The Secret Book Club – Ein Liebesroman ist nicht genug - Lyssa Kay Adams - E-Book
SONDERANGEBOT

The Secret Book Club – Ein Liebesroman ist nicht genug E-Book

Lyssa Kay Adams

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie schreibt man am besten einen Liebesroman? Indem man ihn selbst erlebt!   Der erfolgreiche Eishockeyspieler Vlad Konnikov hat ein Geheimnis: Seine Ehe ist nicht echt. Elena hat ihn nur geheiratet, damit sie in den USA studieren konnte. Vlad hingegen hoffte immer, dass irgendwann mehr aus ihnen wird. Nur deshalb hat er sich überhaupt dem Secret Book Club angeschlossen. Durch die Liebesromane, die die Männer dort zusammen lesen, wollte Vlad lernen, wie er das Herz seiner Frau gewinnen kann. Und die wichtigste Lektion lautet Ehrlichkeit. Also gesteht er ihr endlich, dass er eine echte Beziehung will. Im Gegensatz zu Elena. Sie will die Scheidung. Aber dann verletzt Vlad sich im wichtigsten Spiel seiner Karriere, und Elena weicht ihm nicht von der Seite. Gibt es doch noch Hoffnung? Oder findet sich das einzige Happy End in dem Liebesroman, den Vlad heimlich schreibt? Der Secret Book Club ist zurück! Band 4 der Bestseller-Reihe. «Die Liebesgeschichte ist herzzerreißend, hat aber viel Humor. Sie bietet sowohl Fans der Serie als auch neuen Leser:innen beste Unterhaltung.» Library Journal

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 428

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lyssa Kay Adams

The Secret Book Club – Ein Liebesroman ist nicht genug

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Angela Koonen

 

Über dieses Buch

Wie schreibt man am besten einen Liebesroman? Indem man ihn selbst erlebt!

Der erfolgreiche Eishockeyspieler Vlad Konnikov hat ein Geheimnis: Seine Ehe ist nicht echt. Elena hat ihn nur geheiratet, damit sie in den USA studieren konnte. Vlad hingegen hoffte immer, dass irgendwann mehr aus ihnen wird. Nur deshalb hat er sich überhaupt dem Secret Book Club angeschlossen. Durch die Liebesromane, die die Männer dort zusammen lesen, wollte Vlad lernen, wie er das Herz seiner Frau gewinnen kann. Und die wichtigste Lektion lautet Ehrlichkeit. Also gesteht er ihr endlich, dass er eine echte Beziehung will. Im Gegensatz zu Elena. Sie will die Scheidung. Aber dann verletzt Vlad sich im wichtigsten Spiel seiner Karriere, und Elena weicht ihm nicht von der Seite. Gibt es doch noch Hoffnung? Oder findet sich das einzige Happy End in dem Liebesroman, den Vlad heimlich schreibt?

Vita

Lyssa Kay Adams hat ihren ersten Liebesroman vom Bücherregal ihrer Oma geklaut. Das war in der achten Klasse, und seitdem ist sie ein treuer Fan des Genres. Das merkt man auch ihren eigenen Büchern an. In ihrer Reihe «The Secret Book Club» über Männer, die heimlich Romances lesen, findet man nicht nur hinreißende Liebesgeschichten, sie ist auch eine Hommage an das Genre selbst. Die Serie wurde in etliche Sprachen übersetzt, stand auf der Spiegel-Bestsellerliste, und eine Netflix-Verfilmung ist in Vorbereitung. Mehr Informationen über die Autorin sind auf ihrer Homepage zu finden: www.lyssakayadams.com

 

Die Übersetzerin Angela Koonen ist am Niederrhein aufgewachsen und liest schon, seit sie denken kann. Sie studierte aus Neugier Theologie, hat einen Sohn großgezogen und übersetzt seit zwanzig Jahren Unterhaltungsromane jeden Genres. Wenn sie nicht gerade liest oder übersetzt, hört sie gern Opern, Funk und Heavy Metal oder beschäftigt sich mit Malerei.

Für meine Tochter

 

Du bist das Licht meines Lebens.

Die Vorgeschichte

Sechs Monate zuvor

Das Leben ist ein Kinderspiel, bis jemand die Hosen voll hat.

Ausnahmsweise war dieses Mal nicht Vlad Konnikov der Übeltäter. Zum Glück wusste er aber, was zu tun war. Denn Vlad blickte auf eine unselige Historie von Verdauungskatastrophen zurück, für die er erst kürzlich eine Diagnose bekommen hatte. Nun ging der Mann mit der ärztlich bescheinigten Glutenallergie und gelegentlichen Reizdarmsymptomen nicht mehr ohne Notfall-Kit aus dem Haus.

Und jetzt gab es definitiv einen Notfall.

Vlad holte seine Tasche aus dem Hotelzimmer, fünf Etagen über dem Festsaal, wo er als Trauzeuge an der Hochzeit seines besten Freundes teilnahm. Er rannte die Treppen hinunter in das Halbgeschoss über dem Foyer. Dort traf er auf den anderen Trauzeugen, Colton Wheeler. Der Country-Star bewachte die Tür zur Herrentoilette.

«Noch immer schlecht?» Vlads starker Akzent war ausgeprägter als sonst, weil er in Hektik und angetrunken war. Schließlich war das hier eine Hochzeit, und – Verdauungsprobleme hin oder her – er war Russe. Russen betranken sich bei Hochzeiten. Dieses Klischee traf hier einmal zu.

«Übel. Wie ein Maschinengewehr.» Colton hielt eine imaginäre Waffe hoch und feuerte. «An deiner Stelle würde ich da nicht reingehen.»

«Ich muss. Er ist der Bruder. Er muss Rede halten.»

«Das wird in absehbarer Zeit nicht passieren, außer er hält sie vom Klo aus.»

Beim Klang hastiger Schritte drehte Vlad sich um. Der Bräutigam, Braden Mack, kam auf dem Fliesenboden rutschend vor ihm zum Stehen. «Wo bleibt mein Bruder?»

Colton verzog das Gesicht und zeigte mit dem Daumen über die Schulter.

«Immer noch?» Mack fuhr sich durch die Haare und fluchte, als er merkte, dass er sich dadurch die Frisur versaut hatte. Bei seinen Haaren war er pingelig. «Meine Güte, was hat er gegessen?»

Vlad zuckte die Achseln. «Wahrscheinlich Käse.»

Käse war auch Vlads ärgster Feind gewesen, bis er über die Sachlage aufgeklärt wurde. Er hatte die falschen Käsesorten mit den falschen Lebensmitteln kombiniert. Jetzt hielt er sich strikt an eine bestimmte Diät, nahm täglich seine Medizin und konnte so viel Käse essen, wie er wollte, solange es der richtige war. Er war praktisch ein neuer Mensch.

«Ich weiß, was zu tun ist.» Vlad öffnete sein Notfall-Kit, holte eine Schachtel Pfefferminztee heraus und gab Colton einen Teebeutel. «Schnell. Lass das in der Küche aufbrühen.»

Colton beäugte den Tee. «Ernsthaft?»

«Mach einfach.» Vlad lockerte die Schultern und dehnte den Nacken. «Gut. Ich bin bereit. Ich geh rein.»

Colton hob kapitulierend die Hände. «Es ist deine Nase.»

«Ich komme mit.» Mack zog seine Smokingjacke straff. «Er ist mein Bruder. Ich halte das aus. Schließlich bin ich mit dem kleinen Scheißer aufgewachsen.»

«Großer Scheißer», widersprach Colton und trat zur Seite. «Glaub mir. Er ist ein großer Scheißer.»

Vlad drückte die schwere Tür auf, die in den Angeln quietschte. «Liam?», fragte er sanft und näherte sich den Kabinen wie ein Unterhändler einem Geiselnehmer. «Hier ist Vlad. Und Mack.»

«Geht weg», ächzte jemand.

Vlad deutete auf die letzte Kabine. Mack nickte und wagte sich mit zusammengezogenen Brauen einen Schritt weiter vor.

«Wie läuft’s, Mann?», fragte er.

Liam stöhnte bloß. Mack kicherte hinter vorgehaltener Hand.

«Lass das», flüsterte Vlad. «Verdauungsprobleme sind kein Spaß. Auch wenn du das denkst.»

