The Tearsmith - Erin Doom - E-Book

The Tearsmith E-Book

Erin Doom

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Beschreibung

Der internationale Bestseller: die aufwühlende Geschichte einer unmöglichen Liebe Als Nica mit 17 Jahren von den liebevollen Mulligans adoptiert wird, hofft sie, die dunklen Jahre im Waisenhaus endlich hinter sich zu lassen - und mit ihnen die Legende um den Tränenmacher, der Angst und Schrecken in den Herzen sät. Doch die Mulligans nehmen gleichzeitig mit ihr den undurchschaubaren Rigel bei sich auf - gefährlich schön und Nica gegenüber kalt und grausam. Nica hätte jeden lieber gehabt als Stiefbruder als ihn. Doch die beiden kommen sich unfreiwillig näher, denn nur gemeinsam können sie die Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen …  Der Traum von einer Familie. Eine dunkle Vergangenheit. Eine unmögliche Liebe. Die Romance-Sensation aus Italien - hypnotisch, atmosphärisch, fesselnd.

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Seitenzahl: 916

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Erin Doom

The Tearsmith

 

Aus dem Italienischen von Barbara Neeb, Katharina Schmidt und Christina Neiske

 

Inhalt

[Hinweis]

[Motto]

Prolog

1 Ein neues Zuhause

2 Das verlorene Märchen

3 Meinungsverschiedenheiten

4 Pflaster

5 Der schwarze Schwan

6 Reine Freundlichkeit

7 Mit kleinen Schritten

8 So himmelblau

9 Rosen und Dornen

10 Ein Buch

11 Weißer Schmetterling

12 Akrasia

13 Ranken und Dornen

14 Entwaffnend

15 Bis auf die Knochen

16 Hinter Glas

17 Die Soße

18 Mondfinsternis

19 Unter der Oberfläche

20 Ein Glas Wasser

21 Ohne ein Wort

22 Ich werde brav sein

23 Hand in Hand

24 Eine Konstellation voller Schauer

25 kollisionskurs

26 Märchenbettler

27 Die Laufmasche

28 Ein einziges Lied

29 Gegen mein Herz

30 Bis zum Ende

31 Mit geschlossenen Augen

32 Die Sterne sind einsam und allein

33 Tränenmacher

34 Heilen

35 Ein Versprechen

36 Ein neuer Anfang

37 Wie Amarant

38 Über alle Maßen

Epilog

Dank

[Triggerwarnung]

Einen Hinweis auf potentiell belastende Themen finden Sie hier.

Für diejenigen, die von Anfang an daran geglaubt haben.

Und bis zum Ende.

Prolog

Im Grave haben wir einander viele Geschichten erzählt.

Kindermärchen, Gute-Nacht-Geschichten, Legenden, die wir uns bei Kerzenlicht zugeflüstert haben. Die beliebteste war die vom Tränenmacher.

Sie handelte von einem fernen Ort aus vergangener Zeit – von einer Welt, in der niemand weinen konnte und die Seelen der Menschen leer waren, ohne jegliche Gefühle. Aber vor allen verborgen lebte dort in unermesslicher Einsamkeit ein in Schatten gehüllter kleiner Mann. Ein eigenbrötlerischer Handwerker, blass und bucklig, der mit seinen glasklaren Augen Tränen aus Kristall schmieden konnte.

Und die Leute kamen zu ihm und baten darum, weinen zu können, wenigstens einen Anflug von Gefühl spüren zu dürfen – denn in den Tränen verbirgt sich die Liebe und tief empfundener Abschied. Sie sind der innerste Ausdruck der Seele, das, was jedem mehr noch als Glück und Freude das Gefühl gibt, wirklich ein Mensch zu sein.

Und der Tränenmacher erfüllte ihnen den Wunsch …

Er setzte den Leuten seine Tränen in die Augen ein mit allem, was darin enthalten war, und ja, dann weinten die Menschen: aus Wut und Verzweiflung, aus Schmerz und Angst.

Es waren herzzerreißende Gefühle, schwere Enttäuschungen und Tränen über Tränen – der Tränenmacher verseuchte diese reine Welt, färbte sie dunkel.

»Merk dir eins: Den Tränenmacher kannst du nicht anlügen«, hieß es immer zum Schluss.

Sie erzählten uns das, um uns zu lehren, dass jedes Kind brav sein kann; dass es brav sein muss, denn niemand wird böse geboren. Das liegt nicht in unserer Natur.

Aber für mich …

Für mich war das nicht so.

Für mich war das nicht nur eine Legende.

Er war nicht in Schatten gehüllt. Er war kein blasses, buckliges Männlein mit Augen so klar wie Kristall.

Nein.

Denn ich kannte den Tränenmacher.

1Ein neues Zuhause

Obgleich mit Schmerz ausgekleidet, war es

das schönste und glanzvollste Haus der Welt.

»Sie wollen dich adoptieren.«

Ich hätte nie geglaubt, dass ich diese Worte irgendwann einmal hören würde.

Schon als kleines Mädchen hatte ich es mir so sehr gewünscht, dass ich jetzt kurz glaubte, ich würde schlafen und nur davon träumen. Mal wieder.

Und doch war dies keine Stimme aus meinen Träumen.

Es war die Reibeisenstimme von Mrs Fridge, in der unweigerlich dieser Hauch von Enttäuschung mitschwang.

»Mich?«, fragte ich ungläubig und so leise, dass ich mich selbst fast nicht hörte.

Mit leicht hochgezogener Oberlippe starrte sie mich an. »Dich.«

»Sind Sie sicher?«

Sie umklammerte den Stift mit ihren dicken Fingern, und der Blick aus ihren Augen ließ mich sofort das Kreuz durchdrücken.

»Bist du plötzlich taub geworden?«, blaffte sie mich an. »Hat die frische Luft dir vielleicht die Ohren verstopft?«

Ich schüttelte hastig den Kopf, konnte es aber immer noch nicht glauben.

Das war unmöglich. Das konnte nicht wahr sein.

Niemand wollte die Großen, nie, unter gar keinen Umständen … Das war einfach so. Ein bisschen wie im Tierheim: Alle wollten Welpen, weil sie so süß, so unschuldig und leicht zu erziehen waren; keiner wollte Hunde, die schon ewig dort lebten.

Ich hatte mich schwer damit getan, diese Tatsache zu akzeptieren, da ich hier im Heim aufgewachsen war.

Solange du klein warst, schauten sie dich wenigstens an. Je älter du dann wurdest, desto flüchtiger wurden ihre Blicke, und ihr Mitleid begrub dich für immer hinter diesen Mauern.

Aber jetzt … Jetzt …

»Mrs Milligan möchte sich ein wenig mit dir unterhalten. Sie wartet unten auf dich; führ sie doch einfach herum und sieh zu, dass du nicht alles verdirbst. Wenn du dich nicht so seltsam benimmst wie sonst, gelingt es dir vielleicht mit ein wenig Glück, von hier fortzukommen.«

 

Mir schwirrte der Kopf.

Während ich nach unten lief und mein gutes Kleid angenehm weich meine Beine umspielte, fragte ich mich erneut, ob das nicht nur einer meiner unzähligen Tagträume war.

Es war wirklich ein Traum: Am Fuß der Treppe empfing mich ein freundliches Gesicht. Es gehörte zu einer Frau, die schon etwas älter war und in ihren Armen einen Mantel hielt.

»Hallo«, begrüßte sie mich lächelnd, und mir fiel sofort auf, dass sie mir in die Augen sah, wirklich direkt in die Augen, das hatte schon lange niemand mehr getan.

»Guten Tag …«, hauchte ich fast unhörbar.

Sie sagte, dass sie mich vorhin im Garten gesehen hätte, als sie durchs Tor gekommen war: Ich wäre ihr aufgefallen, wie ich im Gras kniete, auf das zwischen den hohen Bäumen nur wenige Sonnenstrahlen fielen.

»Ich bin Anna«, stellte sie sich vor, als wir unseren Rundgang begannen.

Ihre Stimme war warm und weich, und ich fragte mich, ob es möglich war, vom Klang einer Stimme wie vom Blitz getroffen zu werden oder sofort etwas liebzugewinnen, das man eben erst kennengelernt hat.

»Und du? Wie heißt du?«

»Nica«, erwiderte ich und versuchte nicht zu zeigen, wie aufgeregt ich gerade war. »Ich heiße Nica.«

Die Frau betrachtete mich neugierig, und ich schaute nicht mehr nach vorn, um zu sehen, wohin ich meine Füße setzte, weil ich unbedingt diesen Blick erwidern wollte.

»Das ist aber ein ungewöhnlicher Name. Den habe ich ja noch nie gehört.«

»Ja …« Verlegen wandte ich die Augen ab. »Den haben mir meine Eltern gegeben. Sie … Sie waren Biologen. Nica ist der Name eines Schmetterlings.«

An meine Mutter und meinen Vater konnte ich mich kaum noch erinnern. Nur ganz verschwommen, als würde ich sie durch ein heftig beschlagenes Fenster betrachten. Wenn ich die Augen schloss und mich konzentrierte, konnte ich ihre unscharfen Gesichter sehen, wie sie von oben auf mich herabschauten.

Ich war erst fünf gewesen, als sie starben.

