehen. Noch ein paar Takte dranzuhängen. Der Bass und das Schlagzeug zerfetzen am Ende fast mein Zwerchfell – wow! Und dann ist es vorbei, einfach vorbei.

Jetzt setzt der für mich unangenehmste Teil jedes Konzerts ein – der Spießrutenlauf zum Ausgang. Schon vor Jahren habe ich mir angewöhnt, vor der Show zum Merchandise-Stand zu gehen und ganz in Ruhe zu stöbern. Jetzt will ich nur noch raus hier! Aber ich scheine auf eine seltsame Art magnetisch zu sein. Oder vielleicht riechen die Leute meine Abneigung gegen diese Mischung aus Alkohol und Aufgedrehtheit, die nun über den Leuten hängt. Es ist eine explosive Mischung. Damit will ich keinesfalls den Großteil der Fans beleidigen. Die meisten Metal-Liebhaber könnten gutmütiger, netter und aufrichtiger gar nicht sein. Nicht der einzige Grund, warum ich mich dieser Gruppe so zugehörig fühle. Aber die Ausnahmen bestätigen eben die Regel... und die heutige Ausnahme – bestehend aus vier stark angetrunkenen Fitnessstudioschränken – baut sich gerade pöbelnd im Flur auf. Genau an der Stelle, wo vier Gänge sich kreuzförmig treffen und alle vorbei müssen. Und sie krakeelen nach der Band, denn selbst die muss früher oder später hier vorbei. Wenn meine Lieblings-Finnen klug sind, dann bleiben sie in dem winzigen Raum direkt bei der Bühne. Wenn sie nett sind, kommen sie heraus, geben noch Autogramme und machen Selfies mit den Fans.

»Vielleicht haben sie ja Schiss!«, höhnt einer der Idioten lautstark.

»Sie sind eben reich genug, sie müssen sich nicht mehr unters Fußvolk mischen!«, lallt sein Kumpel. Ob ich mich dort vorbeidrücken kann und vor der abgeschlossenen Tür mit dem goldenen Stern und dem VIP-Schild abwarten kann? Das ist zwar nicht in direkter Nähe des Ausgangs, aber die freieste Bahn. Wie zur Hölle machen die anderen das? Ab und an drängen sich tatsächlich größere Menschentrauben an dem Idiotentrupp vorbei. Ob ich mich dort mit einordnen kann?

Ich schiebe mich gerade in den Strom aus schwarzen T-Shirts und Haaren, da bricht ein Tumult los. Offensichtlich haben die Türsteher ihren Job versemmelt, denn noch während sie die vier Idioten nach draußen verfrachten wollen, öffnet sich im Gang rechts von mir die Metalltüre zur Bühne und der Keyboarder von Arctic Pitch erscheint. Da auch Toni und der Rest der Band nicht weit sein können, kocht das Blut der Leute jetzt noch einmal auf. Klar, wer will dieser genialen Truppe nicht mal für ein paar Sekunden nahe sein?! Die fünf Finnen sind natürlich Profis. Sie lassen sich kaum etwas anmerken, wechseln nur wenige Blicke mit den Türstehern und nehmen die ersten eilig entgegengestreckten Stifte entgegen.

»Lasst mich los, ihr Wichser!«, schreit der Anführer des Deppentrupps. Man sieht bei seiner Mischung aus Lallen und Rufen den großen, weißen Kaugummi in seinem Mund. Die Türsteher haben zwar ihre liebe Mühe mit dem zappelnden Kerl, aber sie schieben ihn doch immer weiter in Richtung Ausgang. Leider kommen die Bandmitglieder etwa im gleichen Tempo den Gang rechts von mir entlang, in dem der Rüpel links von mir bewegt wird. Und dann passiert es: Der Mistkerl mit dem zu hohen Testosteronspiegel lehnt sich weit nach hinten, krallt sich in die Schultern des Türstehers, holt tief Luft und spuckt seinen Kaugummi im hohen Bogen mehrere Meter weit in Richtung Band. Ich schlage die Hände vors Gesicht, bete inständig, dass nichts passiert. Aber Murphys Gesetz ist leider, wie so oft, unnachgiebig. Als ich wieder hinsehe, blicken alle schockiert auf Toni. Der Kaugummi klebt seitlich in seinen kinnlangen, rot gefärbten Haaren. Während die Finnen – jetzt im Marschtempo – zur Tür mit dem goldenen Stern eilen, beginnt ein neuerlicher Tumult rechts von mir und hinter mir. Alle Fans, die die Schandtat gesehen haben, stürzen sich auf den Übeltäter. Leider schieben sie mich dabei aber mit in Richtung Ausgang. Irgendwie ist das okay für mich. In meinem Magen ballt sich ein ebenso brennender Hass auf den Typen zusammen, wie ihn alle anderen wohl auch gerade fühlen. Weiter darüber sitzt das für mich körperlich fühlbare Mitleid für Toni. Kaugummi und Haare sind natürliche Todfeinde, seit es das klebrige Zeug gibt. Was habe ich schon Tränen und Flüche gehört, wenn im Kindergarten mal wieder eine Kaugummi-Not-OP am offenen Zopf zu machen war.

