The Secret Book Club – Kein Weihnachten ohne Liebesroman - Lyssa Kay Adams - E-Book
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The Secret Book Club – Kein Weihnachten ohne Liebesroman E-Book

Lyssa Kay Adams

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Beschreibung

Kuscheldecke, Teetasse, Lieblingsbuch – It's the Season to Read Romance! Ein Weihnachtsroman aus der beliebten Bestseller-Reihe «The Secret Book Club». Unabhängig lesbar. Als berühmter Musiker ist Colton Wheeler es nicht unbedingt gewohnt, dass Frauen vor ihm flüchten. Doch Gretchen Winthrop hat genau das getan. Nach einer perfekten gemeinsamen Nacht ist die Anwältin aus seinem Hotelzimmer gerannt, als wäre ihr der Teufel persönlich auf den Fersen. Und Colton hat nicht die geringste Ahnung, warum, da sie jeden Kontaktversuch abblockt. Bis sie ihn ein Jahr später aufsucht, um ihm im Namen ihrer Familie ein geschäftliches Angebot zu unterbreiten. Colton macht ihr ein Gegenangebot: Entweder geht sie mit ihm aus – und liest nebenbei noch einen Weihnachtsliebesroman – oder er sagt ihrer Familie ab. Wenn man gute Absichten hat, ist ein kleines bisschen Erpressung doch erlaubt, oder? Die Magie von Weihnachten und Büchern. Ein wunderbarer Liebesroman, ebenso humorvoll wie ernst.

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Seitenzahl: 436

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Lyssa Kay Adams

The Secret Book Club

Kein Weihnachten ohne Liebesroman

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Angela Koonen

 

Über dieses Buch

Drei Dates bis Weihnachten …

Als berühmter Musiker ist Colton Wheeler es nicht unbedingt gewohnt, dass Frauen vor ihm flüchten. Doch Gretchen Winthrop hat genau das getan. Nach einer perfekten gemeinsamen Nacht ist die Anwältin aus seinem Hotelzimmer gerannt, als würde es in Flammen stehen. Und Colton hat nicht die geringste Ahnung, warum, da sie jeden Kontaktversuch abblockt. Bis sie ihn ein Jahr später aufsucht, um ihm im Namen ihrer Familie ein geschäftliches Angebot zu unterbreiten. Colton macht ihr ein Gegenangebot: Entweder geht sie mit ihm aus – und liest nebenbei noch einen Weihnachtsliebesroman –, oder er sagt ihrer Familie ab. Wenn man gute Absichten hat, ist ein kleines bisschen Erpressung doch erlaubt, oder?

 

Die Magie von Weihnachten und Büchern. Ein wunderbarer Liebesroman, ebenso humorvoll wie ernst.

Band 5 der beliebten Bestseller-Reihe. Unabhängig lesbar.

Vita

Lyssa Kay Adams hat ihren ersten Liebesroman vom Bücherregal ihrer Oma geklaut. Das war in der achten Klasse, und seitdem ist sie ein treuer Fan des Genres. Das merkt man auch ihren eigenen Büchern an. In ihrer Reihe «The Secret Book Club» über Männer, die heimlich Romances lesen, findet man nicht nur hinreißende Liebesgeschichten, sie ist auch eine Hommage an das Genre selbst. Die Serie wurde in etliche Sprachen übersetzt, stand auf der Spiegel-Bestsellerliste, und eine Netflix-Verfilmung ist in Vorbereitung. Nach zwanzig Jahren als Journalistin schreibt Lyssa Kay Adams inzwischen in Vollzeit Romane. Sie lebt in Michigan und tauscht sich gern mit ihren Leser:innen aus. Mehr Informationen sind auf ihrer Homepage zu finden: www.lyssakayadams.com

 

Die Übersetzerin Angela Koonen ist am Niederrhein aufgewachsen und liest schon, seit sie denken kann. Sie studierte aus Neugier Theologie, hat einen Sohn großgezogen und übersetzt seit zwanzig Jahren Unterhaltungsromane jeden Genres. Wenn sie nicht gerade liest oder übersetzt, hört sie gern Opern, Funk und Heavy Metal oder beschäftigt sich mit Malerei.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «A Very Merry Bromance» bei Berkley/Penguin Publishing Group/Penguin Random House, LLC, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«A Very Merry Bromance» Copyright © 2022 by Lyssa Kay Adams

Redaktion Sabine Biskup

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01378-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Die Vorgeschichte

Letzten Dezember

So wachte Colton Wheeler am liebsten auf.

Nackt, warm und an eine Frau geschmiegt, die ihn verdammt noch mal umhaute.

Sein Hochzeitssmoking lag auf dem Boden der Hotelsuite, ein schwarz-weißer Stoffbausch, verheddert mit einem grünen Seidenkleid, das sie unter hastigen, wilden Küssen, erregtem Geflüster und verzweifelter Eile zur Seite geworfen hatten.

Er hatte schon von Leuten gehört, die bei einer Hochzeit ihre große Liebe kennenlernten, aber so etwas passierte nur anderen. Schließlich war er Colton Wheeler, der platinprämierte Country-Star. Doch gestern Abend waren er und seine besten Kumpel bei der Hochzeit ihres Freundes Braden Mack gewesen, als der die Liebe seines Lebens heiratete – und dort war Colton Wheeler dem Zauber der denkbar unpassendsten Frau erlegen.

Denn sie war die Ex des Bräutigams. Sie beide zusammen, das ergab absolut keinen Sinn. Doch sie hatte ihn geküsst, und obwohl ihn schon viele Frauen geküsst hatten – und zwar oft völlig unvermittelt –, war es mit ihr anders gewesen.

Ohne jeden Zweifel.

Colton Wheeler war hingerissen von Gretchen Winthrop.

Es würde kompliziert werden, klar. Sie war Macks Ex-Freundin. Die beiden waren drei Monate zusammen gewesen, bevor er seine jetzige Frau traf. Mit jemandem aus dem eigenen Bekanntenkreis etwas anzufangen war immer riskant. Und dennoch lag er jetzt hier, sah ihr beim Schlafen zu und schrieb in Gedanken Songs, entflammt von dem verheißungsvollen Gedanken, dass etwas Gutes aus ihnen werden könnte.

In den frühen Morgenstunden, nachdem sie erschöpft eingeschlafen waren, war das Laken nach unten gerutscht und hatte ihren Oberkörper entblößt. Colton drückte die Lippen auf ihre Schulter. Mit einem tiefen Atemzug wölbte sich ihr Bauch gegen seine Handfläche. Er staunte noch immer, was sich unter dem sinnlichen Kleid von gestern Abend verborgen hatte.

Wieder holte sie tief Luft und streckte die Beine neben seinen aus. Sie wurde wach. Er schob ein Knie zwischen ihre, und sie machte ihm Platz. Mit den Zehen des rechten Fußes strich sie zärtlich an seinem Schienbein rauf und runter.

Er stupste mit der Nase ihr Kinn an. «Guten Morgen.»

Gretchen stieß einen kleinen Seufzer aus und kuschelte sich an seine Brust. Doch dann erstarrte sie und riss die Augen auf. «Wie spät ist es?»

«Noch früh genug, um dich ordentlich zu wecken …»

Er wollte sie küssen, doch küsste ins Leere. Sie hatte sich von ihm zurückgezogen wie ein Kaninchen vor dem zuschnappenden Maul eines Raubtiers. «Oh mein Gott … es ist hell.»

Leise lachend stützte er sich auf den Ellbogen. «Verwandelst du dich jetzt zurück in einen Kürbis?»

«Unfassbar, dass ich hier geschlafen habe. Das wollte ich gar nicht …»

«Also, ich hatte ganz sicher nichts dagegen.» Er setzte sich auf und streckte die Hand nach ihr aus. «Ich fände es sogar schön, wenn du noch mal für ein paar Stunden ins Bett kommst.»

«Kann ich nicht. Ich muss los.»

Er drehte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah zufrieden dabei zu, wie sie nackt durchs Zimmer huschte. Bis ihm bewusst wurde, was sie da tat.

Sie suchte ihre Sachen.

«Du willst wirklich schon weg?»

Sie schaute sich um, bis sie ihr Kleid entdeckte, und schlüpfte hastig hinein, um sich zu bedecken. Colton trat das Bettzeug von sich und stand auf. «Na komm, nicht so eilig.» Er streckte ihr einen Arm entgegen. «Bis zum Brunch bleibt uns noch genug Zeit, um …»

Sie erschrak, als hätte er vorgeschlagen, nackt das Zimmer zu verlassen. «Ich … ich bin nicht eingeladen. Nur der engste Kreis.»