Ihre Liebe war eines der wenigen Dinge, an die ich mich erinnerte – und das, was ich am meisten vermisste.

»Das ist ein sehr hübscher Name. Nica …« Sie formte meinen Namen mit ihren Lippen, fast als wollte sie seinen Klang auskosten. »Nica«, wiederholte sie entschieden und wiegte zustimmend den Kopf.

Sie sah mich an, und mir kam es vor, als würde auf einmal alles leuchten – in mir und um mich herum. Als würde allein ihr warmer Blick ausreichen, um meine Haut golden schimmern zu lassen – denn so ein direkter Augenkontakt, das war keine Kleinigkeit, nicht für mich.

Die Zeit verging wie im Flug bei unserem Rundgang durchs Heim. Sie fragte mich, ob ich dort schon lange lebte, und ich antwortete ihr, dass ich hier praktisch aufgewachsen sei. Es war ein schöner Tag, deshalb drehten wir zum Abschluss noch eine Runde durch den Garten.

»Was hast du eigentlich vorhin gemacht … als ich dich da drüben gesehen habe?«, fragte sie mitten in unserem Gespräch und deutete auf eine Stelle ganz hinten im Garten, wo wildes Heidekraut blühte.

Meine Augen schossen dorthin, und ohne zu wissen warum, hatte ich das Gefühl, ich müsste meine Hände verstecken.

Ich solle mich nicht so seltsam benehmen wie sonst, hatte Mrs Fridge mich ermahnt, und diese Worte blinkten nun wie Warnlichter in meinem Kopf auf.

»Ich bin gerne draußen«, sagte ich langsam. »Ich mag … die Wesen, die dort leben.«

»Ach, es gibt hier Tiere?«, fragte sie etwas naiv, aber das war meine Schuld, weil ich mich nicht klar ausgedrückt hatte, und das wusste ich auch.

»Ja schon, also kleinere …«, antwortete ich ausweichend, während ich achtgab, keine Grille zu zertreten. »Solche, die wir oft nicht einmal sehen …«

Ich errötete ein wenig, als unsere Blicke sich kreuzten, aber sie fragte nicht weiter nach. Stattdessen teilten wir ein angenehmes Schweigen, während die Eichelhäher krächzten und man die Kinder tuscheln hörte, die uns vom Fenster aus beobachteten.

Sie meinte, ihr Mann müsse jeden Moment kommen. Um mich kennenzulernen, ließ sie durchblicken. Mein Herz wurde auf einmal ganz leicht, als könnte ich fliegen. Wir gingen ins Haus, und ich fragte mich, ob ich dieses Gefühl in ein Fläschchen abfüllen könnte, um es für immer zu bewahren. Um es in meinem Kissenbezug zu verstecken und seinen Perlmuttglanz später im Zwielicht der Nacht zu betrachten.

So glücklich hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.

»Jin, Ross, hier wird nicht gerannt!«, ermahnte ich im Spaß zwei Kinder, die zwischen uns hindurchliefen und dabei mein Kleid aufwirbelten. Sie kicherten und rannten die Treppe hoch, was die alten Bohlen knarzen ließ.

Als ich wieder zu Mrs Milligan schaute, bemerkte ich, dass sie mich betrachtete. Abwechselnd musterte sie mal meine rechte, mal meine linke Iris mit einer Art von … Bewunderung, wie mir schien.

»Du hast wirklich sehr schöne Augen, Nica«, sagte sie nach einer Weile abrupt. »Weißt du das?«

Meine Wangen glühten vor Verlegenheit, und für den Moment war ich sprachlos.

»Das hast du sicher schon oft gehört«, fügte sie ein wenig neckend hinzu, doch Fakt war, dass mir am Grave noch nie jemand etwas Ähnliches gesagt hatte.

Die kleineren Kinder fragten mich manchmal in aller Unschuld, ob ich überhaupt Farben sehen könnte wie alle anderen. Sie sagten, ich hätte Augen so wie der Himmel, wenn er weint, denn sie waren von einem überraschend hellen, ungewöhnlichen Grau. Ich wusste, dass sehr viele sie als seltsam empfanden, aber noch nie hatte mir jemand gesagt, dass sie schön seien.

Bei diesem Kompliment fingen meine Hände kaum wahrnehmbar zu zittern an.

»Ich … nein … aber danke«, stammelte ich unbeholfen, was die Frau zum Lächeln brachte. Verstohlen zwickte ich mich in den Handrücken, und dieser kleine Schmerz machte mich unendlich froh.

Es geschah alles wirklich.

Diese Frau gab es wirklich.

Eine Familie, für mich … Ein neues Leben, das ich dort draußen, außerhalb vom Grave beginnen konnte …

Ich hatte geglaubt, dass ich noch sehr lange Zeit hinter diesen Mauern eingesperrt sein würde. Zwei Jahre noch, bis zur Vollendung meines neunzehnten Lebensjahres – denn das war der Zeitpunkt, an dem man im Staat Alabama vor dem Gesetz volljährig wurde.

Aber jetzt war alles anders, jetzt musste ich nicht mehr warten, bis ich volljährig war. Nein, meine Gebete, dass jemand kommen und mich mitnehmen möge, waren erhört worden.

»Was ist das?«, fragte Mrs Milligan plötzlich.

Sie hatte lauschend den Kopf gehoben und sah sich suchend um.

In dem Moment hörte ich sie auch. Eine Melodie. Durch die Risse im abblätternden Verputz drangen wunderschöne Töne aus dem Haus.

Eine Engelsmusik erfüllte die Mauern des Grave, so verführerisch wie Sirenengesang, und ich spürte, wie sich alle Nerven unter meiner Haut zusammenzogen.

Fasziniert folgte Mrs Milligan den Klängen, und mir blieb nichts anderes übrig, als ihr nachzugehen. An dem bogenförmigen Eingang zu unserem Aufenthaltsraum blieb sie stehen und starrte gebannt auf den Ursprung dieser unsichtbaren Zauberklänge: das alte Klavier, das, reichlich in die Jahre gekommen und ein wenig verstimmt, trotz allem noch singen konnte. Noch mehr jedoch auf diese Hände … diese bleichen, kräftigen Hände, die die Tasten auf- und abglitten.

»Wer ist das …?«, hauchte Mrs Milligan nach einer Weile. »Wer ist dieser Junge?«

Ich vergrub meine Finger in den Falten meines Kleides, zögerte ein wenig. Dann hörte er auf zu spielen. Seine Arme senkten sich in seinen Schoß, und seine erstarrte Silhouette mit den geraden Schultern zeichnete sich vor der Wand ab.

Und dann – ohne Eile, als ob er es vorhergesehen, als ob er es schon gewusst hätte –, drehte er sich um.

Dichtes Haar, schwarz wie Rabenflügel, schwang nach hinten. Und jetzt sah man sein Gesicht, bleich, mit markantem Kinn und zwei schmalen Augen, Augen dunkler als Kohle.

Da war sie, diese tödliche Anziehungskraft. Die verführerische Schönheit der blassen Lippen und der fein geschnittenen Züge ließ Mrs Milligan neben mir verstummen.

Er starrte uns über die Schulter an, einzelne Haarsträhnen umrahmten die hohen Wangenknochen und die strahlenden Augen. Und für einen Wimpernschlag war ich mir sicher, dass er lächelte.

»Das ist Rigel.«

 

Mehr als alles andere hatte ich mir immer eine Familie gewünscht. Ich hatte gebetet, dass da draußen jemand existierte, der bereit war, mich mitzunehmen und mir die Chance zu geben, die ich nie gehabt hatte. Dass dieser Traum jetzt in Erfüllung ging, war zu schön, um wahr zu sein. Ich konnte es noch gar nicht begreifen. Vielleicht wollte ich das auch gar nicht.

»Und, alles gut?«, fragte mich Mrs Milligan, die neben mir auf der Rückbank des Wagens saß.

»Ja …«, brachte ich gerade so heraus und zwang mich zu einem Lächeln. »Alles … bestens.«

Ich knetete nervös meine Hände im Schoß, aber das bekam sie nicht mit. Sie drehte sich wieder um und zeigte mir hin und wieder etwas draußen vor dem Fenster, wo die Landschaft an uns vorüberzog.

Doch ich hörte kaum etwas von dem, was sie sagte.

Langsam richtete ich meinen Blick auf das, was sich im vorderen Seitenfenster spiegelte. Neben dem Fahrersitz, auf dem Mr Milligan saß, ragte ein Schopf rabenschwarzer Haare über die Kopfstütze.

Er starrte ohne sonderliches Interesse nach draußen, hatte den Ellbogen an der Tür abgestützt und lehnte den Kopf gegen die zur Faust geballte Hand.

»Dort hinten ist der Fluss«, erklärte Mrs Milligan und zeigte auf einen Punkt in der Ferne, aber Rigels schwarze Augen unter den dichten Brauen folgten ihr nicht. Sie blickten ziellos nach draußen.

Dann, als ob er meinen Blick gespürt hätte, fanden seine Pupillen meine. Unsere Blicke trafen sich im Spiegelbild der Glasscheibe, und ich senkte schnell den Kopf. Ich konzentrierte mich wieder auf Annas Erklärungen, nickte lächelnd dazu, aber ich spürte, wie dieser Blick sich durch die Luft im Fahrzeuginneren fräste und mich nicht mehr losließ.