Dieses Event ist vorbei, faktisch wie emotional. Ich schaffe es immerhin, mich wieder aus dem Pulk zu befreien. Blicke ein letztes Mal seufzend auf die VIP-Türe, die sich schon lange in ihr Schloss geworfen wurde. Da die Fans noch immer Lynchjustiz anwenden wollen, werden aus der einen Sekunde mehrere. Ich will mich und mein gebrochenes Herz gerade aus dem Gebäude schaffen, da öffnet sich die Türe.

»Was braucht ihr?«, stutzt der Veranstalter, der zur Sicherheit vor dem Raum Posten bezogen hat. Sein Denglisch ist peinlich und er schwitzt Blut und Wasser, aber zum Augenrollen fehlt mir die Muße.

»Eine gute Schere oder einen Rasierer«, grummelt ein Mann mit starkem finnischem Akzent in seinem Englisch. Ich glaube, es ist der Gitarrist, aber ich kann nicht viel sehen.

»Eine Schere? Ja, okay, ich treibe eine auf«, versichert der Veranstalter.

»Oh Gott, sie wollen den Kaugummi herausschneiden!«, schießt es mir durch den Kopf.

»Nein!!!«, schreie ich laut.

Die beiden Männer starren zu mir herüber und mir rutscht das Herz in die Hose. Normalerweise ist es auch nicht meine Art, mich in die Sachen anderer Leute einzumischen, aber hier geht es um die Haare meines größten Idols! Ich kann nicht zulassen, dass denen etwas geschieht, basta!

»Verschwinde, Mädchen«, grummelt der Veranstalter.

»Aber ich kann helfen!«, höre ich mich selbst rufen. »Ehrlich!«

Der Mann überlegt eine Sekunde und mustert mich. Dann winkt er mich heran. Ächzend kämpfe ich mich durch die noch immer zum Ausgang strömende Masse. »Ach ja? Und wie?«

»Haben Sie Eiswürfel und ein Handtuch greifbar?«, frage ich hastig.

»Äh... ja. Und wie soll das helfen?«

»Ganz einfach«, sage ich mit Nachdruck. »Ich bin Kindergärtnerin. Mit klebrigen Dingen, die nichts in Haaren zu suchen haben, kenne ich mich bestens aus!«

Er überlegt noch einmal kurz, scheint seine Optionen abzuwägen. »Komm mit«, befiehlt er dann. Vor Aufregung wird mir ganz schwarz vor Augen. Bin ich wirklich gerade Backstage gebeten worden?!? Als sich die Metallplatte vor meiner Nase nach innen öffnet, kann ich vor Aufregung kaum noch stehen. Mitten im Raum steht eine große Sofa-Ecke, auf der bequem zehn Mann Platz haben. Schlagzeuger Tommy und Keyboarder Henrik sitzen dort, jeder mit einer Flasche Wodka auf dem Schoß. Sie sind müde, erschöpft und verschwitzt. Die Stimmung ist trotz der gelungenen Show im Keller. Links stehen an einer langen Wand lauter Stühle vor diesen berühmten Tischen mit den riesigen Spiegeln und den vielen Glühbirnen, die daraus hervorstehen. Vor einem dieser Spiegel stehen Toni und Gitarrist Elias und betrachten den Schaden. Als sie den Veranstalter und mich im Spiegel bemerken, drehen sie sich um. »Haben Sie eine Schere gefunden?«, fragt Toni mit seinem merklichen Akzent im Englisch. Natürlich ist auch er genervt und gereizt.