«Du hast recht, Mann.» Mack straffte die Schultern. «Wir haben uns zu oft über dich lustig gemacht. Ich bin froh, dass es dir besser geht.» Er tätschelte Vlad den Bauch. Verblüfft hob er die Augenbrauen. «Verdammt, Alter! Du hast ja Stahl unter dem Hemd.»

«Ich bin Profisportler.» Vlad schob Macks Hand weg. «Was dachtest du, was ich da habe?»

Vlad war Verteidiger in der Eishockeymannschaft von Nashville. Dadurch hatte er diese Gruppe erfolgsverwöhnter Schwachköpfe erst kennengelernt und sich mit ihnen angefreundet. Colton war bei Weitem der Berühmteste von ihnen, aber auch die anderen standen im Who’s who dieser Stadt weit oben. Vlad war nicht mal der einzige Profisportler unter ihnen. Gavin Scott, Yan Feliciano und Del Hicks spielten im Baseballteam von Nashville, und Malcolm James spielte Football in der NFL-Mannschaft der Stadt. In den letzten sechs Jahren, seit Vlad in die USA immigriert war, um Eishockey zu spielen, waren diese Jungs seine besten Freunde geworden. Mack hielt die Gruppe durch den Secret Book Club zusammen. Sie lasen von Frauen geschriebene Liebesromane und lernten dadurch, bessere Männer zu sein. Diese Männer und diese Bücher hatten Vlads Leben verändert. Und deshalb würde er Mack jetzt nicht im Stich lassen, sondern dafür sorgen, dass sein Bruder die wichtigste Rede des Abends halten konnte.

«Ich fasse es nicht», stöhnte Liam in der Kabine. Dem folgte ein Geräusch, das Mack entsetzt zurückweichen ließ. «Was soll ich bloß tun?»

Vlad blieb solidarisch vor der Kabinentür stehen. Jahrelang war er der Mann gewesen, der bei seinen Freunden die Abflussrohre verstopfte oder von dem dies zumindest erwartet wurde. Den Ruf war er zum Glück losgeworden. Kaum jemand verstand, was es hieß, den eigenen Körper zum Feind zu haben. Aber klar, jeder fand einen Furz zur falschen Zeit zum Schreien komisch. Außer der Furzer selbst. Nichts war vergleichbar mit der Panik, die einen überkam, wenn sich plötzlich mitten unter Leuten der Verdauungstrakt warnend zusammenkrampfte und nirgends ein Klo in der Nähe war. «Ich kann helfen», sagte Vlad ruhig.

«Ihr müsst nicht hierbleiben», stöhnte Liam. «Mir wäre sogar lieber, ihr geht.»

«Man lässt einen Freund mit Darmproblemen nicht allein.»

«Doch, genau das tut man», erwiderte Liam. «Und jetzt geht.»

«Du bist der Bruder des Bräutigams. Der Trauzeuge. Du musst die Rede halten.»

«Kann ich nicht.» Es folgte ein beweiskräftiges Geräusch.

Vlad verzog mitfühlend das Gesicht. Er holte aus seinem Notfall-Kit ein Fläschchen hervor und reichte es unter der Tür durch. «Reib dir etwas davon auf den Bauch.»

«Was wehtut, ist mein gottverdammtes Arschloch!»

«Das wird die Krämpfe lindern», versicherte Vlad. «Glaub mir.»

Als Nächstes zog er eine Schachtel schnell wirksamer Pillen gegen Durchfall hervor und schob sie ebenfalls durch den Spalt. «Nimm davon direkt zwei. Es dauert ein bisschen, bis sie wirken, aber sie helfen.»

Eine glänzende schwarze Schuhspitze zog die Schachtel vom Spalt weg. «Danke, Mann.»

Als Letztes förderte Vlad eine nagelneue Packung Herrenunterwäsche zutage, die denselben Weg nahm. «Nur für alle Fälle», sagte er und richtete sich wieder auf.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und herein kam Colton, in der Hand eine dampfende Tasse und über Mund und Nase eine Stoffserviette als Atemschutz. «Hier ist der Pfefferminz-Kacka-Tee.»

«Mack», stöhnte Liam. «Was soll ich bloß wegen der Rede machen?»

«Du kannst sie später halten, wenn es dir besser geht.»

«Apropos», nuschelte Colton durch die Serviette. «Liv steht draußen. Sie will wissen, was los ist.»

Mack und Vlad sahen sich erschrocken an. Liv war die Braut, eine bildschöne, toughe Frau, die jeden Mann der Gruppe das Fürchten lehrte. Und am meisten Liam, wie es schien.

Mack fasste Vlad bei den Schultern. «Hast du Lust, eine Rede zu halten?»

Vlads Magen zog sich zusammen. «Äh, ich?»

«Ich wüsste keinen, der mir lieber wäre.»

«Ich, äh, hab nichts vorbereitet.» Vlads Stimme klang belegt, und seine Augen schwammen plötzlich in Tränen. Auch dafür war er in der Gruppe berüchtigt: spontane Gefühlsausbrüche. Er konnte einfach nicht anders, und dagegen gab es keine Pillen. Er weinte bei Hochzeiten, Romanen, Songs, Werbeclips und niedlichen Tierfilmen. Und jetzt sollte ausgerechnet er bei Macks Hochzeit eine Rede halten? Das würde er nicht durchstehen.

Mack legte ihm eine Hand in den Nacken und drückte leicht. «Ich würde mich geehrt fühlen, wenn du einfach sagst, was dir in den Sinn kommt. Keiner hat ein so großes Herz wie du.»

Vlad wischte sich eine Träne weg. «Ich bin es, der sich geehrt fühlt.»

Liam presste einen Laut hervor, der den zarten Moment abrupt beendete.

«Vielleicht sollten wir uns draußen weiter unterhalten», schlug Mack vor.

Vlad nickte, und Mack wandte sich der Kabine zu. «Wir sehen später noch mal nach dir, okay?»

«Danke, großer Bruder», stöhnte Liam. «Wenn ich dich nicht hätte.»

«Gleichfalls, kleiner …»

Ein weiteres Geräusch ließ sie hastig das Weite suchen.

Vor der Tür schritt Liv im Brautkleid mit verschränkten Armen auf und ab. «Na endlich!» Sie warf die Hände hoch. «Ich war drauf und dran, reinzukommen. Wie geht es ihm?»

«Er wird wieder», sagte Vlad, «aber das kann dauern.»

Mack klopfte ihm auf den Rücken. «Vlad wird die erste Rede halten, damit wir weitermachen können.»

Ein weicher Ausdruck stahl sich auf Livs Gesicht, und sie lächelte Vlad an. Wegen dieses Lächelns, das wusste er, hatte Mack sich in sie verliebt. Unter ihrer rauen Schale war Liv flaumweich wie ein Küken. Sie schlang die Arme um seine Schultern. «Ich werde weinen.»

«Ich auch.» Er drückte sie sanft.

«Ich hasse es, wenn ich weinen muss.»

«Ich weiß. Darum werde ich für dich mit weinen.»

Mack zog Liv von ihm weg und gab ihr einen Schmatz auf die Lippen. «Lass uns anfangen.»

Nachdem sie in den Festsaal zurückgekehrt waren, kündigte der DJ eine kleine Programmänderung an. Das Personal schenkte allen Champagner ein, und Vlad trat ans Mikrofon.

Als er durch den Saal schaute, überkam ihn ein Gefühl, das ihn neuerdings öfter heimsuchte: Neid. Seine Freunde neigten sich zu ihren Frauen und Freundinnen und warteten darauf, dass er ein paar weise Ratschläge an das Brautpaar gab. Doch er wusste keine. Er in dieser Rolle, das war Hochstapelei. Er hatte sich dem Buchclub angeschlossen, weil Mack behauptete, die «Handbücher» – wie er die Liebesromane nannte – würden ihm helfen, seiner Frau Elena ein guter Ehemann zu sein. Aber natürlich hatte er versagt.

Denn Vlads Ehe bestand nur auf dem Papier.