«Und zu dem gehöre ich. Das heißt, ich kann jemanden mitbringen.» Endlich bekam er sie zu fassen. Zart strich er über die grüne Seide an ihren Hüften. «Und ich will dich mitbringen.»

«Nein, das geht nicht. Ich muss jede Menge Arbeit nachholen.»

Das erleichterte ihn. Er hatte schon angefangen zu glauben, sie würde ihm ausweichen, weil sie ihn eigentlich nicht mochte. «Dann nehme ich dich irgendwohin mit.»

Immer noch suchend wandte sie den Kopf hin und her. «Du musst mich nicht fahren. Ich bin mit dem Auto hier.»

Belustigt griff er wieder nach ihr. «Nein, ich meine, wir könnten wegfahren. Eine Woche zusammen verbringen, uns näher kennenlernen und …»

Sie lachte leise, aber ob sie mit ihm oder über ihn lachte, konnte er nicht sagen. «Klar. Und wohin?»

«Belize.»

Endlich sah sie ihn an. «Belize?»

«Schon mal da gewesen?»

Sie lachte wieder – diesmal eindeutig über ihn. «Nein.»

«Glaub mir, es wird dir gefallen.» Er sah, dass sie ihren BH entdeckte, und erinnerte sich daran, wie er ihn ihr ausgezogen und in die Ecke geworfen hatte. «Ich meine es ernst, Gretchen. Lass uns verreisen. Ich sage meinem Piloten, er soll das Flugzeug bereit machen, und wir fliegen einfach …»

Sie sah ihn mit offenem Mund an. «Du meinst das echt ernst, oder?»

«Ja, sicher.»

«Ich kann nicht mit dir nach Belize fliegen.» Sie fand ihre Handtasche und stopfte BH und Slip hinein.

Colton trat vor sie und nahm sie bei den Schultern. «Warte mal. Was ist denn los?»

«Ich gehe. Ich habe heute viel zu tun.»

«Wann kann ich dich wiedersehen?»

Sie sah ihn verständnislos an.

Also, das war ihm noch nie passiert. «Ich, äh, sehe dich doch wieder, oder?»

Sie biss sich auf die Unterlippe. «Ich halte das für keine gute Idee.» Sie trat um ihn herum und suchte weiter den Boden ab. «Ah», sagte sie, als ihr Blick auf ihre Schuhe fiel. Sie hob sie auf, indem sie einen Finger um die aufregenden schwarzen Fersenriemchen hakte. Beim Anblick dieser Schuhe war ihm gestern Abend fast das Herz stehen geblieben.

«Warte. Warte mal. Können wir bitte noch mal von vorne anfangen? Ich habe das Gefühl, ich habe irgendwas falsch gemacht. Ich weiß nur nicht, was.»

«Du hast nichts falsch gemacht. Es liegt an mir. Ich hätte das nicht tun sollen. Es tut mir leid.»

«Was nicht tun sollen?»

«Es war mein Fehler. Ich hätte dich nicht küssen dürfen.»

«Ich habe bereitwillig mitgemacht. Mehr als bereitwillig.» Er legte die Hände an die Hüften, und dadurch wurde ihm bewusst – peinlich bewusst –, dass er nackt war.

Sie unterbrach ihre hektische Suche und drückte ihre Sachen an sich. «Sieh mal, ich weiß, dass mich gestern Abend alle bemitleidet haben. Obwohl das zwischen Mack und mir nichts Ernstes gewesen ist. Ich war wegen Liv bei der Hochzeit, weil wir Freundinnen sind, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass mich jeder anstarrt, so als ob ich gleich in Tränen ausbrechen sollte. Und du hast mich nur zum Tanzen aufgefordert, weil …»

Jetzt war er es, der ungläubig lachte. «Du denkst, ich habe dich aus Mitleid aufgefordert?»

«Vielleicht.» Sie zuckte die Achseln.

«Ich wollte mit dir tanzen, weil du genauso reagiert hast wie ich, als Livs Mutter beinahe vom Stuhl kippte.»

Endlich bewegten sich ihre Mundwinkel nach oben.

Gott sei Dank. Er nutzte es aus, dass sie einen Moment still dastand, und näherte sich. «Und danach habe ich weiter mit dir getanzt, wollte dir nicht mehr von der Seite weichen», sagte er leise. «Denn du bist die unglaublichste Frau, die ich je getroffen habe.»

Sie wurde rot, und er bekam einen herrlichen Flashback, wie sie mit errötetem Gesicht den Rücken durchbog und seinen Namen hauchte.

Doch so sah sie jetzt nicht aus. Stattdessen schüttelte sie den Kopf und drückte ihre warme Hand an seine Brust, genau über seinem Herzen, das für eine tödliche Mutprobe ein paar Gänge hochschaltete. «Du musst das nicht tun.»

Schnell legte er die Hand auf ihre. «Was nicht tun?»

«Mein Ego schonen. Ich bin ein großes Mädchen. Ich weiß, was ich von dieser Nacht zu halten habe.»

«Du meinst, dass sie unglaublich war und etwas Tolles daraus werden könnte? Da bin ich ganz deiner Meinung.»

Ihre Röte wurde dunkler. «Hör zu, ich fand sie auch schön. Aber das mit uns kann nicht funktionieren.»

«Hat es gestern Abend aber ziemlich gut.»

Sie rückte hastig von ihm weg. «Aber heute ist heute. Und du bist du, und ich bin ich, und …»

«Und wir könnten ein verdammt gutes Wir werden.»

Sie lächelte sanft. «Das klingt wie aus einem deiner Songs.»

«Gretchen.» Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie blickte darauf mit unmissverständlicher Sehnsucht.

Doch dann riss sie sich los und ging zur Tür. «Danke», sagte sie über die Schulter. «Für alles.»

Colton verschränkte die Arme. «Du kannst alles sagen, nur das nicht. Nur nicht danke.»

Sie hielt noch mal inne, bevor sie den Knauf drehte. «Kann ich mich darauf verlassen, dass das unter uns bleibt?»

«Meine Lippen sind versiegelt. Vertrau mir.»

Ohne einen Blick zurück verließ sie das Zimmer.

Und zum ersten Mal in seinem Leben war Colton Wheeler das kleine schmutzige Geheimnis einer Frau.

Kapitel 1

Ein Jahr später

Colton Wheeler lebte nach ein paar einfachen Grundsätzen, und einer davon lautete: Wenn dich jemand bittet, ein Geheimnis zu wahren, dann nimmst du es mit ins Grab. Deshalb war der Verrat wie ein Schlag in den Magen. Ausgerechnet die Jungs hatten ihr Wort nicht gehalten. Seine angeblich besten Freunde.

Wütend rückte er den Riemen seiner Sporttasche höher auf die Schulter. «Ihr habt versprochen, es keinem zu sagen.»

«Ach komm, Mann», sagte Gavin Scott mit der Yogamatte unter dem Arm. Er trug ein ärmelloses Trainingsshirt, sodass der Unterschied zwischen seiner käseweißen Schulter und der permanenten Bräune seiner Arme deutlich zu sehen war. «Es ist ja nicht so, als hätten wir es wildfremden Leuten erzählt.»

«Es spielt keine Rolle, wer die sind. Ich habe ihr versprochen, es für mich zu behalten.»

«Wir wollten dich nicht in eine unangenehme Lage bringen», warf Del Hicks ein. «Ehrlich.»

«Wir haben nicht mal damit gerechnet, dass du hier sein würdest», fügte Gavin sichtlich schmollend hinzu.

«Warum sollte ich nicht?»

«Wegen des Meetings. Ist das nicht heute?»

Ah, ja. Das Meeting. Es hatte eine so erniedrigende Bedeutung, dass es mittlerweile schon als das Meeting bezeichnet wurde. Jenes Meeting, bei dem sich herausstellen würde, ob er noch eine Karriere hatte. Das wussten seine Freunde allerdings nicht. Sie wussten nur, dass er sich mit dem Musiklabel traf, um nach zwei Jahren Pause über sein nächstes Album zu reden.

Plötzlich bekam er deswegen ein schlechtes Gewissen. Etwas, das ihm im Laufe des letzten Jahres vertraut geworden war. Wie konnte er von den Jungs erwarten, sich an die Regeln der Freundschaft zu halten, wenn er selbst jeden Tag gegen sie verstieß, indem er ihnen gewisse Dinge verheimlichte?