Nach einigen Stunden verlangsamte der Wagen seine Fahrt und bog in ein Wohnviertel voller Schatten spendender Bäume ein.

Das Heim der Milligans war ein Backsteinhaus wie viele andere. Es war von einem weißen Zaun umgeben, am Tor hing ein Briefkasten, und zwischen Gardenien steckte ein Windrädchen.

Ich entdeckte einen Aprikosenbaum in dem kleinen Garten hinter dem Haus und reckte den Hals, um ihn besser sehen zu können.

»Ist das zu schwer für dich?«, fragte Mr Milligan, als ich den Karton mit meinen wenigen Habseligkeiten hochhob. »Braucht ihr Hilfe?«

Ich freute mich über seine Freundlichkeit, schüttelte aber den Kopf und folgte ihm.

»Kommt mit, hier geht’s lang. Oh, der Weg ist ein wenig uneben … Vorsicht hier bei dieser Platte, die steht ein wenig hoch. Habt ihr vielleicht Hunger? Wollt ihr etwas essen?«

»Lass sie doch erst mal ankommen«, ermahnte ihn Anna gut gelaunt, und er schob sich die Brille auf der Nase hoch.

»Ach so, na klar … Ihr seid bestimmt müde, oder? Kommt mit …« Er öffnete die Haustür.

Ich betrachtete die Fußmatte auf der Schwelle mit der Aufschrift »Home«, und für einen kurzen Moment klopfte mein Herz wie verrückt.

Anna neigte sanft das Gesicht. »Komm doch rein, Nica.«

Ich machte einen großen Schritt vorwärts und stand in einem schmalen Eingangsbereich.

Als Erstes fiel mir der Geruch auf. Das war nicht der muffige Geruch aus den Schlafsälen im Grave, auch nicht der nach feuchtem Putz von den rissigen Zimmerdecken. Es war ein ganz besonderer Geruch, irgendwie sehr persönlich.

Etwas ganz Eigenes lag darin, und da wurde mir klar, dass von Anna derselbe Geruch ausging.

Aufgeregt musterte ich das Innere des Hauses. Die ein wenig vergilbte Tapete, die Bilder, die hier und da die Wände schmückten, das Häkeldeckchen auf dem Tisch im Flur neben der Schale für die Schlüssel. Dieses Haus wirkte so bewohnt, dass ich einen Moment auf der Schwelle verharrte und mich keinen Schritt weiterbewegen konnte.

»Es ist nicht gerade ein Palast«, sagte Mr Milligan verlegen und kratzte sich am Kopf.

Oh mein Gott, es war … perfekt.

»Die Schlafzimmer sind oben.« Anna stieg die schmale Treppe hoch, und ich nutzte die Gelegenheit, um einen verstohlenen Blick auf Rigel zu werfen.

Er trug seinen Karton vor sich auf einem Arm, und seine Augen wanderten hin und her, ohne etwas von seinen Gefühlen erkennen zu lassen.

»Klaus?«, rief Mr Milligan und sah sich suchend um. »Wo hat er sich bloß versteckt?« Wir hörten, wie er irgendwo im Haus verschwand, während wir drei nach oben gingen.

»Das hier war mal ein zweites kleines Wohnzimmer«, erklärte Anna, als sie die Tür zu dem Raum öffnete, der für mich bestimmt war. »Dann wurde daraus das Gästezimmer. Also falls mal jemand übernachten wollte, ein Freund von …« Sie hielt kurz inne und kniff mehrmals die Augen zusammen, bis sie ihr Lächeln wiederfand. »Egal … Wie auch immer, das ist nun deins. Gefällt es dir? Falls du etwas ändern möchtest, Möbel verschieben, keine Ahnung …«

»Nein …«, flüsterte ich, während ich noch im Türrahmen zu diesem Zimmer stand, das ich endlich mein Zimmer nennen durfte.

Nie mehr Schlafsäle, die ich mir mit anderen teilen musste. Oder schwere Rollläden, die das Licht bei Tagesanbruch zerteilten; nie mehr der eiskalte, staubige Fußboden oder diese mausgrauen Wände.

Es war ein nettes kleines Zimmer mit einem schönen Parkettboden und einem hohen Spiegel in einem Schmiedeeisenrahmen hinten in der Ecke. Der Wind, der zum Fenster hereinwehte, bauschte leicht die Leinenvorhänge, und blendend weiße Laken blitzten unter der zinnoberroten Tagesdecke des Bettes hervor. Nachdem ich das Zimmer schließlich betreten hatte, konnte ich nicht anders, ich musste einfach sofort über eine der weißen Ecken streichen, den Karton noch im Arm. Als ich mich davon überzeugt hatte, dass Mrs Milligan auch wirklich den Raum verlassen hatte, bückte ich mich und schnupperte daran: Der Duft nach frischer Wäsche stieg mir in die Nase, ich schloss die Augen und sog ihn tief in mich ein.

Wie gut das tat …

Ich sah mich um und konnte es nicht fassen, dass ich nun so viel Raum für mich allein haben sollte. Vorsichtig stellte ich den Karton auf den Nachttisch, öffnete ihn und durchsuchte ihn nach etwas Bestimmtem. Schließlich fand ich die kleine, abgewetzte Stoffraupe – die einzige Erinnerung, die mir von meinen Eltern geblieben war – und setzte sie mitten auf das Kopfkissen.

Selig betrachtete ich dieses Kissen.

Meins …

Dann nutzte ich die verbliebene Zeit und räumte die wenigen Dinge ein, die ich besaß. Nacheinander hängte ich meine T-Shirts auf die Bügel, ebenso meinen dicken verfilzten Pulli und die Hosen; ich kontrollierte meine Socken und schob die mit den meisten Löchern ganz nach hinten in die Schublade, in der Hoffnung, dass man ihren Zustand so nicht bemerken würde.

Als ich schließlich die Treppe hinunterging, nicht ohne von der Schwelle noch einmal einen letzten Blick in mein Zimmer zu werfen, fragte ich mich mit banger Vorfreude, ob dieser Geruch, der hier überall in der Luft lag, demnächst auch mich umgeben würde.

 

»Seid ihr sicher, dass ihr nichts essen wollt?«, fragte Anna später. »Vielleicht etwas Kleines …«

Ich lehnte dankend ab. Auf der Herfahrt hatten wir bei einem Schnellrestaurant gehalten, und ich war immer noch satt.

Sie schien jedoch nicht sehr überzeugt, denn sie musterte mich noch einen Moment, bevor sie den Blick hinter mich richtete. »Und du, Rigel?«, fragte sie.

Doch auch er schlug ihr Angebot aus.

»Okay …«, gab sie sich geschlagen. »Für alle Fälle sind noch Kekse da, und im Kühlschrank ist Milch. Wenn ihr jetzt schlafen gehen wollt … Ach so, unser Schlafzimmer ist das am Ende des Flurs. Falls was sein sollte …«

Sie war besorgt um uns.

Sie ist besorgt, wurde mir schlagartig klar, und mein Herz hüpfte vor Freude. Sie macht sich Sorgen, ob ich etwas esse, ob ich nichts esse, ob mir etwas fehlt.

Es interessierte sie wirklich, es ging nicht darum, die gelegentlichen Kontrollen des Jugendamts zu bestehen, wie bei Mrs Fridge, wenn wir uns sauber und wohlgenährt vor den Inspektoren präsentieren mussten.

Nein, ich war ihr wirklich wichtig …

Während ich wieder nach oben ging und dabei mit den Fingern leicht über das Geländer strich, überlegte ich, ob ich mitten in der Nacht in die Küche schleichen und dort ein paar Kekse knabbern sollte, so wie ich es im Fernsehen gesehen hatte, in den Filmen, die wir durch den Türschlitz heimlich guckten, wenn Mrs Fridge auf ihrem Sessel eingeschlafen war.

Als ich vor meiner Tür stand, ließ mich das Geräusch von Schritten herumfahren.

Rigel erschien auf der Treppe. Ohne mich zu beachten, ging er in Richtung seines Zimmers.

Was mir in Erinnerung rief, dass es in diesem wunderschönen Stickbild, das ich mir geschaffen hatte, auch noch ihn gab. Dass diese neue Wirklichkeit, so schön und lang ersehnt sie auch war, nicht nur aus Zuckerguss, Wärme und Wundern bestand. Nein: Ganz hinten gab es einen schwarzen Fleck, eine Art Brandmal, wie von einer Zigarette.

»Rigel.«

Ich hatte seinen Namen scharf geflüstert, er war mir einfach so herausgerutscht.

Rigel blieb mitten im leeren Flur stehen, und ich zögerte, denn ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte.

»Jetzt … jetzt, wo wir …«

»Jetzt, wo wir … was?«, fragte er auf seine leise, durchdringende Art, so dass ich ein wenig zurückwich.

»Jetzt, wo wir beide hier sind«, fuhr ich fort, »da möchte ich … dass es funktioniert.«

Dass all das hier funktionierte, auch wenn er ein Teil davon war und ich nichts dagegen tun konnte. Auch wenn er dieser Brandfleck war und ich inständig darum betete, dass er die feine Stickerei nicht ruinieren würde … Und ich mir mit aller Kraft wünschte, dass dieser spitzengerahmte Traum sich nicht in Luft auflösen würde.

