The Surviving Sky  (Die Rages-Trilogie 1): Eine epische Science-Fantasy - Kritika H. Rao - E-Book

The Surviving Sky (Die Rages-Trilogie 1): Eine epische Science-Fantasy E-Book

Kritika H. Rao

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Beschreibung

Eine üppige Welt voller katastrophaler Stürme, planetenweiter Dschungel, schwebender Städte und verheerender Magie, perfekt für Fans von N.K. Jemisin, Tasha Suri und Martha Wells. Hoch über einem Dschungelplaneten schweben die letzten Refugien der Menschheit – aus Pflanzen erschaffene Zivilisationen, die durch Tradition, Technologie und arkane Wissenschaft zusammengehalten werden. In diesen lebenden Städten werden die Architekten wie Könige verehrt. Ohne ihre Fähigkeit, die Städte zu manipulieren, würden diese in den verheerenden Erdstürmen untergehen. Der charismatische, mächtige und mystische Iravan ist ein solcher Architekt. In seiner Stadt ist sein Wort praktisch Gesetz. Für ihn sind seine Fähigkeiten Teil seiner Identität, aber für Ahilya, seine Frau, stellen sie ein Mittel dar, Nichtarchitekten zu unterdrücken. Wie die meisten anderen auch, kann sie die Pflanzen nicht manipulieren und sehnt sich verzweifelt nach Veränderung. Ihre Ehe ist dornig und angespannt – aber als eine Dschungelexpedition ein tragisches Ende nimmt und ihre Karrieren gefährdet, müssen Ahilya und Iravan zusammenarbeiten, um ihren Ruf zu retten. Doch als ihre Stadt zu sinken beginnt, bedrohen ihre Entdeckungen nicht nur ihre Ehe, sondern ihre gesamte Zivilisation.

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Seitenzahl: 744

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Für dich, wundervoller Leser, von dem ich erst zu träumenbegann, als ich erkannte, dass ich Bücher schreiben wollte.

INHALT

1AHILYA

2AHILYA

3IRAVAN

4AHILYA

5IRAVAN

6IRAVAN

7AHILYA

8IRAVAN

9AHILYA

10AHILYA

11IRAVAN

12AHILYA

13IRAVAN

14AHILYA

15IRAVAN

16AHILYA

17IRAVAN

18AHILYA

19IRAVAN

20IRAVAN

21AHILYA

22IRAVAN

23IRAVAN

24AHILYA

25IRAVAN

26IRAVAN

27IRAVAN

28AHILYA

29AHILYA

30IRAVAN

31AHILYA

32AHILYA

33IRAVAN

34AHILYA

35AHILYA

36IRAVAN

37AHILYA

38AHILYA

39AHILYA

40AHILYA

41AHILYA

42IRAVAN

43AHILYA

44IRAVAN

45AHILYA

46IRAVAN

47IRAVAN

48IRAVAN

49AHILYA

50IRAVAN

51GEMEINSAM

52AHILYA

GLOSSAR

DANKSAGUNGEN

1

AHILYA

Der Adlerfarn reagierte nicht so auf Ahilya, wie er es hätte sollen. Sie versuchte es erneut und konzentrierte ihren Wunsch, die Blätter auseinanderzubiegen, auf eine einzige Stelle. »Zur Seite. Ich will sehen können.«

Es war unnatürlich – fast schon unheimlich –, wie ungehorsam die Pflanzen waren. Es war, als würden sich ihre Gliedmaßen dem Befehl ihres Verstandes, sich zu bewegen, verweigern.

Sie stand allein auf einer weiten, geschwungenen Terrasse ihrer schwebenden Stadt Nakshar. Eine Stunde zuvor hatte sich ein Dutzend Bürger auf der Promenade versammelt, um einen letzten Blick auf den offenen Himmel zu erhaschen, bevor Nakshar im Dschungel landete. Ahilya hatte die Einsamkeit gesucht, da sie ihre Untersuchung nicht vor aller Augen durchführen wollte, doch nun starrte sie auf die leeren Rindenbänke, die schattigen Bäume und den weichen Moosboden. Alles sah so aus wie immer. Also warum verhielt sich die Adlerfarnmauer so anders? Vorhin war sie hüfthoch gewesen, gerade einmal eine Brüstung, doch jetzt überragte sie sie und wuchs schnell immer höher. Ranken wanden sich zu dichten, dornigen Bällen zusammen. Äste zog sich zusammen und verdrehten sich zu einem verworrenen Gitterwerk. Die gesamte Struktur verhärtete sich, als wollte sie sich ihr verweigern. Und nichts davon reagierte auf ihren Wunsch, aus der Stadt hinauszublicken.

Ahilya trottete die Mauer entlang, bis sie einen schmalen Spalt im Blattwuchs entdeckte. Dort, unter den dichten Wolken am dämmrigen Himmel, wartete die Erdoberfläche. Sie nahm die Umhängetasche von der Schulter. Den Blick auf den Spalt geheftet, wühlte sie darin herum, bis sie ihr Fernrohr fand, dann ließ sie die Tasche neben ihre Füße gleiten.

Ahilya presste sich das Fernrohr so fest ans Auge, dass es sich in ihre Haut grub. Das Bild wurde gerade rechtzeitig scharf, um eine weitere Staubexplosion ausmachen zu können. Ihr Atem beschleunigte sich. Im Staub war ein Muster zu erkennen, eine Verschiebung, über die sie einst eine Theorie aufgestellt hatte. Zum ersten Mal sah sie das Epizentrum des nachlassenden Sturms. Es juckte sie in den Fingern, ihr Tablet und ihren Stylus aus der Tasche zu nehmen, um die Muster aufzuzeichnen, aber dafür blieb keine Zeit. Die Blätter der Stadtmauer verwandelten sich zu schnell, sie würde sich die Explosion einfach einprägen müssen …

Etwas Dunkelgrünes versperrte ihr die Sicht. Ahilya senkte ihr Fernrohr und spähte durch das Laub, doch die Mauer war nun wieder undurchdringlich. »Kommt schon«, murmelte sie. »Was ist los mit euch? Öffnet euch wenigstens ein kleines bisschen.«

»Nakshars Pflanzen gehorchen Nichtarchitekten nicht mehr«, rief ihr eine vergnügte Stimme zu.

Ahilya wirbelte herum.

Naila trat von einem aufsteigenden Holzpodest, das aus einer Öffnung im Boden erschienen war. Sie trug ihre Architektenkleidung: eine knielange, ausgestellte bestickte grüne Kurta über einer engen Faltenhose. Ihr langer, durchscheinender Mantel wehte im Wind. Große schwarze Perlen waren um Nailas Hals geschlungen. Weitere Perlen, die durch dünne Glasfaserfäden zu Armreifen und Ringen zusammengefasst waren, klirrten an ihren Handgelenken und Fingern. Die Assistenzarchitektin war vielleicht fünfundzwanzig, fast ein Jahrzehnt jünger als Ahilya, doch die Rudra-Perlen verrieten, dass sie mehr Verantwortung für ihre fliegende Stadt trug, als Ahilya jemals gewährt werden würde. Sie selbst besaß lediglich ihren obligatorischen Bürgerring.

»Gewöhnliche Bürger haben keinerlei Kontrolle mehr über die Architektur«, wiederholte Naila und trat näher.

Ahilya rang sich ein Lächeln ab. »Gut, dass du hier bist. Ich glaube, ich habe etwas gesehen – dieses unglaubliche Muster im Staub, das womöglich die Ursache für die Instabilität dort unten erklären könnte. Würdest du die Mauer für mich öffnen? Ich möchte eine Skizze davon machen.«

»Du willst … Staub malen?«

»Ich möchte Staub während der Landung zeichnen«, stellte Ahilya richtig. »Das ist die beste Methode, um Erdstürme zu verstehen.«

»Oh, ich kann sie dir erklären«, sagte Naila und strich sich eine dunkle Locke nach hinten. »Es sind verheerende Stürme …«

»Ja, danke. Ich versuche zu verstehen, warum sie überhaupt vorkommen.«

»Aufgrund einer Zerrüttung des Bewusstseins …«

»Nein, ich meine, wie Erdstürme überhaupt entstanden sind …«

»Es gibt sie schon so lange wie uns …«

»Wie sind …?«

»Also wirklich, Ahilya«, schnaubte die Assistenzarchitektin. »Auf diese Fragen gibt es längst Antworten. Und diese Staubmuster, die du zeichnen möchtest … haben die Architekten jahrelang erforscht.«

Ahilya wandte sich wieder der Wand zu. Sie hatte die Architekten um ihre Zeichnungen gebeten, doch die hatten ihre Anfragen kurzerhand abgelehnt, indem sie ihre Aufzeichnungen als vertrauliche Informationen der Architekten bezeichnet hatten – nie zuvor hatte sie einen derartigen Schlag ins Gesicht hinnehmen müssen. »Jaja, schon klar. Danke für nichts«, sagte sie. »Könntest du das bitte öffnen? Ich könnte vielleicht noch ein paar schnelle Skizzen anfertigen.«

»Ich kann nicht …«

»Sicher kannst du das. Du bist eine Architektin, oder nicht? Die Pflanzen gehorchen deinem Befehl.«

Naila sah sie unbeeindruckt an. »Das ist stark vereinfacht ausgedrückt. Wie kannst du mit einem leitenden Architekten verheiratet sein und die Feinheiten der Trajektion nicht kennen?«

»Wir versuchen, nicht darüber zu reden, um keinen Streit über unsere Weltanschauungen vom Zaun zu brechen«, sagte Ahilya und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. Die Funktionsweise der Pflanzenmanipulation war ihr schon immer zu esoterisch gewesen, doch in Wahrheit hatten sie und ihr Ehemann seit seiner Aufnahme in den Rat grundsätzlich aufgehört, über die Arbeit des anderen zu reden. Ihre Hände gruben sich in die Blätter. »Bitte. Du musst nicht alle beiseiteschieben – nur so viele, dass ich etwas sehen kann.«

»Ich kann nicht«, beharrte Naila verärgert, als würde sie mit einem Kind reden. »Nun, da endlich wieder eine Flaute zwischen den Erdstürmen einkehrt und wir endlich landen, haben die Tempelarchitekten der Architektur höhere Beschränkungen auferlegt. Deshalb haben Nichtarchitekten keine Kontrolle …«

»Aber du bist …«

»Ja, ich weiß, aber ich bin eine Assistenzarchitektin. Alles, was nicht den Tempelvorgaben entspricht, ist quasi unmöglich, insbesondere für mich. Und sie riegeln die Stadt ab. Sieh dich um. Das wäre, als würde ich versuchen, gegen den Wind zu fliegen.«

Ahilya zog ihre Hände von der Mauer zurück. Lose Blätter rieselten auf den Moosboden – doch der Boden bestand nicht mehr aus Moos, er verwandelte sich in Rinde. Die Bänke und Bäume waren verschwunden. Von allen Seiten drängten Dornenbüsche auf sie zu und verschlangen die Windung der Terrasse in ihrem gierigen Vormarsch. Sogar die Adlerfarnwand hatte sich ausgebreitet und die Terrasse mit einer Kuppel umschlossen. Blätter und Zweige überkreuzten sich in hundertfachen Schichten, während sich das Laub immer mehr verdichtete. In wenigen Sekunden würde es dunkel sein.