Für einen weltbekannten Country-Star war es schwer, echte Freunde zu finden. Er hatte die Jungs in einem höchst ungewöhnlichen Zusammenhang kennengelernt: durch Liebesromane. Sie nannten sich den Secret Book Club und lasen zusammen Liebesromane, weil sie lernen wollten, die Welt durch eine weniger toxische Brille zu sehen als jene, die alle cisgender Heteromänner von der Gesellschaft aufgesetzt bekamen. Braden Mack hatte damit angefangen und Colton überredet mitzumachen. Er war skeptisch gewesen, wie die meisten der Jungs, als sie dem Club beitraten. Aber Colton hatte schnell erkannt, dass es um viel mehr ging als nur die Bücher. Es ging um Kameradschaft und Brüderlichkeit. Anhand der Liebesromane lernten sie, bessere Männer, bessere Partner und untereinander bessere Freunde zu sein.

«Ist okay», seufzte er schließlich. «Ich rede mit …»

«Mr Wheeler, was hat das zu bedeuten?»

… ihr.

Scheiße. Colton wappnete sich beim Umdrehen und blickte dem einschüchterndsten Menschen, den er kannte, direkt in die Augen. Peggy Porth. Pensionierte Grundschuldirektorin mit Medusenblick.

Und Trainerin der Silver Sneakers.

«Hallo, Mrs Porth.» Coltons Stimme kiekste plötzlich wie damals in der fünften Klasse, als man ihn dabei erwischt hatte, wie er Pokémon-Karten in den Ferien zum doppelten Marktpreis verkaufte. Zu seiner Verteidigung: Er hatte das Geld gebraucht, um Weihnachtsgeschenke für seine Geschwister zu kaufen.

Mrs Porth war nur eins einundsechzig groß, schaffte es aber irgendwie, wenn sie mit ihm sprach, von oben auf ihn herabzureden. «Muss ich Sie daran erinnern, Mr Wheeler, dass Sie mich fragten, ob Sie ein paar Freunde zu unserem Kurs mitbringen dürften, und ich nur eine kleine Gruppe gestattete? Dieser Kurs ist ausschließlich für Leute über fünfzig vorgesehen, aber Sie haben mich überredet. Und jetzt stehen drei weitere vor meiner Tür.»

Die besagten drei Personen warteten ein paar Schritte entfernt nervös und schauten ab und zu verstohlen herüber, abschätzend, ob gleich ein Rausschmeißer kommen und sie vor die Tür setzen würde. Colton kannte sie natürlich, aber nicht gut, und das auch nur, weil sie mit Gavin und Del in der Profi-Baseballmannschaft der Stadt spielten, bei den Nashville Legends. Zu seinem Freundeskreis gehörten etliche Profisportler. Außer Gavin und Del ein weiterer Legends-Spieler, Yan Feliciano, Vlad Konnikov, ein Eishockey-Spieler, und Malcolm James, der in der National Football League für Nashville spielte. Vor allem deshalb hatte Colton sie in sein Geheimnis eingeweiht. Der Silver-Sneakers-Kurs bot ihnen ein äußerst effektives Work-out. Colton war nie besonders stark, fit oder gelenkig gewesen, und er war nur versehentlich in den Kurs hineingeraten. Er hatte sich für den Waschbrettbauch-Kurs angemeldet, aber den falschen Raum betreten und sich am Ende schwitzend dabei wiedergefunden, wie er versuchte, mit sechzigjährigen Frauen beim Aerobic mitzuhalten. Die hatten dabei ausgesehen, als machten sie einen Spaziergang durch den Park. Er dagegen war noch tagelang danach wund gewesen. Seitdem war er immer wieder hingegangen – auch weil, ja verdammt, weil keine einzige Teilnehmerin wusste, wer er war.

Das hieß, niemand scharwenzelte um ihn herum, nur weil er Colton Wheeler war.

Das war auch einer der Gründe, weshalb er sich zu … Scheiße. Prompt wurde seine innere Anzeigetafel «x Tage, die ich nicht mehr an Gretchen Winthrop gedacht habe» zurück auf null gestellt.

«D-das ist unsere Sch-schuld, Mrs Porth», sagte Gavin, bei dem angesichts der Furcht einflößenden Frau sein Stottern wieder auftrat. «Wir wollten nur unseren Mannschaftskollegen zeigen, wie wir so gelenkig geworden sind. Sie beneiden uns schon.»

Zum Beweis warf er seine Yogamatte aus und sprang in einen tiefen Ausfallschritt, bei dem Colton in der Notaufnahme gelandet wäre.

«Sehen Sie», ächzte Gavin. «Damit könnte ich jetzt die erste Base abdecken.»

Mrs Porth schürzte die Lippen. «Stehen Sie auf, Mr Scott. Sie machen sich zum Narren.»

Del griff Gavin unter den Ellbogen und half ihm hoch. Mrs Porth seufzte und blickte wieder zu den Männern, die nervös vor der Tür warteten. «Meinetwegen. Sie dürfen mitmachen. Aber ich sage es noch einmal, wenn einer von ihnen stört …»

«Werden sie nicht», versicherte Gavin hastig. «Also, wir werden das nicht. Danke, Mrs Porth.» Gavin sauste zur Tür und überbrachte den dort Wartenden die gute Nachricht.

Einen Moment später kam er mit seinen Kollegen im Schlepptau zurück, die jeweils das Trainingszeug ihrer Mannschaft trugen – Basketballshorts, feuchtigkeitsdurchlässige Shirts und Kinesiotape an diversen schmerzenden Körperstellen. Nachdem sie ihre Yogamatten ausgerollt und die Sporttaschen abgestellt hatten, gesellten sie sich zu Colton.

Einer gab ihm die Hand. «Hey, Mann. Danke, dass du uns hier reinbringst. Jake Tamborn. Wir sind uns letztes Jahr bei Gavins Geburtstagsparty begegnet.»

«Ich erinnere mich.» Colton schüttelte ihm aus Höflichkeit die Hand. Er war nicht gerade davon begeistert, dass sie da waren, doch er wiederholte die Geste mit den zwei anderen, Brad Eisenberg und Felix Pinas. Beide waren Mitte zwanzig und demonstrierten die selbstbewusste Haltung von zwei Kerlen, die keine Ahnung hatten, was ihnen bevorstand.

«Hast du sie gewarnt?», flüsterte Colton zu Del, als die drei sich einen Platz suchten.

«Dass das Training mörderisch wird? Jep.»

«Haben sie dir geglaubt?»

«Nope.»

Colton grinste zum ersten Mal, seit er das Fitnessstudio betreten hatte. «Das wird ein Spaß.»

Die Tür zum Fitnessraum öffnete sich, und Vlad kam aufgeregt hereingehastet. Er warf seine Yogamatte neben Coltons und setzte sich eine Santa-Mütze auf. «Wie sieht das aus?»

«Überraschend gut. Warum?»

«Elena sagt, ich muss mich für unsere Weihnachtsparty als Santa verkleiden und Geschenke an die Kinder verteilen.»

Vlad und seine Frau Elena gaben ihre erste Weihnachtsparty. Normalerweise hätte Vlad wegen seiner Eishockeytermine dazu keine Zeit. Er hatte sich jedoch im letzten Jahr bei den Stanley-Cup-Playoffs ein Bein gebrochen und erholte sich noch davon. Als die Jungs also beschlossen, eine Weihnachtsparty mit den Secret-Book-Club-Familien zu organisieren, erklärte sich Vlad sofort bereit, den Gastgeber zu spielen, weil das vielleicht seine einzige Gelegenheit sein würde.

«Ich habe noch nie den Santa gespielt», sagte er. «In Russland gibt es den nicht.»

«Keinen Santa?» Gavin, der gerade seine Quadrizepse dehnte, blickte keuchend auf, als hätte Vlad zugegeben, am Weihnachtsabend den Mond anzuheulen.

Del schlug ihm leicht an den Hinterkopf. «Verdammt, Mann. Komm mal hin und wieder aus deiner amerikanischen Blase raus.»

«Bei uns heißt er Väterchen Frost», erklärte Vlad.

Gavin setzte sich, winkelte die Beine über Kreuz an und bewegte sie wie ein Schmetterling seine Flügel. «Wie unterscheidet er sich von Santa?»

Vlad begann sich zu dehnen. «Er hat auch einen weißen Bart, aber keinen roten Anzug. Er trägt lange Gewänder. Und er hat keine Rentiere. Sein Schlitten wird von drei Pferden gezogen. Und bei ihm geht es nicht nur um Geschenke, sondern um gute Taten. Wenn er zu schlechten Menschen kommt, verbreitet er eisige Kälte.»