Einen kurzen Moment blieb Rigel noch wie erstarrt stehen, dann ging er wortlos weiter. Als er bei der Tür zu seinem Zimmer angekommen war, merkte ich, wie meine Schultern weiter nach unten sackten.

»Rigel …«

»Betritt niemals mein Zimmer«, warf er mir hin. »Jetzt nicht und auch nicht irgendwann später.«

Besorgt sah ich zu ihm hinüber, während meine Bitte um gute Vorsätze langsam in sich zusammenfiel.

»Ist das eine Drohung?«, fragte ich leise, während er die Klinke drückte.

Ich sah, wie er die Tür öffnete, um einzutreten, aber im letzten Moment hielt er inne. Er drehte mir den Kopf zu, starrte mich über die Schulter hinweg an. Und ehe die Tür sich hinter ihm schloss, sah ich dieses gefährlich schmale Lächeln über dem markanten Kinn.

Dieses spöttische Grinsen war mein Fluch.

»Das ist ein guter Rat, Nachtfalter.«

2Das verlorene Märchen

Manchmal ist das Schicksal

ein Weg, den man nicht als solchen erkennt.

Der eigentliche Name meines Waisenhauses war Sunnycreek Home. Es erhob sich am Ende einer kaputten Sackgasse an der vergessenen Peripherie einer Kleinstadt im Süden unseres Staates. Es nahm vom Schicksal gebeutelte Kinder auf, solche wie mich, aber ich hatte nie gehört, dass irgendjemand seinen richtigen Namen benutzte.

Alle nannten es einfach Grave, Grab, und ich habe nicht lange gebraucht, um zu begreifen, warum: Das Schicksal von jedem, der dort landete, schien dazu verdammt, genauso kaputt und ausweglos zu sein wie diese Sackgasse.

Es fühlte sich an wie in einem Gefängnis.

Im Laufe der Jahre hatte ich mir jeden Tag gewünscht, dass jemand kommen und mich mitnehmen würde. Dass irgendjemand mir in die Augen sehen und mich aussuchen würde, ja, genau mich unter all den Kindern, die es dort gab. Dass er mich genau so haben wollte, wie ich war, auch wenn ich nichts Besonderes war. Aber niemand hatte mich je ausgewählt. Niemand hatte mich je gewollt oder auch nur bemerkt … Ich war immer unsichtbar gewesen.

Anders als Rigel.

Er hatte seine Eltern nicht verloren wie die meisten von uns hier. Kein Unglück hatte seine Familie getroffen, als er noch klein war.

Man hatte ihn vor dem Tor des Heims in einem Weidenkorb gefunden, ohne eine Nachricht und ohne einen Namen, ausgesetzt in einer Nacht, in der nur die Sterne Zeugen waren, große schlafende Riesen. Er war damals nicht älter als eine Woche gewesen.

Man hatte ihn Rigel genannt, nach dem hellsten Stern im Sternbild Orion, das in dieser Nacht am Himmel leuchtete wie ein Spinnennetz aus Diamanten in einem Bett aus schwarzem Samt. Und mit dem Nachnamen Wilde hatte man die Lücke in seinen persönlichen Daten geschlossen.

Für uns alle war es, als wäre er in jener Nacht auf die Welt gekommen. Sogar sein Aussehen schien das zu bestätigen, denn seine Haut war so bleich wie der Mond und seine Augen schwarz und selbstsicher wie bei jemandem, der im Dunkeln noch nie Angst empfunden hat.

Schon als kleiner Junge war er der Augapfel des gesamten Grave gewesen.

»Sternenjunge« hatte ihn die Heimleiterin vor Mrs Fridge genannt; sie liebte ihn so sehr, dass sie ihm Klavierunterricht gab. Sie verbrachte viele Stunden mit ihm und zeigte dabei eine Geduld, die sie uns gegenüber niemals gehabt hatte; Note für Note machte sie ihn zu dem Wunderkind, das aus den grauen Mauern des Heims hervorstach. Vor dem Abendessen steckte sie ihm heimlich Bonbons zu.

Rigel war mustergültig und brav, hatte perfekte Zähne und beste Noten. Er war das Kind, das sich jeder gewünscht hätte.

Aber ich wusste, dass er anders war. Ich hatte gelernt, unter die Oberfläche zu sehen, hinter das Lächeln mit den weißen Zähnen, hinter diese Maske der Perfektion, die er für alle anderen aufsetzte. Er, der die Nacht in sich trug, verbarg in den Tiefen seiner Seele die Dunkelheit, der man ihn entrissen hatte.

Rigel hatte sich mir gegenüber immer seltsam verhalten. Auf eine Art und Weise, die ich mir nie erklären konnte. Als hätte ich etwas getan, womit ich so eine Behandlung verdiente oder dieses Schweigen, mit dem er mich aus der Ferne beobachtete.

Alles hatte an einem Tag wie jedem anderen begonnen, ich erinnere mich nicht einmal genau, wann das war. Er war an mir vorbeigelaufen, und seinetwegen war ich hingefallen und hatte mir die Knie aufgeschlagen. Ich hatte die Knie an die Brust gezogen und das Gras von den Wunden abgezupft, aber als ich aufschaute, hatte ich keinerlei Anzeichen von Bedauern in seinem Gesicht entdecken können. Er war einfach stehen geblieben, seine Augen fest auf meine gerichtet.

So machte Rigel es immer: Er zog mich an den Haaren, packte mich an meinem Pulli, löste die Schleifen an meinen Zöpfen, so dass die Bänder zu seinen Füßen hinabsanken wie tote Schmetterlinge, und unter meinen tränenfeuchten Lidern sah ich, wie ein grausames Lächeln sich auf seinen Lippen Bahn brach, ehe er von mir abließ.

Und doch fasste er mich nie an.

In all den Jahren hatte er noch nie meine Haut berührt. Nur den Saum meiner Kleider, den Stoff, die Haare … Er schubste mich herum und zerrte an mir, bis meine Ärmelbündchen ausgeleiert waren, aber nie blieb danach ein Zeichen auf meiner Haut zurück, als wollte er keine Beweise seiner Schuld hinterlassen. Vielleicht mochte er ja auch einfach meine Sommersprossen nicht. Oder vielleicht verachtete er mich so sehr, dass er mich nicht anfassen wollte.

Rigel verbrachte viel Zeit allein und suchte nur selten die Gesellschaft der anderen Kinder. Aber ich erinnere mich an einmal, da waren wir etwa fünfzehn … Ein Neuer war ins Grave gekommen, ein blonder Junge, der nach ein paar Wochen in eine Pflegefamilie wechseln sollte. Er hatte sich fast sofort mit Rigel zusammengetan, und der andere war noch schlimmer als er, falls das überhaupt möglich war. Sie lungerten zusammen vor den alten Mauern des Heims herum, Rigel mit verschränkten Armen und schiefem Mund … und Augen, in denen dunkle Freude funkelte. Ich habe sie niemals miteinander streiten gesehen.

Eines Tages erschien dieser Junge allerdings mit einem blauen Auge und einer geschwollenen Wange zum Abendessen. Mrs Fridge hatte ihn misstrauisch gemustert und dann angeschrien, was zum Teufel da passiert sei.

»Nichts«, hatte er gemurmelt, ohne von seinem Teller aufzuschauen. »Ich bin nur in der Schule hingefallen!«

Aber es war nicht »Nichts« gewesen, das hatte ich gespürt. Und als ich hochschaute, hatte ich beobachtet, wie Rigel den Kopf senkte, um sein Gesicht vor den anderen zu verbergen. Er hatte gelächelt, und dieser Mund, der sich zu einem schmallippigen Grinsen verzog, war wie ein Sprung in seiner perfekten Maske gewesen.

Je älter er wurde … desto mehr zeigte sich seine Schönheit, auch wenn ich das niemals hätte zugeben wollen. Doch es war nichts Zartes, Weiches oder Freundliches an ihr. Nein …

Rigel zog die Blicke auf sich, erregte Aufmerksamkeit wie das Rippengerüst eines brennenden Hauses oder ein Autowrack am Straßenrand nach einem Unfall. Er war grausam schön, und je mehr man sich bemühte, nicht dem Bann seines einnehmenden Charmes zu erliegen, desto mehr verfing man sich darin. Er ging einem unter die Haut, brannte sich bis ins Fleisch ein.

So war er: bösartig, unnahbar, hinterhältig.

Ein Albtraum aus den geheimsten Winkeln deiner Seele.

 

Als ich am Morgen aufwachte, fühlte ich mich wie im Märchen. Saubere Laken, es roch angenehm, und die Matratze unter mir war nicht so durchgelegen, dass man die Federn spürte. Ich wusste nicht, was ich mir mehr hätte wünschen können.

Mit noch leicht vom Schlaf verklebten Augen setzte ich mich auf. Dass ich jetzt ein Zimmer nur für mich allein hatte, machte mich einfach nur glücklich.

Im nächsten Moment zog allerdings eine dunkle Wolke über meinem Glück auf, denn ich erinnerte mich wieder, dass ich in dieser Geschichte nur eine Hälfte war. Dass es da einen schwarzen Fleck gab, ein Brandmal, und dass ich keine Möglichkeit hatte, es loszuwerden …

Ich schüttelte den Kopf und presste mir die Fäuste gegen die Lider, bis meine Augen schmerzten, um diese Gedanken in mir auszulöschen. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich wollte niemandem erlauben, mir das kaputtzumachen, nicht einmal ihm.