Er fand es grässlich, seine Freunde zu belügen, doch die Vorstellung, ihnen nach all der Zeit zu beichten, dass Elena ihn nur geheiratet hatte, damit sie Russland verlassen und in Amerika studieren konnte, war zu demütigend. Er mochte nicht mal daran denken. Allerdings hatte er eines aus den Handbüchern gelernt, nämlich dass er mehr verdiente als diese einseitige Beziehung. Er wollte geliebt werden. Er wollte eine Familie. Er wollte die große Geste und das Happy End. Deshalb hatte er vor einem Monat endlich den Schritt gewagt, der ihnen ein neues Leben ermöglichen könnte. Auch wenn dieser Schritt ihm ungeheure Angst eingejagt hatte, mehr Angst als seine Entscheidung, die russische Eishockeyliga zu verlassen und für die NHL zu spielen. Mehr Angst als sein überstürzter Heiratsantrag. Mehr Angst als sein Entschluss, Elena allein zum Studium nach Chicago gehen zu lassen.

Vor einem Monat war er den Lektionen seiner Handbücher gefolgt und hatte ihr gesagt, dass er nach ihrem Hochschulabschluss eine richtige Ehe mit ihr führen wollte.

Er hatte gehofft, Elena würde ihm um den Hals fallen, ihn küssen und ihm gestehen, dass sie ihn von Anfang an geliebt und nur nicht gewusst habe, wie sie es ihm sagen sollte. Stattdessen kam eine ruhige Antwort: Sie brauche Zeit, um darüber nachzudenken. Und obwohl ihm das fast das Herz gebrochen hatte, war er so hoffnungsvoll wie schon lange nicht mehr. Er hatte endlich etwas getan, um sich aus dem Wartezustand der letzten sechs Jahre zu befreien.

«Liebe Freunde», begann er schließlich. Alle wurden still und wandten ihm ihre lächelnden Gesichter zu. «Ich bin Russe …»

«Sag bloß!», rief einer dazwischen.

Vlad hob eine Hand und nickte. «Ich bin Russe, und als ich nach Amerika kam, wusste ich nicht, was mich erwartet. Die ersten Monate … waren einsam.»

Er sah nach rechts, wo Liv und Mack aneinandergelehnt saßen und ihm lauschten. «Doch dann lernte ich Mack kennen. Er ist sehr – wie soll ich sagen? – nervig.»

Schallendes Gelächter füllte den Saal.

«Nein, das habe ich nicht gemeint. Selbstsicher, meine ich. Er ist sehr selbstsicher. Ich dagegen war es nicht.»

«Ooooh», machten die Gäste bedauernd.

«Mack war der Erste, der mir das Gefühl gab, es könnte doch eine gute Idee gewesen sein, mein Land zu verlassen und hierherzukommen. Er war mein erster Freund in Amerika und mein bester. Aber wisst ihr, er konnte überhaupt nicht mit Frauen umgehen …»

Wieder Gelächter.

«Er war, wie man hier sagt, ein Maulheld. Großes Selbstbewusstsein, aber null Ahnung. Genau wie die Sportjournalisten, die meinen, sie spielen besser Eishockey als wir: Sobald sie in die Schlittschuhe steigen, brechen sie sich die Nase.»

Während alle lachten, schaute er kurz zu Mack hinüber, der gerade von Liv einen Kuss auf die Wange bekam und ihn gespielt böse ansah.

«Also war Mack auch einsam. Er hatte Pech mit den Frauen, bis er Liv begegnete. Und wir alle wussten von Anfang an, dass sie die Richtige für ihn war, denn sie konnte ihn erst mal nicht ausstehen. Sie fand ihn nervig. Und ich meine damit nicht selbstsicher. Sondern nervig.»

Liv lachte und verbarg das Gesicht an Macks Arm. Vlad beobachtete lächelnd, wie Mack sie auf den Scheitel küsste.

«Ich fühle mich ungeheuer …»

Vlad stockte und musste sich räuspern, was erneut einen Chor mitleidiger Ohs auslöste. Vlad schniefte. «Ich fühle mich ungeheuer geehrt, dass ich an Macks Leben teilhaben und miterleben durfte, wie er Liv zuliebe ein noch besserer Mensch wurde, als er schon war.» Er wischte sich eine Träne weg. «Ich liebe euch beide sehr.»

Mit nass glänzenden Augen linste Liv von Macks Schulter hoch.

Vlad hob sein Glas, und alle folgten seinem Beispiel. «Ich weiß, ihr werdet für immer zusammen glücklich sein, sogar wenn Mack nervig ist. Danke, dass ihr mich daran teilhaben lasst. Wie wir in Russland sagen: Zhelayu vam oboim more schast’ya. Ich wünsche euch beiden ein Meer des Glücks.»

Vlad trank seinen Champagner, während die anderen applaudierten und anstießen. Mack und Liv kamen zu ihm und umarmten ihn.

«Mensch, Alter», sagte Mack mit belegter Stimme. «Ich liebe dich auch.»

Liv gab Vlad einen Kuss auf die Wange. «Eine wunderschöne Rede. Es fehlte nur noch Elena an deiner Seite.»

Vlad fühlte eine Träne herablaufen und hoffte, dass die beiden das seiner Rührung über ihr Liebesglück zuschrieben – und nicht seiner Frau.

«Schluss mit dem Geheule», sagte er und rang sich einen amüsierten Tonfall ab. «Das ist eine Party!»

Mack sah Liv grinsend an. «Ich habe eine Überraschung für dich.»

Na endlich! Darauf hatte sich Vlad schon die ganze Zeit gefreut. Er und die anderen Trauzeugen hatten wochenlang eine Tanznummer einstudiert. Ihm war klar, wie dämlich er dabei aussah, allein durch seine Körpergröße. Aber er tanzte wahnsinnig gern. Er wischte sich die Tränen weg und gab dem DJ ein Zeichen, damit der die Musik startete. Die übrigen Trauzeugen zogen Vlad und Mack auf die Tanzfläche, und unter dem Gejubel der Gäste machten sie sich gründlich zum Affen – sehr zur Freude von Liv, Macks großer Liebe.

Anschließend musste Vlad mitansehen, wie seine Mittänzer zu ihren Frauen und Freundinnen zurückkehrten. Um mit seinem Neid fertigzuwerden, ging er an die Bar und bestellte sich ein Glas Wasser. Colton, der schon mit einem Whiskey und einem Bier dort saß, setzte zu einer Bemerkung an, unterbrach sich aber, um einen leisen Pfiff auszustoßen. Das konnte nur eines bedeuten: scharfe Frau im Anmarsch. Vlad drehte den Kopf, um zu sehen, wen Colton meinte. Eine große Frau in einem langen roten Kleid, mit braunem Haar, das ihr über eine Schulter floss, stand im Eingang des Saals wie eine Königin. Sie war in der Tat umwerfend. Sie war … heilige Scheiße.

Vlad blieb die Spucke weg, die Welt stand still.

Die Welt, die Zeit, sein Herz.

Sein Blickfeld verengte sich, wie wenn er den Puck auf dem Eis fixierte. Farben verblassten, Geräusche schwanden, die anderen Gäste traten in den Hintergrund, und er sah nur noch sie.

Elena.

Eine Hand mit einem Whiskeyglas glitt zweimal vor seinen Augen vorbei. «Hey, Kumpel. Du bist ein verheirateter Mann, weißt du noch?»

«Ja, ich weiß.» Vlads Herz klopfte wie wild, und seine Knie wurden weich. «Das ist meine Frau.»

Colton schnaubte, dann stutzte er. «Heilige Scheiße, Mann. Im Ernst?»

In Vlads Brust kribbelte es, als ob die Champagnerbläschen wieder hochstiegen und einen Freudentanz aufführten. War das ihre Antwort? Wollte sie ihm auf diese Weise zeigen, dass sie einwilligte? Elena entdeckte ihn und sah ihm quer durch den Festsaal in die Augen. Vlad öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus. Er wollte zu ihr laufen, doch seine Beine gehorchten nicht.

Unvermittelt wandte sie sich ab und ging.

Es kam ihm vor wie ein Déjà-vu. Nur ein paar Monate nach ihrer Ankunft in Amerika hatte er zusehen müssen, wie sie sich ihren Rucksack aufsetzte und hinter der Sicherheitssperre im Flughafen verschwand, um nach Chicago zu fliegen. Es drängte ihn, ihr nachzureisen, ihr zu sagen, sie solle bei ihm bleiben, doch seine – noch immer romantisch veranlagte – Mutter riet ihm, ihr Zeit zu lassen.