«Das gefällt mir. Vielleicht solltest du als Väterchen Frost auftreten», schlug Colton vor. «Es gibt keinen Grund, warum du eure Traditionen nicht übernehmen solltest.»

«Aber Elena meint, das verwirrt die Kinder, und dann fragen sie sich, ob es Santa Claus wirklich gibt.»

Del zuckte die Achseln. «Sag ihnen, dass er und Santa Freunde sind und sie sich gegenseitig helfen.»

«Hm», sagte Gavin. «Ich möchte Vlad aber gern im Santa-Kostüm sehen.»

Vlad bekam sichtlich Panik. «Was, wenn ich es vermassle?»

Colton klopfte ihm auf den Rücken. «Du wirst das hinkriegen. Wir werden dir helfen, dich darauf vorzubereiten. Übe einfach das Ho-ho-ho.»

Mrs Porth klatschte laut in die Hände und stellte sich vorne hin. Neben ihr stand eine zehn Jahre jüngere Frau. «Alle unter Ihnen, die zum ersten Mal hier sind», sie blickte Jake, Felix und Brad an, «dürfen die Übungen in einer leichteren Version ausführen.»

Wie zu erwarten war, schnaubten die drei Neuen, denn als Profisportler sahen sie keinen Grund für ein vereinfachtes Workout. Sie hatten wirklich keine Ahnung, was ihnen bevorstand.

Die Jungs stellten sich in einer Reihe nebeneinander auf. Vor ihnen nahmen etwa fünfunddreißig Frauen ihren Platz neben ihren Matten und Wasserflaschen ein. Später würden sie alle einen Aerobic-Stepper für den Teil des Kurses bekommen, der den Unterschied zwischen den Frauen und den Männern wirklich klarmachte.

«Also gut, Leute. Wir beginnen mit leichten Dehn- und Aufwärmübungen», sagte Mrs Porth. Aus den Lautsprechern kam leise, ruhige Musik wie in Wellnesscentern. «Wir lockern die Arme, indem wir die Schultern hoch- und runterziehen … Das genügt. Jetzt lassen wir die Schultern kreisen … Sehr gut. Nun kreisen wir mit den Armen.»

Colton breitete die Arme zur Seite aus und stieß gegen Felix’ Hände. Er blickte ihn scharf an, und Felix rückte mit einem leisen «Entschuldigung» ein Stück weg.

«Gut», sagte Mrs Porth. «Jetzt ein paar einfache Yoga-Posen, um die Beine in Form zu bringen.»

Colton folgte ihren Anweisungen in die Göttinnenpose und andere Asanas. Einen Moment später sah er von seiner Matte auf und hatte einen verstörenden Anblick vor Augen. «Mann, nimm deinen herabschauenden Lümmel aus meinem Gesicht.»

«Es heißt herabschauender Hund», flüsterte Brad, der kopfüber zwischen seinen Beinen hindurchschaute.

«Nicht wenn du ihn machst.»

Brad krabbelte mit gestreckten Armen und Beinen eine Handbreit zur Seite.

«In Ordnung, Leute, gut gemacht», sagte Mrs Porth. «Nun nimmt sich jeder seinen Block und legt ihn vor sich hin. Sie wissen, Sie können ihn sich so einstellen, dass Ihnen die Höhe angenehm ist.»

Mrs Porth bevorzugte die größtmögliche Höhe.

Kurze Zeit später stöhnte Jake. «Scheiße, du hast nicht gesagt, dass es so hart wird.»

«Was hast du erwartet?», schnaubte Colton. «Das ist die Jazzercise-Generation. Die trainieren seit den Anfängen von MTV im Turnanzug.»

«Um wie viel Uhr ist dein Treffen mit dem Label?», ächzte Noah.

«Um drei.»

«Bist du besorgt?»

Colton sah kurz zu ihm rüber. Vermuteten die Jungs etwas? «Nein. Warum sollte ich?»

Noah zuckte die Achseln. «Keine Ahnung. Aber du hattest noch nie so ein Meeting, seit ich dich kenne.»

«Das ist nur eine Formalität.» Er gab sich den Anschein, als wäre das keine große Sache, und das beherrschte er seit seinem zehnten Lebensjahr. Niemand wollte ihn besorgt sehen. Oder wütend. Jeder wollte ihn als den sorgenfreien, nonchalanten Playboy, der weltweit Millionen Platten verkaufte, sehen.

Denn Colton Wheeler hatte eine Aufgabe und nur diese eine: Er musste andere Menschen glücklich machen.

Selbst wenn es ihn umbrachte.

Kapitel 2

«Euer Ehren, darf ich nach vorne treten?»

Gretchen Winthrop wahrte mühsam einen neutralen Ton und wartete ab, wie der Bundesrichter über ihre Bitte entscheiden würde. Innerlich aber schäumte sie vor Wut. Sie hörten nie auf, die Demütigungen, die ihre Mandanten erdulden mussten. Der Richter nickte und gab mit einer ungehaltenen Geste zu verstehen, sie solle sich beeilen. Sie und der Staatsanwalt standen auf und traten vor. Der Richter schaute von seinem Pult herab und schloss die Hand um das Mikrofon, das das Deportationsverfahren im Memphis Immigration Court aufzeichnete.

«Euer Ehren, meine Mandantin ist krank. Sie hat neununddreißig Grad Fieber und kann kaum aufrecht sitzen.»

Richter Wilford zog eine Braue hoch und sah Staatsanwalt McQistan an. «Allem Anschein nach hat Ms Winthrop recht. Warum sitzt die Beklagte krank vor Gericht?»

«Euer Ehren, nach meinem Wissen …»

Gretchen schnitt ihm das Wort ab. «Von meiner Mandantin kann nicht erwartet werden, sich in diesem Zustand bei ihrer Verhandlung zu äußern. Ich beantrage eine Vertagung, bis Ms Fuentes ärztlich behandelt worden ist.»

Der Richter winkte sie zu ihren Tischen zurück. Einen Moment später sprach er ins Mikrofon. «Das Gericht gewährt der Beklagten einen Aufschub, bis sie verhandlungsfähig ist.» Er schlug mit seinem Hammer auf das Podest, und Gretchen tat den ersten tiefen Atemzug seit einer halben Stunde. Sie setzte sich neben ihre Mandantin, Carla, eine sechsundfünfzigjährige Frau, die im Alter von siebzehn Jahren mit ihren Eltern die Südgrenze passiert hatte. Carlas Eltern waren bereits abgeschoben worden, und das Gericht hatte ihren Antrag, bleiben zu dürfen, abgelehnt, obwohl sie fast ihr gesamtes Leben in den Vereinigten Staaten verbracht hatte. Inzwischen hatte sie Kinder. Und Enkel. Einen Jungen und ein Mädchen, beide unter drei Jahre alt. Eine amerikanische Familie, von der sie gebraucht und geliebt wurde.

Gretchen drückte ihre Hand. «Das wird schon. Eine Vertagung ist gut. Wir machen Sie erst mal gesund, und ich besorge Ihnen angemessene Kleidung und Schuhe.»

Carla liefen Tränen über die Wangen. «Meine Lieblinge …»

«Ich werde einen Besuch beantragen.»

Viel zu schnell nahmen die Deputys sie mit und führten sie durch die Seitentür aus dem Gerichtssaal, zurück in die Haftanstalt, wo zahllose andere ihr Schicksal erwarteten. Menschen, die aus Verzweiflung in die Vereinigten Staaten gekommen waren und feststellten, dass das «Land of the Free» nicht immer zu seinen eigenen Idealen stand. Der Gerichtsdiener rief schon den nächsten Fall auf, als Gretchen ihre Akten einpackte. Während sie hinausging, nahm ein anderer Anwalt ihren Tisch ein und wartete auf seinen Mandanten. Eine endlose Folge sinnloser Grausamkeit, die Eltern und Kinder, Eheleute und Freunde auseinanderriss. Und warum? Weil sie bei der Geburt nicht das große Los gezogen hatten? Weil sie zu verzweifelt waren, um sich in der unmöglich langen Reihe derer anzustellen, die auf ihre Einreiseerlaubnis warteten, während Prominente, Sportler und Supermodels vorne durchgewinkt wurden?

