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Wenn dein Herz sich nicht verlieben darf, würdest du dennoch auf seinen Takt hören? Seit Licht und Schatten sich vereint haben, ist das Gleichgewicht Argijas und Andtherâs aus den Fugen geraten. Prinzessin Alamea, Thronfolgerin der erstarrten Stadt Barash, darf sich niemals für eine Seite entscheiden. Gefangen in ewigem Weiß kämpfen Finsternis und Helligkeit um die verlorene Harmonie ihrer Welt. Doch kann ein zerstörter Frieden wieder Wurzeln schlagen, wenn Angst und Missgunst zerbrachen, was einst war? Oder sucht die Balance vergeblich Halt in einem Albtraum aus verbrennendem Schwarz ...
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Seitenzahl: 447
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Copyright 2024 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Covergestaltung: Sternschmiede Coverdesign
ISBN: 978-3-98947-002-6
Alle Rechte vorbehalten
Für diejenigen,
die an die Liebe glauben,
ganz egal in welcher Form.
Diese Geschichte ist für euch.
Inhalt
Vorwort
Das Lied der Schatten
Prolog
1 - Alamea
2 - Khaos
3- Alamea
4- Khaos
5 - Alamea
6 - Elio
7 - Khaos
8 - Alamea
9 - Khaos
10 - Elio
11 - Alamea
12 - Khaos
13 - Alamea
14 - Elio
15 - Khaos
16 - Alamea
17 - Khaos
18 - Elio
19 - Alamea
20 - Khaos
21 - Alamea
22 - Khaos
23 - Alamea
24 - Elio
25 - Khaos
26 - Alamea
27 - Khaos
28 - Elio
29 - Alamea
30 - Khaos
31 - Alamea
Epilog
Danksagung
Die Sprache der Schatten
Glossar
Vorwort
Bevor ihr die Welt von Licht und Schatten betretet, möchten wir euch darauf hinweisen, dass ihr auf eurer Reise nicht nur auf die freie Sprache Barashs treffen werdet. Sondern es werden euch im Laufe der Geschichte Begriffe aus dem andtherianischen und argijaischen begegnen. Um ihre Bedeutung verstehen zu können, findet ihr am Ende dieses Buches ein Glossar mit allen Übersetzungen.
Mira soleire adras,
Anna und Lisa
Das Lied der Schatten
Calaley eswirun meiradâ.
Merîas elodi.
Neldô selerê Nijalî.
Mei Kardîa everendir belaris noctis.
Es ist das Wispern der Ewigkeit.
Eine Melodie, die dich davonträgt.
Dich als Freund begleitet.
Mein Herz gehört für immer der Nacht.
Prolog
Die Balance allen Lebens ist das Gleichgewicht von Licht und Schatten. Seit Jahrhunderten weben sie ein Band aus hell und dunkel. Aus ihrem tiefsten Seelenkern wuchsen einst zwei Welten: Agrija und Andtherâ.
Das Land der Lucid und der Merakî. Beide Völker wussten um die Wichtigkeit ihrer Verbindung und bewahrten sie in einem ewigen Kreislauf allen Seins.
Handelsallianzen sorgten für gedeihende Reiche und im stetigen Fluss der Zeit regierte abwechselnd ein Paar der Lichtgeborenen und eines des Schattenvolkes das gemeinsame Herz ihrer Kontinente: Barash, die Stadt der Harmonie. Getaucht in ein vollkommenes goldenes Leuchten und ein bezauberndes schwarzes Spiel der Dunkelheit. Ohneeinander waren sie dazu verdammt, sich selbst zu verlieren. Die Lucid brauchten die Schatten, um ihre wärmende Energie zu kontrollieren, während die Merakî das Licht nutzten, um Leben zu bewahren und Neues zu erschaffen. Doch was einst perfekt war, sollte zerbrechen ...
Die Liebe zwischen hell und dunkel stürzte beide Welten ins Unglück. Als der junge Lucid König Nevân sein Herz an eine Merakî verschenkte, wich das Leuchten aus Barash. Ihm folgte wenig später die Dunkelheit. Das Antlitz der Seele beider Völker erbleichte, verlor sich in einem endlosen Traum aus reinstem Weiß. Und während die Schatten vergingen, fiel dem Licht die Aufgabe zu, das Unheil von der einzigen Prinzessin fernzuhalten, die weder den Lucid noch den Merkaî zugehörig war. Ein Herz in makellosem Gleichgewicht, ohne jemals eine Wahl treffen zu dürfen. Ohne jemals zu lieben. Eine Bürde, damit die verlorene Harmonie Argijas und Andtherâs ihren Takt wiedererlangte.
1 - Alamea
Barash.
Weiß wie ein unbeschriebenes Blatt Papier lag meine Heimatstadt zu meinen Füßen. Durchzogen von Oasen aus Grün und Gold. Doch wenn man genau hinsah, konnte man die Spuren der Geschichte erkennen, die sie erlebt hatte.
Die Schattensonne wanderte träge über den Himmel und weckte nach und nach die Bewohner der Königsstadt. Der Schattentag begann und die Lichtnacht endete. Der stete Wechsel der Himmelskörper hatte in vergangenen Zeiten die Harmonie von Schatten und Licht offenbart. Wenn eines schlief, wachte das andere.
Heute erklangen singende goldene Windspiele im dämmernden Morgen, und das leise Wispern der wenigen rauchgrauen Schattenlaternen erzählte bei Einbruch der Dunkelheit von einer Zeit des Gleichgewichts. Einer Zeit vor meiner Geburt.
»So in Gedanken versunken, Hoheit?«
Lächelnd wandte ich mich um. »Elio. Du bist zurück.«
Ergeben zuckte mein Leibwächter und ältester Freund mit den Schultern. Der goldene Brokatstoff seiner Jacke verrutschte dabei leicht, was er sofort korrigierte. »Ich habe doch versprochen, mich zu beeilen.«
Er zog mich in eine sanfte Umarmung, und sein Duft hüllte mich in eine Wolke liebevoller Erinnerungen. Immer wenn er seinen Vater in Argija besuchte, verstärkte sich die belebende Zitrusnote so sehr, dass ich die minzigen Holztöne nur noch wahrnahm, weil ich sie so gut kannte.
»Wie geht es deinem Vater? Wie war es in der Goldenen Stadt?«
Elio lachte und schob mich auf Armeslänge von sich. Sorge legte seine Stirn in Falten, während er mich musterte, als erwarte er, Verletzungen vorzufinden. »Zuerst verrätst du mir, ob es dir gut geht.«
Ich legte eine Hand an seine Wange, um ihn zu beruhigen. »Es geht mir gut.« Für einen weiteren Moment ruhte sein prüfender Blick auf mir, bevor die Anspannung aus seinen Schultern wich.
»Ich habe etwas für dich.« Das Licht seiner saphirblauen Augen funkelte verschwörerisch, und er griff in die versteckte Innentasche seiner Jacke. Erst jetzt fiel mir auf, wie viel heller seine Iriden strahlten. Noch eine Veränderung, die er aus Argija mitgebracht hatte.
Er hielt mir seine Hand entgegen, an der eine zarte Kette hing. Ich erkannte das filigrane Medaillon aus weißem und schwarzem Marmor sofort. Goldfäden umrahmten die Steinsplitter, gaben ihnen Halt und formten ein florales Muster.
»Du hast es reparieren lassen.« Vorsichtig, als könnte eine zu schnelle Bewegung das Schmuckstück erneut zerstören, legte ich meine Finger um den Anhänger.
Die Kette war vor wenigen Tagen gerissen, als Zanoosh sich beim Spielen darin verhakt hatte. Es war der längste Zeitraum, seit ich denken konnte, den ich ohne das vertraute Gewicht an meinem Hals verbracht hatte. Ohne das Symbol der Harmonie, das meine Farbe miteinschloss. Einem von zweien, die es gab. Das andere lag in Form eines geflochtenen Armbandes um Elios Handgelenk. Schwarz und Gold, verwoben in Einklang und verbunden durch eine weiße Perle.
»Natürlich.« Wehmut trübte seine Stimme, die für gewöhnlich klang wie Sonnenstrahlen auf kristallklarem Wasser. Wärmend, ruhig und sanft. Für einen Moment schienen seine Gedanken an einen weit entfernten Ort zu wandern, während er sein Armband betrachtete, dessen goldene Fäden sanft glänzten. Blinzelnd riss er seinen Blick los und sah mich an. »Darf ich?«
Ich nickte und drehte mich um. Mit einer Hand fasste ich die weißen Strähnen meines Haares zusammen, damit er die Kette in meinem Nacken schließen konnte. Das Medaillon kam auf meinem Brustbein zur Ruhe, und ich strich einmal mit den Fingern darüber. Als würde ich es willkommen heißen.