«Sei geduldig mit ihr. ‹Ich lass ein Vöglein in die Freiheit …›»

Unglücklich sprach Vlad die nächste Gedichtzeile. «‹… und grüß das neu erwachte Leben.›»

«Sie braucht Zeit, Vlad. Wenn sie fortgehen muss, um zu sich zu finden, um zu neuem Leben zu erwachen, musst du sie lassen. Sie wird zu dir zurückkommen.»

War Elena zu ihm zurückgekommen? Vlad durchbrach die Fesseln seiner Unentschlossenheit und zwang seine Beine zur Bewegung. Vor dem Festsaal standen einige Hochzeitsgäste. Ein paar Fremde, die betrunken von einer nächtlichen Kneipentour ins Hotel zurückkehrten, schwankten zwischen den Grüppchen hindurch. Er entdeckte Elena fünfzehn Meter vor ihm. Sie ging so schnell, zu laufen wäre für sie vermutlich bequemer gewesen.

Er rief nach ihr, um durch das Gelächter bis zu ihr zu dringen. «Elena, warte!»

Sie ging weiter, er rannte. Als er sie einholte, wechselte er in ihre Muttersprache. «Elena, bitte bleib stehen. Wohin willst du denn?»

Sie hielt so abrupt an, dass sie mit ihren hochhackigen Schuhen ins Rutschen geriet und zu stürzen drohte. Der Saum ihres Kleides schwang ihr um die Knöchel. Instinktiv griff er nach ihr, um sie abzufangen, und fasste sanft um ihre nackten Ellbogen.

«Vorsicht.» Seine Stimme klang rau, denn der Schock der Berührung raubte ihm den Atem.

Langsam drehte sie sich um, und mit Bedauern ließ er sie los. Sie strahlte Wärme aus und duftete tröstlich. «Ich kann kaum glauben, dass du hier bist.» Er sprach weiter russisch, weil sie das untereinander immer so gehalten hatten. «Du siehst so schön aus.»

Elena schüttelte den Kopf und wich seinem Blick aus. «Es tut mir leid. Ich hätte anrufen sollen. Ich hätte dich nicht so überfallen dürfen.»

Er berührte sie am Ellbogen. «Das ist der beste Überfall meines Lebens.»

Ihr Blick wanderte nach rechts, dann nach links, sie wich ihm aus. «Vlad, vielleicht sollte ich zu Hause auf dich warten. Ich wollte nicht stören …»

«Du störst nicht. Ich freue mich, dass du hier bist.»

Sie biss sich auf die Unterlippe und schlang die Arme um sich.

«Hey …» Mit neuem Mut fasste er ihr zärtlich ans Kinn, damit sie ihm ins Gesicht sah. «Hast du Angst, meine Freunde kennenzulernen? Du brauchst deswegen nicht nervös zu sein. Sie werden dich lieben, das kann ich dir versprechen. Sie wollten dich schon die ganze Zeit kennenlernen.»

«Vlad, du verstehst das falsch. Ich dachte … ich dachte, so wäre es einfacher. Ich dachte, wir könnten in entspannter Umgebung darüber reden. Aber ich habe deine Rede gehört und dich mit ihnen gesehen. Ich … ich gehöre nicht hierher. Das ist nicht meine Welt. Das war sie von Anfang an nicht.» Ihre Stimme schwankte, und ihre Lippen fingen an zu zittern.

Da landete er mit voller Wucht in der Realität. Es war wie ein harter Sturz auf dem Eis, bei dem die Erschütterung bis ins Mark ging. «Elena, was … was willst du mir sagen?»

«Es tut mir leid …» Sie bekam die Worte kaum heraus. «Ich gehe zurück nach Russland.»

Kapitel 1

Sechs Monate später

In früheren Zeiten mochte das heruntergekommene Haus am Südufer des Cumberland Rivers einmal idyllisch und einladend gewesen sein. Heiter sogar. Doch inzwischen nicht mehr.

Vor den schwarz gestrichenen, mit Brettern vernagelten Fenstern hingen leere, rissige Blumenkästen. In der feuchten Junibrise flatterten die letzten Fetzen einer rot-weißen Markise, als klammerten sie sich an die Vergangenheit des Hauses, wie Geister, die neues Unheil ankündigen. Nur ein Dummkopf würde ihre Warnung missachten, aber Vlad hatte bereits bewiesen, dass er ein Dummkopf war. Obwohl sein Verstand ihn wegen seiner Schwäche verfluchte, durchlief ihn ein freudiges Kribbeln in Erwartung der süßen Befriedigung, die er hinter jener Tür finden würde.

Sein Beifahrer fluchte aus einem ganz anderen Grund. «Nur damit ich das richtig verstehe», sagte Colton und verfiel in ein quengeliges Näseln. «Ich höre drei Monate lang nichts von dir, und dann rufst du deswegen an? Damit wir hier rumsitzen und du auf Russisch vor dich hin murmelst?»

«Es waren keine drei Monate», widersprach Vlad. Es waren sogar vier.

In den ersten Wochen nach Macks Hochzeit – nachdem Elena ihm eröffnet hatte, dass sie ihre Ehe beenden und in ihre Heimat zurückkehren wollte – hatte Vlad sich vorgemacht, er könne weiter dem Buchclub angehören. Doch je länger er mit den Jungs zusammensaß, desto quälender wurde das Ganze für ihn. Ihr Glück war Salz in seinen Wunden, und als er ihnen erzählte, dass Elena und er sich scheiden ließen, wurde es durch ihre Hilfsangebote nur noch schlimmer. Er brachte es nicht über sich, sie weiter zu belügen und mit Ausflüchten abzuwimmeln. Genauso wenig konnte er weiter mit ansehen, wie seine Freunde das Leben führten, das er sich immer erträumt hatte und das er nun nie bekommen würde. Er wollte nicht ständig daran erinnert werden, dass seine Überzeugung, eines Tages mit Elena eine echte Ehe zu führen, nur eine Illusion gewesen war. Die Handbücher hatten in ihm die falsche Hoffnung genährt, sie könnte in ihm irgendwann den romantischen Helden sehen. Ihn am Ende lieben wie die Romanheldinnen seiner Bücher. Nun wusste er es besser. Happy Ends gab es nur für andere Männer.

Ihm blieb nur noch Eishockey.

Sie hatten es mit den Nashville Vipers zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren ins Conference-Finale geschafft. Sie brauchten nur noch einen Sieg, dann würden sie um den Stanley Cup spielen. Vlad war nie besser gelaufen, hatte nie härter geschlagen und noch nie so viele Tore erzielt wie in den letzten sechs Monaten.

Er durfte jetzt nicht verlieren. Was wäre von seinem Leben dann noch übrig?

«Ich verfluche den Tag, an dem ich dir von dem Laden erzählt habe», sagte Colton. «Ich dachte, ich tue dir einen Gefallen, heitere dich ein bisschen auf. Hätte nicht gedacht, dass du süchtig wirst.»

Vlad packte das Lenkrad fester. «Ich bin nicht süchtig.»

«Wirklich? Was tun wir dann hier?»

«Ich brauche das. Für das Spiel heute Abend. Ich brauche es wirklich.» Selbst in seinen Ohren klang er willensschwach, als wäre er seinem Verlangen hilflos ausgeliefert.

«Nein, tust du nicht. Das ist nur blöder Aberglaube.»

«Beim letzten Mal habe ich geschworen, nie wieder herzukommen; und was ist passiert? Wir haben das Spiel verloren.»

«Also hast du mich deshalb angerufen? Damit ich dir mit meiner Mitgliedschaft wieder Einlass verschaffe?»

Vlad starrte durch die Windschutzscheibe auf die düstere Hausfassade. «Seit ich hierherkomme, spiele ich wie eine Bestie. Ich darf jetzt keine Niederlage riskieren.»

«Das ist das letzte Mal, Vlad.» Colton stieß die Beifahrertür auf. «Ich werde nicht noch mal mit dir hierherfahren.»

Vlad ging dicht hinter ihm über Kies und Glasscherben auf die Tür des Hauses zu.

«Ich meine es ernst.» Colton fuhr herum und tippte Vlad mit dem Finger an die Brust. «Du kannst uns nicht einfach monatelang den Rücken kehren und mich dann wegen eines Gefallens anrufen, als wäre nichts gewesen. Wir haben Besseres verdient.»