Noch bevor der Veranstalter etwas entgegnen kann, verfalle ich in mein ganz persönliches Business-Englisch. »Sie werden keine Schere brauchen«, versichere ich ihm mit fester Stimme, aber kammerflimmerndem Herzen.

»Und du bist?«, fragt er prüfend.

»Mein Name ist Annett und ich bin Kindergärtnerin«, entgegne ich mit allem verfügbaren Selbstbewusstsein. Dann zeige ich auf den Veranstalter. »Wenn er mir Eiswürfel besorgt, dann sind Sie den Kaugummi in 20 Minuten los. Oder wollen Sie wirklich so dringend einen Militärschnitt?« Ich lasse normalerweise nicht die Zicke raushängen, aber Menschen mit viel Geld und wenig Zeit haben einen gewissen Respekt vor Leuten, die sofort zum Punkt kommen.

»Okay, Annett. Der Veranstalter wird dir die Sachen holen, die du brauchst«, grinst er schließlich. »Wo hättest du mich gern?«

Mein Hirn hat einen kurzen Aussetzer, ich gebe es zu. Die Frage ist wirklich fies gestellt! Aber ein bisschen Spielen kann ich auch. »Nun ja, für gewöhnlich sitzen die Opfer des klebrigen Zeugs auf meinem Schoß, während ich sie verarzte. Aber Sie könnten etwas zu groß und zu schwer dafür sein, fürchte ich.«

Er lacht laut auf, fängt sich aber schnell wieder. »Jungs, geht ihr bitte schon mal zum Bus?«, fragt er in den Raum hinein. Das Nicken reicht ihnen untereinander wohl an Kommunikation. Typisch Nordlichter. »Ok. Schickt ihr bitte Annika rein? Ich möchte sie hier haben, der Tag war lang genug.« Die Kollegen murmeln zustimmend und erheben sich. »Ich danke euch«, schiebt er nach, als die Jungs durch eine Tür ganz am anderen Ende des Raumes verschwinden.

Der Veranstalter tritt plötzlich neben mich. Ich hatte ehrlich gesagt nicht einmal bemerkt, dass er weg war. Er gibt mir einen großen Becher mit Eiswürfeln und ein frisches, schwarzes Handtuch. »Da haste, Mädchen«, raunt er.

»Danke«, nicke ich schnell.

»Wenn du nichts dagegen hast, haue ich mich jetzt da drüben auf die Couch, mein Rücken bringt mich nämlich um«, lächelt Toni müde und schlurft zu dem Berg aus schwarzem Kunstleder. Er setzt sich und beginnt, die Schnürsenkel seiner schweren Stiefel zu lösen. In dem Moment kommt mir die rettende Idee, wie ich am besten an die Haarsträhne mit dem Kaugummi herankomme. Ich flitze mit dem Kram in der Hand hinterher, werfe meine Turnschuhe ab, setzte mich in den Schneidersitz und ziehe eines der ramponierten Kissen auf meinen Schoß.

Er blickt mich fragend an.

»Kopf hier hinlegen, bitte«, lächle ich sanft.

»Du bist nicht irgendwie eines dieser verrückten Mädels, oder?«, fragt er.

Ich lege den Kopf schief und ziehe grinsend die Augenbrauen hoch. »Natürlich bin ich ziemlich durchgeknallt. Ich hüte freiwillig einen Stall voller 3-Jähriger! Aber: Nein, ich bin nicht gemeingefährlich für Stars. Ich möchte nur nicht, dass Ihre Haare noch kürzer werden.«

Er kichert erneut dunkel und ergibt sich seinem offensichtlichen Schicksal. Er setzt sich so, dass er von mir wegsieht, holt die Beine auf die Couch und senkt den Kopf ganz langsam auf das Kissen hinab. Und ich mache mich schnellstmöglich an die Arbeit. Ich trenne die Kaugummisträhne vom Rest der Haare, lege einige Eiswürfel in das Handtuch und presse die unglückliche Verbindung von Keratin und Kaumasse so fest ich kann gegen das Eis. Jetzt muss das Gummi durchfrieren und brüchig werden. Das heißt, ich muss hauptsächlich warten. Mir gehen tausend Fragen durch den Kopf, aber ich verwerfe alle als zu dumm.

»Hat dir das Konzert gefallen?«, fragt er plötzlich.