Ich wusste genau, wie das lief, deshalb konnte ich mir nicht vormachen, bereits ein endgültiges Zuhause gefunden zu haben.

Alle schienen zu glauben, dass eine Adoption folgendermaßen ablief: Man traf sich, und wenn alles passte, kam man schon ein paar Stunden später zu einer neuen Familie nach Hause und – zack! – gehörte man von nun an dazu.

Aber so funktionierte das nicht; so lief es nur bei Hundewelpen. Eine Adoption war sehr viel komplizierter, ein langwieriger Prozess. Zunächst verbrachte man eine längere Zeit bei der neuen Familie, um festzustellen, ob das Zusammenleben klappte und sich alle gut verstanden. Das nannte man »Eingewöhnungsphase«. Während dieser Phase stellten sich häufig Unverträglichkeiten und andere Probleme heraus, die den Familienfrieden störten. Die Entscheidung, ob die zukünftigen Eltern den nächsten Schritt gehen wollten, fiel also in diesen Wochen. Sie waren extrem wichtig … Nur wenn alles glattlief und es keine Probleme gab, kam es zur Adoption.

Deshalb konnte ich mich noch nicht endgültig als Teil dieser Familie bezeichnen. Ich befand mich zum ersten Mal in einem wunderschönen, aber sehr fragilen Märchen, das mir unter den Händen zersplittern konnte wie Glas.

Ich werde brav sein, gelobte ich mir erneut. Ich werde brav sein, und alles wird gut. Ich hätte alles Menschenmögliche unternommen, damit es klappte. Wirklich alles …

Und so ging ich nach unten, fest entschlossen, mir diese Chance von niemandem kaputtmachen zu lassen.

Das Haus war nicht allzu groß und die Küche nicht schwer zu finden, doch als ich hörte, dass von dort Stimmen kamen, verlangsamte ich meine Schritte.

An der Tür angekommen, verschlug es mir die Sprache.

Dort am Esstisch saßen die beiden Milligans, noch im Schlafanzug und mit nackten Füßen in den Pantoffeln. Anna lachte, die Finger locker um ihre dampfende Tasse gelegt, und Mr Milligan schüttete mit einem etwas verschlafenen Lächeln Müsli in ein Keramikschälchen.

Und zwischen ihnen saß Rigel.

Ich musste mehrfach blinzeln, um zu begreifen, dass ich mir das alles nicht einbildete. Er erzählte gerade etwas, seine Schultern waren entspannt nach vorne gesunken, und zerzauste Strähnen umrahmten sein Gesicht.

Die Milligans betrachteten ihn mit strahlenden Augen, und plötzlich lachten sie gleichzeitig, als er etwas Bestimmtes sagte. Ihr heiteres Gelächter klang in meinen Ohren völlig fremd, es war, als würde ich mich in einer Parallelwelt befinden.

»Nica, da bist du ja«, unterbrach sich Anna. »Guten Morgen!«

Ich zuckte kurz mit den Schultern; alle Augen waren auf mich gerichtet, und irgendwie kam ich mir wie ein Störfaktor vor. Auch wenn ich gerade erst angekommen war und die Milligans kaum kannte. Auch wenn dort in ihrer Mitte ich hätte sitzen müssen und nicht er.

Rigels schwarze Augen richteten sich blitzschnell auf mich, und für einen kurzen Moment meinte ich zu sehen, wie sein Mundwinkel sich grausam verzog. Er legte den Kopf zur Seite und lächelte mich engelsgleich an.

»Guten Morgen, Nica.«

Beißende Kälte legte sich auf meine Haut. Ich war wie erstarrt, eisige Verlorenheit packte mich, und ich bekam kein Wort heraus.

»Hast du gut geschlafen?« Mr Milligan schob den Stuhl für mich zurecht. »Setz dich zu uns – Frühstück!«

»Wir waren gerade dabei, uns ein wenig kennenzulernen«, sagte Mrs Milligan, und ich richtete meine Augen wieder auf Rigel, der mich immer noch beobachtete und so mitten zwischen den beiden Milligans ein perfektes Bild abgab.

Ein wenig zögernd setzte ich mich, während Mr Milligan Rigels Glas auffüllte und dieser ihn dafür dankend anlächelte, völlig entspannt. Ich fühlte mich, als hätte ich mich in einen Dornenhaufen gesetzt.

Ich werde brav sein. Ich starrte die beiden Milligans an, wie sie da vor mir saßen und sich miteinander unterhielten, und der Schriftzug Ich werde brav sein blinkte feuerrot warnend in meinem Kopf auf. Ich werde brav sein, ich verspreche es …

»Na, wie fühlst du dich vor deinem ersten Tag an der neuen Schule, Nica?«, fragte Anna. »Bist du aufgeregt?«

Ich wollte meine Ängste in die hinterste Ecke verbannen, doch ich spürte, wie sie sich dagegen wehrten.

»Äh … nein«, sagte ich und versuchte, entspannt zu klingen. »Ich hab keine Angst … Ich bin immer gern zur Schule gegangen.«

Was durchaus stimmte.

Schule war einer der ganz wenigen Gründe, aus denen wir das Grave verlassen durften. Wir gingen zu Fuß zur Highschool, und ich hielt die Augen immer hoch zum Himmel gerichtet, denn so konnte ich mir einbilden, wie die anderen Kinder zu sein. Insgeheim träumte ich davon, in ein Flugzeug zu steigen und in ferne und freie Welten zu fliegen.

Das waren die seltenen Momente, in denen ich mich fast wie ein ganz normales Mädchen fühlte.

»Ich habe schon im Sekretariat angerufen«, informierte uns Anna. »Die Rektorin wird euch dort gleich in Empfang nehmen. Die Schule hat eure Anmeldung akzeptiert, und man hat mir versichert, dass ihr ab sofort den Unterricht besuchen könnt. Ich weiß, dass das alles etwas hoppla hopp geht, aber … ich hoffe, dass es für euch in Ordnung ist.« Und dann fügte sie noch hinzu: »Wenn ihr wollt, könnt ihr auch beantragen, in dieselbe Klasse zu kommen.«

Sie sah uns zuversichtlich an, und ich zwang mich, mein Unbehagen zu verbergen. »Oh. Ja … Danke.«

Aber ich bemerkte, dass Rigel mich beobachtete: Seine Augen blickten stechend und unergründlich unter den schwungvollen Brauen hervor, mir direkt ins Gesicht.

Rasch sah ich weg, als ob ich mich verbrannt hätte. Ich hatte nur den einen Wunsch: fortzulaufen, weit weg. Unter dem Vorwand, ich müsse mich jetzt fertig machen, stand ich vom Tisch auf und verließ hastig die Küche.

Während ich, so schnell ich konnte, Wände und Mauern zwischen Rigel und mich brachte, verfolgte sein Blick mich in meinen Gedanken.

»Ich werde brav sein«, wiederholte ich krampfhaft wie ein Mantra, »ich werde brav sein … ich verspreche es …« Von allen Menschen auf der Welt war er der letzte, den ich in meiner Nähe gewollt hätte.

Würde ich es jemals schaffen, ihn zu ignorieren?

 

Die neue Schule war ein graues, kastenförmiges Gebäude.

Mr Milligan hielt an, und ein paar Kinder rannten direkt vor der Motorhaube vorüber, um pünktlich zum Unterricht zu kommen. Er rückte seine dicke Brille auf der Nase zurecht und legte die Hände unbeholfen ums Lenkrad, als wüsste er nicht, wohin damit. Ich stellte fest, dass ich gern in seinem Gesicht las. Er war so gutmütig und gleichzeitig ein wenig tollpatschig, und wahrscheinlich konnte ich mich deshalb so gut in ihn hineinversetzen.

»Anna wird euch später abholen.«

Trotz allem ging mir wieder das Herz auf bei dem Gedanken, dass es da draußen wirklich jemanden gab, der mich nach Hause bringen würde. Ich nickte vom Rücksitz aus und hielt meinen abgenutzten Rucksack fest umklammert.

»Danke, Mr Milligan.«

»Ach, du kannst … also, ihr könnt mich Norman nennen«, stammelte er mit leicht geröteten Ohren, während wir ausstiegen. Ich sah dem Wagen hinterher, wie er am Ende der Straße verschwand, bis ich Schritte hinter mir hörte.

Ich drehte mich um. Rigel war bereits losgelaufen – allein.

Meine Augen folgten seiner schlanken Gestalt, den fließenden Bewegungen und der lockeren, selbstsicheren Haltung seiner breiten Schultern. Wenn er lief, schien es, als würde sich der Boden seinen Schuhen anpassen und nicht umgekehrt. Diese Natürlichkeit hatte schon immer eine hypnotische Wirkung auf mich ausgeübt.

Ich folgte ihm durch den Eingang, aber dabei verfing sich mein Schultergurt im Türgriff: Erschrocken prallte ich gegen jemanden, der genau in diesem Moment nach mir durch die Tür wollte.