Schuldbewusst senkte Vlad den Blick zu den schmutzigen gesprungenen Zementplatten zu seinen Füßen. «Ich weiß. Du hast recht. Es tut mir leid.»

«Wir vermissen dich, Mann. Und wir machen uns Sorgen um dich. Ich weiß, die Scheidung trifft dich hart, aber dafür sind wir da. Wir können dir helfen, das wieder hinzubiegen.»

«Da kann man nichts hinbiegen.» Vlad begegnete Coltons Blick. «Wie schon gesagt, sie verlässt mich, und ich kann sie nicht davon abhalten.»

«Woher willst du das wissen, wenn wir es nicht mal versucht haben?»

«Es reicht!», blaffte Vlad zurück.

Colton riss die Augen auf, erstaunt über die ungewohnte Schärfe in Vlads Tonfall. Er wurde seinen Freunden gegenüber nie ungehalten. Nie.

Vlad fluchte leise und rieb sich das Kinn, wo Bartstoppeln sprossen, obwohl er sich vor wenigen Stunden rasiert hatte. «Ich weiß, du meinst es gut, aber Elena hat sich entschieden. Sie kehrt nach Russland zurück, um als Journalistin zu arbeiten, wie ihr Vater. Daran kann ich nichts mehr ändern.»

Colton betrachtete ihn einen Moment lang, dann akzeptierte er das nickend. Er wandte sich ab und ging weiter.

Die Haustür hatte in mittlerer Höhe ein Fenster, das mit einem Holzladen verschlossen war. Colton klopfte dreimal schnell und zweimal langsam dagegen. Einen Moment später klopfte drinnen jemand ein Mal. Colton antwortete darauf mit zweimaligem Klopfen. Der Fensterladen wurde zur Seite geschoben, ein Paar dunkler Augen schaute heraus.

«Münze», sagte die Person.

Colton hielt das Silberstück hoch, das seine Mitgliedschaft in dem geheimen Club bewies. Der Fensterladen schloss sich schnappend, schwere Schlösser wurden gedreht und die Tür geöffnet, worauf ein Schwall kalter, säuerlich riechender Luft nach draußen drang.

Colton schlüpfte in das dunkle Haus, Vlad ihm nach. Sobald sie drinnen waren, wurde die Tür zugeschlagen.

«Schon wieder?» Der eben noch strenge Ton des Torhüters wurde spöttisch. Vlad ballte eine Faust, aber Colton trat dazwischen.

«Ist Ihnen unser Geld etwa nicht gut genug?», schnauzte Colton.

Der Mann, ein dürrer kleiner Kauz, der seine geringe Statur mit einem Benehmen kompensierte, für das er auf dem Eis umgelegt würde, grinste nur höhnisch und deutete über die Schulter. «Warten Sie dadrin. Er wird gleich bei Ihnen sein.»

Vlad und Colton gingen einen kurzen Flur entlang bis zu einer Rampe und einem dicken schwarzen, bodenlangen Vorhang, der den Blick versperrte. Vlad schob ihn beiseite. Als er hindurchging, schalteten sich blendend grelle Lampen ein. Nachdem er die Augen zusammengekniffen und sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, wurde ihm der Mund wässrig.

Im Gegensatz zu dem widerlich schmutzigen Eingang des Hauses wirkte dieser Raum makellos gepflegt und steril. Edelstahlkühlschränke säumten eine Wand, und in der Mitte standen Edelstahltische angeordnet wie in einem Klassenzimmer.

Hier lagen auf Servierplatten die Objekte seiner Begierde, ihre Namen waren auf kleine Schiefertafeln geschrieben – ein alphabetisch geordnetes Büfett der größten Köstlichkeiten der Welt. Ädelost. Burrata. Fontina. Passendale.

Käse.

So viel Käse. Käse aus allen Ecken der Welt, hergestellt nach Originalrezepten, ohne jene Zusätze, künstlichen Geschmacksstoffe und Konservierungsmittel, die seinen Magen reizten. Käse, den er nirgendwo anders bekam. Schwarzmarkt-Käse, dessen Verlockung ihn bis in seine Träume verfolgte und dort quälte, genau wie die Erinnerung an Elenas Worte, bevor sie in Tränen ausbrach: Es tut mir leid. Ich kann dir nicht geben, was du willst.

Jetzt konnte ihm nur noch einer geben, was er wollte. Ein großer, gefährlicher Mann, der ihn vom anderen Ende des blitzblanken Raumes aus düster anlächelte. «Ich wusste, Sie kommen wieder.»

Auch Vlad hatte das gewusst. Denn tief im Innern war ihm klar, dass ihm nichts anderes mehr blieb: Eishockey und dieser geheime Käseladen.

Er hätte klüger sein und das Schicksal nicht herausfordern sollen.

◆◆◆

Von all den Fehlern, die Elena Konnikova in ihrem Leben begangen hatte – und das waren ungeheuer viele –, rangierte dieser wohl unter den Top Five.

Sich mitten in der Nacht mit einer Quelle zu treffen, ohne vorher jemandem zu sagen, wo man hinging – bei genau so einer Aktion war ihr Vater verschwunden.

Doch was blieb ihr anderes übrig? Ihr lief die Zeit davon. In einem Monat würde sie an der Medill School of Journalism ihren Abschluss machen und anschließend nach Russland zurückfliegen. Dieses Treffen war womöglich ihre letzte Chance. Wenn sich ihre Quelle also nur in einem schaurigen, leer stehenden Gebäude mit ihr treffen wollte, weil sie das für sicherer hielt, dann war Elena dazu bereit.

Man muss sich mit ihnen dort treffen, wo sie sich wohlfühlen. So lautete eine der vielen Lektionen, die sie von ihrem Vater gelernt hatte. Natürlich indirekt. Er hatte ihr nichts bewusst beigebracht, weil er nicht wollte, dass sie in seine Fußstapfen trat. Doch wenn er sie nicht inspirieren wollte, hätte er seine Arbeit nicht so gut machen dürfen.

Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre sie ihm nie freiwillig gefolgt. Damals traf sie einige vorschnelle Entscheidungen, die zunächst leichte Wellen schlugen, am Ende aber zu einem Tsunami führten und den Menschen schadeten, die ihr am meisten am Herzen lagen. Doch die Zeit hatte so manches zurechtgerückt und ihr die Augen geöffnet, sodass sie erkannte, was sie aus Schmerz und Egoismus nicht hatte sehen wollen.

Ihr Vater war ein Held.

Und all der Schmerz und Egoismus, die sie bewogen hatten, vor dem Staat und dem Beruf zu fliehen, der ihren Vater das Leben gekostet hatte, führten letztlich zu ihrer heutigen Entschlossenheit. Sie war entschlossen, für Gerechtigkeit zu sorgen. Sie konnte zwar weder den Fehler ungeschehen machen, den sie in der Nacht seines Verschwindens begangen hatte, noch irgendeinen ihrer späteren, aber sie war den Menschen, die unter diesen Fehlern gelitten hatten, zumindest den Versuch schuldig, den angerichteten Schaden zu reparieren. Anfangen würde sie damit, dass sie die Story zu Ende schrieb, wegen der man ihren Vater höchstwahrscheinlich umgebracht hatte. Das würde ihn nicht ins Leben zurückholen, aber dann wäre nicht alles umsonst gewesen.

Endlich hatte sie nun nach Jahren heimlicher, oft frustrierender Recherche das, was ihrem Vater immer gefehlt hatte.

Einen Insider.

Das verwahrloste Chicagoer Lagerhaus, an dem sie sich treffen wollten, lag vier Blocks von der Stelle entfernt, wo Elena den Uber-Fahrer anhalten ließ. Man muss es seinen Verfolgern möglichst schwer machen. Auch eine Lektion ihres Vaters. Vielleicht war er etwas paranoid gewesen, aber es war sicherer, so vorzugehen. Denn Journalisten, die sich in Russland weigerten, den Lesern die staatliche Propaganda aufzutischen, stürzten schon mal unter rätselhaften Umständen aus dem Fenster oder verschwanden wie ihr Vater nachts von einem Bahnhof.