Ahilya stutzte. Nakshar war stets eine flache, durch den Himmel gleitende Stadt gewesen. Ihre von Architekten geformten Hügel mit den riesigen Bäumen, in denen die Bibliothek sowie Schulen und Wohnungen untergebracht waren, umfassten für gewöhnlich mehrere Hektar. An den Rändern erstreckten sich schachbrettartig Felder, und in Steinteichen und Wasserfällen wurde Regenwasser gesammelt. Noch nie war ihr zu Ohren gekommen, dass sich die Architektur so umfassend verändert hätte.

»Entspann dich«, sagte Naila. »Der Rat wird die Berechtigungen wieder ausweiten, sobald wir gelandet sind. Nichtarchitekten werden die Architektur beeinflussen können und dieser Teil der Terrasse wird sich in einen Zugangspunkt unweit des Dschungels verwandeln. Das dürfte deine Expedition nicht beeinträchtigen.«

Ahilya runzelte die Stirn und trat von der Mauer zurück. Die Staubmuster, die sie hatte studieren wollen, waren vergessen. In Nailas beiläufigen Worten verbarg sich eine Botschaft, die sie nicht verstand. Sie blickte auf die nicht reagierende Architektur, musterte Nailas unbekümmerte Haltung und dachte über die dahingesagten Zusicherungen nach. Ein beunruhigtes Kribbeln lief ihr über den Rücken.

Sie hatte ihr ganzes Leben in Nakshar verbracht, doch in letzter Zeit hatten sich die Dinge in der Stadt verändert. Kaum jemand achtete darauf, doch Ahilya war es nicht entgangen. Erst waren ihr die Aufzeichnungen der Architekten verwehrt worden, dann hatte sie für die Genehmigung ihrer Expedition kämpfen müssen. Und jetzt das? Irgendwie wurde den Bürgern nach und nach unterschwellig die Kontrolle entzogen – ein gefährliches Muster.

Die Last dieser Erkenntnis nahm zu und lastete schwer auf ihren Schultern. War das letztlich die Quintessenz des Lebens in den fliegenden Städten? Der Mangel an Selbstbestimmung, den Ahilya und andere wie sie erlebten? Ahilyas Expedition, ihre Geschäfte mit Dhruv, der freie Ratssitz, den sie ins Auge gefasst hatte – alles, was sie in ihrem Leben getan hatte, hatte darauf abgezielt, diese Ungerechtigkeit auszugleichen, doch nun spitzte sich die Lage zu. Sie konnte es fühlen.

Sie räusperte sich und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Naila. »Warum wurde die Anordnung verändert?«

»Das sagte ich bereits. Sie haben höhere Beschränkungen eingerichtet …«

»Ja, aber warum?«

Die Assistenzarchitektin neigte den Kopf zur Seite und musterte sie eingehend. Dann lächelte sie.

»Die Architekten haben ihre Gründe«, sagte sie kalt. »Warum will eine Historikerin überhaupt in den Dschungel gehen?«, fügte sie als Gegenfrage hinzu. »Gibt es in den Bibliotheken denn keine ausführlichen Aufzeichnungen über unsere Geschichte?«

Ahilya zuckte zusammen. Diese Fragen waren gezielte Beleidigungen.

Naila wusste, dass Ahilya Archäologin war, keine Historikerin. Sie wusste, dass alle historischen Aufzeichnungen über die Welt ihre Geschichte wiedergaben, die Geschichte der Architekten. Sie wusste, warum Ahilya den Dschungel erkundete – dort hatte das Leben begonnen und Ahilyas gesamte Forschung drehte sich darum, einen Weg zurückzufinden zum Überleben an Land statt in Himmelsstädten, die von Architekten abhängig waren.

Es war ein bewusster Versuch, sie zu ködern. Entweder das oder Naila hatte nichts aus den Dokumenten gelernt, die Ahilya im Vorfeld ihrer Expedition eingereicht hatte. Wahrscheinlich war es unter der Würde der Assistenzarchitektin, eine Anweisung von einer Nichtarchitektin anzunehmen. Ahilya würde sich nicht auf diese Beleidigungsversuche einlassen. Sie schob das Fernrohr zusammen und ging in die Hocke, um es wieder in ihrer Tasche zu verstauen.

Wenn sie es ihr doch nur sagen würden. Naila hatte den jüngsten Erdsturm als Grund für diese Neuanordnung angeführt. Ausgehend davon hätte Ahilya den Architekten helfen, Informationen über ihre Entdeckungen teilen und sogar für sie nachforschen können.

Aber sie war eine Nichtarchitektin, eine Stümperin. Welchen Nutzen hatte eine Archäologin in einer Zivilisation, die nur das Fliegen kannte? Ahilya hatte diesen Begriff quasi erfunden. Sie würden ihr nichts verraten. Die Assistenzarchitektin verwies sie lediglich in ihre Schranken.

Ahilya bemühte sich, ihre Anspannung abzuschütteln, machte ihre Umhängetasche zu und erhob sich. In den wenigen Sekunden, die sie gebraucht hatte, um ihr Instrument einzupacken, hatte sich die Terrasse gänzlich geschlossen, sodass sie und Naila einander auf einem quadratischen Stück Rinde gegenüberstanden. Dornenbüsche schlossen sie von allen Seiten ein und versperrten jegliche Sicht.

»Also, wo sind Dhruv und Oam?«, erkundigte sich Ahilya nach den anderen beiden Mitgliedern ihres Teams.

Naila neigte den Kopf. »Sie sind im Tempel. Mit allen anderen Bürgern.«

»Warum? Ich habe ihnen gesagt, wir würden uns hier treffen.«

»Iravan-ve hat darauf beharrt, dass der Tempel der sicherste Ort ist, bis Nakshar vollständig gelandet ist.«

Das respektvolle Suffix, das ihrem Mann als Architekt zugedacht wurde, ihr als Archäologin dagegen verwehrt blieb, nagte an Ahilya. Ihre Hand umklammerte ihre Tasche. Iravan war sieben Monate abgetaucht und nun glaubte er, ihrem Team hinter ihrem Rücken Anweisungen geben zu können? All ihre unterdrückte Wut stieg in ihr auf und schnürte ihr die Kehle zu.

»Und sie haben auf ihn gehört?«, brachte sie hervor. »Selbst Oam?«

»Oam hat versucht zu protestieren, er meinte, du würdest uns hier brauchen. Und Dhruv … na ja, ich glaube, er wollte sich nicht auf eine direkte Konfrontation mit einem Ratsmitglied einlassen.«

Oam war gerade einmal so alt wie Naila. Ein Blick von Iravan wäre genug, um den Jungen einzuschüchtern. Dhruv dagegen … Seit seine letzten Erfindungen fehlgeschlagen waren, hütete sich der Solgenieur davor, den Rat zu verärgern. Obwohl er Ahilyas engster Freund war, würde Dhruv sich dem leitenden Architekten Iravan nicht offen widersetzen.

»Verstehe«, sagte sie.

»Iravan-ve bittet auch dich, zum Tempel zu gehen. Deshalb bin ich hier. Ich soll dich hinbringen …«

»Mich hinbringen?«

»Dich begleiten«, verbesserte sich Naila. »Dich darum bitten. Er hat es zwar nicht befohlen …«

»Aber im Grunde doch«, beendete Ahilya den Satz mit zusammengebissenen Zähnen.

Naila schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, nein, so ist das nicht. Es ist eine Frage der Sicherheit. Niemand sollte hier draußen sein.«

Ahilya blieb wie angewurzelt stehen. Die Kuppel über ihnen war nur noch eine Handbreit entfernt. Die spitzen Blätter reichten so weit herab, dass sie ihre Ohren kitzelten, doch sobald sie mit ihrer Haut in Berührung kamen, fielen die Spitzen ab. An ihrer Stelle keimten weichere Blätter aus dem Zweig. Ahilya roch den warmen, klebrigen Saft der Wiedergeburt.

Wenn sie sich nicht bald in Bewegung setzte, würde sie unter dem Laubwerk begraben werden. Nakshars lebendige Architektur würde sie mit einer Holzrüstung umhüllen. Das war Ahilyas Plan für sie und ihr Expeditionsteam gewesen. Der Sturm sollte Iravan für seine Einmischung holen!

»Du kannst Iravan-ve mitteilen«, sagte sie eisig, »dass ich hierbleiben werde.«

Naila streckte einen Arm nach ihrem Kokon aus. Wie von Ahilya und die meisten Einheimischen Nakshars hatte sie einen terrakottafarben Teint. Nailas Adern glühten jedoch in einem irisierenden Grün auf, als sie die Vegetation um sie herum beeinflusste. Tausend tätowierte Ranken und Winden sprießten unter den durchscheinenden Ärmeln ihres Mantels auf ihren Armen. Einige der Blätter, die Ahilya berührten, zogen sich zurück.