»Verdammt, was …«, hörte ich, noch während ich mich umdrehte. Ein Junge stand hinter mir. Er war verärgert und versuchte zu verhindern, dass ihm ein Bücherstapel aus dem Arm rutschte.

»Tut mir leid«, sagte ich beinahe unhörbar, und ein anderer Junge hinter ihm schlug ihn leicht auf die Schulter.

Ich schob mir die Haare aus dem Gesicht, aber als sich unsere Blicke begegneten, schien er mich plötzlich mit anderen Augen zu sehen. Die Verärgerung wich aus seiner Miene, und er blieb stehen, als hätte ihn mein Blick auf der Stelle festgenagelt.

Im nächsten Moment fielen ihm die Bücher herunter.

Er starrte auf den Boden, wo sie sich übereinandertürmten, und als er sich nicht bückte, um sie aufzusammeln, ging ich in die Hocke und tat es für ihn.

Mit schlechtem Gewissen, weil ich ihn angerempelt hatte, reichte ich sie ihm. Dabei bemerkte ich, dass er mich wohl die ganze Zeit über angestarrt hatte.

»Danke …«, sagte er, und nun breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus, während sein Blick mich von oben bis unten streifte, auf eine Art, die mich erröten ließ. Was er anscheinend amüsant fand oder vielleicht sogar süß.

»Bist du neu hier?«, fragte er.

»Los, komm schon, Rob«, drängte ihn sein Freund. »Wir sind verdammt spät dran.«

Aber Rob schien nicht gehen zu wollen, und ich spürte ein stechendes Gefühl im Nacken, als ob sich von hinten eine Nadel dort hinein geschoben hätte. Ich versuchte, dieses Gefühl abzuschütteln; wich einen Schritt zurück und stammelte mit gesenktem Kopf: »Ich … muss los.«

Ich lief zum Sekretariat und sah, dass die Tür offen stand. Hoffentlich hatte die Sekretärin nicht auf mich warten müssen. Erst als ich schon im Raum war, bemerkte ich, wer dort neben der Tür auf mich wartete.

Rigel lehnte mit verschränkten Armen an der Wand. Ein Bein hatte er hochgezogen, so dass er mit der Fußsohle die Mauer berührte, und sein Kopf war leicht gesenkt. Er starrte zu Boden.

Er war schon immer wesentlich größer als die anderen Jungs gewesen und deutlich Respekt einflößender, aber das war nicht der einzige Grund, warum ich sofort einen Schritt zurückwich. Alles an ihm schüchterte mich ein, sein Äußeres genauso wie das, was sich dahinter verbarg.

Warum lauerte er dort neben der Tür, wo es doch auf der anderen Seite des Vorzimmers Stühle gab?

»Die Rektorin hat nun Zeit für euch.«

Die Sekretärin, die aus dem Rektoratszimmer kam, riss mich aus meinen Gedanken.

»Kommt mit!«

Rigel löste sich von der Wand und ging an mir vorbei, ohne mich anzusehen. Wir betraten das Zimmer, und die Tür schloss sich hinter uns. Die Rektorin, eine junge, ernste Frau, war hübsch. Sie forderte uns auf, auf den Stühlen vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Dann stellte sie uns einige Fragen zum Lehrplan an unserer alten Schule, und als sie zu Rigels Akte kam, schien sie sich sehr für das zu interessieren, was dort stand.

»Ich habe in eurem Heim angerufen«, begann sie, »weil ich wissen wollte, wie eure schulischen Leistungen sind … Ich bin angenehm überrascht von Ihnen, Mr Wilde«, sagte sie lächelnd und blätterte weiter. »Sehr gute Leistungen, einwandfreies Betragen, keine Note fällt aus dem Rahmen. Ein richtiger Musterschüler. Ihre Lehrer haben nur lobende Worte für Sie.« Sie strahlte ihn an. »Wir freuen uns sehr, Sie hier bei uns auf der Burnaby High zu haben.«

Ich überlegte, ob man ihr irgendwie begreiflich machen könnte, dass diese »lobenden Worte« nicht der Wahrheit entsprachen, weil die Lehrer nie unter die Oberfläche sahen, genau wie alle anderen. Wie gern hätte ich die Kraft aufgebracht, sie darauf hinzuweisen.

Aber Rigel lächelte sein hinreißendes Rigel-Lächeln, und ich fragte mich, warum niemandem außer mir auffiel, dass die Wärme seines Lächelns niemals seine Augen erreichte, die stets dunkel und undurchdringlich blieben.

»Die beiden Schülersprecher draußen werden euch in eure Klassen bringen«, sagte die Rektorin. »Wenn ihr wollt, könnt ihr aber gern beantragen, dass ihr ab morgen in der gleichen Klasse unterrichtet werdet.«

Ich hatte gehofft, dass sie das nicht zur Sprache bringen würde. Gerade als ich mich noch vorne beugte, um etwas zu sagen, kam er mir zuvor.

»Nein.«

Überrascht blinzelte ich und drehte mich zu ihm um. Rigel hatte sein Lächeln aufgesetzt, und eine Haarsträhne hing über seiner dunklen Braue.

»Das ist nicht nötig.«

»Seid ihr sicher? Später könnt ihr nicht mehr wechseln.«

»Bestimmt. Wir werden auch so noch zu viel Zeit miteinander verbringen.«

»Gut, wenn das so ist …«, sagte die Rektorin, als sie sah, dass ich schwieg. »Ihr könnt nun in den Unterricht gehen. Folgt mir bitte!«

Ich riss die Augen von Rigel los, schnappte mir meinen Rucksack und folgte der Rektorin ins Vorzimmer.

»Zwei Schülerinnen aus eurer Jahrgangsstufe warten hier vor der Tür auf euch. Ich wünsche euch einen schönen Tag.«

Sie ging wieder in ihr Büro, und ich durchquerte das Vorzimmer, ohne mich umzusehen. Ich musste unbedingt Abstand zu ihm schaffen. Doch im letzten Moment gewann ein anderer Impuls die Oberhand. Ich drehte mich um und stellte mich Rigel in den Weg.

»Was sollte das eben?«

Ich biss mir auf die Lippe. Die Frage war natürlich sinnlos, und ich musste nicht erst sehen, dass er eine Augenbraue hob, um das zu begreifen. Aber ich traute ihm nicht über den Weg, und ich verstand nicht, warum er sich eine Gelegenheit entgehen ließ, mich zu quälen.

»Warum fragst du?« Rigel neigte den Kopf, und so wie er dort stand, reglos und majestätisch wie eine Statue, fühlte ich mich gleich noch kleiner. »Du hast doch nicht wirklich geglaubt … dass ich scharf darauf bin, den ganzen Tag mit dir zu verbringen?«

Ich presste die Lippen zusammen und bereute, dass ich überhaupt gefragt hatte. Sein Blick war so intensiv, dass mir fast schlecht wurde, und seine beißende Ironie brannte wie Feuer auf meiner Haut.

Ohne ihm zu antworten, packte ich den Türgriff, um das Vorzimmer zu verlassen. Doch etwas hinderte mich daran.

Eine Hand hatte plötzlich über meine Schulter hinweggegriffen und hielt die Tür zu.

»Halt dich fern von mir, Nachtfalter.«

Sein warmer Atem fuhr mir in die Haare und kitzelte mich. Ich versteifte mich.

»Hast du verstanden?«

Die Nähe seines angespannten Körpers zu spüren genügte, um mich vollends zu lähmen. Halt dich fern von mir, hatte er zu mir gesagt, aber er war doch derjenige, der mich an dieser Tür aufhielt, mir seinen Atem in den Nacken hauchte, mich nicht gehen ließ …

Schließlich ließ er los, öffnete die Tür und glitt an mir vorbei. Ich rührte mich nicht.

Wäre es nach mir gegangen …

Wäre es nach mir gegangen, dann hätte ich ihn für immer aus meinem Gedächtnis gelöscht. Und mit ihm das Grave, Mrs Fridge und den Schmerz, der mich durch meine gesamte Kindheit begleitet hatte. Ich hätte nie mit ihm in der gleichen Familie landen wollen. Das war das größte Unglück für mich. Es war, als wäre ich dazu verdammt, die Last meiner Vergangenheit auf ewig mit mir herumzutragen, ohne mich jemals davon befreien zu können.

Wie konnte ich ihm das bloß begreiflich machen?

»Hallo!«

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich das Sekretariat verlassen hatte. Als ich aufschaute, blickte ich in ein strahlend lächelndes Gesicht.

»Ich bin mit dir zusammen in einer Klasse. Willkommen an der Burnaby!«

Ich sah Rigel den Flur entlanggehen. Sein schwarzes Haar wippte im Takt seiner selbstsicheren Schritte hin und her, und das Mädchen, das ihn begleitete, schien kaum zu bemerken, wohin sie ihre Füße setzte: Wie verzaubert starrte sie ihn an, als ob sie der Neuankömmling wäre und nicht er. Dann verschwanden sie beide hinter einer Ecke.

»Ich bin Billie!«, stellte sich meine Begleiterin vor. Sie lächelte von einem Ohr zum anderen und streckte mir die Hand hin. »Und wie heißt du?«

»Nica Dover«, antwortete ich und drückte ihre Hand.

»Micah?«

»Nein. Nica«, wiederholte ich und betonte dabei das N. Sie legte einen Zeigefinger unter das Kinn.