Mit gesenktem Kopf ging Elena den rissigen Bürgersteig entlang. Die Hälfte der Straßenlaternen war defekt, sodass sie abwechselnd durch Dunkelheit und Halbdunkel lief. Über löchrigen Zementboden, Glasscherben und Kieselsteinchen, die unter ihren Schritten knirschten, eilte sie durch die Gasse hinter dem Lagerhaus, wo früher einmal ehrliche Arbeiter mit der Produktion von Autoteilen anständigen Lohn verdient hatten, bevor gierige Unternehmen die Fabrik schlossen und die Arbeitsplätze ins Ausland verlegten. Die Fensterscheiben des vierstöckigen Backsteingebäudes waren fast alle zerbrochen, genau wie der Traum von einem besseren Leben. Amerikaner glaubten gern, dass in ihrem Land der Freien nur harte Arbeit nötig war, um Erfolg zu haben. Doch solche aufgegebenen Fabriken bewiesen etwas anderes. Auch hier gab es Oligarchen wie in Russland. Egal, welche Flagge auf ihrer Veranda wehte, reichen Männern war ihr Vermögen immer wichtiger als das Leben der Menschen, die es mit ihrer Arbeit erst ermöglichten.

Schaudernd von der Abendkühle, zog Elena ihr Handy aus der Tasche, um nach der Uhrzeit zu sehen. Es war fünf Minuten nach elf. Marta verspätete sich. Elena beschlich ein ungutes Gefühl. Martas Boss, der Inhaber des Stripclubs, in dem sie neuerdings arbeitete, hielt seine Angestellten an der kurzen Leine. Und wenn sie nicht bis Mitternacht wieder dort war, würde er sie feuern oder Schlimmeres tun. Elena wusste inzwischen, wie dieses Schlimmere aussah. Er war ein Monster, genau wie all die anderen. Aber Marta hatte genug davon. Sie wollte nicht nur aus dem Milieu raus, sondern ihn auch für seine Taten bezahlen lassen. Elena würde ihr dabei helfen. Nicht nur Marta und den anderen Frauen, die er drangsalierte, zuliebe, sondern auch für ihren Vater.

Elena hatte Jahre gebraucht, um herauszufinden, was genau er recherchierte, als er verschwand. Er hatte gegen einen Frauenhändlerring ermittelt, der von einem berüchtigten, aber geheimnisumwitterten russischen Mafiaboss geführt wurde, bekannt unter dem Namen Strazh. Auf Englisch bedeutete das Wächter, doch weder schützte er jemanden, noch hatte er irgendetwas Nobles an sich. Zu seinen vielen kriminellen Unternehmen gehörte Gerüchten zufolge auch eine Stripclub-Kette in Amerika. Hier landeten junge Russinnen und Ukrainerinnen, die seine Leute mit der Verheißung von Reichtum und einem luxuriösen Lebensstil hergelockt hatten. Bei ihrer Ankunft fanden sie sich in einem Albtraum wieder.

Aus den Notizen ihres Vaters ging hervor, dass er kurz davor gestanden hatte, Strazhs Identität zu entlarven. Und das kostete ihn das Leben.

Bei einem Knirschen fuhr Elena herum. Marta erschien wie aus dem Nichts. Sie trug eine zerschlissene Jeans und einen dunkelgrünen Hoodie, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

«Ich habe mir schon Sorgen gemacht», flüsterte Elena auf Russisch. «Ich dachte, du hast es dir vielleicht anders überlegt oder …»

Marta huschte auf sie zu. «Ich muss mich beeilen.»

«Ich weiß. Bist du sicher, dass dir keiner gefolgt ist?»

Marta nickte hastig und schob eine Hand in die Jackentasche. Wie sie sich bewegte, zeugte von Angst, aber ihr Blick wirkte entschlossen. Sie gab Elena ein Stückchen Papier. Es war von einer Bäckereitüte abgerissen worden. Eine vierstellige Zahl und ein Name waren daraufgekritzelt.

Nikolei 1122. Elena blickte auf. «Was heißt das?»

«Keine Ahnung.» Marta sah sich nach allen Seiten um. «Das habe ich ihn gestern Nacht am Telefon sagen hören. Ich hätte mir nichts dabei gedacht, aber er …» Sie schluckte schwer.

«Er was?», fragte Elena.

«Er wurde so wütend, als er merkte, dass ich es gehört habe. Er hat mich am Arm gepackt und mich weggestoßen und gesagt, ich soll wieder an die Arbeit gehen.»

Elena brannte Magensäure im Rachen. Genau das war ihre größte Angst: dass jemand ihretwegen zu Schaden käme. «Du bist da nicht mehr sicher, Marta. Du musst mich helfen lassen, dich da rauszuholen.»

«Und wohin soll ich gehen?»

Das hatten sie schon Dutzende Male diskutiert. «Ein Frauenhaus. Zum FBI. Du wärst überall sicherer.»

Marta schüttelte den Kopf, so langsam, als ob die harte Realität ihre Muskeln erstarren ließ. «Erst wenn das vorbei ist.»

«Aber ich werde nicht mehr lange hier sein. Höchstens noch zwei, drei Monate. Sobald meine Scheidung durch ist, wird mein Visum ungültig. Was passiert, wenn ich wieder in Russland bin?»

Marta wandte sich ab. «Ich muss los.»

«Warte.» Elena griff nach ihrem Arm, um sie aufzuhalten. «Versprich mir, dass du vorsichtig bist.»

Marta hielt inne, ihr Gesicht war eine Maske harter Entschlossenheit. «Du auch.» Dann drehte sie sich um und rannte die Gasse hinunter.

Elena schaute ihr nach und fühlte sich ihrem Vater so verbunden wie noch nie. Trotz ihrer Angst um Martas Sicherheit flackerte eine freudige Erregung wegen dieses neuen Puzzlestücks in ihr auf. Hatte ihr Vater ständig so empfunden? Vieles von dem, was sie früher wütend gemacht hatte, verstand sie inzwischen – warum er so lange gearbeitet hatte und so selten zu Hause gewesen war und vor allem seine Geheimniskrämerei. Er hatte sie schützen wollen. Aus demselben Grund musste sie Vlad im Dunkeln lassen. Sie wollte nicht, dass ihm etwas zustieß.

Sie hatte ihn schon zu sehr verletzt.

Ein paar Minuten nachdem Marta gegangen war, lief Elena fünf Blocks weiter zu einer Bar und rief sich ein Uber. Bis sie zu Hause ankam, war es Mitternacht. Sie öffnete ihre Wohnungstür und schloss sofort hinter sich ab. Sie streifte sich die Schuhe ab, schlüpfte in ihre Pantoffeln und ging die fünf kurzen Schritte zu ihrer winzigen Küche. Dort füllte sie den Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Kurz darauf trug sie eine dampfende Tasse Tee zu ihrem überhäuften Schreibtisch neben dem Futonsofa, das ihr auch als Bett diente. Sie hätte eine größere Wohnung haben können; Vlad hatte im Laufe der Jahre immer wieder angeboten, ihr etwas Schickeres zu bezahlen. Doch sie hatte sich nie überwinden können, das anzunehmen. Sie wollte ihm nicht noch mehr auf der Tasche liegen.

Noch so ein Fehler, den zu korrigieren sie sich geschworen hatte. Während sie die innere Stimme, die sie mit Vorwürfen bombardierte, auszublenden versuchte, ging sie den Haufen Notizen und Unterlagen durch, die sie bisher zusammengetragen hatte. Alles war chronologisch geordnet – noch etwas, das sie von ihrem Vater gelernt hatte. Man ermittelte den Anfang und die Chronologie des Geschehens. Wenn sich Lücken zeigten, musste man genau dort weiterrecherchieren. Das Problem war, sie hatte mehr Lücken als Informationen. Und mit dem Zettel von Marta verhielt es sich genauso. Er war nur ein weiteres Indiz, das neue Fragen aufwarf. Die Zeit rannte ihr davon. War sie erst in Russland und arbeitete dort bei einer Zeitung, wäre ihre Freiheit eingeschränkt. Buchstäblich.

Das schrille Klingeln ihres Telefons jagte ihr einen Riesenschreck ein. Sie nahm ab, ohne aufs Display zu schauen, denn nur Marta rief so spät noch an. Das konnte nichts Gutes bedeuten. «Marta? Was ist passiert?»

«Äh, Elena?»