»Bitte, das ist wirklich unklug.« Naila hatte ihre herablassende Haltung abgelegt. »Ich kenne diese Anordnung. Sie ist ellipsenförmig, wie ein Sonnenblumenkern. Wir befinden uns in der äußersten Hülle. Hier wird der Aufprall am stärksten sein. Deshalb wurden alle gebeten – aufgefordert –, zum Tempel zu gehen, zu Nakshars Kern. Du hast die Anweisung ebenfalls über deinen Bürgerring erhalten, nicht wahr? Ich weiß, dass es so ist.«

Ahilya rieb mit dem Daumen über die einzelne Rudra-Perle. »Er hat vor ein paar Stunden aufgeblitzt und angeschlagen. Aber ich weiß, dass die Stadt eine Alternative bereitstellen wird.«

»Zu einem hohen Preis. Die Architekten im Tempel werden unnötig Trajektion hierher umleiten müssen, um dich zu schützen. Du gefährdest die Zuverlässigkeit der gesamten Konstruktion. Nakshar könnte in den Dschungel stürzen, statt sicher zu landen.« Naila ließ die Rudra-Perlen an ihren Handgelenken klimpern, als wollte sie die Last ihrer Verantwortung unterstreichen.

Ihre Worte und ihr Vorgehen waren eine typische Manipulation der Architekten, doch Ahilya war seit über zehn Jahren mit einem leitenden Architekten verheiratet. »Stimmt das auch wirklich?«, fragte sie leise. »Denn ich habe den Tempel gefragt. Mir wurde gesagt, ich könnte hier warten.«

»Das war, bevor Iravan-ve die Anordnung für die Landung abgewandelt hat. Deine alten Berechtigungen gelten nicht mehr.«

Ahilya umklammerte ihre Umhängetasche. Natürlich. Sie hätte sich denken können, dass Iravan hinter den Veränderungen steckte. Dennoch konnte sie sich nicht gegen die plötzliche Wut und den Schock wehren, die durch ihre Adern pulsierten.

Iravan wusste, warum es ihr so wichtig war, sofort aufzubrechen. Ohne die Daten ihrer Expedition bräuchte sich Ahilya keine Hoffnungen zu machen, für den Rat nominiert zu werden. Aber natürlich hatte er sie niemals wirklich für fähig gehalten, ein Ratsmitglied zu werden. Hatte er es deshalb getan? Wegen des freien Ratssitzes? Iravan war im Rat, aber er hatte seine eigenen Pläne hinsichtlich des offenen Sitzes. Und die schlossen Naila ein.

Sie musterte die Assistenzarchitektin, die plötzlich nervösen Gesten, die vorgetäuschte Besorgnis, die kaum verhohlene Geringschätzung. Nailas Warnungen hatten logisch geklungen, aber da war noch mehr, ein unbeugsames Dogma schwang in ihren Worten mit. Architekten waren derart an eine Welt gewöhnt, die sich ihnen unterordnete, dass sie niemals begreifen könnten, wie schrecklich es war, dass diese Zivilisation konzipiert worden war, um von den Architekten abhängig zu sein.

Ahilya hätte ihr das in diesem Augenblick jedoch nicht so übel genommen, wäre da nicht diese ganze Sache mit Iravan gewesen. Der Gedanke, jetzt nachzugeben und seinem unterschwelligen Befehl Folge zu leisten, löste Kopfschmerzen hinter ihren Augen aus. Sein Versuch, sie zu lenken, war so stümperhaft, dass es beinahe schon beleidigend war. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft, eine ohnmächtige Wut erfasste sie.

»Du solltest gehen«, sagte sie. »Bring dich in Sicherheit.«

»Ich kann einen Bürger nicht einer potenziellen Gefahr überlassen«, entgegnete Naila aufgebracht. »Wenn ich dich hierlasse, wird in meiner Akte vermerkt, ich hätte Nakshar in Gefahr gebracht. Ich bin Assistenzarchitektin. Ich kann mir keine Verfehlungen leisten.«

»Netter Versuch«, konterte Ahilya. »Ich weiß, dass du auf dem besten Weg bist, eines Tages eine leitende Architektin zu werden. War das nicht der eigentliche Grund, weshalb Iravan dir den Schlüssel gegeben hat, um dich meiner Expedition anzuschließen? Um deinen Erfahrungsbereich auf den Dschungel auszuweiten, damit er dich für den Rat nominieren kann? Ich bezweifle stark, dass er dich für meinen Starrsinn verantwortlich machen wird.«

Wie von ihrem Berufsstand zu erwarten, ging Naila unverzüglich zu einer anderen Taktik über. »Denk doch mal nach. Ich kann einem leitenden Architekten nicht den Gehorsam verweigern. Wenn du nicht mit mir kommst, wird Iravan-ve an mir zweifeln. Mir vielleicht sogar untersagen, die Expedition zu begleiten. Und was wird dann aus dir? Kein Architekt, keine Expedition, schon vergessen?«

Ahilya starrte sie an. »Bringen sie euch etwa auch bei, wie man als Architekt Leute beeinflusst?«

Naila lächelte verkniffen. »Nein, das eignen wir uns selbst an. Über Pflanzen hinaus kann ich nichts lenken, aber ich schätze, die Prinzipien der Trajektion bleiben dieselben.«

Gegen ihren Willen empfand Ahilya eine makabre Belustigung. Es war beinahe beeindruckend, wie geschickt Naila war. Keiner der anderen Assistenzarchitekten, die der Rat ihr bei ihren früheren Expeditionen zur Seite gestellt hatte, war in der Lage gewesen, so schnell und effektiv die Strategie zu ändern. Kein Wunder, dass Iravan sie als Schützling auserkoren hatte. In Nailas Geistesgegenwart und beiläufiger Arroganz erkannte Ahilya Züge von Iravans eigener Persönlichkeit. Sie seufzte und drückte ihre Tasche fest an sich. Sie nickte knapp.

»Einen Augenblick«, murmelte Naila. Sie schloss die Augen und öffnete ihre Handflächen vor sich. Erneut leuchteten ihre Adern auf und das Strahlen ließ Ahilyas Augen tränen. Dutzende verwirrende Rankenmuster bildeten sich und erstarben auf der Haut der Architektin.

Einen langen Augenblick verharrten sie regungslos.

»Also?«, hakte Ahilya nach. »Gehen wir?«

»Wir sind längst unterwegs«, entgegnete Naila und öffnete ein Auge. »Wir bewegen uns abwärts. Merkst du nichts?«

Ahilya blinzelte.

Ihr kleines Nest wirkte unverändert. Der Baldachin berührte immer noch ihre Köpfe, sie waren von Dornen umgeben und kein Fahrtwind war zu spüren. Rasten sie auf den Stadtkern zu? Oder veränderte Naila die Pflanzen außerhalb ihres Nests? Vielleicht bewegte sich das Nest nicht durch einen Tunnel, sondern zerstörte sich und baute sich wieder auf, indem es die Pflanzen der Stadt nutzte, um wellenartig durch die Architektur zu gleiten.

Ahilyas Kopf wirbelte herum. Sie hatte die Assistenzarchitektin belogen, sie wusste durchaus etwas über Trajektion. Die Macht war angeboren, sie konnte nicht erlernt werden. Dass Ahilya die Pflanzen unter normalen Umständen dazu bringen konnte, ihren Wünschen zu gehorchen, war ein Almosen der Architekten, die ihre Energie durch das Blattwerk fließen ließen, damit die Bürger sie nutzen konnten. Ahilya hatte keine wirkliche Kontrolle. Nur Architekten konnten das Bewusstsein der Pflanzen direkt beeinflussen und sie zwingen, ihre Gestalt zu verändern.

Doch dass Naila das derart subtil tun konnte …

Entweder war die Assistenzarchitektin fähiger, als Ahilya ihr zugetraut hatte, oder die Architekten hatten in der Zeit, seit Ahilya und Iravan zuletzt eine richtige Unterhaltung geführt hatten, neue Tricks gelernt.

»Wie stellst du das an …?«, setzte sie an.

Das Nest ruckelte. Ahilyas Knie gaben nach.

»Tut mir leid«, keuchte Naila und stützte sie. »Das war etwas holpriger als beabsichtigt. So kurz vor der Landung ist das Trajizieren außerhalb des Tempels schwieriger.«

»Ich nehme an, du hättest mich auch mitnehmen können, ohne auf meine Erlaubnis zu warten, und ich hätte es nicht mal gemerkt«, bemerkte Ahilya widerstrebend.

Naila warf ihr einen belustigten Blick zu. »Architekten sind keine Tyrannen. Hier lang.«

Auf einen Wink ihrer Finger teilten sich die Blätter vor ihnen und gaben einen kleinen Hof frei. Sie traten hindurch und neue Rinde schloss sich hinter ihnen.

In der Ferne stürzten drei gewaltige Baumstämme ein, als hätte sie die Hand eines Riesen zermalmt. Laub faltete sich zusammen und verfestigte sich zu steinharter Rinde. Was zuvor Wohnkomplexe in Bäumen gewesen waren – Schulen sowie Spielplätze und Häuser –, veränderte sich, als Nakshar sich zusammenzog. Als Ahilya einen Blick nach hinten warf, folgte ihr Rinde auf den Fersen. Aus Blümchen wurden harte Samen. Geschmeidige Farne entwickelten harte Wucherungen. Nadeln und Zapfen wuchsen dort, wo kurz zuvor noch Zweige träge herabgehangen hatten. Der Hof verwandelte sich vor ihren Augen.

Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Nakshars Architektur wurde nicht ohne Grund als Labyrinth bezeichnet. Selbst während des gewöhnlichen Flugs wuchs und veränderte sich alles außer den Fixpunkten der Stadt. Den Bürgern wurde mittels Trajektion ein Pfad bereitgestellt, der durch die Pflanzen führte – nur dass Ahilya keinen Einfluss mehr auf die Architektur hatte. Sie eilte Nailas blaugrünem Licht hinterher. Es war eine Sache, auf einer Terrasse eingehüllt zu werden, die der beste Zugangspunkt zum Dschungel werden würde; in einer unbekannten Schicht der Stadt eingeschlossen zu werden war jedoch etwas ganz anderes. Der Gedanke, wie wenig Macht sie besaß, trieb ihr den Schweiß auf die Oberlippe.