»Jetzt erzähl mir von deiner Reise. Ich will alles wissen.« Ich fasste nach seiner Hand und zog ihn zu der gepolsterten Sitznische am Fenster.
Elio schenkte mir dieses spezielle Lächeln, das nur für mich zu sein schien. Es erhellte seine Züge, ließ sie weich werden und strahlte absolute Herzenswärme aus. »Du bist ganz schön neugierig.«
»Kannst du es mir verübeln? Alles, was ich den ganzen Tag sehe, sind weiße Wände, weiße Häuser und ...« Ich vollführte eine ausschweifende Bewegung mit beiden Armen, die deutlich machte, dass ich nicht nur über mein Zimmer sprach und deutete schließlich auf mich. »Weiße Kleidung.«
Er schüttelte den Kopf und legte einen Arm um meine Schulter. »Es tut mir leid. Ich würde dich so gerne einmal mitnehmen. Die Goldene Stadt würde dir gefallen.«
Ich zog die Beine an, obwohl ich wusste, dass der zarte Stoff meines Kleides dadurch knittern würde und schwieg. Es war nicht nötig, etwas dazu zu sagen. Wir gaben uns diesen kurzen Augenblick – einen Moment des Schweigens für mein Leben in einem farblosen Käfig, bevor Elio weitersprach.
»Mein Vater lässt dich grüßen. Er wird, sobald er kann, nach Barash kommen und uns besuchen. Er hat viel zu tun ...« Für einen kurzen Moment stockte er, als wollte er etwas hinzufügen, was er nicht wagte auszusprechen. »Ansonsten geht es ihm gut.«
»Was hast du unternommen in den drei Schattentagen deines Besuchs?«
»Ich war viel in den Hängenden Gärten und habe gelesen. Ich wünschte, ich könnte sie dir zeigen. Oder wenigstens so gut zeichnen, dass ich dir Bilder davon mitbringen könnte. Sie sind so anders als der Rest von Argija. Als würde man in eine fremde Welt eintauchen. Das Farbenspiel von Gold zwischen unzähligen Facetten Grün ist einzigartig.«
Gespannt lauschte ich jedem seiner Worte. Sog alles in mich auf, was ich konnte. Auch wenn Elio nicht für mich zeichnen konnte, so war er doch meine Augen außerhalb dieser Mauern. Wussten wir schließlich beide, dass ich die Goldene Stadt niemals besuchen würde, geschweige denn Andtherâ. Auf die Heimat der Merakî, den Geburtsort meiner Mutter, würde ich mein ganzes Leben verzichten müssen.
»Warst du in dem Gebäckladen?« Er hatte mir nach seinem letzten Besuch in Argija von dem kleinen Geschäft erzählt. Es gehörte einer älteren Lucid, die Elio offenbar sofort als eine Art Enkel ansah und ihn zu regelmäßigen Besuchen verpflichtet hatte.
»Natürlich. Sieht man das nicht?« Demonstrativ strich er sich über den Bauch und brachte mich zum Lachen.
Ein vertrautes, fiepsiges Bellen unterbrach uns, und kaum einen Wimpernschlag später saß ein leuchtender Fellball auf Elios Schoß.
»Na, kleiner Freund, hast du gut auf Alamea geachtet, während ich weg war?«
Zanoosh gab ein schnurrendes Geräusch von sich und schmiegte sich an Elios Brust. Kaum berührten dessen Finger das sandfarbene Fell des Zerda, flackerten goldene Lichtströme über den kleinen Körper. Sie begannen an den großen Ohren und zogen sich schließlich in Spiralen bis zur Schwanzspitze. Die Sandfüchse waren für gewöhnlich in den Lichtlanden beheimatet und daher mit der Energie der Lucid verbunden.
Erst jetzt bemerkte ich das schattenumwölkte Schwarz, das zwischen seinen spitzen Zähnen hervorlugte.
»Was hast du da, Zanoosh?«
Seine Ohren zuckten freudig, während er vorsichtig den kleinen Gegenstand aus seinem Maul auf meinen Schoß fallen ließ.
»Warst du wieder plündern?«, fragte Elio mit einem Augenzwinkern. Er kraulte den Kopf des Zerda, der auf seine Worte hin stolz die pelzige Brust reckte.
Wir wussten, dass der kleine Fuchs nichts stahl. Alles, was er mir von seinen Streifzügen durch Barash mitbrachte, holte er aus verwaisten Häusern. Häusern, in denen einst Merakî lebten.
Ein Räuspern an der Tür ließ uns herumfahren. »Prinzessin Alamea, der König möchte euch sehen.«
Hastig faltete ich die Hände und ließ Zanooshs Geschenk zwischen den strahlend weißen Lagen meines Rockes verschwinden, in der Hoffnung, sie würden das Schwarz verbergen können.
»Ihr könnt gehen. Ich geleite die Prinzessin.« Elio reagierte ebenso schnell. Er setzte Zanoosh behutsam auf dem Boden ab und stand auf. Versperrte dem ungebetenen Gast die Sicht auf mich. Seine Ausstrahlung hatte sich innerhalb eines Wimpernschlags gewandelt. Vor mir stand nicht mehr mein Freund, jetzt war er mein Leibwächter. Die Wärme war aus seinen Augen gewichen und hatte einer kühlen Distanz Platz gemacht. Seine Haltung war gerade, das Kinn erhoben. Einzig die goldenen Sommersprossen auf seinen Wangen fingen die Strahlen der Sonne ein und ließen das Licht tanzen, als wollten sie mir versichern, dass mein einziger Vertrauter auf dieser Welt noch immer bei mir war.
Ich erhob mich ebenfalls. Darauf bedacht, den kleinen glatten Gegenstand verborgen zu halten.
Der Berater meines Vaters neigte den Oberkörper weit genug, um mich nicht zu beleidigen, jedoch nicht weit genug, um mir den gebührenden Respekt zu erweisen. Das Gold seines Fracks glänzte, als wollte es mich verhöhnen. Die farblose Tochter des Lucid-Königs.
»Das war knapp.« Elio stieß ein lautloses Seufzen aus und drehte sich zu mir um. »Soll ich das nehmen?«
Er deutete auf meine Hände, die sich fester als nötig in den zarten Stoff meines Kleides krallten. »Bringst du es in den Pavillon?«
Ein sanftes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Natürlich.«
Ich nickte und erlaubte mir endlich einen genaueren Blick auf Zanooshs Beute. Es war ein Obsidian, unter dessen Oberfläche eine blaue Blüte eingeschlossen war.
»Was ist das?«, wisperte ich.
Elio beugte sich zu mir. »Ich glaube, ich habe so eine schon einmal in einem Buch gesehen. Die Merakî nennen sie Khoeli. Wenn ich mich richtig erinnere, schenkt man sie der Person, die man liebt. Angeblich bringt der Lichtmond sie zum Leuchten, solange die Liebe besteht.«
Fasziniert betrachtete ich die konservierte Blüte. Die filigranen Blätter schimmerten in einem hellen Himmelblau vor dem mitternachtsschwarzen Stein, der sie bewahrte. Ich stellte mir vor, wie sie wohl im Schein des Lichtmondes aussehen würde und ob diese hier noch unter der Liebe ihres Besitzers erstrahlte. Der Anblick berührte etwas in mir, das ich weder greifen noch benennen konnte.
»Wir sollten gehen, bevor der Nächste kommt, um dich zu holen.« Elio streckte mir seine Hand entgegen, und seine Augenbrauen zogen sich entschuldigend zusammen.
Ich schüttelte das Gefühl einer verlorenen Erinnerung ab und nickte. Dennoch zögerten meine Finger einen Moment, ehe sie den Stein freigaben und Elio ihn in die Innentasche seiner Jacke gleiten ließ.
»Bereit?« Er nahm seine stolze Haltung wieder ein und verbannte seine Sanftmut in den Käfig des distanzierten Wächters. Wir hatten früh gelernt, dass es nicht gerne gesehen wurde, wenn er mir zu nahestand. Das hatte unsere Freundschaft jedoch nicht verhindern können. Es hatte uns lediglich zu guten Maskenträgern werden lassen.
Ich straffte die Schulter, ließ das Medaillon in den Ausschnitt meines Kleides gleiten und strich meinen Rock glatt. Dann nickte ich und folgte Elio in den Gang.
Mit jedem Schritt durch die kalten Flure ließ ich mein Selbst ein Stück weiter von mir abfallen. Ich leerte meine Gedanken, bis sie ebenso nichtssagend waren wie die blanken Wände.