Elena nahm das Telefon vom Ohr und schaute aufs Display. Josh Bierman. Verwirrt zog sie die Brauen zusammen. Er war der Kontaktmann für die Familien der Eishockeyspieler. Was konnte er wollen?

Sie hielt das Telefon wieder ans Ohr. «Ja, ja, hier ist Elena.»

«Hier Josh Bierman. Es tut mir leid, dass ich mich jetzt erst bei Ihnen melde, aber ich wollte den genauen Befund abwarten. Die Trainer und der Mannschaftsarzt sind bei ihm, also …»

Elena schüttelte den Kopf. «Moment mal. Langsam. Wovon sprechen Sie?»

«Es geht um Vlad.» Josh stutzte hörbar. «Haben Sie denn das Spiel nicht gesehen?»

Ihre Schuldgefühle wallten wieder auf. Sie war über Vlads Siege und Niederlagen nicht auf dem Laufenden. Sie wusste nur, die Mannschaft stand gut da und würde vermutlich an den Playoffs teilnehmen, aber Einzelheiten kannte sie nicht. Sie wusste nicht mal, in welcher Stadt er gerade war. «Nein. Ich … nein. Was ist passiert?»

«Er wurde im ersten Drittel verletzt.»

Sie hörte die Worte, ohne sie zu verstehen. Ihr Verstand hinkte hinterher. «Wie … wie schlimm?»

«Wir haben ihn fürs Erste stabilisiert, er wird gleich in die orthopädische Klinik gebracht. Ich kann Ihnen für heute Nacht um halb drei einen Flug buchen, der vom Midway Airport abgeht, und wir treffen uns im Krankenhaus.»

Endlich kam ihr Verstand wieder mit. «Im Krankenhaus?»

Die meisten Profimannschaften verfügten über eine eigene medizinische Abteilung, die der Notaufnahme einer Klinik in nichts nachstand – und das sagte viel über den Zustand des amerikanischen Gesundheitssystems. Nur bei schweren Verletzungen wurden die Spieler woanders behandelt.

«Wir werden abwarten, bis der dortige Arzt ihn untersucht hat, bevor wir genauere Informationen weitergeben.»

«Wie – schlimm?» Ungehalten betonte sie die beiden Wörter.

Josh antwortete resigniert. «Er hat sich das Schienbein gebrochen. Das muss operiert werden.»

Ein bitterer Geschmack machte sich auf ihrer Zunge breit, während sie sich hastig umdrehte, die Fernbedienung fand und den Fernseher einschaltete. «Auf welchem Sender lief das Spiel?»

«Elena …»

«Ich muss es sehen.»

«Tun Sie sich das doch nicht an.»

Sie fand einen Sportsender, und als wüsste das Nachrichtenteam, dass sie zusah, zeigten sie den Ausschnitt des Spiels, in dem es passiert war. Sie verfolgte, wie Vlad dem Puck hinterher auf die Bande zu lief, ihn gegen einen gegnerischen Spieler verteidigte – und dann geschah es. Es war «ein außergewöhnlicher Unfall», wie der Kommentator sagte. Vlads Hosenbein verfing sich zwischen den Schlägern, und als er sich wegdrehen wollte, stürzte er; sein Bein wurde unter ihm verdreht.

Für den Bruchteil einer Sekunde verzog sich sein Gesicht, dann fiel er aufs Eis. Neben ihm ging das Spiel weiter, als hätte keiner begriffen, dass er verletzt worden war. Und wie auch? Vlad war noch bei keinem Spiel verletzt worden. Er versuchte aufzustehen, aber sein Bein gab nach, und er fiel wieder hin. Da erst hielten alle inne. Vlad schlug mit der Faust auf das Eis und brüllte mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Kameraden an.

«O mein Gott», hauchte Elena und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie musste sich am Schreibtischstuhl festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

«Elena», sagte Josh sanft. «Ich verspreche Ihnen, er wird gut versorgt. Regen Sie sich nicht auf, kommen Sie einfach her.»

«Weiß …» Sie stockte. Schon schoss ihr die nächste Frage durch den Kopf. Weiß er, dass Sie mich anrufen? Will er mich bei sich haben? Und dann: Weiß die Mannschaft, dass wir uns scheiden lassen? Gewisse Leute müssten informiert werden, schließlich war ihr Visum von den Einwanderungsanwälten des Vereins besorgt worden und an ihre Ehe gekoppelt. Nach der Scheidung war sie gezwungen, auszureisen. Aber wenn sie Bescheid wussten, warum wollten sie sie dann einfliegen lassen?

Josh seufzte frustriert, dann schlug er einen härteren Ton an. «Hören Sie, Elena. Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen beiden los ist. Ihre Ehe war mir immer ein Rätsel, aber das geht mich nichts an. Ich weiß nur, dass Vlad jetzt Angst hat. Er wird jemanden brauchen, der ihm die Hand hält und sich um ihn kümmert. Jemanden, der ihn wirklich kennt, dem er vertraut. Seine Eltern kann ich nicht so schnell kommen lassen, also bleiben nur Sie. Werden Sie nun in das Flugzeug steigen oder nicht?»

Er hatte recht, Vlad sollte das nicht allein durchstehen müssen. Er hatte wunderbare Freunde, aber dies war etwas anderes. Und dann kam ihr ein Gedanke. Vielleicht war es egoistisch, aber das war doch die Antwort auf ihre Fragen. Wie könnte sie sich besser revanchieren? Wie könnte sie besser dafür sorgen, dass sie sich in Freundschaft trennten?

Auf diese Weise. Sie würde es tun.

Sie würde sich um ihn kümmern.

Elena richtete sich auf und schluckte ihre Zweifel hinunter. «Ich bin auf dem Weg.»

Kapitel 2

Kurz vor halb fünf betrat Elena die leere dunkle Eingangshalle des Krankenhauses und ging zu der halbkreisförmigen Rezeption. Ihr schwerer Rucksack, in dem ihr gesamtes Recherchematerial und ihr Laptop steckten, drückte auf die verspannten Muskeln an ihrer Schulter, und ihr Arm schmerzte, als sie den Koffer hinter sich herzog. Sie hatte in aller Eile gepackt und war mehr auf ihre Unterlagen konzentriert gewesen als auf ihre Kleidung. Sie wusste nicht mal, ob sie einen Schlafanzug dabeihatte.

«Ich möchte zu einem Patienten», sagte sie zu der einsamen Rezeptionistin, die noch recht jung war und einen harten Zug um den Mund hatte.

Die blickte nicht mal auf. «Die Besuchszeit beginnt um sieben.»

«Aber es handelt sich um meinen Mann. Ich bin extra hergeflogen.»

Jetzt blickte die Frau doch auf. «Name?»

«Vlad Konnikov.»

Die Frau schnaubte und rollte die Augen. «Netter Versuch.»

«Wie bitte?»

«Sie sind schon die Zehnte, die auf diese Weise versucht, zu ihm durchzukommen.»

Elena hatte die Erklärung kaum verarbeitet, als sie hinter sich jemanden schnaufen hörte. «Elena, hallo, entschuldigen Sie.»

Josh Bierman kam zur Rezeption gejoggt, leicht derangiert in Jeans und Hemd. Er nickte der Rezeptionistin zu. «Sie sagt die Wahrheit. Diesmal ist es wirklich seine Frau.»

Obwohl sie abgewiesen worden war wie ein aufdringlicher Fan, wollte Elena ihrem Ärger nicht Luft machen. Welches Recht hatte sie, beleidigt zu sein? Sie hatte sich das Spiel nicht mal angesehen. Sie war nie eine richtige Spielerfrau gewesen und würde auch nie eine sein.

Josh wollte ihr das Gepäck abnehmen. «Lassen Sie mich das tragen.»

Elena hielt ihren Rucksack fest. «Den … den behalte ich auf.»

Josh nickte und nahm ihr den Koffer ab. «Er liegt im vierten Stock. Der Aufzug ist gleich um die Ecke.»

«Wie geht es ihm?»

«Schon etwas besser.»

«Haben Sie seine Eltern angerufen?»

Josh drückte den Aufzugknopf. «Vor einer Stunde habe ich mit seinem Vater gesprochen.»