Als sie eine weitere Mauer erreichten und Nailas Haut erneut schillernd aufleuchtete, konnte sie nicht mehr einschätzen, wie groß die Entfernung war, die sie zurückgelegt hatten. Die hölzerne Wand verwandelte sich in eine Tür. Sie betraten einen schmalen, schattigen Durchgang. Hinter ihnen schloss sich die Rinde.

Naila wurde langsamer und stieß ein Schnauben aus. Die Assistenzarchitektin grinste und bedeutete Ahilya vorauszugehen.

Zuerst traf sie der Geruch: der schwere, berauschende Duft feuchter Erde. Darauf folgten die beschwingten Geräusche von Aufregung und Gelächter. Winzige Soltech-Leuchtkugeln, die wie in Pflanzen gefangene Sterne aussahen, kamen aus dem Blattwerk hervor, um Ahilya den Weg zu weisen, während sie weiter hineinging. Sie blinzelte, während sich ihre Augen an die zunehmende Helligkeit gewöhnten.

Am Ende des Korridors lockte ein schmaler Torbogen, von dem winzige weiße Knospen in Vorhängen herabhingen. Ahilya stockte der Atem. Jasmin war ihre Lieblingsblume. Könnte das womöglich Iravans Werk sein? Wohl kaum, nicht so wie sie nach ihrer letzten Begegnung auseinandergegangen waren, nicht wenn dieses strafende Schweigen auch nur der geringste Hinweis auf seine Gefühle war. Der Gedanke war lächerlich.

Ahilya zögerte lange, während sie den Jasmin anstarrte. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie rief sich seinen Gesichtsausdruck in Erinnerung, als er gegangen war, wie wütend er gewesen war. All die Angst, die Empörung und die verwirrte Liebe, die sie sieben lange Monate in ihrem Inneren genährt hatte, wallten in ihr auf.

Ahilya atmete tief ein, schob die Blattwedel beiseite und trat ins Licht.

2

AHILYA

Sie gelangte auf einen überfüllten Balkon, dessen Holzgeländer hinter der sich drängenden Menge hervorblitzte. Die meisten Bürger standen, doch vereinzelt gab es auch Stühle aus Heilzweigen, die speziell für jene gemacht waren, die sie benötigten. Hinter Ahilya verwandelte sich der Torbogen mit einem verräterischen Knarren wieder in Rinde. Naila hatte sie auf eine Galerie voller bekannter Gesichter geführt, doch kaum jemand bemerkte Ahilyas Ankunft. Die Assistenzarchitektin war verschwunden, wahrscheinlich um ihre Aufgabe bei der Landung zu erfüllen. Ahilya bahnte sich einen Weg durch die Menge, wobei sie den Familien anderer Architekten Worte der Begrüßung zumurmelte. Vihanan, ein Mann, der die gleiche erdig dunkle Haut wie Iravan hatte und aus der Stadt Yeikshar stammte, winkte ihr zu. Reniya lächelte, während ihr kleines Kind ihren Sari mit seiner pummeligen Faust umklammerte. Die Augen der Frau wanderten über Ahilyas Kleidung, dann weiteten sie sich.

Sie alle waren in ihre schönsten Kurtas und Saris gekleidet, höchstwahrscheinlich in freudiger Erwartung, ihre Architektenehepartner zu begrüßen, die Schichtdienst im Tempel hatten. Ahilyas Aufmachung, ein Harnisch über einer Kurta und Faltenhose, stach heraus wie Unkraut in einem Tulpenfeld. Mit ihrer Stirnlampe, die auf ihrem Scheitel thronte, und ihrem Kompass statt Armreifen ums Handgelenk war sie eher für eine Expedition in den Dschungel gekleidet als für eine lang ersehnte Landung. Ahilya setzte ein Lächeln auf, wich ihren Blicken aus und schlängelte sich durch die Menge. Mit den meisten von ihnen war sie in Nakshar aufgewachsen, sie waren jedoch im Laufe der Jahre zu bloßen Bekannten verkommen. Das war natürlich ihre Schuld. Ihre Bestrebungen hatten eine Kuriosität aus ihr gemacht. Ahilya schluckte ihre zunehmende Scham hinunter und richtete ihren Blick auf den Rest des Tempels, der durch die Lücken zwischen den Umstehenden sichtbar war.

Der Tempel war oval und fünfzig Balkone, ein jeder voller plaudernder Bürger, umgaben ihn vom Boden bis zur Decke. In seiner Mitte erhob sich der Rudra-Baum. Der Stamm war so dick wie zwanzig Schulter an Schulter stehende Menschen. Unzählige Luftwurzeln hingen wie schlanke Äste auf den Boden hinab. Iravan hatte oft darauf hingewiesen, dass man Nakshars Zentralbaum jahrelang hätte erforschen können, und einen Augenblick lang stimmte Ahilya dem zu. Ätherisches blaugrünes Licht flackerte und schimmerte in den oberen Stockwerken, was dem Baum etwas Mystisches verlieh.

Sie zwängte sich durch die Menge, bis sie ihre Schwester Tariya fand, die direkt neben dem knorrigen Balkongeländer auf ihrem Stuhl herumzappelte.

»Endlich!«, sagte Tariya. »Wo hast du gesteckt?«

Ahilyas ältere Schwester war kleiner als sie und wunderschön. Ihr rabenschwarzes Haar fiel ihr in glänzenden Locken auf die Schultern herab. Ihre Haut, die den gleichen Braunton hatte wie Ahilyas, schien zu glühen. Ihre großen, mit Kajal umrandeten Augen strahlten vor Freude. Tariya rutschte unruhig auf ihrem Platz hin und her, während ihr Baby in ihren Armen schlief. »Hier, halte du ihn«, sagte sie.

Unvermittelt drückte sie Ahilya Arth in die Arme. Das Gewicht ihres Neffen fühlte sich seltsam an. Sie wand sich und versuchte, eine angenehmere Haltung zu finden, indem sie ihren Ellenbogen verlagerte, dann die Schultern.

»Ich kann ihn nehmen«, sagte eine sanfte Stimme. Tariyas älterer Sohn Kush schob sich durch das Gedränge, sammelte Arth ein und kehrte dann zu den anderen Kindern zurück, die lärmend zusammenstanden.

Tariya rief ihm eine Warnung zu und sah dann zu Ahilya auf. »Was hat dich aufgehalten?«, fragte sie. »Ist das zu glauben? Der Aschram landet endlich.« Sie richtete die Taillenfalten ihres Sari und das Bindi auf ihrer Stirn.

Nakshar, Labyrinth, Stadt – es gab viele Worte, um die schwebende Konstruktion, in der sie lebten, zu beschreiben, doch keine war so prätentiös wie Aschram. Der Begriff bezeichnete eine Einsiedelei, aber die Architekten hatten ihn sich zu eigen gemacht, um noch viel mehr damit zu beschreiben – die Gemeinschaft der Stadt, ihre Bevölkerung, ein geteilte Bestimmung. Früher hatte Ahilya das reizend gefunden, doch im Laufe der Jahre war es zu einer weiteren Manipulation der Architekten verkommen. Sie verwendete den Begriff überhaupt nicht mehr und ihre Diskussionen mit Tariya zu diesem Thema waren nur ein weiterer Streitpunkt zwischen ihnen. Doch Tariya sah am heutigen Abend so wunderschön aus. Sie so glücklich zu sehen, war etwas Seltenes und Kostbares. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um sie zu berichtigen.

»Du siehst wie immer wunderhübsch aus«, sagte Ahilya stattdessen lächelnd. »Bharavi wird ihre Augen gar nicht von dir lassen können.«

»Das will ich ihr auch geraten haben. Ich habe jeden einzelnen Tag dieser Flaute für uns beide verplant.« Tariya war fertig damit, ihren Sari zurechtzuzupfen, und steckte die Arme aus, um Ahilya zu umarmen, hielt dann jedoch inne, als würde sie sie erst jetzt wirklich betrachten. Ihre Schwester schnaubte und band Ahilyas Handgelenkkompass los, ohne sich um die Empfindlichkeit des Instruments zu scheren. »Also wirklich, Ahilya. Gefällt es Iravan etwa, wenn du so aussiehst?«

Ahilya ergriff Tariyas Hände, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnte. »Mir gefällt es, so auszusehen.«

»Aber weißt du denn nicht, was eine Landung bedeutet?«

»Dass ich endlich meine Expedition in den Dschungel unternehmen kann?«

»Dein Architektenehemann hat dienstfrei. Du kannst ungestört Zeit mit ihm verbringen. Du musst nicht mehr in der Bibliothek versauern, um irgendwelche obskuren Dinge zu erforschen …«

»Ich bin mir sicher, wir werden uns sehen, wenn ich zurück bin«, entgegnete Ahilya.

Ihre Verärgerung brodelte knapp unter der Oberfläche, aber sie hatte gelernt, sie bei Tariya zu zügeln. Streitereien brachten sie nicht weiter. Ahilya musste sich in Erinnerung rufen, dass ihre Schwester nicht immer so gewesen war. Tariyas Verzweiflung war entstanden, nachdem ihre Eltern in eine andere Stadt gezogen waren. Es hatte ihr mehr ausgemacht, als sie sich eingestehen wollte. Ahilya lehnte sich in der Hoffnung, Oam oder Dhruv zu erspähen, über die Brüstung und verdrängte den Tadel in Tariyas Worten. Zwischen den tausend Bürgern war es unmöglich, die einzigen beiden Menschen ausfindig zu machen, die an ihre Forschung glaubten.