In meinen Lehrbüchern hatte ich Abbildungen des Palastes aus früheren Zeiten gesehen. Zeiten, in denen goldschimmernde Säulen die Decken stützten. Zeiten, in denen Intarsien aus schwarzem Stein kunstvolle Muster auf die Fußböden malten. Zeiten, in denen ich nicht durch diese Hallen gegangen war. Heute säumte nichts mehr unseren Weg. Kein Gold, kein Schwarz, keine Erinnerungen. Nur weiße Tristesse.
Wir sprachen nicht auf dem Weg in den Thronsaal. Unter unseren Masken hatten wir uns nichts zu sagen. Das Geräusch unserer Sohlen auf polierten Fliesen glich unheilverkündendem Donnergrollen und begleitete unsere Schritte wie eine warnende Melodie.
Die massiven Torflügel standen offen, und wir verlangsamten unseren Gang automatisch. Elio warf mir einen unauffälligen Blick zu, und ich erlaubte meinen Augen, ihm die Antwort zu geben, die er suchte. Ich war bereit, und wie es seine Rolle als Leibwächter verlangte, ließ er sich zurückfallen und mich zuerst eintreten.
Mein Vater saß auf dem massiven Thron am anderen Ende des Raumes. Einst war dies wohl ein eindrucksvoller Platz gewesen, doch der Prunk war verblasst. Wie alles in diesen Mauern. Seine Berater in ihrer goldenen Kleidung wirkten wie Fremdkörper in der Endlosigkeit aus Weiß.
Mit schnellen Schritten durchquerte ich den Saal. Kein Anzeichen des Zögerns, kein Stocken. Die schillernden Stoffbahnen meines Rockes bauschten sich hinter mir und kamen gleichzeitig mit dem Gemurmel der Berater zum Erliegen. Die ganze Zeit über spürte ich Elios Anwesenheit in meinem Rücken. Intuitiv passte er sich mir an, hielt unseren Abstand konstant und gab mir Halt.
»Vater, Ihr wolltet mich sprechen?« Obwohl ich meinen Gefühlen verbot, sich zu zeigen, konnte ich nicht verhindern, dass mein Ton sanfter klang als beabsichtigt.
König Nevân war noch immer ein eindrucksvoller Mann. Selbst nach so vielen Sonnenjahren des Leidens hatte er diese Wirkung niemals verloren. Den stolzen Blick und die gerade Nase hatte ich von ihm geerbt. Ebenso wie meinen unnachgiebigen Geist. Zumindest wenn ich den Erzählungen von Elios Vater Cyrus Glauben schenkte, der meinem Vater bereits viele Sonnenjahre vor meiner Geburt als Freund zur Seite gestanden hatte. Denn der Mann, in den meine Mutter sich einst verliebt hatte, war ein anderer gewesen.
Beim Klang meiner Stimme hob er den Blick, als wäre er die ganze Zeit nicht anwesend gewesen. »Tochter.« Ein Lächeln legte sich auf seine blassen Lippen und ließ seine amberfarbenen Augen strahlen. »Du hast mich so lange nicht besucht.«
Ich trat an den Thron und nahm seine Hände in meine. Fiebrige Hitze umfing seine Haut, die selbst die typische Wärme der Lucid weit überstieg. Die goldenen Sommersprossen strahlten so hell, als wären Scherben der Schattensonne herabgefallen und hätten sich in seine Wangen gegraben.
Längst konnte sein Körper das Übermaß an Lichtenergie, mit dem er sich umgab, nicht mehr aufnehmen oder gar verarbeiten. Mit dem Verlust seines Gegenstücks war nicht nur die Liebe seines Lebens von ihm gegangen, sondern auch sein Gleichgewicht. Wo keine Schatten mehr sind, wird Licht verzehrend.
»Verzeih mir. Ich bemühe mich wieder öfter nach dir zu sehen.« Ich verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass ich erst gestern mit ihm zu Abend gegessen hatte. Denn obwohl sein Geist sich beständig weigerte, mich zu vergessen, so schaffte er es doch nicht mehr, die Erinnerungen an einen vergangenen Tag festzuhalten.
Er entzog mir eine Hand und legte seine Finger an meine Wange. Der Nebel in seinen Iriden lichtete sich und ließ die Fürsorge eines Vaters für seine Tochter darin erstrahlen. »Du wirst jeden Tag schöner. Du hast das Lächeln deiner Mutter.«
Ungeweinte Tränen meines Lebens brannten in meinen Augen. Auch diesmal gestattete ich ihnen nicht, sich zu zeigen. Trauer hatte meinen Vater seines Verstandes beraubt. Hatte ihn vergehen lassen wie einen Tropfen Wasser in den Sandbergen Argijas. Welches Recht besaß ich, diese Trauer zu teilen, wenngleich ich die Frau seines Herzens, meine Mutter, nie kennengelernt hatte?
Bevor ich mich für das Kompliment bedanken konnte, wurden seine Augen erneut trüb, und ich wusste, das Vergessen hatte ihn wieder zu sich geholt. Dennoch beugte ich mich nach vorne und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Sein Bart kitzelte meine Nase und erinnerte mich an Momente meiner Kindheit, in denen er mein Vater sein konnte. In denen er Elio und mir Geschichten erzählte oder mir die Lieblingsblumen meiner Mutter in den Gärten zeigte. Doch mit jedem Tag, der verging, wurden die Momente seltener, in denen er sich aus dem Gefängnis seines Geistes lösen konnte.
Die Kette an meinem Hals bewegte sich, und das Medaillon hatte auf dem glatten Stoff meines Kleides keinen Halt. Ich reagierte zu langsam. Der Blick meines Vaters fand das schimmernde Schmuckstück, ehe ich meine Finger darum schließen konnte.
Ein Schrei durchschnitt die angespannte Atmosphäre im Thronsaal. Hallte von den Wänden wider, brach sich an gemeißelten Säulen und zersplitterte zu einem Stakkato des Grauens. Mit schreckgeweiteten Augen stieß der König mich von sich, als wäre ich sein persönlicher Tod.
Elio war sofort hinter mir. Lautlos hatte er den Abstand zwischen uns überbrückt und fing mich auf. Seine Wärme hüllte mich ein, doch selbst sein Licht konnte die Kälte nicht aus meinen Gliedern vertreiben.
»Schatten... Alamea, dein Herz... Du musst es beschützen.« Die wirren Worte meines Vaters begleiteten mich, während Elio mich aus dem Saal führte. Nachdrücklich und zugleich behutsam schob er mich vorwärts, bis wir die Türflügel hinter uns gelassen hatten und das erdrückende Weiß des Flurs uns einhüllte.
Unendliche Traurigkeit erfüllte mein Herz. Vielleicht war mein Schicksal gar keine so schwere Bürde, wenn Liebe zu so etwas im Stande war. Wenn sie den stärksten Mann in die Knie zwang, als wäre er nichts weiter als ein Glutfunken in einem Meer aus Dunkelheit.
Elio räusperte sich leise. Er hatte seine Fäuste geballt, und ich konnte meinem Freund ansehen, wie viel Kraft es ihn kostete, seine Haltung zu wahren. Mich nicht in seine Arme zu schließen, wie früher, als mir die Ausbrüche meines Vaters noch Angst eingejagt hatten.
Gerne hätte ich ihn beruhigt, doch mahnende Schritte aus dem Thronsaal hielten mich zurück.
Ein Berater meines Vaters trat zu uns und fixierte mich. »Prinzessin ...« Keine Respektbekundung, ein Tadel. Die grauen Augen des Lucid fanden das Medaillon um meinen Hals. »Wie oft müssen wir Euch noch erklären, wie schlecht solcherlei Vorfälle für die Gesundheit des Königs sind? Ist sein Wohl Euch so gleichgültig?«
Ich spürte Elios Zorn wie eine auflodernde Flamme neben mir und straffte meine Schultern. »Ich glaube nicht, dass ich Euch Rechenschaft schuldig bin.« Meine Stimme klang wie ein Eisregen.
Die Augen meines Gegenübers verengten sich kaum merklich. »Wie Ihr wisst, hat Euer Vater jegliches Anzeichen der Merakî aus dem Schloss verbannen lassen und mit selbigen die Farbe Schwarz.«
Meine Maske aus kühler Arroganz verrutschte nicht, auch wenn mein Innerstes erbebte, es danach schrie, das Erbe meiner Mutter zu verteidigen. Mich das Ungleichgewicht der Kräfte verzehrte.