In Omsk war jetzt später Nachmittag. Sie und Vlad waren in der sibirischen Stadt aufgewachsen, und seine Eltern lebten dort immer noch. Elena hatte als Kind und als Jugendliche unzählige Stunden bei ihnen verbracht, um die Leere und Stille ihres eigenen Zuhauses nicht ertragen zu müssen.

Als sie den Aufzug verließen, rückte sie ihren Rucksack zurecht und folgte Josh den Flur entlang. Seine Sneaker und ihre quietschten auf dem Linoleum und bildeten einen Chor mit dem Rhythmus ihrer Kofferrollen. Josh fasste ihr behutsam an den Rücken und lenkte sie so um die Ecke. Vor ihnen öffneten sich zischend zwei Automatiktüren. Dahinter befand sich die Schwesternstation in der Mitte einer Kreuzung, an der mehrere Gänge sternförmig zusammenliefen. Hinter dem hohen Tresen saß ein Mann in der blauen Kluft des Pflegepersonals und blickte auf einen Computerbildschirm. Er sah kurz auf, erkannte Josh und nickte.

«Er liegt im Zimmer 414», sagte Josh leise. «Das ist für VIPs und hat ein Sofa. Wenn Sie möchten, können Sie sich dort hinlegen, bis er aufwacht.»

Ihr Herz stolperte plötzlich, weil er automatisch eine gewisse Intimität voraussetzte. Nur weil Josh wusste, dass ihre Ehe ungewöhnlich war, kannte er noch lange nicht die ganze Geschichte. Die war ein Geheimnis zwischen ihr und Vlad. Was würden die Leute denken, wenn sie wüssten, dass sie sich in sechs Ehejahren nur ein einziges Mal geküsst hatten? Und das nur sittsam auf die Lippen nach ihrem Ehegelübde.

Josh blieb vor der Zimmertür stehen und trat zur Seite, um Elena vorzulassen. Sie griff nach dem Türknauf, drehte ihn aber nicht.

«Er wird wieder spielen können, oder?» Ihre Stimme schwankte.

«In dieser Saison nicht mehr.»

«Aber in der nächsten?»

Josh bekam einen Gesichtsausdruck wie jemand, der eine schlechte Neuigkeit möglichst behutsam mitteilen wollte. «Ich denke, Sie sollten abwarten, was die Ärzte sagen.»

Nein. Elena wollte nicht mehr warten, und Vlad hatte lange genug auf sie gewartet.

Sie rückte ihren Rucksack zurecht und öffnete die Tür. Josh stellte ihren Koffer drinnen ab und sah sie mit hochgezogenen Brauen an, um zu fragen, ob das okay sei. Elena nickte. «Danke», flüsterte sie, ließ ihn hinausgehen und schloss die Tür. Nach dem leisen Klicken war sie endlich allein mit ihrem Herzklopfen und ihrem baldigen Ex-Mann.

Sie setzte den Rucksack ab, drehte sich langsam um und schaute zunächst über den Raum hinweg zu dem großen Fenster, das die Stadt überblickte. Unter anderen Umständen hätte sie die Aussicht sicher schön gefunden. Josh hatte nicht übertrieben. Das war eine VIP-Suite, dreimal so groß wie die Räume für Normalsterbliche, es hatte mehr von einem Hotel- als von einem Krankenzimmer. Einbauschränke entlang der Wände verbargen medizinische Geräte, und unter dem Fenster stand eine lange Couch, gegenüber zwei Sessel.

Elena holte tief Luft, hielt kurz den Atem an und wandte sich dann dem Bett zu. Da lag Vlad wie ein gefallener Riese, flach auf dem Rücken in einem Bett mit Überlänge. Die Luft in ihrer Lunge entwich in einem zittrigen Atemstoß. Sein geschientes Bein ruhte in einer Schlinge, die von der Decke herabhing, und irgendwie schaffte er es, mit seinen eins fünfundneunzig klein zu wirken.

Sein Gesicht war ihr zugewandt, die Augen geschlossen, die Lippen ein wenig geöffnet. An seiner Kinnpartie waren dichte lange Bartstoppeln gewachsen, für die andere Männer eine Woche ohne Rasur brauchten. Er hatte sich wahrscheinlich gestern Morgen zuletzt rasiert. Ein weißes Laken bedeckte sein gesundes Bein und – Elena schluckte – nur wenig mehr. Es reichte gerade mal bis zum Bauchnabel und gewährte freien Blick auf seinen festen, flachen Bauch und eine breite, schön geformte und dunkel behaarte Brust.

Der Raum schien zu schrumpfen, während sie sich schrittchenweise näherte. Man hatte ihn in ein Krankenhaushemd gesteckt, mit der Öffnung nach vorn. Aber im Laufe der Nacht hatten sich wohl die Schleifen gelöst, und die beiden Hälften waren zur Seite gerutscht. Unter dem Laken war er praktisch nackt.

Elena näherte sich vorsichtig der Bettseite, wo die Seitenlehne aufgerichtet war, damit er im Schlaf nicht rausfallen konnte. Vlads Brust hob und senkte sich unter tiefen gleichmäßigen Atemzügen, die ihren Blick auf das Tal zwischen seinen Brustmuskeln lenkte. Es war voyeuristisch, ihn so anzustarren, doch das war das erste Mal seit Jahren, dass sie ihren Mann ohne Hemd sah.

Sie schloss die Augen und drückte die Handballen an die Lider, bis sie Sternchen sah. Das war falsch und unangemessen. Vlad war verletzt und wusste nicht mal, dass sie da war. Außerdem ließen sie sich scheiden. Da konnte sie ihm wenigstens seine Würde lassen, anstatt seinen nackten Körper zu begaffen, während er schlief.

Elena nahm die Hände runter und fasste mit spitzen Fingern das Laken, um es höher hinaufzuziehen. Als sie es über seine Brust breitete, regte er sich und drehte den Kopf zur anderen Seite. Sie erstarrte mit den Händen über seinen Oberarmen. So blieb sie, bis er wieder ruhig schlief.

Aufatmend zog sie sich vom Bett zurück und ging auf Zehenspitzen zu ihrem Gepäck. Dort streifte sie sich die Schuhe ab und trug es zur Sitzgruppe. Als sie sich hinsetzte, knarrte das Polster, und sie hielt erneut den Atem an. Vlad regte sich wieder und drehte leise stöhnend den Kopf zweimal hin und her.

Elena sprang auf und lief zum Bett. Hatte er Schmerzen? Träumte er schlecht? Er drehte ihr das Gesicht zu und atmete schneller. Seine Augen bewegten sich unter den Lidern. Sie streckte die Hand aus, zögerte, überlegte und senkte sie auf seine Stirn. Sie strich ihm die dichten Haare zurück.

«Alles wird gut, Vlad», flüsterte sie auf Russisch.

Er entspannte sich unter ihrer Berührung, deshalb wiederholte sie die Geste und ihre Worte. Doch anstatt wieder in ruhigen Schlaf zu sinken, schlug er die Augen auf. Sie waren glasig und gerötet, doch er wirkte weder verwirrt, noch schien es ihn zu überraschen, dass sie bei ihm war. Er hielt ihren Blick fest und blinzelte langsam, bevor er sie ansprach. «Ich habe mir das Bein gebrochen.»

Sie strich ihm durch die Haare. «Ich weiß. Aber es wird alles wieder gut.»

«Ich muss weiter Eishockey spielen. Ich kann das nicht auch noch verlieren.»

Sein gequälter Gesichtsausdruck bei dem Wort auch brach ihr das Herz. Dieser schöne Mann hatte eine bessere Frau verdient als sie. «Das wirst du nicht. Das Bein heilt wieder, und du wirst stärker sein denn je. Schlaf jetzt weiter.»

«Ich will nicht», sagte er, doch er verlor den Kampf. Ihm fielen die Augen zu. «Geh nicht weg.»

«Ich werde hier sein, wenn du aufwachst», versprach sie. Ob er sie noch gehört hatte, wusste sie nicht.

Er schlief wieder tief und fest.

◆◆◆

«Vlad.»

Er wollte nicht aufwachen. Sein Traum war zu schön, zu klar. Er spürte ihre Hände und hörte sie beruhigend sagen, dass alles wieder gut würde. Diesmal hatte sie versprochen zu bleiben, und er wollte auch bleiben, hier, wo sie ihn berührte.

«Vlad, hören Sie mich?»