»Ich kann es kaum erwarten, Bharavi zu sehen«, fuhr Tariya fort. »Ihr letzter Besuch ist ewig her und hat nur eine Woche gedauert. Die Jungs vermissen sie. Ich vermisse sie.«

Ahilya richtete sich wieder auf. »Bharavi war während des Flugs bei dir?«

»Natürlich. Warum …? Hat Iravan dich nicht besucht?«

Ahilya schüttelte den Kopf. »Immer wenn du gesagt hast, du hättest mit ihr gesprochen, dachte ich, ihr hättet den Ring benutzt.«

Sie rieb mit dem Finger über die einzelne Rudra-Perle. In Nakshar besaßen alle so eine Perle, sie diente als Zeichen der Bürgerschaft. Durch sie konnten die Architekten die Bevölkerung der Stadt in Notsituationen kontaktieren. Durch sie konnten die Bürger Nakshars die sich verändernde Architektur sehen und so erfahren, welche Bereiche sicher waren und welche im Umbau befindlich. Im Laufe der Jahre waren diverse Berechtigungen in den Bürgerring eingebettet worden, doch ursprünglich war er zur Nachrichtenübermittlung entwickelt worden, was nach wie vor seine Hauptfunktion darstellte.

»Mir war nicht klar, dass Bharavi den Tempel tatsächlich verlassen hat, um zu euch zu kommen«, sagte Ahilya stirnrunzelnd.

»Natürlich hat sie das. Mehrmals.«

»Ich dachte, sie wären beide im Dienst. Und hätten viel zu tun.«

»Sie hatten viel zu tun, aber Bharavi hatte ihre Pausen, genau wie Iravan und alle anderen Architekten. Hat er dich nicht einmal besucht?«

Wieder schüttelte Ahilya den Kopf.

»Hast du denn wenigstens über den Ring mit ihm gesprochen?«

Ahilya schwieg. Gleich nachdem der Erdsturm angekündigt worden war, hatte sie ihm eine Nachricht übermittelt, dass sie sich versöhnen wolle, aber Iravan hatte nicht geantwortet. Sieben Monate lang hatte Ahilya jede weitere Nachricht, die sie verfasst hatte, gelöscht. Sie hatte lange Nächte in ihrer Nische in der Bibliothek zugebracht, ihren Schmerz und ihre Verwirrung in ihrer Arbeit vergraben und war nur zum Schlafen nach Hause zurückgekehrt, einem Zuhause, in dem sie alles an ihn erinnerte. Jedes Mal, wenn Tariya nach Iravan gefragt hatte, hatte Ahilya eine beiläufige Antwort gemurmelt und das Thema gewechselt. Wie könnte sie Tariya nun ihre Ehe erklären, ohne sich und Iravan zu verraten? Sie kannte ihren Mann, so war er nun mal. Sie waren schon zuvor an diesem Punkt gewesen, sein wütendes Schweigen war genauso schneidend und aussagekräftig wie seine Worte.

Besorgt berührte Tariya Ahilyas Ellbogen. »Habt ihr euch ge…?«

»Ist nicht so wichtig«, unterbrach sie Ahilya.

»Aber …«

»Bitte, Tariya. Es reicht, dass der Rest von Nakshar mir im Nacken sitzt … Alle beobachten meine Ehe, urteilen über meine Forschung und tuscheln über meine Pläne für die Stadt.«

»Vielleicht ist es dann an der Zeit zuzuhören«, entgegnete Tariya mit einem verzweifelten Unterton. »Deine kindischen Ambitionen zurückzustellen, insbesondere wenn sie sich auf deine Ehe auswirken. Ahilya, was du da tust – dieser Versuch, die Geschichte zu verändern –, was willst du dafür noch opfern?«

Ahilya riss ihren Ellbogen los. Das letzte Mal, dass sie Iravan gesehen hatte, nachdem sie intim miteinander gewesen waren, hatten sie auch über ihre kindischen Ambitionen gestritten. Oh, er war zu gewandt gewesen, um es so zu formulieren. Anfangs war er behutsam vorgegangen, hatte sich auf einen Ellbogen gestützt und seine Finger sanft wie eine Feder auf ihren Bauch gelegt.

»Ahilya«, hatte er gesagt. »Meinst du nicht, dass wir bereit sind? Wir sind bestimmt schon seit einer ganzen Weile bereit.«

»Bereit …«, hatte sie gemurmelt, zu entspannt, um nachzuhaken.

Als sie seine Berührung nicht länger spüren konnte, hatte sie ihre Augen aufgeschlagen und gesehen, wie Iravan sich aufsetzte. Sonnenschein tanzte über seine Haut, ein Spiel von Licht und Schatten. Er fuhr sich mit der Hand durch sein grau meliertes Haar. »Ich will ein Kind, Ahilya«, erklärte er. »Jemanden, der diese wachsende Leere in mir füllt …« Er lachte verbittert und blickte auf seine Hand über seinem Herzen. »Fühlst du es nicht auch? Willst du denn keins mehr? Früher wolltest du eins.«

Natürlich wollte sie eins. Sie hatte immer eins gewollt.

»Warum jetzt?«, fragte sie stattdessen und setzte sich auf. Ihr Herz schlug schneller. Sie hatten dieses Thema gemieden, da sie wussten, dass es nur in einem Streit enden würde. Dass er es jetzt erneut ansprach, nachdem sie sich einen Moment des Friedens erkämpft hatten …

»Warum?«, entgegnete er. »Warum nicht? Worauf warten wir? Ahilya, wir sind seit elf Jahren verheiratet.« Er streckte die Hand aus, um ihr durchs Haar zu streichen. »Du kannst mir das geben … uns. Wenn es uns glücklich macht, warum willst du dich nicht dafür entscheiden?«

»Weil Glücklichsein nicht der Grund dafür ist, dass du ein Kind willst, oder, Iravan? Nicht wirklich.«

Er hatte die Hand weggezogen und sie angestarrt, während sie nach ihren Kleidern suchte.

»Da ist noch mehr«, sagte sie. »Es hängt mit den Auflagen des Rats zusammen. Mit den willkürlichen materiellen Bindungen eines Architekten. Geht es hier darum, ein Kind zu zeugen, um ein Kind gezeugt zu haben?«

»Wenn ein Baby dabei hilft, die anderen davon zu überzeugen, dass meine Hingabe an Nakshar unumstößlich ist, was ist daran so schrecklich?«

»Ich werde kein Kind bekommen, um es dem Rat recht zu machen, Iravan. Etwas so Kostbares solltest du nicht aus Architektengründen wollen.«

»Das denkst du? Dass das der einzige Grund ist, warum ich eine Familie will? Rasende Stürme, Ahilya, ich will ein Vater sein. Warum ist das so schwer zu glauben?«

Mit unsicheren Fingern zog Ahilya sich an. Der Unglaube ließ ihre Bewegungen ungeschickt werden. Seine Raffinesse beeindruckte sie. Er hatte gewartet, bis sie vollkommen gelöst war, bevor er es angesprochen hatte. »Architekten und Kinder …«, sagte sie. »Meine Eltern … wie sie mit mir und Tariya umgangen sind, weil wir nicht mit der Fähigkeit zu trajizieren geboren wurden … Wir waren nie genug … Ihre Verzweiflung ihretwegen … Sie gibt es nicht zu, aber es ist schlimmer geworden … Sie konnten nie akzeptieren …«

Iravan fiel ihr ins Wort. »Ich denke nicht wie sie …«

»Vielleicht nicht jetzt. Aber wie lange wird es dauern, bis du es dem Kind übel nimmst, dass es nicht ist wie du? Bis du enttäuscht bist, dass es ist wie ich?«

»Das ist albern«, blaffte er. »Wann habe ich jemals auch nur angedeutet, dass du mir nicht ebenbürtig wärst?«

»Als du angefangen hast, Geheimnisse vor mir zu haben«, konterte sie und wurde ungewollt wütend. »Als du leitender Architekt und Ratsmitglied geworden bist. Es fing vor fünf Jahren an, Iravan.«

Sein Tonfall verhärtete sich. »Hier geht es nicht um mich. Sondern um dich. Alles, was du tust, hängt mit deiner Verbitterung darüber zusammen, nicht mit der Fähigkeit zu trajizieren geboren worden zu sein. Deine Forschung, dein Widerwille, ein Kind zu bekommen … Und jetzt ziehst du meine Gründe in Zweifel, nur weil ich ein Architekt bin?«

»Ich bin nicht dumm, Iravan. Erwartest du ernsthaft von mir, zu glauben, du hättest keine anderen Gründe dafür, ein Kind zu wollen? Dass der Rat keinen Druck ausüben würde?«

»Du projizierst deine eigenen Unsicherheiten …«

»Ja oder nein?«

Iravan riss die Hände hoch, sodass seine Rudra-Perlen klimperten. »Alle Architekten befolgen die Auflagen des Rats. Wenn dich mein Beruf derart stört, warum hast du dann überhaupt zugestimmt, mich zu heiraten?«

»Weil ich dich geliebt habe«, sagte sie. »Weil du mich geliebt hast …«

»Das tue ich immer noch!«

»Und weil du nicht so warst wie die anderen Architekten. Früher hast du nicht geglaubt, dass Normalbürger weniger wert wären. Wir hatten dieselben Weltanschauungen. Du hättest die Dinge besser für uns machen sollen, Iravan. So sah der Plan aus. Deshalb haben wir so hart dafür gearbeitet, dass du leitender Architekt wirst. Damit du etwas verändern kannst.«

»Rasende Stürme, so bin ich immer noch, Ahilya.«

»Ach ja?«, hatte sie traurig gefragt und ihre Wut war mit einem Mal in Erschöpfung umgeschlagen. »Und warum bist du dann so erpicht darauf, Naila, eine Assistenzarchitektin, für den freien Ratssitz zu nominieren statt einer gewöhnlichen Bürgerin?«

»So einfach ist das nicht«, hatte er protestiert. »Nur diejenigen, die einen bedeutenden Beitrag zum Überleben des Aschrams leisten, können für den Rat nominiert werden. Und Naila ist auf dem besten Weg dorthin. Das bedeutet nicht, dass ich Nichtarchitekten für we…«

»Ich glaube, doch«, sagte sie leise. Ihr Herz fühlte sich schwer an. Nach all den Streitereien waren sie nun endlich beim Kern des Problems angelangt. »Du hast dich verändert, seit du leitender Architekt geworden bist, Iravan. Seit du Teil des Rats geworden bist, mit all seinen Geheimnissen und Prinzipien, die über uns anderen stehen. Du gibst es nicht gern zu, aber mittlerweile schämst du dich für mich. Du sieht auf mich und alle anderen herab, die nicht trajizieren können – vielleicht hast du das schon immer getan. Unsere Geschichten, das Fehlen unserer eigenen Geschichte, ja, unsere Leben in dieser Architektenwelt bedeuten dir nichts. Womöglich glaubst du sogar, nichts wäre falsch an der Lebensweise unserer Zivilisation. Und ich werde kein Kind bekommen, solange du nicht erkennst, was richtig ist.«

Iravans Augen glänzten. Sein gut aussehendes Gesicht verfinsterte sich, als Zorn in ihm aufwallte.