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, griff der Lucid nach meiner Kette. »Ich nehme dieses Objekt an mich und werden es den Gesetzen gemäß entsorgen.«
Elios Hand schnellte vor und ergriff den Berater, bevor dessen Finger die Chance hatten, mich zu streifen. Blitze zuckten über die Haut meines Freundes. Ein Gewitter aus unterdrückter Wut, und seine Stimme war drohend wie ferner Donner. »Ihr rührt sie nicht an.«
Der ältere Lucid zog sich zurück, zupfte betont energisch die Ärmel seines Fracks zurecht und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Der Blick seiner tosenden Augen ruhte auf mir. »Sorgt dafür, dass der König nicht noch einmal durch Eure Sentimentalitäten in Aufregung gerät, Prinzessin Alamea.«
Mein Geburtsrecht. Mein Name. Aus seinem Mund klang beides wie eine Beleidigung. Er wandte sich ab, trat zurück in den Thronsaal. Keine Verabschiedung. Keine Höflichkeiten.
Elios Finger fanden meine und drückten sie. Ich erwiderte die Geste, dann traten wir den Weg zurück in meine Gemächer an.
Vor zehn Sonnenjahren war die Farbe Schwarz für meinen Vater zu einer Qual geworden.
Vor einundzwanzig Sonnenjahren wurde die Farbe Weiß zu meiner.
Der Versuch, sein eigenes Leiden zu lindern, verdammte mich zu einem Leben in farbloser Leere.
2 - Khaos
Die Schatten flüsterten. Strichen meine Arme hinauf, fielen wie ein dunkler Umhang meinen Rücken hinab und umschmeichelten jeden Zentimeter meines Körpers.
»Siles Imre.« Ein Hauch genügte, und sie schlüpften unter meine Haut, formten sich zu weit verzweigten nachtfarbenen Mustern. Meine Stiefel rutschten schmatzend über den morastigen Untergrund. Im Düsterwald einen sicheren Stand zu finden, war eine Kunst, die die meisten Merakî nie vollständig erlernten.
Der sumpfige Boden wurde durch das verästelte Wurzelwerk der uralten Laubbäume aufgebrochen, und auch ohne eingeschränkte Sicht zu einer halsbrecherischen Stolperfalle. Jede Zelle meines Körpers war zum Zerreißen gespannt. Mein Atem ging flach und so gleichmäßig wie mein Herzschlag. Keine innere Unruhe durfte von mir Besitz ergreifen. Nichts, was die Schatten in Ungleichgewicht stürzte und somit den Ausgang meines Trainings gefährdete, konnte ich mir erlauben.
»Du bist noch nicht so weit. Einer der besten, aber noch nicht bereit.« Die Stimme meiner Mutter klang wie ein Störgeräusch in meinen Ohren.
Ich schloss für einen Moment die Augen. Atmete. Als ich sie wieder öffnete, hatte sich mein Kopf von allen überflüssigen Gedanken befreit. Du hast dich geirrt. Ein Grinsen umspielte meine Mundwinkel, als ich schräg hinter mir ein verräterisches Knacken vernahm.
»Avare.« Kühlend flossen sie über meine Handflächen, brachen aus meinen Fingerspitzen hervor und sammelten sich rechts und links meiner schlammbespritzten Stiefel. Die Gabe, durch das Zwielicht zu wandeln, besaßen alle Merakî von Geburt an. Ein Keress, ein Flüsterer, zu werden, war der Wunsch von vielen. Die meisten scheiterten, verloren sich für immer in der Dunkelheit.
Ich bewegte die Finger meiner rechten Hand in einem kaum sichtbaren, gleichmäßigen Takt. »Restaris.« Ein Wispern erklang, ehe sie sich davonstahlen, meinem Befehl Folge leisteten. Ein erstickter Laut sorgte dafür, dass ich mich umdrehte.
Wenige Schritte entfernt wand sich eine Gestalt am Stamm einer Kalâeiche und versuchte, die dünnen Seile aus schwarzen Rauchfäden, die ihren Körper umschlangen, zu durchtrennen.
Müde lächelnd trat ich näher. »Was soll das werden?«
Ein frustriertes Schnauben entwich ihren zusammengepressten Lippen. »Lass den Unsinn und ruf deine Lakaien zurück, Khaos.«
Ein bedrohliches Zischen, begleitet von einem flammengleichen Knistern glitt in Wellen über ihre lederne Rüstung. »Für diese Beleidigung sollte ich dich hier verrotten lassen, Kilith«, knurrte ich und ballte die Hände zu Fäusten.
Wir lebten im Einklang mit den Schatten. Sie waren ein Teil von uns. Und die Keress pflegten ebenso wie die Senkâ, die Weber, eine besondere Bindung mit der Energie, die uns umgab.
»Sicher, grüß Rîona von mir, wenn du zurück bist.« Ein gehässiges Lächeln legte sich auf ihre Züge.
Ich beugte mich vor und spürte, wie sich ihr Körper anspannte. »Werde ich.« Ein Flüstern ganz nah an ihrem Ohr, gefolgt von einem Windhauch, ehe sich meine Hand um die Schattenfäden eines tiefhängenden Astes schloss.
»Avare.« In einem Wirbelsturm aus Mitternachtsschwärze löste ich mich auf, und als das vertraute Ziehen in meinem Magen erwachte, schloss ich die Augen.
»Âme lässt dich grüßen.« Ich betrat das Zimmer, ohne anzuklopfen.
Meine Mutter sah von der Karte auf, die beinahe ihren gesamten Schreibtisch einnahm und runzelte die Stirn. »Ich erwarte sie seit einer Weile. Ist sie...«
Ich lehnte mich gegen den breiten Holzbalken, der säulenartig in der Mitte des Raumes aus dem Boden ragte. »Sie ist gerade unpässlich.«
Mit verschränkten Armen verharrte sie nahe dem Fenster, in dessen leicht trüben Glas sich die Umrisse von Gebäuden abzeichneten. Erbaut zwischen den Ästen der Bäume und verbunden mit meterlangen Hängebrücken. Eine Siedlung auf Zeit, die ihre Lebensdauer bereits vor Mondjahren überschritten hatte.
»Die Späher sind zurück.« Konzentriert beugte sie sich über die Landkarte. Ich trat an ihre Seite. Ihr Zeigefinger zeichnete eine Linie entlang der weißen Grenze. »Agrija patrouilliert entlang des Walls. Was unseren Handel in Barash nahezu vollständig zum Erliegen bringt.«
Neugierig schoben sich einzelne schwarze Schattenzungen unter meinen Ärmeln hervor und kitzelten meinen Handrücken. »Gibt es Lücken, Schwachstellen, durch die wir in die Stadt gelangen können?«
In ihre dunklen Augen stahl sich ein Funkeln, ein kurzer Anflug von Stolz, ehe er in sich zusammenfiel und erlosch, bevor ihn jemand wahrnehmen konnte. Jemand, der sie nicht halb so gut kannte wie ich.
»Wenige und es werden von Mal zu Mal weniger. Das Herz wird zu einer Festung und die Lucid zu seinen goldenen Wächtern.« Ihr Blick mied den meinen, als er kurz den Siegelring an meinem linken Zeigefinger streifte. Für die Anführerin der Merakî war er ein dunkles Omen, für mich eine schmerzhafte Erinnerung an ein Leben, das sich nicht mehr nach meinem eigenen anfühlte. Gestohlen und zerbrochen. Durchzogen von Adern aus Schwarz, Gold und Weiß.
»Wenn sie den Handel mit uns einstellen ...« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Die Energie ist knapp, und ich kann nicht riskieren, dass sie den nächsten Trupp erneut erwischen.«
»Ich werde gehen. Allein. Raiden und einige Senkâ warten an einem unbewachten Grenzübergang.« Ich wandte mich um.
»Khaos«, ihre Stimme war kühl und distanziert, »du darfst nicht scheitern.«
Ich stieß die Tür auf und hob das Kinn. Drehte mich nicht noch einmal um, und die Schatten ließen meine Konturen verschwimmen, ehe sie mich davontrugen. »Niemals.«
Das schwache Leuchten reichte kaum aus, um das, was ich seit Mondjahren mein Zuhause nannte, zu erhellen. Die Lumix, vom Lichtvolk kreierte Tropfen reiner Energie, schwebten in gläsernen Gefäßen, die sowohl auf dem Boden als auch an den Wänden platziert waren. Ihr goldenes Funkeln erinnerte an das Flackern einer Kerzenflamme. Das Knarren des Holzes unter meinen Stiefeln ließ mich die Stirn runzeln. Die Dunkelheit brauchte das Licht. Sie brauchten einander. Ich kniete mich vor das größte der Behältnisse und öffnete den kleinen Riegel. Augenblicklich schoss die Lumix an mir vorbei, doch meine Schatten waren schneller. Sie legten sich um die pulsierende Energie.