Obwohl ich fühlen kann, dass er sich Stück für Stück entspannt, steht diese Superstar-versus-Fan-Mauer zwischen uns. Die Frage ist Automatismus, nicht Gefühl. Er fragt sie nicht, weil er wirklich Interesse an der Antwort hätte, sondern weil diese Frage sozialadäquat und ungefährlich ist. Also beschließe ich – schon aus reinem Trotz – von der Oberflächenkonversation abzutauchen zu den Tiefen, die mir so viel vertrauter sind. Außerdem will ich etwas testen. Denn ich fresse einen Besen, wenn Toni nicht genau so ist wie ich... ein Empath. Jemand, der die Gefühle in einem Raum wahrnehmen kann, wie mit Farbe damit malen kann, sie beeinflussen kann, regelrechte Fäden daraus spinnen kann. Seine Musik und seine Texte wären weit weniger erfolgreich, wenn er diese Fähigkeit nicht besäße. »Sie wirkten sehr traurig auf mich, und zwar nicht wegen der Erinnerungen, die in den Texten liegen«, murmele ich endlich. »Beschäftigt Sie ein Problem?«

Ich nehme die Eiswürfel von der Haarsträhne. Die äußersten Ränder des Kaugummis sind jetzt gefroren und ich kann sie Mikrometer für Mikrometer abbrechen, ohne dass zu viele Haare mit abbrechen.

»Du meinst abgesehen davon, dass mir Fans Kaugummi in die Haare spucken und lieber das nächste belanglose Powermetal-Lied hören wollen? Eine Kategorie, in die wir nie hätten eingeordnet werden sollen?«

»Ja, abgesehen davon«, sage ich konzentriert, während ich weiter Stückchen aus der Haarsträhne breche. Weil der Raum nicht so richtig gut ausgeleuchtet ist, beuge ich mich immer weiter über sein Gesicht. Er hat die Augen ohnehin geschlossen. Es ist die älteste Abgrenzungstechnik der Welt.

Unvermittelt öffnet sich die Türe weit hinter mir. Im ausladenden Hof dort draußen steht vermutlich der Tour-Bus. Das Klackern von Frauenschuhen kommt näher und eine nicht besonders große, aber bildhübsche Frau schiebt sich in mein Sichtfeld. »Hey, Schatz«, haucht sie, die Arme in die Seiten gestemmt.

»Hallo, Liebling«, antwortet er auf Finnisch und öffnet die Augen.

»Was genau macht ihr beide da?«, fragt sie mit einem guten Schuss Eifersucht in der Stimme.

»Das ist Annett«, erklärt Toni schnell. »Sie ist professionelle Kaugummi-Entfernerin.«

Annika würde wohl lachen, aber die Tatsache, dass ihr Mann von einem Vollidioten bespuckt wurde, wiegt schwerer. Also beugt sie sich nur sehr langsam hinunter zu ihm, gibt ihm einen langen Kuss und blickt mir direkt in die Augen, als sie sich wieder aufrichtet. Ein Triumph liegt darin. Ein Claim. Sie steckt das Gebiet ab, das rechtmäßig ihr gehört. Das stört mich nicht im Geringsten, muss ich sagen. Ganz im Gegenteil: Als Nanny bin ich – wenn es gut läuft – ein Teil des Haushaltes, des sozialen Gefüges. Eine Vertrauensperson, oft nicht nur für die Kinder. Ich habe solche Demonstrationen also nicht nur regelmäßig gesehen in meiner Laufbahn, sie beweisen mir auch, dass mein Status geklärt ist. Wahrscheinlich klingt das für Außenstehende seltsam, aber es gibt nichts Schlimmeres, als wenn keiner im Haus weiß, was in meiner Gegenwart angebracht ist. Ich lächle also mein ehrlichstes, liebevollstes Lächeln. Nicht, weil ich muss. Sondern weil ich so fühle. Meine Reaktion verwundert sie, das merkt man deutlich. Vielleicht hatte sie einen Bitchfight erwartet, wer weiß. Ich werde ihr den jedenfalls nicht liefern und konzentriere mich weiter auf meine Arbeit. Leider sind die Eiswürfel fast geschmolzen, aber es ist auch nur noch ein letztes, hartnäckiges Stück.

»Wie geht es dem Kleinen?«, fragt Toni jetzt.

»Er vermisst Greta, wie immer«, seufzt seine Frau.

»Er ist hier? Ihr Sohn ist mit auf Tour?!«, schießt es mir durch den Kopf.