Vor dem Gerichtssaal lehnte sie sich erst mal an die Wand, ließ ihre schwere Aktentasche neben ihre Füße fallen und schloss die Augen, um tief durchzuatmen. Seit zehn Jahren praktizierte sie als Einwanderungsanwältin, doch nie war es leichter geworden. Vielmehr schwerer. Als sie damals anfing, war sie noch idealistisch gewesen, hatte die naive Hoffnung gehegt, die Verhältnisse ändern zu können. Heute wusste sie es besser. Denn eines blieb immer gleich: wie sehr gewisse Amerikaner dafür kämpften, diejenigen auszuschließen, die am verwundbarsten waren, die einfach nur die Chance auf ein besseres Leben suchten. Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt etwas Gutes bewirkte, ob sie ihr Wissen und ihre Erfahrung nicht besser nutzen würde, indem sie auf neue Gesetze drängte. Aber wem wollte sie etwas vormachen? Sie würde Nashville nie verlassen, und die Gründe waren nicht beruflicher Natur.

Gretchen löste sich von der Flurwand und ging zum Foyer. Sie hatte noch eine dreistündige Rückfahrt nach Nashville vor sich, wo sie aufgewachsen war und ihre Kanzlei hatte. Das Einwanderungsgericht in Memphis war das einzige in ganz Tennessee – eine weitere Hürde für ihre von Deportation bedrohten Mandanten, die kaum verlässliche Transportmittel hatten, um zur Arbeit zu gelangen, geschweige denn ans andere Ende des Bundesstaats. Sie winkte den Wachleuten zu, stieß die dicke schwere Glastür auf und machte sich auf die kalte Winterluft gefasst. Leute im Norden würden darüber lachen, was Südstaatler als Kälte bezeichneten, aber sie war ein waschechtes Tennessee-Mädchen. Alles unter zehn Grad war Körperverletzung.

Beim Fahren diktierte sie für die nächsten Schritte in Carlas Fall Vermerke ins Handy und hörte erst auf, als sie die Ausfahrt erreichte und den Weg in Richtung Kanzlei einschlug. Der Dezember hatte seinen fröhlichen Dekokram über die Straßen und Häuser ausgekotzt. Große Tannenkränze hingen an Straßenlampen, ihre roten Schleifen flatterten heftig im Wind. Wenn sie das Fenster herunterließe, würde vom nahen Weihnachtsmarkt der Duft von gerösteten Pekannüssen hereinwehen, der den schlammigen Geruch des Flusses übertünchte. Orangefarbene Straßensperren blockierten Straßenmündungen, um die Touristenmassen zum jährlichen Weihnachtsmarkt am Cumberland-Ufer zu lenken, wo sich zahllose Lichterketten entlang der berühmten Fußgängerbrücke über den Cumberland River und in die beiden angrenzenden Parks erstreckten.

Wenige Städte feierten Weihnachten so groß wie Nashville.

Und wenige Leute verachteten das Fest so sehr wie Gretchen.

Deshalb war ihre Kanzlei im ganzen Block die einzige Adresse ohne Kranz an der Tür oder Lichter im Fenster. Für ihre Kanzlei galt striktes Dekoverbot. Sie befand sich in der ersten Etage eines dreistöckigen Hauses im Osten der Stadt, in einem bunt gemischten Viertel mit Künstlerszene, kuriosen Restaurants und historischen Ziegelbauten. Seit Gretchen sie vor zehn Jahren eröffnet hatte, war das Viertel in einer Weise aufgeblüht, dass man von Gentrifizierung sprechen musste. Sie selbst konnte es sich nicht leisten, ebenfalls zu renovieren. Einwanderung war eine zivilrechtliche Angelegenheit, keine strafrechtliche, und deshalb hatten die Beklagten kein Recht auf anwaltliche Vertretung. Die große Mehrheit der Ausgewiesenen hatte nie Hilfe bei einem Anwalt gesucht, und wer es tat, konnte meist nicht bezahlen. Gretchens Kanzlei leistete ihre Arbeit vor allem pro bono, deshalb hatte sie auch kein schickes Büro. Zum Glück befand sich ein Stück die Straße hinauf das Café ihrer Freundin Alexis, sodass sie für ein schnelles Mittagessen und Koffeinzufuhr nur einen Block weit zu gehen brauchte.

Gretchen parkte hinter dem Gebäude auf dem kleinen Parkplatz, nahm ihre Sachen und betrat die Kanzlei über die Hintertür. Addison, ihre Assistentin, sprang auf, sowie sie Gretchen den Flur hinunterkommen sah. «Es ist furchtbar kalt hier. Können wir heute bitte mal etwas mehr heizen?»

«Erst nächste Woche. Zieh dir einen Pullover über.»

«Ich habe schon einen an», brummelte Addison, als sie Gretchen den Mantel abnahm, um ihn aufzuhängen. «Und er hat wieder angerufen.»

Gretchen stellte ihre Tasche ab. «Wer?»

Addison drückte ihr einen Stoß rosa Telefonnotizen in die Hand. «Du weißt, wer.»

Mit Gretchens Seufzen hätte man einen kleinen Dampfer antreiben können. Jorge Alvarez, ein Freund und einstiger Kommilitone, rief schon seit sechs Wochen an und bat sie zu überlegen, ob sie nicht in seiner Flüchtlingsberatungs-NGO als Anwältin arbeiten wolle.

«Ich sagte, du hättest seine Nummer, aber er bestand darauf, dass ich sie noch einmal notiere. Nur vorsichtshalber.»

Gretchen kannte die Nummer inzwischen auswendig. Sie hob ihre Tasche auf und hängte sie sich über die Schulter. «Ich rufe ihn morgen zurück.»

«Ruf ihn einfach jetzt zurück, dann hast du es hinter dir.» Addison trabte hinter Gretchen her den kurzen Flur entlang in ihr Büro. «Was ist so schwer daran, ihm zu sagen, dass du an der Stelle nicht interessiert bist?»

Gretchen schaltete das Licht ein und antwortete, so ehrlich sie konnte. «Ich weiß es nicht.»

«Vielleicht, weil du doch interessiert bist.»

Gretchen warf Addison, die in der Tür stand, einen ungehaltenen Blick zu. «Ich muss mich jetzt um meine Mandanten kümmern.»

«Das war ein bestätigendes Dementi.» Addison blickte sie wissend an.

«Ich bin gerade nicht auf der Suche», erklärte Gretchen und setzte sich in ihren antiken Schreibtischstuhl.

«Doch. Das Problem ist nur, du weißt nicht, was du suchst.» Damit kehrte Addison ihr den Rücken zu und entfernte sich mit dem Hüftschwung einer Staatsanwältin, die soeben den Angeklagten im Zeugenstand festgenagelt hatte.

«Hey!», rief Gretchen ihr nach. «Was soll das denn heißen?»

«Das kann ich dir nicht sagen. Es sollte kryptisch sein.»

«Es ist Blödsinn, das ist es.»

«Aber guter Blödsinn», rief Addison zurück. «Denn es ist wahr.»

«Es ist nicht wahr. Ich bin hier restlos glücklich. Ich liebe meine Kanzlei. Ich liebe meine Arbeit. Ich liebe mein Leben!»

«Wen willst du hier eigentlich überzeugen?»

Einer der Case Manager, ein Collegestudent namens Joey, der in der Kanzlei ein Praktikum machte, betrat ihr Büro. «Wissen Sie, als Sie mir sagten, hier zu arbeiten, sei wie das Mitglied einer Familie zu werden, da habe ich nicht geahnt, dass auch dumme Streitereien dazugehören.»

«Klappe», brummte Gretchen leise.

«Sehen Sie? Wie in einer Familie. Meine Schwester hat das auch täglich zu mir gesagt.»

«Das galt Addison», erwiderte Gretchen und sah betont zu dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

Er verstand den Hinweis. Er drückte den Knopf seines Kugelschreibers und hielt seinen Notizblock parat. «Okay, sagen Sie mir, was zu tun ist.»

Gretchen gab ihm fünfzehn Minuten lang Anweisungen, was in Carlas Fall als Nächstes zu geschehen hatte. Gerade als sie damit fertig war, leuchtete auf ihrem Bildschirm eine Nachricht von Addison auf. Dein Bruder ist auf Leitung drei.

Rasch hakte sie nach: Welcher?

Evan.

Ein Schreck fuhr ihr durch die Glieder. Evan war der ältere ihrer beiden Brüder und der, der sie am hartnäckigsten ignorierte. Wenn er sie anrief, noch dazu in der Kanzlei, dann musste etwas passiert sein.

Sie deutete mit dem Kopf zur Tür, und wieder verstand Joey die Botschaft. Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Gretchen griff zum Telefon und drückte auf den blinkenden Knopf. «Hallo?»

Sie hörte Evan gedämpft reden, so als hätte er das Telefon neben sich gelegt, während er wartete, dass sie sich meldete.

«Evan», sagte sie scharf.

Ihr Bruder sprach ins Telefon. «Sekunde noch.»

«Du hast mich angerufen, erinnerst du dich?»