»Liberare.« Ein Wispern genügte, und sie leiteten das Licht in das Gehölz des Baumes. Ein raunendes Aufatmen erklang, und meine nächsten Schritte waren lautlos. Ich rieb mir über die Augen und trat an eines der Fenster. Ringsum waren die Häuser spärlich erleuchtet, vereinzelte Äste der Kalâeichen kahl, und der Nebel, der aus den umliegenden Sümpfen stieg, wurde dichter. Meine Mutter hatte recht. Wenn wir nicht bald etwas unternahmen, würden die Lebensumstände im Düsterwald mehr als schwierig werden. Ich ließ mich auf das zerwühlte Bett fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Der Druck des Siegelrings in meinem Nacken erinnerte mich schmerzlich an meine längst nicht mehr zu erfüllenden Pflichten. Ich schloss die Augen, und die Schatten schoben sich wie eine schützende Mauer an meine Seite. Verbargen mich für einen Augenblick vor der Welt.
»Zeig sie mir, bitte.« Das Funkeln in ihren unterschiedlichen Iriden spiegelte eine Mischung aus Neugier und Sorge. »Ich bin nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Was, wenn uns jemand sieht?« Seine Hand umfasste die ihre, und er zog sie ein Stück von mir fort. Nur einen Schritt, bevor sich die Wissbegierde auch auf seinen Zügen nur allzu deutlich zeigte. »Ich will sie sehen. Khaos, bitte.« Den Schritt, der uns trennte, überbrückte sie eilig. Ich sah zu ihrem goldenen Wächter, zu dem Jungen, der mein Gegenstück bildete und grinste. »Sieh genau hin.« Die Finsternis floss meine Arme hinab und erschuf einen wabernden Kreis um unsere Gestalten. Ihre Lippen formten einen überraschten Laut, während mein Gegenüber schluckte und sich immer wieder nervös umsah.
»Das reicht. Ruf sie zurück.« Ich verdrehte die Augen und wartete einen weiteren, quälend langen Moment, nur um ihn zu ärgern. »Khaos!« Schmunzelnd hob ich eine Augenbraue und ließ die Schatten unter meine Haut schlüpfen. Ein erleichtertes Seufzen, gefolgt von einem strengen Blick, brachte unseren Schützling dazu, hinter vorgehaltener Hand zu kichern. »Wir müssen uns beeilen. Sie warten in der Bibliothek auf uns.« Eifrig nickend drehte er sich zur Tür. Ich verschränkte die Arme. Ihre Finger berührten meinen Handrücken, ehe auch sie sich umwandte. »Sie sind wunderschön«, flüsterte sie, und in ihr mitternachtsblaues Auge stahl sich ein Strahlen, das mein Herz stolpern ließ. Es geriet aus dem Takt. Zum ersten Mal ...
Schwer atmend fuhr ich hoch, und mein Blick fiel auf das Schmuckstück an meinem Zeigefinger. Ganz egal wie oft ich ihn abgenommen und unter die lose Bodendiele verbannt hatte, nach nur wenigen Stunden holte ich ihn wieder hervor. Als fühlte ich mich unvollständig ohne ihn. Als könnte ich das zerrissene Band aufrechterhalten.
Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Im diffusen Dämmerlicht erkannte ich Raiden, meinen engsten Vertrauten, seit das Schicksal mir meinen besten Freund gestohlen hatte.
»Habe gehört, du hast einen Auftrag von Rîona erhalten. Wie riskant ist er?« Er betrat den Raum und warf mir eine kleine Phiole zu. Eine dunkelgrüne Flüssigkeit bewegte sich träge darin. Grinsend hob er seine eigene an die Lippen. Ich tat es ihm gleich und leerte sie in einem Zug. Meine Kehle brannte.
Die Mischung aus Kräutern und Alkohol ließ Raiden husten. »Widerliches Zeug. Also?«
Ich gab ihm das leere Fläschchen zurück. »Ich gehe nach Barash und sorge dafür, dass wir genug Lumix bekommen, um diesem traurigen Anblick etwas mehr Leben einzuhauchen.« Nickend wies ich in Richtung Tür.
»Risikoreich. Was, wenn die Goldenen dich erwischen?« Er ließ sich in einen der schwarzen Sessel nahe dem Fenster sinken und musterte mich aufmerksam.
»Ich bin ein Keress. Um mich zu erwischen, müssen die Glühwürmchen früher aufstehen.«
Ein Lachen löste sich aus Raidens Kehle, und er fuhr sich durch die aschbraunen Haare. »Bereit, wenn du es bist.«
Ein dunkles Grinsen schob sich in meinen Mundwinkel. Die Lucid würden nicht wissen, wie ihnen geschah. Die Dunkelheit bekam immer, was ihr zustand.
***
Feiner Regen benetzte das hohe Gras und durchdrang meine Hose, während das Leder meine Jacke wenigstens meinen Oberkörper trocken hielt. Seit einigen Schattenläufen verharrte ich bewegungslos an Ort und Stelle und beobachtete die weiße Grenze.
Ein leises Rascheln erklang, als Raiden neben mir aus den Schatten trat. »Wir sind so weit.«
Ich nickte langsam, wandte mich aber nicht zu ihm um. »Ihr verschwindet sofort, sollte sich an der Situation etwas ändern, verstanden?«
Ich spürte, wie mein Freund unruhig sein Gewicht verlagerte. »Es wird sich nichts ...«
»Raiden, verstanden?« Mein Tonfall duldete keine Widerworte.
Mit zusammengebissenen Zähnen nickte er.
Ich öffnete meine rechte Hand, und meine Finger bewegten sich langsam und rhythmisch auf und ab. »Avare.«
Ihr Flüstern hüllte mich in einen altbekannten Strudel aus sicherer Schwärze. Zerfaserte meine Gestalt in kaum sichtbare tanzende rauchgraue Partikel. Das Letzte, was ich sah, bevor die Finsternis mich verschluckte, waren Raidens sorgenvolle Augen und seine angespannten Züge. Dann verschwand die Welt in einem Meer aus Mitternachtsfarben.
3- Alamea
Die Khoeli.
Den ganzen Vormittag schon quälte mich eine Unruhe, die ich nicht benennen konnte. Als müsste ich etwas tun. Woanders sein. Elio hatte mir versichert, dass er sie in den Pavillon gebracht hatte, dennoch konnte ich nicht anders. Ich musste sie sehen.
Lautlos betrat ich meine kleine Zuflucht. Den einzigen Ort im Palast, der den Schatten immer freundlich gesinnt sein würde. Wasser perlte von meinen nackten Füßen und hinterließ kleine Pfützen auf dem blanken Boden. Suchend glitt mein Blick über die unzähligen Merakî-Gegenstände, die sich auf kleinen Regalen und in kunstvoll verzierten Vitrinen aneinanderreihten.
Das sanfte Leuchten der Blüte stach hervor. Wie eine tonlose Melodie inmitten perfekter Harmonie.
»Alamea.«
Gebannt von einem Flüstern erstarrte ich in der Bewegung. Mahnend, streng, liebevoll, sogar verängstigt hatte ich meinen Namen schon gehört. Doch noch nie hatte jemand die wenigen Silben klingen lassen, als wären sie verantwortlich für größte Qual und gleichzeitig die einzige Linderung des Schmerzes.
Eng schnürte die Corsage meines Kleides meinen Brustkorb ein. Gab den Mauern um mich eine Gestalt. Nahm mir den Atem. Die Stäbe stachen mir in die Haut und die eingewebten Goldfäden schienen mich zu verspotten. Diese Stimme ...
Zitternd trat ich näher an die tanzende Dunkelheit. Sie hatte meinen Namen gewispert. Wie war das möglich? Ich war keine Merakî, die Schatten sprachen nicht zu mir. Zögerlich streckte ich meine Finger aus. Einem Impuls meines Herzens folgend, den mein Geist vehement zu verhindern versuchte.
»Alamea.«
Mit einem leisen Aufschrei wirbelte ich herum. Zog meine Hand zurück, als hätte die nebelartige Schwärze mich verbrannt. »Elio.«
Mein Freund hob die Hände und sah mich besorgt an. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ist alles in Ordnung?«
Blut rauschte in meinen Ohren, und mein Herz schlug so laut, dass ich ihn kaum verstand. Ich nickte. »Entschuldige bitte. Ich war in Gedanken.«
Zum ersten Mal in meinem Leben log ich meinen Vertrauten an, und ich wusste nicht einmal weshalb. Doch ein zartes Flattern in meinem Bauch warnte mich davor, zu verraten, was ich gehört hatte. Preiszugeben, dass die Schatten mich gerufen hatten, als würden sie mich verachten und dennoch um Hilfe anflehen.