Dann war er aufgestanden.

Er hatte sich seine Kleidung geschnappt und war gegangen.

Da der Erdsturm Stunden später angekündigt worden war, hatte sie ihn seither nicht mehr gesehen.

Tariya blickte sie noch immer halb besorgt, halb verärgert an. Ahilya seufzte, ergriff die Hand ihrer Schwester und drückte sie. Tariyas Mundwinkel zuckten. Sie drückte zurück.

Vor ihnen begann der Rudra-Baum zu vibrieren. Die Menge gab Oohs und Aahs von sich, einige Leute klatschen und jubelten. Eine große, ringförmige Plattform – die Architektenscheibe – schälte sich aus den obersten Stockwerken des Baums heraus. Darauf wurden die Umrisse von hundert glühenden Labyrintharchitekten deutlich, was den Ursprung des ätherischen blaugrünen Lichts offenbarte. Tariya ergriff überschwänglich Ahilyas Hand. Irgendwo auf der Scheibe koordinierten Iravan und Bharavi gemeinsam mit den beiden anderen leitenden Architekten Nakshars die Labyrintharchitekten. Ahilya versuchte, nicht allzu genau hinzusehen.

Mit dem Auftauchen der Scheibe zog sich der Tempel zusammen. Die Galerie, auf der sich Ahilya befand, rückte näher an den Rudra-Baum heran. Die Stadt, die sich über mehrere Hektar am Himmel erstreckt hatte, schrumpfte während eines Erdsturms, wurde kleiner, robuster.

In ihren Ohren baute sich Druck auf, doch bevor es schmerzhaft werden konnte, atmete sie ein und bewegte ihren Kiefer. Der scharfe Duft der Heilzweige erfüllte ihre Lungen. Grüne Ranken sprossen aus dem hölzernen Geländer und wanden sich über und unter ihren Händen hindurch. Wurzeln schlangen sich um ihre Beine, Arme und Taille bis zu ihrem Hals und hielten sie fest. Ahilya schloss die Augen, während sie sich vorstellte, wie Nakshar von außen aussehen musste, ein eiförmiges Gewirr aus Wurzeln, Blättern und Zweigen, das in hundert verschiedenen Schichten verknotet und festgezurrt war und auf den darunterliegenden Dschungel zustürzte. Sie konnte beinahe spüren, wie es kontrolliert hinabsauste, wie die Bäume knackten und brachen, als es wie ein Komet durch den Dschungel krachte. Sie holte tief Luft und kämpfte den überwältigenden Schwindel und das Gefühl, durch die Luft gewirbelt zu werden, nieder. Der Wille der Stadt wuchs in ihrem Inneren wie in all ihren Bürgern, um ihr Bewusstsein in Einklang zu bringen und sie alle zu beschützen, und dann …

Reglosigkeit.

Die Stadt schwebte kurz.

Ein Moment der Schwerelosigkeit.

Aufatmen.

Nakshar sackte die letzten paar Meter sanft ab und Ahilya spürte den dumpfen Aufprall. Sie öffnete ihre Augen. Schwaches grünes Licht drang durch das Blattwerk herein, als der Rindenpanzer Wurzeln und Blättern wich. Nakshar begann sich auszubreiten, sich zu erden, sich neu zu verknüpfen. Ranken und Triebe entwirrten sich, streckten sich und fügten sich in die neue Anordnung der Stadt ein. Ahilya atmete tief ein und verspürte unwillkürlich Erleichterung, als die Ranken, die sie festhielten, sich wieder ins Geländer zurückzogen.

Der Rudra-Baum im Zentrum schoss groß und schlank in die Höhe. Der Tempelboden wurde weich und verwandelte sich in einen grasbewachsenen Hof mit plätschernden Felstümpeln zwischen Rindenbänken. Plaudernde, lächelnde Labyrintharchitekten strömten in ihren bestickten braunen Kurtas und Hosen von der Architektenscheibe und legten ihre durchscheinenden Mäntel ab. Erleichterung zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab. Nur ein paar Labyrintharchitekten blieben auf der Scheibe, als diese zum Blätterdach hinaufschwebte, hoch genug, dass nicht einmal mehr das blaugrüne Leuchten der Trajektion zu sehen war.

Ahilya öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie war allein auf der weiten Galerie. Tariya hatte sich bereits mit Vihanan, Reniya und den anderen aufgemacht, um die gewundene Rampe hinunterzusteigen, die nun den Balkon mit dem neuen Tempelhof verband, während ihr Stuhl im Boden verschwand. Aufgeregtes Geplapper erhob sich und ebbte dann wieder ab, als die Bürger Wege durch die Rindenmauern entstehen ließen, um den Tempel zu verlassen. Nun, da sie gelandet waren, erlaubte der Rat den Pflanzen offensichtlich wieder, allen zu gehorchen.

Ahilyas Nacken kribbelte. Sie drehte sich um und senkte den Blick.

Dort im Hof stand ihr Mann und sah zu ihr auf.

Trotz der Entfernung trafen sich ihre Blicke. Er hatte den durchscheinenden Mantel abgelegt, doch der Rest seiner Kleidung als leitender Architekt, eine weiße bis zu den Schienenbeinen reichende Kurta über einer weißen Faltenhose, stach aus dem Braun der gewöhnlichen Labyrintharchitekten hervor. Seine Ärmel waren hochgekrempelt und ein Dutzend Armbänder aus Rudra-Perlen zierten seine Handgelenke. Sie wusste, dass unter seiner Kleidung noch mehr Perlen verborgen waren, Halsketten und weitere Armbänder, weit mehr als bei anderen Architekten, wobei jede Perle spezielle Berechtigungen enthielt. Iravans Haut war zu dunkel, um von Weitem irgendwelche Muster ausmachen zu können, doch das blaugrüne Licht, das auf seinen sehnigen Armen und seiner versteinerten Miene pulsierte, ließ sich nicht verbergen. Sein ganzer Körper schien von innen heraus in Licht gebadet zu sein.

Ahilya starrte ihn an, wie er groß und stolz dastand, das dichte grau melierte Haar zerzaust, länger und grauer als zuvor, der Kiefer angespannt, wie immer, wenn er versuchte, sich zu beherrschen. Die fast schwarzen Augen ihres Ehemannes funkelten in ihre Richtung. Er machte keinerlei Anstalten, die Rampe hinaufzusteigen. Lange standen sie so da und starrten einander an. Ahilyas Brust war wie zugeschnürt, sie konnte nicht richtig atmen.

Hinter ihr ertönte ein Räuspern.

»Dhruv und Oam sind unterwegs zum Treffpunkt«, sagte Naila. »Wolltest du …? Ich kann ihnen sagen, dass sie warten sollen, wenn du …«

»Nein.« Ahilya brach den Blickkontakt als Erste ab. Sie wandte sich der Assistenzarchitektin zu. »Gehen wir.«

3

IRAVAN

Wie üblich bei der Trajektion war Iravans Wahrnehmung zweigeteilt. In der ersten stand er im wachsenden Hof, mahlte mit den Kiefern und starrte seiner Frau hinterher, als sie ihn stehen ließ. Seine Finger zuckten. Seine Füße rührten sich. Sein Atem ging stoßweise, er wollte ihr folgen, ihr vergeben, ihr nachgeben. Iravan zwang sich, stehen zu bleiben.

Er hatte von der Architektenscheibe aus nach ihr gesucht. Sobald der Aschram gelandet war, war er von der Scheibe gesprungen und dorthin geeilt, wo die Architektin sie hingebracht hatte. Ahilya zu sehen, hatte ihn an Ort und Stelle erstarren lassen. Sie war so wunderschön mit den Haarsträhnen, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatten, und diesen großen Augen, die vor Scharfsinn funkelten. Er hatte auf ein Zeichen gewartet – dass sich ihre Lippen öffneten, dass ihr Blick sanfter würde, irgendetwas. Er hatte gewartet, dass sie den ersten Schritt machte.

Und sie war davongegangen.

Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Sehnsucht rang mit Wut und Bedauern. Der Hof füllte sich mit den Familien anderer Architekten, die diese willkommen hießen. Kinder hasteten an beisammenstehenden Erwachsenen vorbei, um in die wartenden Arme ihrer Eltern zu springen. Liebende erblickten einander, was ein Lächeln in ihre Gesichter zauberte. Andere umarmten und küssten sich, ihre Stimmen klangen erleichtert. In seiner ersten Wahrnehmung stand Iravan still und allein da.

In seiner zweiten existierte er als Staubkorn, das in einem unendlichen Universum schwebte.

In allen Richtungen schimmerten goldene Lichter, endlos und atemberaubend.

Dieses Universum war der Moment: eine unbewegliche Realität, die das Bewusstsein der Pflanzen widerspiegelte, die Nakshars Bausteine bildeten. Jeder erstarrte Stern im Moment war ein potenzieller Seinszustand einer Pflanze.

Für jede Pflanze existierten unendlich viele dieser Zustände, doch Iravan kannte jeden einzelnen genauso gut wie sich selbst. In diesem Stern existierte eine Seerose, zu voller Blüte gereift und auf ewig erstarrt. In einem weiter entfernten ruhte das Eisenholz in ewigem Verfall. Geburt durch Tod, das Versprechen unzähliger Möglichkeiten. Umgeben von Leben, ließ Iravan sich durch den Moment treiben.