»Ach natürlich, die Koseform von Nikita!«

Ich musste lächeln. »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Einfach nur Nica.«

Billies neugieriger Blick war mir überhaupt nicht unangenehm, ich fühlte mich ganz anders als vorhin mit dem Jungen beim Eingang. Ihr von honigblonden Locken umrahmtes Gesicht wirkte unschuldig, und ihre Augen strahlten so leidenschaftlich, als wollte sie die ganze Welt umarmen.

Als wir den Gang entlangliefen, bemerkte ich, dass sie immer wieder zu mir rüberguckte, aber erst nach einer Weile erkannte ich, warum: Auch sie schien fasziniert von der Farbe meiner Augen.

»Es sind deine Augen, Nica«, hatten die kleineren Kinder gesagt, wenn ich sie gefragt hatte, warum sie mich so verwirrt anstarrten. »Nica hat Augen in der Farbe vom Himmel, wenn er weint, die sind riesig und leuchten wie graue Diamanten.«

»Was hast du denn da mit deinen Händen gemacht?«, fragte sie.

Ich schaute nach unten auf meine mit Pflaster umwickelten Finger.

»Ach das«, stammelte ich und versteckte sie verlegen hinter dem Rücken, »das ist nichts …«

Sie lächelte und versuchte, das Thema zu wechseln, und wieder machten sich die Worte von Mrs Fridge in meinem Kopf breit.

»So kaue ich nicht an meinen Nägeln«, erklärte ich, und sie schien es zu glauben, denn sie hob stolz die Hände und zeigte mir ihre abgeknabberten Enden.

»Was ist so schlimm daran? Ich bin schon durch bis zum Knochen!« Dann drehte sie die Hand und betrachtete sie. »Meine Oma sagt, dass ich sie in Senf tauchen soll, dann würde ich es nicht mehr tun. Aber das habe ich nie ausprobiert. Allein die Vorstellung, einen Nachmittag mit den Fingern im Senftopf zu verbringen … strange, oder? Stell dir bloß vor, wenn dann der Paketbote klingelt …«

3Meinungsverschiedenheiten

Gesten folgen in ihrer Bewegung

genau wie Planeten

unsichtbaren Gesetzen.

Billie half mir, mich zurechtzufinden.

Die Schule war groß, und es gab unglaublich viele AGs zur Auswahl. Sie zeigte mir die Räume für die verschiedenen Kurse, begleitete mich von einer Unterrichtsstunde zur nächsten und stellte mich den Lehrerinnen und Lehrern vor. Ich versuchte, sie nicht zu sehr mit Fragen zu löchern, weil ich ihr nicht zur Last fallen wollte, aber sie meinte, dass es ihr Spaß mache, mir Gesellschaft zu leisten. Mir zog sich das Herz zusammen vor Freude. Billie war freundlich und hilfsbereit, zwei Eigenschaften, die selten waren an dem Ort, von dem ich kam.

Als es zum Schulende klingelte, verließen wir gemeinsam den Klassenraum. Im Gang holte sie einen seltsamen Gegenstand mit einem Lederriemen aus ihrem Rucksack, warf sich den langen Riemen über den Kopf und sortierte dann ihre dichten Locken neu.

»Ist das ein Fotoapparat?«, fragte ich und betrachtete das Gerät.

»Eine Polaroid!«, antwortete sie strahlend und setzte sich in Bewegung. »Hast du noch nie eine gesehen? Die hier haben mir meine Eltern schon vor Ewigkeiten geschenkt. Ich liebe Fotos, ich habe mein ganzes Zimmer damit tapeziert! Oma sagt, dass ich aufhören muss, ihre Wände mit meinen Fotos zuzupflastern, aber wenn ich sie dabei beobachte, wie sie sie abstaubt, pfeift sie immer fröhlich vor sich hin … und am Ende vergisst sie, was sie zu mir gesagt hat.«

Ich versuchte, Billie zuzuhören und gleichzeitig nicht irgendjemanden anzurempeln; so dichtes Gedränge war ich nicht gewohnt. Aber sie schien sich darüber keine Gedanken zu machen: Billie redete wie ein Wasserfall auf mich ein und stieß dabei ständig mit irgendwem zusammen.

»Ich fotografiere gerne Leute, es ist total spannend, ein Gesicht, das ständig in Bewegung ist, in einem einzigen Moment festzuhalten. Miki dreht leider immer schnell den Kopf weg, wenn ich sie fotografieren will. Dabei sieht sie soo gut aus, es ist wirklich superschade, aber sie mag es einfach nicht … Ach, da ist sie ja!« Begeistert winkte sie jemanden zu. »Miki!«, rief sie laut.

Ich versuchte, diese mysteriöse Freundin zu entdecken, von der sie bereits den ganzen Vormittag erzählt hatte, aber noch bevor ich sie ausmachen konnte, packte mich Billie am Gurt meines Rucksacks und zog mich durch die Menge hinter sich her.

»Komm schon, Nica! Du musst sie unbedingt kennenlernen!«

Ich versuchte, ihr zu folgen, erreichte aber nur eines damit, nämlich dass mir die anderen auf die Füße traten.

»Ach, du wirst sie mögen!«, sagte Billie aufgeregt. »Miki kann wirklich so süß sein. Und soo sensibel! Hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass sie meine beste Freundin ist?«

Ich setzte zu einem Nicken an, aber da zerrte mich Billie schon wieder weiter. Plötzlich nahm sie Anlauf und landete mit einem kleinen Satz hinter einem Mädchen, das mit dem Rücken zu uns vor ihrem Spind stand.

»Hallöchen!«, trällerte Billie vergnügt. »Wie war die Schule? Hattest du Sport mit denen aus der D? Das hier ist übrigens Nica!«

Sie schob mich so energisch nach vorn, dass ich beinahe mit der Nase gegen die geöffnete Spindtür geknallt wäre.

Süß hatte Billie ihre Freundin genannt, und ich war innerlich darauf eingestellt, sie nett anzulächeln.

Als das Mädchen mir den Kopf zuwandte, blickte ich in ein Paar stark geschminkter Augen. Sie gehörten zu einem attraktiven und etwas spitzen Gesicht, die dichten schwarzen Haare waren unter der Kapuze des weiten Hoodies bloß zu erahnen. Ein Piercing ging durch die linke Augenbraue, und die Kiefer kauten träge auf einem Kaugummi herum.

Miki musterte mich kurz teilnahmslos, dann schnappte sie sich ihren Rucksack und schloss die Tür mit einem solchen Knall, dass ich zusammenzuckte. Wortlos kehrte sie uns wieder den Rücken zu und ging den Flur hinunter.

»Ach, keine Sorge, so ist sie nun mal!«, flötete Billie, weil ich immer noch schreckensstarr dastand. »Es ist eben nicht so ihr Ding, neue Freundschaften zu schließen. Aber tief in ihrem Innersten ist sie ein Goldstück!«

Tief in ihrem Innersten … Wie tief?

Für Billie war der Fall damit erledigt, und sie begann, Miki zu folgen. Wir bahnten uns den Weg durch das Schülerchaos zum Ausgang, und als wir endlich aus der Schule kamen, stand Miki tatsächlich dort. Sie starrte auf die Schatten der Wolken, die auf dem Betonboden Fangen spielten, und rauchte mit abwesendem Blick eine Zigarette.

»Was für ein schöner Tag!«, seufzte Billie heiter und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf den Fotoapparat. »Nica, wenn du willst, kannst du mit zu meiner Oma kommen. Heute macht sie Fleischbällchen, und Miki isst auch bei uns.« Sie drehte sich zu ihrer Freundin um. »Du isst doch bei uns, oder?«

Ich sah, wie Miki ohne große Begeisterung nickte, während sie an ihrer Zigarette zog, und Billie lächelte zufrieden.

»Also? Kommst du mi…«

Jemand war gegen sie geprallt, lief aber einfach weiter.

»Hey!«, protestierte Billie und rieb sich die Schulter. »Hallo, geht’s noch? Aua!«

Andere Schüler rannten an uns vorbei, und Billie presste sich an Miki. »Was ist denn jetzt los?«

Irgendetwas stimmte nicht. Immer mehr Leute rannten zurück in die Schule, ein paar mit gezücktem Handy, vielen stand eine Art wohliges Gruseln in den Augen. Sie waren wegen irgendetwas völlig aus dem Häuschen, etwas lag in der Luft, und ich drückte mich an die Wand, weil mir diese wilde Meute Angst machte.

»Hey!«, knurrte Miki einen Jungen an, der wie elektrisiert wirkte. »Was zum Teufel geht da ab?«

»Die prügeln sich!«, rief er und holte sein Handy raus. »Vor den Spinden gibt’s ’ne Schlägerei.«

»Die prügeln sich? Wer?«

»Phelps und der Neue! Oh Mann, der prügelt den zu Brei! Also der Neue Phelps!«, brüllte er völlig außer sich. »Das muss ich unbedingt filmen!« Er machte einen Satz wie ein Grashüpfer, war weg, und ich starrte mit aufgerissenen Augen ins Leere.

Der … Neue?

Billie klammerte sich an Mikis Arm fest.