»Oh, Mann«, krächzt er. »Wenn ich euch beide zuhause lasse, vermisst er mich; wenn ich euch mitnehme, vermisst er sie.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche, aus dem Gespräch schlau zu werden. Wer ist Greta? Die Oma vielleicht? Offensichtlich ist mein Stimmungsumschwung fühlbar, denn Toni schlägt die Augen auf und mustert mich ausgiebig. »Du verstehst doch sicher was davon, oder?«, fragt er. »Unser Sohn vermisst seine Nanny. Sie heiratet in ein paar Wochen, deshalb hat sie gekündigt. Sie will nicht mehr ständig mit auf Tour gehen. Und ich will meine Familie bei mir haben, sonst sehe ich sie ja nie!« Er verschränkt die Finger mit denen seiner Frau und drückt sie mit einem gequälten Lächeln. »Was kann man gegen diese Trauer in einem Kinderherz tun?«

»Wie lange war sie seine Nanny?«, frage ich vorsichtig.

»Seit er etwa drei Jahre alt war«, antwortet Annika, ohne lang überlegen zu müssen.

»Oh je. Und sie war immer bei ihm?«

»Ja, fast immer, ja. Sie flog gerne mit um die Welt. Wir sind alle traurig, dass es vorbei ist. Aber der Kleine vermisst sie natürlich besonders. Was sollen wir tun? Schnell eine neue Bezugsperson besorgen, damit er sie vergisst?«

»Das kann funktionieren. Ich würde Ihrer Familie wünschen, dass es so einfach ist«, lächle ich vorsichtig. »Leider kann man es einfach nicht sagen. Wir selbst kommen ja auch nicht mit jedem ganz einfach zurecht. In jedem Fall wird er sich aber in einer Trauerphase befinden, und die muss man ihm zugestehen.«

Plötzlich verstehe ich die Zusammenhänge. Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. »Das ist der Grund für diese Traurigkeit, die ich während der Show bemerkt habe«, flüstere ich. Im gleichen Moment bricht das letzte Stück gehärteter Kaugummi aus dem Haar. Ich bin fertig, alles ist entfernt. Also lasse ich Toni aufsitzen, und nun setzt sich auch Annika neben ihn auf die Couch.

»Wie konntest du das wissen?«, fragt er fasziniert. »Ich bin mittlerweile ziemlich gut darin, eine Show durchzuziehen, ohne dass man mir etwas anmerkt. Es war unmöglich, das aus meinen Worten oder meiner Stimme zu hören.«

»Es ist mein Job, diese Dinge zu bemerken«, sage ich fest. »Da ich mit Kindern arbeite, muss ich das bemerken, was unter der Oberfläche sitzt.«

»Warum? Kinder tragen ihre Emotionen doch so offen nach außen«, stutzt Annika.

»Oft, ja«, lächle ich knapp. »Aber gerade Kinder können Emotionen auch in Tiefen vergraben, die für uns Erwachsene unvorstellbar sind. Sie können Türen in ihrem kleinen Bewusstsein öffnen und Dinge dort vergraben, die so schwarz sind, dass selbst die meisten Erwachsenen daran zerbrechen würden. Ich muss früh erkennen, wenn die Mutter einer 4-Jährigen nach außen ein perfektes Bild abgibt und in Wahrheit trinkt. Ich muss hinsehen, wenn etwas in der Familie schief läuft und wenn meine Schützlinge gefährdet werden. Die Kinder erzählen mir, wenn Mama wieder ›die Treppe hinunter gefallen‹ ist, oder wenn der Nachbar sie in einer Art berührt hat, in der kein Kind jemals berührt werden sollte.«

Mein wachsender Kloß im Hals zwingt mich, mit den schauerlichen Worten aufzuhören, und ich sehe auf. Die beiden schauen mich über alle Maßen schockiert an. Großartig. Ich habe mich wieder hinreißen lassen, vor Leuten, die ich nicht kenne und die nicht damit behelligt werden möchten, zu viel zu sagen. Ich werfe kopfschüttelnd das jetzt klatschnasse Handtuch auf den kleinen Tisch zwischen all den Sofas, stelle den Becher mit den Ex-Eiswürfeln daneben und stehe auf. »Tut mir leid, ich sollte wohl jetzt besser gehen. Ich wünsche Ihnen und ihrem Sohn von Herzen alles Gute. Und vielen Dank für die tolle Show. Sie war wie immer das Highlight meines Jahres.«