Fast fünfzig Staubkörner befanden sich mit ihm in diesem Universum, ein jedes von ihnen ein Architekt, der seiner Pflicht nachging, Nakshar zu stabilisieren.

Während Iravan zusah, bildeten einige der Staubkörner Sternbildlinien und schlängelten sich zwischen den Sternen hindurch. Die Linien kreuzten sich und vereinigten sich, um verschiedene Sterne miteinander zu verbinden. Nakshars Architektur entfaltete sich um ihn herum zu einem komplexen Labyrinth.

Iravan lächelte. Das war etwas, das Nichtarchitekten niemals verstehen würden. Nakshars lebendige Architektur war mehr als nur ein Labyrinth aus Pflanzen. Es war die Schnittstelle von Leben, Versprechen und Absicht. Es war Eleganz, Schönheit und Harmonie.

Hier befand sich der Tempel in Gestalt eines Labyrinths aus Korridoren. Weiter vorne wuchs die Bibliothek, deren Windungen private Nischen bildeten. Iravan schlängelte sich durch die Linien des Sol-Labors. Er driftete über die Grenzen der Krankenstation hinweg. Er stieß über die Nachbildungen von Brücken hinab, duckte sich unter den Bögen von Gartenlauben hindurch, glitt über die Umrisse von Spielplätzen hinweg. In dieser zweiten Wahrnehmung hatte er ein Gefühl von Frieden. Frieden und Zugehörigkeit.

In seiner ersten Wahrnehmung stand er im Tempelhof und starrte auf die Stelle, an der Ahilya verschwunden war.

»Iravan«, rief die melodische Stimme einer Frau. »Deine Landeanordnung war erfolgreich. Du kannst den Moment jetzt verlassen. Die Architekten auf der Scheibe wissen, was zu tun ist.«

Bharavi trat auf ihn zu, noch immer in ihren durchscheinenden Mantel gehüllt, obwohl ihre Haut wie bei den anderen Architekten, die im Hof versammelt waren, nicht mehr vom Licht der Trajektion glühte. Ihre Augen waren zu missbilligenden Schlitzen verengt. Architekten, die nicht im Dienst waren, beeilten sich, ihr Platz zu machen.

Die leitende Architektin blieb direkt vor ihm stehen und verschränkte die Arme. Bharavi, eine schlanke Frau mit dunklem, kinnlangem Haar und rosig brauner Haut, war klein und reichte Iravan gerade einmal bis zur Brust. Doch irgendwie hielt sie das nicht davon ab, sich drohend vor ihm aufzubauen. Aus der Nähe betrachtet traten die Falten in ihrem Gesicht deutlicher hervor und die Schatten unter ihren Augen wirkten dunkel und tief. Wahrscheinlich sah er ähnlich aus.

»Hast du mich gehört?«, fragte sie. »Du kannst jetzt aufhören.«

Iravan trajizierte.

Als Staubkorn segelte er über die Sterne hinweg, bis er Nakshars Grenze erreichte. Das äußere Labyrinth, wo der Aschram an den Dschungel grenzte, war ein Wirrwarr aus durchtrennten Linien. Iravan beobachtete ein Dutzend Staubkörner, die dort umherschwebten: die Labyrintharchitekten, die im Dienst waren und gegenwärtig von der Architektenscheibe aus trajizierten. Die Staubkörner erschufen neue Sternbildlinien, die verschiedene Sterne verbanden, doch die Linien zersprangen, bevor sie einrasten konnten.

Iravan runzelte die Stirn. Er erkannte die Staubkörner, Megha, Gaurav und Kriya waren unter ihnen. Seine überlegenen Fähigkeiten und sein Aufstieg in den Rat hatten eine natürliche Distanz zwischen ihnen erzeugt, obwohl sie damals für denselben Ratssitz nominiert worden waren, den er nun innehatte. Jeder von ihnen war ein kompetenter Labyrintharchitekt. Also warum rissen ihre Sternbildlinien? Die Flaute während eines Erdsturms und die anschließende Landung hätten die Trajektion vereinfachen sollen.

Er stürzte sich ins Getümmel und schuf mit der Kraft seines Wunschs, die Pflanzen des Aschrams zu beeinflussen, seine eigenen Sternbildlinien. Iravan verband den Stern, der den Dornbusch enthielt, wand eine Schleife um den Mammutbaum und verband seine Linien in einem komplexen Netzmuster mit hundert weiteren Sternen. Ein Dutzend Staubkörner steckten sich ihm mit ihren eigenen, einfacheren Linien entgegen. Seine Sternbildlinien vibrierten fast bis zur Zerreißgrenze, kämpften gegen ihn an und widersetzten sich seinem Willen. Iravan legte sein ganzes Wesen hinein. Er wirbelte und schlängelte sich zwischen den Staubkörnern hindurch, drehte und wand sich …

Der Umriss, den er erschaffen hatte, rastete ein. Mehrere Tausend Sterne waren verbunden. Ein weiterer Teil des Labyrinths entfaltete und verfestigte sich. Die Staubkörner schnellten in die Höhe, ihre vorbeirasenden Schemen strahlten Jubel und Dankbarkeit aus.

Iravan grinste. Dies war ein Ort, an dem er gebraucht wurde. Sein Atem ging wieder leichter. Er ließ die schwebenden Staubkörner hinter sich und begann erneut, durch den Moment zu treiben.

Im Tempelhof stampfte Bharavi mit dem Fuß auf. »Du hörst mir nicht zu!«, schimpfte sie.

»Diesmal war die Trajektion schwierig, Bha«, entgegnete Iravan. »Sag mir nicht, du hättest es nicht auch gespürt. Die Scheibe braucht alle Hilfe, die sie kriegen kann.«

»Deine Landeanordnung war neu. Eine gewisse Eingewöhnungszeit für die Labyrintharchitekten war zu erwarten.«

»Meine Landeanordnung war simpel. Und trotzdem sind unsere Sternbildlinien immer wieder zerbrochen. Das lag nicht daran, dass die Labyrintharchitekten nicht mit der Anordnung vertraut waren.«

»Vielleicht sind einfach nur alle erschöpft nach diesem furchtbar langen Erdsturm«, entgegnete sie.

Iravan sah sie mit festem Blick an.

Sie beide wussten, dass die Dauer eines Erdsturms unerheblich war. Der Grundgedanke hinter dem strikten Schichtdienst war, sich niemals zu verausgaben, damit der Aschram allzeit seinen Flug fortsetzen konnte. Die Flaute war lediglich eine Gelegenheit für die Labyrintharchitekten, mit Leichtigkeit zu trajizieren. Während einer Flaute ließen sich sämtliche Pflanzen Nakshars umso leichter trajizieren, je näher sie dem Dschungel waren. Deshalb hatte der Rat beschlossen zu landen.

»Es war keine Erschöpfung«, erklärte er kategorisch. »Ich habe die Labyrintharchitekten beobachtet, seit der Erdsturm angekündigt wurde. Viana hat so viele Fehler gemacht, dass ich sie auf die Akademie zurückschicken musste. Karn hatte so sehr mit grundlegenden Mustern zu kämpfen, dass es zum Heulen war. Es ist ein Zeichen. Die Pflanzen … reagieren nicht mehr so wie früher auf uns. Die Trajektion wird schwieriger. Die Scheibe braucht meine Hilfe.«

In seiner zweiten Wahrnehmung hielt er inne.

Er hatte im äußeren Labyrinth patrouilliert und war den Labyrintharchitekten zur Hand gegangen. Doch dort, hinter dem Leuchten eines gigantischen Sterns, schwebte … etwas. Er hatte es schon zuvor bemerkt, während der langen Monate, die er im Tempel verbracht hatte, verborgen hinter jeder seiner Trajektionen. Anfangs hatte er es für ein Staubkorn gehalten, nichts weiter als einen weiteren Architekten, den er nicht gut genug kannte, um ihn im Moment wiederzuerkennen. Doch im Gegensatz zu anderen Staubkörnern wirbelte das Teilchen nicht um die Sterne herum. Es gingen keine Sternbildlinien von ihm ab. Stattdessen wogte es auf und ab, silbern und zähflüssig wie Quecksilber, und pochte wie ein Herz.

Iravan bewegte sich darauf zu. Das Teilchen pulsierte und kam näher.

Er blieb stehen. Das Teilchen blieb stehen.

Er machte einen Satz nach links, das Teilchen machte einen Satz nach links, es spiegelte seine Bewegungen.

Was bist du?, dachte er bestürzt.

Bharavi trat von einem Fuß auf den anderen. »Iravan, willst du damit sagen, dass du den Tempel während des Flugs überhaupt nicht verlassen hast?«

Er hörte sie kaum. Langsam und ganz vorsichtig rückte er näher. Das Teilchen verharrte pulsierend. Er erblickte sich selbst darin, auch wenn das, was er sah, nicht sein Gesicht war, nicht innerhalb des Moments. Stattdessen erkannte er sein … Echo. Als wäre er in einen Spiegel gefallen, in dem sein eigenes Auge hundertfach reflektiert wurde, bis jedes Bild seine Bedeutung verloren hatte. Es fühlte sich an wie eine … Resonanz, dachte er. Ein anderer Begriff fiel ihm nicht dafür ein.

»Bha«, sagte er leise. »Da ist etwas im Moment. Etwas Sonderbares.«

Sie löste ihrer Arme und tippte auf eins ihrer Rudra-Armbänder. Ein Hologramm erschien über ihrem Handgelenk – ein Bild von Iravan neben einer Namensliste. Es verharrte dort für einen Augenblick, bevor es erlosch. Bharavi senkte ihre Hand.

»Wie ich sehe, hast du dich für den Wachdienst eingetragen«, bemerkte sie. »War nicht Chaiyya an der Reihe?«

Er bedeutete ihr, still zu sein.

Die Resonanz tanzte vor ihm hin und her, silbrig und flüssig. Er wich zurück und die Resonanz wich ebenfalls zurück. Er ließ sich einen weiteren Schritt zurücktreiben und die Resonanz tat es ihm gleich.

Dann wirbelte die Resonanz mit schnellen, zuckenden Blitzen, die Iravan an ein bösartiges Grinsen erinnerten, herum und schoss durch das Universum davon.