Doch er hörte schon nicht mehr zu, sondern gab irgendeinem unglücklichen Mitarbeiter, den er zu sich zitiert hatte, barsch Anweisungen. Sie mahlte mit den Zähnen und überlegte kurz aufzulegen. Obwohl anscheinend etwas im Argen lag, ließ er sich alle Zeit der Welt, anstatt sie sofort ins Bild zu setzen.

Da meldete Evan sich wieder. «Hallo, tut mir leid.»

«Warum rufst du mich in der Kanzlei an?»

«Ich konnte deine Handynummer nicht finden.»

Natürlich nicht. Warum sollte sie auch in seinen Kontakten gespeichert sein, wie das unter normalen Geschwistern üblich war? Ihr Leben lang behandelte er sie schon wie eine lästige Göre, der man gehörig den Kopf waschen sollte. Und nun da sie erwachsen waren, wurde es zu einer gleichgültigen Gewohnheit, die sie noch ärgerlicher fand. Nicht dass sie sich je nahegestanden hätten. Sie schob das auf die zwölf Jahre Altersunterschied, aber die Kluft zwischen ihnen ging noch darüber hinaus. «Was ist los?», fragte sie.

«Du musst heute Nachmittag herkommen.»

«Wohin?»

«Nach Hause.»

Nach Hause. Ein warmes Wort für einen kalten Ort. Der Firmensitz von Carraig Aonair Whiskey war für sie nie ein Zuhause gewesen. Eher ein kleines schmutziges Geheimnis. Dabei war eigentlich sie dieses schmutzige Geheimnis. Sie war eine Winthrop, eine echte Erbin einer reichen und einflussreichen Familie Tennessees, doch die wollte von ihr und ihren unbequemen Überzeugungen selten etwas wissen. Keiner hatte ihr verziehen, dass sie es gewagt hatte, das Familienvermächtnis abzulehnen – deren Worte, nicht ihre – und eine andere Karriere anzustreben. Dass Evan sie nun nach Hause rief, war verdächtig und beunruhigend.

«Warum?», fragte sie.

«Ich muss mit dir über etwas Wichtiges reden.»

«Geht es allen gut?» Die ganze Familie erschien vor ihrem inneren Auge. Onkel Jack. Ihre Eltern. Ihre Nichten und Neffen. Sie verstand sich mit Evan nicht, aber sie liebte seine Kinder.

«Ja. Kannst du in einer Stunde hier sein?»

Nein. Sie steckte bis zum Hals in Arbeit und hatte eine Aversion dagegen, wie ein ungezogenes Kind zum Direktor zitiert zu werden. Doch als sie den Mund öffnete, kam ein anderes Wort heraus. «Sicher.»

Rasch beantwortete sie ein paar unerledigte E-Mails, stopfte mehrere Schnellhefter in ihre Aktentasche, um später daran zu arbeiten, und wies Addison an, sie auf dem Handy anzurufen, wenn irgendetwas sein sollte. Dann huschte sie zur Tür hinaus, bevor Addison sie mit Fragen bombardieren konnte. Oder, schlimmer noch, mit ihrer Küchenpsychologie analysierte, warum Gretchen, wenn ihre Familie pfiff, angehetzt kam wie ein hungriger Welpe in der Hoffnung auf ein paar Brotkrumen.

Denn das wäre jämmerlich.

◆◆◆

Als Colton vor zwölf Jahren zum ersten Mal das Gebäude der Nerve Music Group Nashville betrat, dachte er im ersten Moment: Das ist es? Dieses unscheinbare Bürogebäude im langweiligsten Teil der Stadt beheimatete die angesagtesten Performer der Country Music, war der Ort, wo Stars gemacht wurden?

Doch anders als der von Neonlicht strahlende Bezirk Music Row waren die Büros der großen Plattenlabels nicht dazu gedacht zu inspirieren. Vielmehr sollten sie einschüchtern und blauäugigen Künstlern vor Augen führen, dass Musik in erster Linie ein Geschäft war.

Wenn Nashville eine große Party war, dann waren diese Gebäude die Aufseher.

Und heute hatte Colton das entmutigende Gefühl, dass man ihn am Kragen von der Tanzfläche zerren würde.

Die Mitarbeiter im Foyer grüßten ihn wie immer – mit freundlichem Respekt. Schließlich war er noch immer der meistverkaufte Star des Unternehmens. Fotos von ihm und seinen Alben hingen im Foyer, in den Fluren, ja sogar in den gottverdammten Toilettenräumen. Ein Begleiter – vielleicht ein Praktikant von der nahen Belmont School of Music oder wahrscheinlich eher der Neffe eines Vorstandsmitglieds – empfing ihn an der Tür und bot ihm eine Flasche Wasser an, um ihn dann zum Aufzug zu geleiten, der ihn in den obersten Stock zu den Vorstandsbüros bringen würde. Der junge Mann verabschiedete sich, als Colton in den Aufzug stieg. Als er ihn wieder verließ, erwartete ihn bereits eine junge Mitarbeiterin, die ihn lächelnd mit Mr Wheeler anredete, allerdings auf eine Art, bei der er am liebsten zu einem Spiegel gerannt wäre, um nachzusehen, ob er graue Haare bekommen hatte.

Sie führte ihn zu dem großen Konferenzraum, wo seine Träume vor vielen Jahren wahr geworden waren. Damals waren alle dort gewesen, als er hereinkam, hatten ihn lächelnd empfangen und ihm gratuliert.

Heute war der Raum leer. «Bin ich der Erste?»

«So ist es.» Die junge Frau lächelte weiter.

Das war eine Premiere. Von wegen Rockstars kamen immer zu spät! Aber wer mit Angst zu einem Termin fuhr, trat gern zu stark aufs Gaspedal. Er lehnte es ab, sich etwas aus dem gut bestückten Minikühlschrank einschenken zu lassen, und schlenderte zu den Fenstern, durch die man über die Stadt blicken konnte. Damals, als er zum ersten Mal vor dieser Aussicht stand, sah er nur seine große Chance auf Ruhm und Glück. Diesmal war es anders. Er war älter geworden, erfahrener. Jetzt sah er die Risse im Pflaster, die Schäden an den Dächern, die müden Taxifahrer, die eine Pause brauchten. Er sah noch den Glanz der Stadt, aber auch den Schmutz.

«Ich dachte, ihr Superstars kommt immer zu spät.»

Colton drehte sich um. Archie Lovett, sein A&R-Betreuer, kam mit einem frechen Grinsen und einem Starbucks-Becher herein. A&R stand für artistandrepertoire und war bei den Musiklabels jene Abteilung, die für die Künstler und ihre Musik zuständig war. Archie hatte ihn von Anfang an betreut. Er war der Kontakt zwischen Coltons Leuten und dem Label.

«Schön, dich zu sehen, Bruder», sagte Archie. Sie klopften sich bei einer halben Umarmung gegenseitig auf den Rücken. «Ich hatte ganz vergessen, wie hässlich du bist.»

Colton zeigte ihm den Stinkefinger, und Archie lachte wie erwartet. Ihre Beziehung war immer so gewesen, freundschaftlich und professionell zugleich. Das gehörte zu den Dingen, die Colton an diesem Label mochte. Es war, als gehörte man zu einer Familie. Der Nachteil von so einer Beziehung war, dass Colton das Gefühl hatte, einen Freund zu enttäuschen, wenn er den Erwartungen nicht gerecht wurde.

Buck Bragg, sein Manager, kam als Nächster herein, mit einem Lächeln, das ruhige Zuversicht vermittelte, doch wie er die Flasche mit Säureblockern in der Faust hielt, verriet, dass er einen harten Tag gehabt hatte. Kurz grüßte er Archie und gesellte sich zu Colton ans Fenster. «Ich glaube nicht, dass du seit unserem ersten Vertrag mal vor mir hier gewesen bist.»

Colton schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. «Ich bin auch seitdem nicht mehr derart nervös gewesen.»

«Wir werden das Kind schon schaukeln», sagte Buck. «Keine Sorge.»

«Keine Sorge? Was soll das denn bedeuten?»

Buck zuckte die Achseln. «Es bedeutet, mach dir keine Sorgen.»

«Das hast du noch nie zu mir gesagt. Deshalb scheiße ich mir jetzt fast in die Hosen.»