Das Gleichgewicht des Königreiches war seit über zehn Sonnenjahren fragiler als die Flügel eines Mosaikschmetterlings. Die kleinste Unruhe konnte es vollends zerstören, und jedes falsche Wort, das ich sagte, könnte diese Unruhe auslösen. Jedes winzige Anzeichen dafür, dass ich einer Seite mehr zugetan war als der anderen, würde verheerende Folgen haben. Ich war das farblose Bindeglied der Welten. Schwarz und Gold, getrennt durch ein unberührtes Herz.
»Geht es dir wirklich gut?« Elio berührte sanft meinen Ellbogen. Sorge umwölkte seine strahlenden Iriden, und er musterte mich eindringlich.
Ich bemühte mich um einen sanften Gesichtsausdruck, frei von Unruhe und Ratlosigkeit. Hoffte, meine Stimme würde die Worte tragen und nicht unter der Lüge zittern. »Die Khoeli hat mich nicht mehr losgelassen. Ich wollte sie mir noch einmal in Ruhe ansehen.«
Nur eine halbe Lüge. Dennoch sah ich, dass er nicht gänzlich überzeugt war. Skeptisch glitt sein Blick durch den kleinen Raum, als wäre ihm beim Betreten etwas entgangen.
»Wieso hast du mich gesucht?«
Einen Moment zögerte er. Überlegte offenbar, ob er mir antworten oder lieber nachbohren sollte, was ich verschwieg. »Wir waren zum Training verabredet. Du warst nicht in deinem Zimmer.«
»Ich habe auf dem Weg hierher wohl die Zeit vergessen. Tut mir leid.«
Elio gab mir seit einigen Sonnenjahren heimlich Kampfunterricht. Ich hatte ihn Ewigkeiten beknien und anflehen müssen, bis er nachgegeben hatte. Ich bräuchte es nicht lernen, er wäre schließlich immer an meiner Seite. Letztlich hatte er nur unter der Bedingung zugestimmt, dass ich immer die Flucht vorziehen und niemals den Versuch unternehmen würde, ihm zu helfen, sollten wir je in eine Situation geraten, in der er mich verteidigen musste.
Er zuckte mit den Schultern und musterte mein Kleid. »Zur Strafe musst du so trainieren. Solltest du jemals etwas einsetzen müssen, was ich dir beigebracht habe, hättest du ohnehin eher das an als deine Trainingskleidung.«
Damit hatte er vermutlich recht, dennoch begeisterte mich die Aussicht nicht sonderlich. Die Corsage machte meinen Oberkörper nahezu bewegungsunfähig, und die wehenden Stoffbahnen des Rockes würden sich sicherlich um meine Beine wickeln und mich straucheln lassen.
Ein kaum sichtbares Schmunzeln schlich sich auf seine Lippen, als er meinen Unmut bemerkte. »Wir können es heute auch ausfallen lassen ...«
»Niemals.« Ich schüttelte heftig den Kopf. Die Übungsstunden waren mein einziger Ausgleich in der fortwährenden Eintönigkeit meines Lebens. Die Berater meines Vaters übertrugen mir keinerlei Aufgaben, noch bereiteten sie mich mehr als unbedingt notwendig auf das Amt der Königin vor. Vermutlich hofften sie darauf, dass es nie dazu kommen würde. Solange mein Vater noch wenige klare Momente hatte, konnten sie ihn im Amt halten, gleichwohl er längst nicht mehr im Stande war, zu regieren. Das Gesetz wollte es so.
Schwarz und Gold im stetigen Wechsel. Jedes Königspaar herrschte bis zu seinem Tod und wurde vom nächsten Königspaar abgelöst. Niemals in der Geschichte wurde ein Kind des amtierenden Regenten gekrönt, doch bei meinem Vater könnte es dazu kommen. Wenn ein Heiler ihn vor seinem Tod für nicht mehr entscheidungsfähig erklärte, würde ich seine Pflichten übernehmen, bis er starb.
»Wie Ihr wünscht, Hoheit.« Elio deutete eine demütige Verbeugung an und zwinkerte mir zu.
Ich verkniff mir ein Grinsen. »Wenn du so albern bist, lasse ich dich heute nicht gewinnen.«
Er lachte und hielt den zarten Vorhang am Eingang zur Seite. »Ich freue mich darauf, das zu erleben.«
Ich hatte noch niemals gegen ihn gewonnen, und ich machte mir keine Illusion, dass ich das jemals könnte. Elio war zu meinem Leibwächter ausgebildet worden, seit wir Kinder waren. Selbst wenn er unbewaffnet wäre, hätte ich keine Chance.
Ich unterdrückte den unbändigen Drang, mich ein letztes Mal nach den wabernden Schatten zwischen den Regalen umzusehen, und schritt an meinem Freund vorbei nach draußen. Ich würde wiederkommen und sehen, ob sie noch einmal mit mir sprachen oder ob ich geträumt hatte.
Vorsichtig setzte ich meinen Fuß auf den ersten verborgenen Trittstein. Der kleine Pavillon stand einsam in der Mitte eines Teiches. Eine sich öffnende Knospe. Nicht bereit zu zeigen, was in ihrem Inneren schlummerte.
Viele Versuche und viele durchnässte Kleider hatte es gebraucht, den verborgenen Weg zu der kleinen Insel zu finden. Seerosenblätter in der Größe von Zanooshs Körper und die spiegelnde Oberfläche des Wassers machten es Unwissenden unmöglich trockenen Fußes hinüberzukommen.
Zanoosh lag zusammengerollt auf dem polierten Rand des Teichbeckens und streckte sich genüsslich, als ich auf ihn zukam. Elio ging dicht hinter mir.
Gemeinsam huschten wir durch den alten Torbogen, den alle Palastbewohner vergessen zu haben schienen. Kaum verborgen von einem blassen Vorhang aus durchscheinender Seide. Wenige Stufen führten zurück auf die obere Terrasse. Sie waren rau, grob. Verbargen die Schönheit des Kerns durch ihre Unvollkommenheit.
Ich ließ mich auf einer der Bänke nieder und schlüpfte in meine Sandalen. »Wohin gehen wir?«, fragte ich Elio, während ich meine Haare zu einem festen Zopf flocht. Wenigstens sie konnte ich davon abhalten, mich beim Training zu behindern.
»Wir bleiben hier. Im Palast ist zu viel los und in den oberen Gärten sind zu viele Angestellte unterwegs.« Er bückte sich und zog meine Trainingsdolche aus dem Jasminbeet neben mir.
Angefacht durch seine Berührung hüllte der süße, schwere Duft der Blüten uns ein. Die Lieblingsblumen meiner Mutter waren überall entlang der Marmorwege angepflanzt worden. In einem Farbenmeer der Möglichkeiten hatte sie sich ausgerechnet für Weiß entschieden.
Verborgen unter den tiefhängenden Zweigen einer Tränenweide wies Elio mich an, in Kampfhaltung zu gehen.
Ein kleiner Bachlauf floss träge an uns vorbei, versorgte den alten Baum mit Wasser, das anschließend in dicken Tropfen aus der Rinde hervortrat und lautlos zu Boden glitt.
»Du weißt, womit wir beginnen?« Er stand mir gegenüber, aufrecht, fokussiert. Nicht hinter seiner Maske aus kühler Distanz verborgen, und doch eindeutig mehr Leibwächter als scherzender Freund. Auch wenn ich ihn hatte überreden müssen, nahm er seine Aufgabe sehr ernst.
Ich nickte, schloss meine Augen und ließ meine Arme locker und entspannt zur Ruhe kommen. Konzentriert atmete ich ein und aus. Nahm die Umgebung in mich auf, ohne mich auf meine Augen zu verlassen. Blaues Leuchten zog durch meinen Geist. Die Stimme der Schatten rief erneut meinen Namen. Hallend verzerrt in meiner Erinnerung, doch nicht weniger erfüllt von Zerrissenheit.
Angestrengt kniff ich die Lider fester zusammen. Elio würde es sehen, er würde wissen, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich zu fokussieren. Aber er würde nichts sagen. Würde die Übung nicht unterbrechen.
Es roch nach Jasmin, feuchter Erde und dem satten Moos am Fuß der Tränenweide. Eine zarte Brise strich über meine Haut, trug die Hitze des Tages mit sich.
Plötzlich veränderte sich der Luftstrom. Traf meine rechte Seite nicht mehr. Blitzschnell streckte ich meine Hand aus und bekam Elios Ärmel zu fassen.
Obwohl mein Freund sich absolut lautlos bewegen konnte, verriet ihn seine Umgebung jedes Mal.
Der zarte Wind kehrte zurück, und einen Augenblick später veränderte sich das Geräusch des leise glucksenden Bachlaufs. Wurde dumpfer, eine unnatürliche Nuance leiser.