Herrje, jetzt flüchte selbst ich mich schon in die Floskeln. Also drücke ich mich an den beiden vorbei. Ich bin irritiert und will nur noch weg hier, ich kann nicht genau erklären, warum. Auf halbem Weg zur Türe drehen sich die zwei nochmal zu mir. »Ach, und vielen Dank für die Hilfe«, sagt Toni mit einem ehrlichen Lächeln. »Ich glaube, ich hätte meine Haare aus Verzweiflung wirklich einfach abgeschnitten.«

»Aber das war doch selbstverständlich. Auf Wiedersehen«, krächze ich. Ich lege eine Hand an die Türklinke und versuche, zu erspüren, warum der Raum hinter mir sich zu drehen scheint. Was ist hier gerade passiert?

»Frag nach dem Job!«, hallt es mir durch den Kopf. Ich bleibe hartnäckig, schlucke den Impuls herunter und ziehe die Türe auf.

»Hey, Annett, warte mal!«, schallt es plötzlich hinter mir. Das Klackern von Annikas Schuhen kommt abermals in meine Richtung. Sie ist ziemlich rot im Gesicht, als würde ihr Herz annähernd so stark klopfen wie meines. Einige Schritte dahinter steht Toni, entspannt die Hände in den Hosentaschen. Er lächelt wissend. »Hast du mal überlegt, ob du nicht Nanny werden möchtest?«, fragt sie aufgeregt.

Ein wahnsinniger Schauer läuft von meinem Scheitel über meinen Rücken. Das Geräusch, das ich mache, ist wahrscheinlich auch wenig menschlich. Aber es ist eine ehrliche Mischung aus Lachen, Schluchzen und Ausatmen. »Das war ich. Viele Jahre lang. Und es gibt nichts, was ich lieber tue«, gebe ich zu.

»Dann hast du doch sicher Lust, unseren kleinen Mann mal kennenzulernen?«, drängt Annika jetzt. »Wenn er dich nicht mag, können wir ja nichts tun... aber wir würden es gerne versuchen, Toni und ich.«

Ich schaue in ihre Augen, dann hinüber in seine. Sie meinen es wirklich ernst? Ja, sie meinen es ernst.

»Ja«, schniefe ich überglücklich. »Ich würde ihren Sohn unheimlich gerne kennenlernen.«

Zwei

Tinus sitzt neben mir und malt konzentriert in sein Übungsheft. Er würde jetzt die erste Klasse besuchen, wenn er zuhause in Finnland wäre. Deshalb habe ich gemeinsam mit Annika alle Unterrichtsmaterialien seiner internationalen Schule herüber nach Costa Rica schicken lassen. Hier pausiert derzeit die Tour, denn alle haben sich nach den anstrengenden letzten Wochen etwas Erholung verdient.

Der Kleine reißt mich aus meinen Gedanken. »Diese Zeile auch noch abschreiben?«, fragt er.

»Ja, bitte. Du machst das super«, entgegne ich schnell. Ich kann froh sein, dass er sofort mit der englischen Sprache aufgewachsen ist, denn Finnisch ist leider noch nicht in meinem Nanny-Repertoire enthalten. Ich kann etwas Norwegisch, das hilft. Den Rest macht Annika mit ihm. Parallel stecke ich oft bis spät in die Nacht die Nase in meine eigenen Lehrbücher. Finnisch in 4 Wochen, Finnisch für Anfänger und Finnisch, einfach und schnell – ich habe sie alle. Seltsamerweise ist das aber mein größtes Problem derzeit. Ich hatte zuhause in Hamburg in Windeseile meine Wohnung untervermietet, meine Eltern informiert, meine Krankenkasse auf den organisatorischen Albtraum namens Welt-Tournee vorbereitet. Und dann zum ersten Mal in meinem Leben mehrere Koffer gepackt. Direkt von Hamburg ging es dann zuerst zurück ins Basislager von Arctic Pitch nach Helsinki, Finnlands wunderschöner Hauptstadt. Und schon wenige Tage später nach Chile. Die letzten Wochen waren dementsprechend hart. Ich musste mich einarbeiten, Tinus richtig kennenlernen und alle zwei Tage einen Flieger besteigen. Aber jetzt, in dieser großen Villa am Strand von Costa Rica, werden wir eine Woche lang zur Ruhe kommen können.