Beim Geklapper etlicher Absätze drehten sie sich beide zur Tür um. Einige Führungskräfte des Unternehmens betraten den Raum, alle mit Ledermappe, Handy und einem Tablet unter dem Arm. Zuletzt kam der Wichtigste von ihnen, Vizepräsident Saul Shepard, ein ehemaliger College-Wrestler, der kurz als Medienrechtler tätig gewesen und dann in der Musikindustrie gelandet war. Er wirkte einschüchternd, ohne es darauf anzulegen, seine Miene blieb stets undurchdringlich, und sein Händedruck war kräftiger als nötig. Er war ein Stückchen kleiner als Colton, trotzdem hatte der das Gefühl, als müsste er aufblicken, wenn er mit ihm redete. Heute kam er ihm wie ein Riese vor.

«Freut mich, Sie zu sehen.» Sauls Händedruck war wie ein Schraubstock. «Schön, dass Sie es einrichten konnten, damit wir die Sache aus der Welt schaffen.»

Colton spürte Schweiß in seinen Achselhöhlen. Die Sache aus der Welt schaffen? Was zur Hölle sollte das heißen? Bevor er fragen konnte, gab Saul mit einem ernsten «Fangen wir an» das Signal, sich zu setzen.

Buck klopfte Colton beruhigend auf die Schulter, als sie zum Tisch gingen, doch das hatte den gegenteiligen Effekt. Sobald sie saßen, streckte Colton die Hand zu ihm hin. «Gib mir welche davon.»

Buck schüttete ihm ein halbes Dutzend der weißen Tabletten in die Hand.

Saul räusperte sich. Alle anderen saßen. Mitarbeiter klappten ihre Tablets auf. Archie projizierte etwas auf den Bildschirm an der Wand hinter Saul. Und kein Einziger von ihnen sah Colton in die Augen.

«Sorgen wir zunächst dafür, dass wir alle auf demselben Stand sind», sagte Saul.

Ein Anflug von Angst verwandelte Coltons Magen in einen harten Klumpen. So etwas sagte niemand, der einen Künstler zu seinen künftigen Chart-Hits beglückwünschen wollte.

«Archie, führen Sie uns durch die wesentlichen Punkte in Coltons jüngstem Vertrag, damit sie alle präsent haben.»

Was? Warum gingen sie jetzt seinen Vertrag durch? Colton kniff die Augen zusammen, als auf dem Bildschirm eine Liste der wichtigsten Konditionen erschien. «Entschuldigen Sie, aber was zur Hölle soll das werden?»

«Wie bitte?», fragte Saul.

«Ich kenne die Einzelheiten meines Vertrages sehr genau und auch jeder andere in diesem Raum. Worauf wollen Sie hinaus?»

Archie räusperte sich. Saul lehnte sich zurück und strich seine Krawatte glatt. «Colton, wir sind alle an Ihrem Erfolg interessiert.»

An Ihrem Erfolg interessiert. Eine Formulierung, die irgendwie das Gegenteil vermuten ließ. «Hören Sie auf, um den heißen Brei herumzureden. Gefallen Ihnen meine neuen Songs oder nicht?»

«Nein.»

Mit einem Mal fühlte er sich wie bei einem Auftritt, bei dem ihm mitten in einem Song eine Saite riss: Auf den brennenden Schmerz durch den Draht folgte bittere Enttäuschung. Neben ihm wandte Buck den Kopf und warf ihm einen Blick zu, der zu sagen schien: Flipp jetzt nicht aus.

Zu spät. Wie sollte er deswegen nicht ausflippen? Sein Mund war plötzlich trocken. Er wünschte, er hätte das wiederholt angebotene Wasser angenommen. «Würden Sie mir freundlicherweise verraten, was Ihnen nicht gefällt?»

Buck versuchte einzugreifen. «Geben Sie mir eine Minute, um mit Colton …»

«Sie sind langweilig», sagte Saul.

«Langweilig?» Empört presste Colton das Wort hervor.

«Colton.» Buck legte eine Hand auf seinen Arm. «Lass mich das Reden übernehmen.»

«Nein. Ich will wissen, was langweilig bedeuten soll.»

«Colton, Ihr Talent stach immer hervor aus dem Meer langhaariger Möchtegern-Stars. Aber diesmal …» Saul schüttelte den Kopf. «Was Sie uns gebracht haben, klingt, als hätten Sie ein paar gefühlsduselige Schlagwörter in eine Songwriting-Software geworfen und halbherzig ein paar Riffs hinzugefügt.»

Colton wich die Luft aus der Lunge wie nach einem Hieb in den Magen. Er musste dabei wohl ein Geräusch gemacht haben, denn Buck warf ihm wieder einen vielsagenden Blick zu: Halt die Klappe, bevor du deine Karriere vollends ruinierst.

Colton drehte seinen gepolsterten Ledersessel vom Tisch weg und stand auf. «Ich habe euch alles gegeben. Zwölf Jahre lang habe ich einen Hit nach dem anderen produziert. Ich habe dem Label Millionen von Dollar eingebracht, alles geopfert …»

Saul fiel ihm ins Wort. «Aber was tun Sie jetzt für uns?»

«Wie bitte?»

«Ihr Erfolg ist unser Erfolg», fuhr Saul fort. «Und das heißt auch, Ihr Misserfolg ist unser Misserfolg. Wir können es uns nicht leisten, dass Sie etwas veröffentlichen, mit dem wir Geld verlieren. Und um es unverblümt zu sagen: Auf Ihrem Demo ist kein einziger Hit.»

Colton blickte Archie durchdringend an. «Wusstest du davon?»

«Ja.»

Dieser Verrat raubte ihm den Atem.

«Saul hat recht», sagte Archie. «Es tut mir leid, Colton. Dir das zu sagen schmerzt mich mehr, als du denkst. Aber was du uns da geliefert hast, das wird nicht funktionieren. Und ich denke, das weißt du.»

«Sendezeit ist entscheidend», sagte Saul, als ob Colton das nicht wüsste. «Auf dem Demo ist nichts, das genügend Sendezeit bringt, um es auf die ersten fünf Plätze zu schaffen.»

«Okay, schalten wir mal einen Gang zurück», sagte Buck. «Colton, setz dich und lass uns das besprechen.»

Er kreuzte die Arme. «Was gibt es da zu besprechen?»

«Wir glauben, dass man einige Songs noch retten kann», sagte Archie in begütigendem Ton.

Colton rollte die Augen. «Na, vielen Dank auch.»

«Was genau schlagen Sie vor?», fragte Buck. «Colton sind seine Songs sehr wichtig, und wenn Sie jetzt anfangen, einem Künstler vorzuschreiben, was er in seiner Musik ausdrücken darf und was nicht, dann haben wir ein ganz anderes Problem.»

«Es liegt nicht daran, was du ausdrückst, sondern wie du es ausdrückst», erklärte Archie.

«Wie sollte ich es eurer Meinung nach denn ausdrücken?», krächzte Colton mit trockener Kehle. Weil er die Antwort schon kannte. Sie wollten etwas Oberflächliches. Etwas Bedeutungsloses. Den Country-Schrammler. Den sorglosen Charmeur. Genau das, was er selbst nicht mehr sein wollte.

«Sprechen wir über Lösungen», bot Archie an.

Doch Colton fiel nur eine Lösung ein: seine Songs mitnehmen und abhauen, sich unabhängig machen. Aber das ging natürlich nicht. Denn damit würde er vertragsbrüchig werden und müsste Millionen an Vorschüssen zurückzahlen. Als unabhängiger Künstler müsste er seine Tourneen, seine Aufnahmen und den Vertrieb selbst finanzieren. Und auch mit den Streamingdiensten die Konditionen aushandeln. Dazu brauchte man Geld. Colton war reich, aber es gab inzwischen viele Menschen, die von ihm abhängig waren. Zu viele, um das zu riskieren.

«Colton, was hältst du davon?»

Er tauchte wieder aus seinen Gedanken auf. «Wovon?»

«Wir haben ein paar neue Songwriter an der Hand und wollen, dass Sie mit ihnen zusammenarbeiten.»

Colton strich sich über die Haare und senkte den Blick. So weit war es also gekommen.

«Wir denken, sie werden dir gefallen», ergänzte Archie. «Du weißt, ich würde dir niemanden vorschlagen, den ich nicht selbst überprüft habe. Sie sind exzellent, können Rohmaterial in etwas Gutes verwandeln, ohne dass von der Originalität der Demos etwas verloren geht.»

«Ich dachte, dir gefällt die Originalität meiner Demos nicht.»

Archie überging die kleinliche Bemerkung. «Wir werden ihnen die Songs, deine Erlaubnis vorausgesetzt, heute übergeben und können nach dem Jahreswechsel über Studiozeiten sprechen, um mit den Aufnahmen anzufangen.»

«Und wenn ich Nein sage?»