In der Drehung ließ ich mich auf ein Knie fallen. Die Stoffbahnen meines Rockes verweilten einen Augenblick in der Luft, bevor sie mir lautlos folgten. Ich öffnete die Augen und sah nach oben.
Selbst sein anfänglicher Unwille mich zu trainieren, konnte das stolze Funkeln in seinen Augen nicht verhindern. »Sehr gut, aber du bist langsamer als sonst.« Er reichte mir einen der Dolche. Den anderen behielt er in der Hand, wohlwissend, dass er ihn nicht benutzen würde. Das hatte er noch nie.
»Willst du mir nicht erzählen, was dich beschäftigt?«
Ich spürte seinen durchdringenden Blick, während ich Wasser aus dem Bachlauf schöpfte und meine erhitzten Wangen kühlte. Die Berater meines Vaters wachten über mich wie Grabvögel. Ihnen zu offenbaren, dass ich in Kampfkunst unterrichtet wurde, indem ich offensichtlich derangiert durch die Schlossflure lief, wäre nicht nur für mich fatal. Auch mein bester Freund begab sich dadurch auf sehr dünnes Eis, ganz gleich, ob sein Vater der Statthalter von Adesta war.
Bemüht gab ich mir den Anschein, als würde das Entwirren meiner Haarsträhnen heute sehr viel mehr Aufmerksamkeit erfordern als gewöhnlich. Ich fühlte mich unbehaglich dabei ihn zu belügen. Wusste jedoch auch nicht, wie ich ihm erzählen sollte, dass die Schatten mit mir gesprochen hatten. Elios Sorge um meine Gesundheit würde ihn nicht ruhen lassen, bis er herausgefunden hätte, was dies bedeuten könnte. Vermutlich würde er zumindest seinen Vater zu Rate ziehen wollen, und auch wenn ich Cyrus vertraute, so war ich mir nicht sicher, wie er diese Nachricht auffassen würde.
»Ich bin unruhig, rastlos. Ein wenig wie das Gefühl, wenn man etwas Wichtiges vergessen hat und einfach nicht zu fassen bekommt, was es ist.«
Das Scheppern von Metall auf Stein ließ mich herumfahren. Elio bückte sich, um den Dolch aufzuheben, der ihm wohl aus den Fingern geglitten war. »Du solltest dich ausruhen. Ich kann nach einem Heiler schicken lassen.« Seine saphirblauen Augen fixierten den weißschimmernden Boden, als würde er ihm ein Geheimnis offenbaren.
Ich ging zu ihm und kniete mich vor ihn. Legte meine Hände an seine Wangen. Die Wärme seiner Haut durchdrang meine Finger, und ich zwang seinen Kopf mit sanftem Druck nach oben, bis er mich ansah. »Mach dir keine Sorgen. Ich habe nur ein wenig den Kopf in den Wolken. Ich brauche keinen Heiler. Ich werde mich einfach hinlegen.«
Ein einsamer Strahl der Schattensonne stahl sich durch die dichten Blätter der Tränenweide und brachte seine goldenen Sommersprossen zum Funkeln. Sein Blick wurde weich, und er half mir beim Aufstehen. »In Ordnung. Ich bringe dich zurück in dein Zimmer.«
Ich schmunzelte. »Alles andere hätte mich überrascht.«
Er knuffte mich in die Seite und grinste.
»Prinzessin?«
Das Lächeln meines Freundes fiel in sich zusammen wie sterbende Asche. Ich drückte die Schultern nach hinten, zwang meinen Körper in das unbequeme Korsett einer möglichen Königin. Erst als meine Miene zu einem Spiegel gleichgültiger Kühle erstarrte, gab Elio den Blick auf mich frei. Lautlos trat er an mir vorbei und postierte sich hinter mir.
Zu spät bemerkte ich, dass das Oberteil meines Kleides durch das Training verrutscht war. Der Blick des Gärtners fand den Makel sofort, und kurz verengten sich seine Augen. »Entschuldigt, wenn ich Euch bei etwas gestört habe.« Eine Aussage und eine lauernde Frage. Er wusste, was er gerade unterstellte, und er wusste, dass es ihm nicht im Mindesten zustand, so eine Vermutung zu äußern. Ich kannte sein Gesicht nicht, was bedeutete, er war einer der Angestellten, die den Beratern meines Vaters mehr zugetan waren als mir. Einer der Lucid, denen es am liebsten wäre, man würde mich in einen abgeschiedenen Turm sperren, um sicherzugehen, dass ich die Kontinente nicht vernichten würde.
Elios Stimme schnitt durch die schwüle Luft wie eisiger Wind. »Seid Ihr für diesen Bereich der Gärten verantwortlich?«
Irritiert darüber von meinem Leibwächter angesprochen zu werden, nickte der Mann.
»Dann solltet Ihr künftig mehr Sorgfalt auf Eure Arbeit verwenden. Eine Wurzel der Tränenweide hat die Steinplatten des Weges verschoben. Ihr könnt Euch glücklich schätzen, dass die Prinzessin sich bei dem Sturz nicht ernsthaft verletzt hat.«
Verunsichert, wenn auch nicht überzeugt, blickte der Lucid zwischen uns hin und her, bevor er den Boden nach der besagten Unregelmäßigkeit absuchte. Seine Augen wurden groß.
»Bringt das sofort in Ordnung, und wagt es nicht, Euch noch einmal solch einen Fehler zu erlauben.«
Mit einem Nicken und einer Verbeugung huschte der Gärtner davon. Ich konnte ihn verstehen. Wenn ich Elio nicht so gut kennen würde, hätte sein Auftreten mir ebenfalls eine Gänsehaut beschert.
Bevor ich mich umdrehen konnte, hörte ich ein Kratzen hinter mir. Elio hatte den Dolch zwischen zwei Steinplatten geschoben und hebelte eine von ihnen aus ihren Fugen. Schief ließ er sie liegen und zwinkerte mir zu. »Wir wollen ja nicht, dass er zurückkommt und nichts zu reparieren findet.«
»Das war eine riskante Lüge. Wenn du nicht geklungen hättest, als würdest du ihn gleich hier exekutieren, hätte er sehen können, dass du einfach nur das Licht krümmst.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ein Glück, dass ich meine Rolle so gut beherrsche.« Wehmut schmälerte die betonte Gleichgültigkeit seiner Haltung.
»Tut mir leid, dass du es musst.« Mit einem traurigen Lächeln korrigierte ich den Sitz meines Kleides.
»Muss es nicht. Es ist ein kleiner Preis für deine Sicherheit«, sagte er, bevor wir unsere Masken glattzogen und in den Palast zurückgingen.
4- Khaos
Die Luft schmeckte anders. Sie legte sich schwer und drückend auf meine Lunge, und ich verdrängte den aufkommenden Hustenreiz. Das zersplitterte Gleichgewicht begleitete, wie das Knirschen von Glas, meine Schritte. Die Helligkeit brannte in meinen Augen. Reines Weiß, das alles von seiner Unschuld eingebüßt hatte, als es die Balance zu Fall brachte.
Ein leises Pfeifen lenkte meine Konzentration von den treppenförmig angelegten Terrassen zu einem zerbrochenen Gegenstand unweit der Nebenstraße, in der ich mich befand. Langsam trat ich näher. Die Einzelteile einer Pahnari, einer Schattenlaterne, waren grotesk über den weißen Marmor zerstreut worden. Und zwischen ihren Bruchstücken bewegte sich etwas. Ich ging in die Knie, und dünne Rauchfäden krochen neugierig aus meinen Ärmeln hervor und auf die Kreatur zu, die inmitten der Scherben saß.
»Was tust du hier, kleiner Freund?« Als die Schatten sich rund um den winzigen Körper zu lichten begannen, kam eine schwarzschuppige gehörnte Echse zum Vorschein, deren Schwanzspitze mit scharfkantigen Dornen besetzt war.
Azdajas waren im Düsterwald zuhause. Sie lebten vorzugsweise in alten Astlöchern und konnten mit ihren blattförmigen Flugsegeln lediglich von Baum zu Baum gleiten. Das Schattenwesen krabbelte in Windeseile auf meine ausgestreckte Hand und rollte sich seufzend zwischen den finsternisgetränkten Fäden ein, die sich um meine Finger schlangen. Ich runzelte die Stirn. Goldene Ornamente bedeckten den zarten Leib, als trüge der Azdaja die funkelnde Energie der Lucid ebenso in sich, wie den Atem der Schattenlande.
»Deswegen bist du allein. Du gehörst nicht zu deinesgleichen.«
Beim Klang meiner geflüsterten Worte hob die Echse den Kopf, und ihre Knopfaugen hielten meinen Blick fest, als wollten sie unmittelbar in mein Innerstes sehen.