Verdammte Stürme!, dachte er.

Iravan raste durch den Moment und versuchte, das wogende Teilchen im Blick zu behalten. Sie schwirrten durch die Lichter, sausten an Sternbildlinien vorbei und erschreckten Staubkörner. Er jagte an einem Architekten vorbei und spürte dessen Entrüstung. Er versuchte, der Resonanz den Weg abzuschneiden, doch das Teilchen bremste ab und floh den Weg zurück, den es gekommen war. Iravan fluchte erneut und fuhr herum, schwang sich über einen Stern hinweg und hechtete an den langen Linien des Labyrinths vorbei. Die Bewegungen des Teilchens hatten etwas Vertrautes an sich, als sollte er wissen, was es als Nächstes tun würde.

Er umrundete einen goldenen Stern und kam vor der Resonanz zum Stehen. Alarmiert und belustigt hielt sie an.

Ha!, dachte Iravan. Er hielt inne, um zu sehen, was sie als Nächstes tun würde.

Bharavi legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sag schon. Wann hast du Ahilya das letzte Mal gesehen?«

Die Resonanz griff an.

Erschrocken sah Iravan, wie Wut über die spiegelnde Oberfläche huschte, bevor das Teilchen mit ihm kollidierte.

Die Sterne des Moments erloschen.

Er taumelte durch die Schwärze.

Er fiel unaufhörlich.

Im Tempelhof stolperte Iravan mit offenem Mund gegen Bharavi. Das Universum war ausgelöscht, alle Sterne verschwunden, nur das Gefühl, in ein schwarzes Loch zu fallen, war geblieben. Er öffnete und schloss den Mund und versuchte, Worte zu formen, während er Bharavi anstarrte. Ihm drehte sich der Magen um und er krümmte sich würgend.

»Was hast du?«, fragte sie sofort. »Sind deine zwei Wahrnehmungen verschmolzen?« Sie packte seine Schultern und stützte ihn.

Er würgte und schüttelte den Kopf. Nachdem Bharavi sich umgesehen hatte, führte sie ihn vom Trubel im Innenhof weg und näher zum Fuß des Rudra-Baums, wo sich keine anderen Architekten aufhielten.

In seiner zweiten Wahrnehmung kam Iravan mit einem Ruck in einem unendlichen, samtigen schwarzen Loch zum Stillstand. Er wirbelte in engen, panischen Kreisen herum, suchte ein Licht, irgendein Licht, hielt Ausschau nach einem Staubkorn, einem Stern, der Resonanz, nach irgendetwas …

Die Resonanz rammte ihn.

Mit entsetzlichen Schmerzen taumelte Iravan zurück in den Moment. Die Sterne funkelten wieder, vertraut und tröstlich. Nakshars Labyrinth kehrte zurück und blaugrüne Sternbildlinien kreuzten sich. Das Gefühl zu schweben, das Iravan begleitete, wann immer er dieses Universum betrat, kehrte zurück, doch die Resonanz flimmerte vor seinem Staubkorn, reglos, als hätte sie ihn nicht soeben attackiert. Unschuld lag in ihrem silbernen Flattern.

Iravan floh so schnell vor ihr, dass er in den nächstgelegenen Stern taumelte – das üppige grüne Reisfeld –, bevor er wieder hinausstürzte, um im Moment zu treiben. Er wirbelte herum, als Lichter durch seine zweite Wahrnehmung kreisten, aber die Resonanz war verschwunden.

Bharavi blickte ihn immer noch besorgt an, während sie ihn an den breiten Stamm des Rudra-Baums lehnte. Iravan richtete sich schwitzend auf. Er nickte zum Dank und Bharavi ließ ihn los. Sie trat einen Schritt zurück.

»Was hast du?«, wiederholte sie leise. »Sind deine Wahrnehmungen verschmolzen?«

»Nein.« Seine Stimme klang brüchig. »Es ist … etwas anderes.«

So grauenhaft die Erfahrung, in dieses schwarze Loch zu fallen, auch gewesen war, wenigstens war Iravan er selbst geblieben. Wenn seine zwei Wahrnehmungen verschmolzen wären, hätte er sich in einem trajizierten Stern, im erstarrten Moment des Bewusstseins einer Pflanze verloren. Er würde keinen Ausweg kennen, keine Erinnerung daran haben, wer er war. Wenn die zwei Wahrnehmungen verschmolzen, war es nahezu unmöglich, das rückgängig zu machen. Nur überaus fähige Architekten waren in der Lage, sich davon loszureißen.

»Was war es dann?«, hakte Bharavi nach.

»Ich … ich weiß nicht.« Seine Stimme klang noch immer rau. »Da war dieses Ding … diese Form. Nein, keine Form. Eher ein Rhythmus. Eine Interferenz innerhalb des Moments. Eine … eine Art Resonanz.«

Bharavis Stirnrunzeln vertiefte sich. Ihre Hände öffneten und schlossen sich wie die Blüte einer Schreckensknospe.

Die Panik dieser Erfahrung durchfuhr Iravan in Wellen. Innerhalb des Moments tauchte er zu dem Stern hinab, der einem erblühenden Jasmin gehörte. Er band den Stern mittels simpler Trajektion an sich und flog dann zu den Wohnungen innerhalb Nakshars Architektur und zu seinem eigenen Zuhause. Dort befestigte er die Sternbildlinie an dem prächtigen Ixorastrauch. Die Sternbildlinien funkelten im Moment und verfestigten sich dann. Er erlangte ein gewisses Maß an Kontrolle zurück.

Er räusperte sich, um seine Stimme zu beruhigen. »Ja, eine Resonanz. Eine Interferenz. Sie … sie …« Er rieb sich übers Gesicht und spürte dabei seine Bartstoppeln. »Bha, ich glaube, sie hat mich aus dem Moment geschleudert.«

Bharavi blickte sich im Innenhof um, doch Iravan hatte leise gesprochen und die nächsten Architekten waren einige Meter entfernt. »Das ist unmöglich.«

»Ich weiß, was ich gespürt habe.«

»Iravan, du bist erschöpft. Muss ich dir wirklich erklären, was passiert, wenn ein Architekt erschöpft ist?«

»Hör auf, mich zu bevormunden, Bharavi. Ich bin nicht mehr dein Lehrling. Ich bin jetzt selbst ein leitender Architekt. Ich weiß, wie sich Erschöpfung im Moment anfühlt. Und das war keine.«

Sie starrte ihn an. Iravan rollte mit den Schultern und lehnte den Kopf an den Baum. Er schloss die Augen und holte tief Luft. Erschöpfte Architekten konnten ihre Verbindung zum Moment verlieren oder waren mitunter gar nicht erst in der Lage hineinzukommen. Derartige Schwierigkeiten hatte Iravan nicht. Er schwebte in seinem Zuhause zwischen gigantischen Sternen und flog anschließend wieder dorthin zurück, wo die Labyrintharchitekten anderen Bauwerken den letzten Schliff gaben. Obsthaine erblühten. Alleen wurden breiter. Bei diesem vertrauten Anblick beruhigte sich Iravans Herzschlag. Als er die Augen aufschlug, musterte ihn Bharavi noch immer.

Bevor sie etwas sagen konnte, kam er ihr zuvor. »Wenn das die Trajektion stört, könnte das zu einem kritischen Ausfall führen. Nächstes Mal könnten wir mitten im Flug in den Erdsturm stürzen.«

Bharavi seufzte. »Du musst es den Architekten auf der Scheibe überlassen, sich um das Labyrinth zu kümmern. Du musst dich ausruhen … Zeit mit deiner Frau verbringen.«

Iravan schüttelte den Kopf. Er schob sich an ihr vorbei in den Hof zurück. Der Tempel ähnelte allmählich einer weitläufigen Höhle. Die Architekten hatten das Ellipsoid der Landearchitektur fast vollständig eingeebnet. Die Abendsonne fiel in feinen Strahlen durch die Öffnungen einer hohen, mit Wurzeln überzogenen Decke herein. Wasser strömte aus Felsentümpeln und das Geplätscher gesellte sich zu den Echos, die von den erhärteten Wänden zurückgeworfen wurden. Architekten, die nicht im Dienst waren, traten zur Seite und machten einen großen Bogen um ihn. Iravan versuchte, seine mürrische Miene abzulegen.

Bharavi hielt mit ihm Schritt. »Warum hast du dich für den Wachdienst eingetragen?«

Er schnaubte. »Muss ich dir wirklich erklären, wie das mit dem Wachdienst funktioniert? Ich habe mich eingetragen, weil ein leitender Architekt diese Pflicht ausüben muss.«

»Komm mir nicht so!«, blaffte sie. »Chaiyya ist an der Reihe. Warum hast du mit ihr getauscht?«

»Sie ist schwanger. Ich habe mich freiwillig gemeldet.«

»Wie ritterlich. Wann hast du Ahilya das letzte Mal gesehen?«

Bharavi war eine der wenigen im Aschram, die ihm Fragen über seine Ehe stellen durften, dennoch funkelte Iravan sie aus schmalen Augen an. »Warum fragst du?«

Sie deutete zum Tempelhof. »Ahilya ist nicht hier, oder? Die Familien aller anderen Scheibenarchitekten sind hier, um sie zu begrüßen.«

»Wir sind gelandet, oder etwa nicht? Ich bin mir sicher, während dieser Flaute werde ich sie zur Genüge sehen.«

»Ich weiß, wie viele Schichten du diesmal übernommen hast. Zu viele. Viel zu viele.«

»Tja, da so viele Architekten mit der grundlegenden Trajektion zu kämpfen haben, war das das einzig Richtige.«

»Das ist nicht gesund, Iravan. Es ist gefährlich.«

Iravan hob die Hand. »Du kannst mich entweder weiterhin für meine Entscheidungen verurteilen, Bha, oder du kannst zu deiner Frau gehen. Tariya wartet.« Er deutete an der sich drängenden Menge vorbei. Ihr Baby im Arm und mit Kush an ihrer Seite, kam Tariya vorsichtig das letzte Stück der Rampe herab.