Saul antwortete. «Dann brechen Sie die Vereinbarungen Ihres Vertrages.»

«So ist das also? Schreib denselben alten Scheiß, oder du fliegst aus der Familie raus?»

«Das hier ist keine Familie», sagte Saul. «Es ist ein Unternehmen.»

«Herrgott noch», schnauzte Buck. «War das nötig?»

«Ich will nur die Dinge klarstellen. Wir haben Millionen von Dollar in ein Produkt investiert und erwarten, dass das Produkt auch geliefert wird.» Saul stand auf und signalisierte damit das Ende des Meetings.

Colton kam es vor, als ginge noch etwas anderes zu Ende: seine Karriere.

«Nehmen Sie sich Zeit und denken Sie darüber nach», sagte Saul.

«Wie lange?», fragte Buck.

«Wir brauchen die Antwort bis zum ersten Januar.»

«In zwei Wochen?», rief Colton. «Sie geben mir zwei Wochen Zeit, um eine folgenschwere Entscheidung zu meiner Karriere zu treffen?»

«Sie hatten zwei Jahre.»

Colton stürmte hinaus. Hinter sich hörte er Buck reden, der die Aufregung zu dämpfen versuchte und Archie beruhigte. Colton wartete nicht auf ihn. Er lief an den Aufzügen vorbei und nahm die Treppe. Buck holte ihn in der Tiefgarage ein.

«Colton, warte.»

Colton legte die Hände an die Hüften. «Hast du davon gewusst?»

«Wovon?»

«Dass ihnen die neuen Songs nicht gefallen.»

«Nein.» Buck seufzte. «Aber ich hatte eine leise Ahnung. Als ich von Archie nichts hörte, habe ich mich gefragt, ob da Gespräche hinter den Kulissen laufen.»

«Und dir ist nicht eingefallen, mich vorzuwarnen?»

«Ich wollte dich nicht unnötig beunruhigen.»

«Stattdessen hast du mich in einen Hinterhalt laufen lassen.»

«Das tut mir leid. Ich hatte gehofft, dass ich mich irre.»

Colton drehte den Kopf weg und starrte ins Leere.

«Weißt du noch, was ich damals sagte, nachdem wir deinen ersten Vertrag unterschrieben haben? Ich sagte, dass die Realität dieser Branche den Glanz ihrer Versprechungen eines Tages zum Verblassen bringt. Deshalb will ich, dass du jetzt ehrlich zu mir bist. Willst du das noch immer?»

Colton drehte so ruckartig den Kopf, dass es in seinem Nacken knackte. «Was will ich noch immer?»

«Das.» Buck deutete vage auf alles und nichts. «Musik machen. Auf Tournee gehen. Country-Star sein.»

«Bist du high? Natürlich will ich das!»

«Dann gib mir etwas, womit ich sie bei der Stange halten kann. Irgendetwas.»

«Ich habe ihnen etwas gegeben. Das haben sie mir gerade vor die Füße geworfen.»

«Dann arbeite mit den Songwritern.»

«Was wäre die Alternative?» Die Frage kam ihm verbittert über die Lippen.

«Du sagst ihnen, dass du aussteigst.»

«Und breche meinen Vertrag?»

Bucks Antwort war ein leerer Blick.

«Ich will nicht aussteigen.» Sein Mund war trocken, als er den Autoschlüssel aus der Tasche zog. «Sag ihnen, ich mach’s. Sie kriegen genau das, was sie wollen.»

Er stürmte davon.

«Was hast du jetzt vor?», rief Buck ihm hinterher.

«Meine verdammte Muse finden.»

Kapitel 3

Die Straße nach Hause war lang und kurvenreich und gesäumt von Weiden, Feldsteinmauern und miesen Erinnerungen.

Ringsherum sah Gretchen nur Land, das den Winthrops gehörte. Ihre Familie lebte dort seit Generationen und hatte ein bedeutendes Unternehmen aufgebaut. Als sie auf die kilometerlange Einfahrt einbog, die sie zum Firmensitz bringen würde, kam sie an dem ursprünglichen Wohnhaus vorbei, wo alles begonnen hatte, als ein irischer Einwanderer namens Cornelius Donley seine erste Fuhre Whiskey an einem Straßenstand verkaufte. Das Farmhaus war jetzt Anlaufstelle für Touristen, die auf dem Whiskey-Trail unterwegs waren, und war im Laufe der Jahre in einen Verkaufs- und Verkostungsraum umgewandelt worden.

In Gedanken sah sie Onkel Jack, wie er drinnen bei den Damen seinen Charme versprühte und den Whiskey an den Mann brachte. Spontan riss sie das Steuer herum und fuhr auf den Parkplatz. Bis zu ihrem Treffen mit Evan blieb ihr noch eine Viertelstunde Zeit, und eine Dosis von Jacks Humor war genau das Richtige, um sich dafür zu wappnen.

Der weiße Kies des Parkplatzes knirschte unter ihren hochhackigen Stiefeln, bis sie den alten Kopfsteinpflasterweg erreichte, der zur Veranda führte. Der Verkostungsraum befand sich in der großen roten Scheune neben dem Farmhaus, aber Besucher mussten durch die Vordertür des Hauses eintreten. In den wärmeren Monaten konnten sie in einem der vielen Schaukelstühle auf der breiten, umlaufenden Veranda sitzen und dort warten, bis ein Platz an der Bar frei wurde, aber im Dezember warteten die meisten verständlicherweise lieber drinnen.

Die Veranda war auf eine schlichte, altmodische Art weihnachtlich geschmückt, als wollte man die Besucher gleich beim Eintreffen in eine frühere Zeit zurückversetzen. Entlang der Dachkante hingen frische Tannengirlanden und am Giebel ein großer Kranz mit einer schlichten roten Schleife. Die Schaukelstühle waren mit Decken und Kissen bestückt. Rechts und links der Tür standen zwei eingetopfte Tannen, geschmückt mit Ketten aus frischen Kranbeeren.

Drinnen empfing Gretchen das Stimmengemurmel von Besuchern, die sich die Räume im Erdgeschoss ansahen, wo sepiagetönte Familienfotos aus der Zeit von Cornelius Donley in verschiedenen schwarzen Rahmen die Wände zierten. Im hinteren Teil des Hauses war noch die alte Küche erhalten. Sie war in eine Ausstellung umgewandelt worden, die das Leben in den 1870er-Jahren beschrieb. Eins der kostbarsten Ausstellungsstücke war das Fass, in dem Cornelius seinen ersten Whiskey reifen ließ. Es stand jetzt in einem klimatisierten Glaskasten. Ein Dutzend Touristen hielten sich in der Küche auf, als Gretchen sie durchquerte. Einige lasen still die Begleittexte, andere beugten sich zum Glaskasten, um die verblasste Beschriftung des Fasses zu entziffern.

«Wieso steht da Donley’s Dare?», fragte eine Frau, und der Mann neben ihr zuckte die Achseln.

«Weil der ursprüngliche Whiskey so hieß», antwortete Gretchen.

Alle drehten sich zu ihr um. «Ich glaube nicht, dass das stimmt», sagte ein Mann. «Wo haben Sie das gehört?»

«Von meinem Großvater.»

«Hat der hier gearbeitet?», fragte eine Frau.

«Das könnte man so sagen.»

Jeder andere ihrer Familie wäre wahrscheinlich auf den ersten Blick als ein Winthrop erkannt worden. Sie dagegen nie. Es gab im ganzen Haus und Verkostungsraum gerade mal ein Foto von ihr, und darauf war sie fünfzehn Jahre alt.

«Ich glaube es trotzdem nicht», sagte der Mann leise, als Gretchen hinausging, und sie hatte keine Lust, ihn eines Besseren zu belehren.

Draußen führte ein langer gepflasterter Weg vom Haus zur Scheune. Auch die war weihnachtlich geschmückt. Rustikale antike Laternen säumten den Weg. Abends wurden die Kerzen darin angezündet, wodurch ein weiches, warmes Licht verströmt wurde. Wer bei Google die romantischsten Orte Nashvilles suchte, fand diesen Weg unter den ersten zehn. Bis zum Ende der Feiertage würde wenigstens ein Mal am Tag jemand hier stehen bleiben und seinem Herzblatt einen Heiratsantrag machen.

In der Scheune setzte sich das altertümliche Ambiente mit groben Holzböden und einem großen schmiedeeisernen Kronleuchter fort, der ebenfalls mit Tannenzweigen und Kranbeeren geschmückt war. Die einzige weitere Dekoration war ein vier Meter großer Weihnachtsbaum mit weißen Lichtern und roten Bändern.