»Du solltest dich verstecken.« Ich wies nickend auf die Lücke zwischen meinem Hals und dem aufgestellten Kragen meiner Jacke. Blitzschnell verschwand das Geschöpf in den Schatten, die sich zunehmend unruhig aufbäumten. Das Fehlen ihresgleichen sowie das gleißende Licht schwächten sie, ohne die Möglichkeit an Energie zu gewinnen. Ich hielt mich weiterhin abseits der Hauptstraßen und versuchte, mir die Karte Barashs in Erinnerung zu rufen, um mich nicht in einem Labyrinth aus weißer Melancholie zu verirren. Meine Fingerspitzen fuhren über die spiegelglatte Oberfläche des Kalksteins aus dem alle Gebäude, ebenso wie der Palast, erbaut worden waren. Ich hob den Blick. Schmerz brandete in meiner Brust auf. Wütete wie ein alles verzehrender Orkan in meiner Seele, und ich ballte die Hände zu Fäusten. Runde Dächer, imposante Treppen und dicht begrünte Balkone ragten majestätisch inmitten kleiner türkisfunkelnder Teiche gen Himmel. Fauchend brach die Dunkelheit über mich herein, und ich umklammerte energisch ihre hauchfeinen, pulsierenden Fäden.
»Siles imre.«
Sie begehrten auf, nahmen mir die Sicht und ich verfestigte meinen Griff, ließ zu, dass sie in meine Haut schnitten.
»Nestis.«
Mein tierischer Begleiter bewegte sich unter dem Stoff meines Hemdes und ein verhaltenes Blubbern drang an meine Ohren. Angenehme Kühle strich von meinen Handgelenken, über meine Schultern, meinen Rücken hinab. Zögernd folgten die Schatten meinem Befehl und glitten an ihren angestammten Platz. Ich atmete zitternd ein und aus. Die Anstrengung zwang meinen Körper mit einem unendlichen Gewicht in die Knie. Dunkle Punkte tanzten vor meinen Augen und ein Übelkeit erregender Schwindel ergriff von mir Besitz.
»Alles in Ordnung?« Die Stimme gehörte zu einer Frau, deren goldene Sommersprossen wie Sonnenstrahlen auf ihren rosigen Wangen tanzten. Nickend richtete ich mich auf. »Du bist Rîonas Sohn.« Erkenntnis glomm in ihren leuchtend grünen Augen auf.
Meine Muskeln spannten sich an, und ich schob meinen rechten Fuß langsam nach vorn. Die Zeit eines Wimpernschlags würde es dauern, sie zu Fall zu bringen und zwischen den Häuserschluchten zu verschwinden.
»Folge mir.« Zwischen den Fingern ihrer linken Hand blitzte ein schwarzer Obsidian auf. Ein Erkennungszeichen derjenigen Lucid, die noch immer Handel mit uns trieben. Zu einem viel zu hohen Risiko, sollten sie enttarnt werden. Wir betraten einen von intensiv duftenden Sträuchern bewachsenen Innenhof.
»Es ist vermutlich nicht genug, aber es ist alles, was ich geben kann.« Sie reichte mir einige unterschiedliche große Phiolen, hinter deren Glas unruhige Lumix wärmend pulsierten. Behutsam schob ich die wertvolle Energie in die dafür vorgesehene Halterung meines Gürtels.
»Wie viele von uns leben noch in diesem Viertel?«
Ein trauriges Lächeln zeichnete eine kaum wahrnehmbare Spur auf ihre Lippen. »Zwei Familien und auch sie werden gehen. Barash ist nicht länger eine Heimat für Schattenseelen.«
Ich ließ einen kleinen Beutel aus schwarzem Samt in ihre Hand gleiten, ehe ich mich umwandte. »Der Düsterwald wird sie aufnehmen, wenn es so weit ist.«
Der Hof löste sich auf, während das goldene Funkeln in meinen Augenwinkeln als gedankenschwere Erinnerung zurückblieb.
Der Wind trug den Geruch von Jasmin mit sich und fuhr murmelnd in mein Haar. Schob mir schwarze Strähnen in die Stirn und bauschte den Stoff meines Hemds auf, sodass der kleine Azdaja empört schnaubte. Das Gras unter meinen Stiefeln schien von winzigen Tautropfen überzogen zu sein, in denen sich die weißen Wolken spiegelten. Im Zentrum eines exotisch angelegten Teiches wuchs ein an eine Knospe erinnernder Pavillon gen Himmel. Weiße Stufen führten zu einer kunstvoll verzierten Tür, die leise knarrend aufschwang, als die Schatten sich einen Weg durch ihr Schlüsselloch bahnten. Ich betrat den runden Raum und keuchte erschrocken auf.
»Was, bei der verdammten Schattensonne ...«
Regale gefüllt mit filigranen Gegenständen, Schriftrollen und kleinen Pahnari reichten vom Boden bis zur kuppelförmigen Decke. Eine Sammlung, die Generationen der Merakî hätten zusammentragen müssen, um nur annähernd dieses Ausmaß an Vollkommenheit zu erreichen. Eine Oase der Dunkelheit umgeben von Licht.
Ich trat an eines der Regale heran und streckte meine Hand aus, um die verzierte Schatulle auf dem untersten der Bretter näher zu betrachten, als ich Schritte vernahm.
»Avare.« Der Tanz meiner Finger war noch nicht verklungen, da betrat eine junge Frau den Pavillon. Ihr weißes Haar floss in sanften Wellen ihre Schultern hinab. Die Korsage ihres Kleides war von Goldfäden durchwoben und schimmerte im einfallenden Sonnenlicht. Stirnrunzelnd blickten ihre verschieden farbigen Iriden in die Schatten, die wirbelnde Kreise um meine Gestalt zogen. Lauernd und bereit, alles auszulöschen, was meine Vergangenheit als unsichtbare Narben auf meiner Seele zurückgelassen hatte.
»Alamea.« Die Finsternis entriss meinen Lippen ihren Namen, dann nahm sie mich mit sich fort.
Die Kühle des Düsterwaldes legte sich angenehm auf mein Gesicht. Doch sie konnte meinen rasenden Puls nicht beruhigen, war machtlos gegen den heißen Zorn in meiner Brust.
Ich schloss die Augen und ließ die Schatten gewähren, die sich in einem dichten Nebel gleich um meine Gestalt zu ranken begannen. Eine kreisende Bewegung auf meiner Schulter verlangsamte meinen Herzschlag. Der Azdaja sah glucksend zu mir auf.
»Es hätte jede sein können. Jede, nur nicht sie!« Knurrend grub ich meine Nägel in die Handflächen, bis sie halbmondförmige Abdrücke hinterließen und das Brennen meine Gedanken klärte.
Empört fauchend wand sich der kleine schwarz-goldene Körper um meine Hand, löschte den stechenden Schmerz und verharrte anschließend leise gurgelnd an Ort und Stelle. Schmunzelnd sah ich auf das winzige Wesen hinab, das offenbar nicht vorhatte, von meiner Seite zu weichen. Der Grenzübergang, an dem ich Raiden und die anderen verlassen hatte, lag in Richtung Norden, und ich hoffte, dass mein Freund meinen Befehl befolgt hatte.
Meine Finger erwachten tanzend aus ihrer Starre, und ich knirschte unwirsch mit den Zähnen, bei dem Gedanken an das bevorstehende Gespräch mit meiner Mutter.
»Avare.« Flüsternd trugen die Schatten mich fort. Hinein in das Herz Andtherâs.
Leichter Regen fiel aus tiefhängenden Wolken, und Nebel wallte aus den Sümpfen, umfing die Wurzeln der Bäume und tauchte die Energie der Lumix in ein diffuses Halbdunkel. Meine Schritte glitten lautlos über den feuchten Waldboden, und als die ersten Häuser, hoch über der Erde, in Sicht kamen, fühlte sich jeder Atemzug leichter und freier an als noch wenige Schattenläufe zuvor. Die Last der weißen Stadt fiel von meinen Schultern, wie die Tropfen aus dem Rauchgrau des Firmaments, in das sich zaghaft die ersten Sterne stahlen. Seufzend fand ich mich wenige Augenblicke später auf dem Podest wieder, das das Zentrum der Grenzstadt bildete. Treppen, komplizierte Leitersysteme oder dergleichen waren nicht nötig, da wir bereits als Kleinkinder lernten, uns durch die Schatten von einem Ort zum anderen zu bewegen.
Ich warf einen letzten Blick in den faszinierend dunklen Himmel. »Du hältst dich versteckt. Ich muss schon genug Erklärungen liefern.« Streng sah ich meinen kleinen gold-schwarzen Begleiter an, der eilig unter den Stoff meines Hemds kletterte.
Ohne die Tür zu öffnen, betrat ich lautlos den Raum.