»Oh, bitte keine Gewalt! Ich will das nicht sehen … Wer ist denn schon so verrückt, sich mit Phelps anzulegen? Nur ein Vollidiot könnte … Hey!«, rief sie erschrocken. »Nica! Wohin willst du?«

Doch ich hörte sie schon nicht mehr. Ihre Stimme ging im Lärm der aufgewühlten Masse unter. Ich überholte andere Schüler, zwängte mich zwischen Schultern und Rücken hindurch. Die Luft war so aufgeladen, dass ich meinte zu ersticken. Klar und deutlich hörte ich die dumpfen Laute von Schlägen, dann das Scheppern von Metall und wie etwas zu Boden fiel.

Endlich war ich ganz vorn angelangt, die Schreie dröhnten mir in den Ohren: Ich quetschte meinen Kopf unter dem Arm von jemandem durch, und endlich konnte ich es sehen.

Zwei Jungs lagen auf dem Boden, wütend ineinander verkeilt. Es war schwer, sie in ihrer Raserei auseinanderzuhalten, aber ich musste ihnen gar nicht ins Gesicht schauen: Die rabenschwarzen Haare waren unverwechselbar.

Das war er, Rigel, er hielt das T-Shirt seines Gegners mit einer Faust fest umklammert, die Knöchel der anderen leuchteten blutrot, während Rigel immer wieder auf den Jungen unter sich einschlug. In seinen Augen funkelte eine so kranke Wut, dass mir das Blut in den Adern gefror. Er schlug schnell und brutal zu, mit einer erschreckenden Wildheit, während sein Gegner sich verzweifelt zu wehren versuchte und gegen seine Brust trommelte, doch in Rigels Augen lag kein Mitleid. Durch den Lärm der anfeuernden Rufe hörte ich, wie Haut auf Haut prallte und das Knacken von Knorpel … Plötzlich war alles vorbei.

Lehrer hatten sich durch die Meute gedrängt und sich buchstäblich auf die beiden Streithähne gestürzt, bis es ihnen gelungen war, sie voneinander zu trennen. Einer hatte Rigel am Kragen gepackt und nach hinten gezerrt, andere hielten seinen Gegner am Boden fest. Phelps starrte Rigel wütend an.

Es war der Junge von heute Morgen. Der, gegen den ich geknallt war, der mit den Büchern.

»Phelps, du bist heute den ersten Tag nach deiner Suspendierung hier!«, rief einer der Lehrer. »Das ist schon deine dritte Schlägerei! Das war’s dann für dich!«

»Er hat doch angefangen«, rief Phelps empört. »Ich habe nichts gemacht! Er hat mir ohne Grund eine reingehauen!«

Der Lehrer zerrte Rigel nach hinten, und ich sah, wie er den Kopf neigte, die Haare zerzaust, ein furchterregendes Grinsen auf den Lippen.

»Der hat angefangen! Schauen Sie ihn sich doch an!«, wiederholte Phelps.

»Es reicht!«, knurrte einer der Lehrer. »Sofort zur Rektorin! Bewegt euch!«

Sie packten beide an den Schultern, und Rigel ließ sich widerstandslos abführen, drehte lediglich im Fortgehen den Kopf kurz zur Seite und spuckte gelassen Blut in das Auffangbecken des Wasserspenders. Phelps folgte eher widerwillig, aber der Lehrer ließ ihm keine Wahl.

»Ihr anderen ab nach Hause!«, rief der Lehrer dann zu den Umstehenden. »Und weg mit den Handys! O’Connor, ich lass dich von der Schule verweisen, wenn du nicht sofort hier verschwindest! Ihr da drüben auch, ab mit euch! Hier gibt’s nichts zu sehen!«

Nur widerstrebend setzten sich die Schülerinnen und Schüler in Bewegung und verloren sich in Richtung Ausgang.

Schnell hatte sich die Menge aufgelöst, nur ich blieb stehen. Ich fühlte mich schmal und zerbrechlich und hatte immer noch seinen dunklen Schatten vor Augen, wie er zuschlug und schlug und schlug, wieder und wieder …

»Nica!« Billie kam angerannt, Miki im Schlepptau. »Mann, du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt! Bist du okay?«, fragte sie mich und musterte mich besorgt. »Ich fass es nicht, das ist also dein Bruder!«

Ich blickte sie entsetzt an, als hätte sie mich geohrfeigt.

Natürlich … Billie hatte ja keine Ahnung, wie es wirklich war. Sie wusste nicht, dass wir unterschiedliche Nachnamen hatten. Sie wusste nur, was die Rektorin zu ihr gesagt hatte. In ihren Augen waren wir blutsverwandt, aber das Wort, mit dem sie ihn bezeichnet hatte, erzeugte in mir einen Horror wie das fiese Geräusch von Fingernägeln, die über eine Tafel kratzen.

»Er … Er ist nicht …«

»Am besten gehst du jetzt zum Sekretariat«, unterbrach sie mich mit besorgter Miene, »und wartest dort auf ihn. Himmel, eine Schlägerei mit Phelps am ersten Tag … Der Arme!«

Ich war mir sicher, dass nicht Rigel derjenige war, der arm dran war. Schließlich hatte ich noch das angeschwollene Gesicht des anderen Jungen vor Augen, als man Rigel endlich von ihm fortgezerrt hatte.

Aber Billie schob mich fürsorglich vorwärts. »Los, gehen wir!« Die beiden begleiteten mich zum Sekretariat, und ich bemerkte, dass ich nervös meine Finger knetete. Wie sollte ich bloß verbergen, dass ich vollkommen entsetzt war von dem, was ich gerade miterlebt hatte, und noch dazu so tun, als würde ich mir Sorgen um ihn machen? Ich erinnerte mich nur zu deutlich an die Raserei, die in seinen Augen gestanden hatte.

Es war absurd …

Hinter der Tür hörten wir laute Stimmen.

Phelps brüllte wie ein Wahnsinniger beim Versuch, sich zu rechtfertigen, und der Lehrer schrie noch lauter als er. Ich bemerkte die erschöpfte Verzweiflung in seiner Stimme, wahrscheinlich, weil er zum x-ten Mal eine Schlägerei hatte auflösen müssen. Noch deutlicher nahm ich allerdings den bestürzten Ton der Rektorin wahr und die Worte, mit denen sie sich an Rigel wandte, als könne sie es nicht glauben: Er sei doch so talentiert, hätte so gute Noten, er sei doch niemand, der sich in solche Situationen begeben würde. Er hätte bestimmt noch nie eine Prügelei angefangen. Phelps protestierte laut und schwor, dass er Rigel nicht einmal provoziert hätte, doch der verzichtete beharrlich darauf, sich zu verteidigen. Alle schienen sein Schweigen als Beweis seiner Unschuld zu deuten.

Nach einer halben Stunde ging die Tür auf, und Phelps kam heraus.

Er hatte eine aufgeplatzte Lippe, seine Nase stand seltsam schräg, und seine Haut war an mehreren Stellen im Gesicht stark gerötet. Sein Blick glitt zunächst zerstreut über mich hinweg, und er schien mich kaum zu bemerken, doch im nächsten Moment sprangen seine Augen wieder zu mir zurück, als ob ihm plötzlich klar geworden wäre, dass er mich schon einmal gesehen hatte. Mir blieb keine Zeit, seinen Blick zu deuten, denn sein Lehrer hatte ihn schon mit sich fortgezogen.

»Ich glaube, diesmal wird er von der Schule verwiesen«, murmelte Billie, als Phelps am Ende des Flurs verschwand.

»Wird ja auch Zeit«, meinte Miki. »Nach dem Vorfall mit den Mädchen aus der Unterstufe hätte man ihn eigentlich in einen Schweinestall sperren müssen.«

Die Tür öffnete sich erneut.

Billie und Miki beobachteten stumm, wie Rigel heraustrat. Die Adern pochten unter seiner Haut, und seine magnetische Ausstrahlung genügte, um alle zum Schweigen zu bringen.

Dann bemerkte er uns.

Nein. Nicht uns.

»Was machst du denn hier?«

Mir entging nicht die leichte Verwunderung in seiner markanten Stimme. Ich spürte seine Augen auf mir und stellte fest, dass es mir die Sprache verschlagen hatte. Ich hatte ja selbst keine Ahnung, was ich dort machte, warum ich auf ihn wartete, als wäre ich tatsächlich besorgt um ihn.

Rigel hatte mir gesagt, dass ich mich von ihm fernhalten solle, er hatte es mir aus einer solchen Nähe in den Nacken geknurrt, dass seine Stimme immer noch in meinem Kopf widerhallte.

»Nica wollte sich überzeugen, dass es dir gut geht«, kam mir Billie zu Hilfe und zog so seine Aufmerksamkeit auf sich. Er sah sie an, und sie hob verlegen lächelnd die Hand.

»Hi …«

Rigel reagierte nicht. Billie schien unter seinem Blick immer kleiner zu werden und errötete verlegen, auch sie konnte sich der Faszination seiner schwarzen Augen nicht entziehen.

Und Rigel bemerkte es. Oh ja, und wie er es bemerkte.

Er wusste ganz genau, welche Wirkung er auf andere hatte. Er wusste, wie attraktiv die Maske war, die er trug; die Art, wie er sie trug. Und er stellte sie provokant und voller Arroganz zur Schau. Als ob allein das Wissen um diese unheimliche Ausstrahlung genügte, um alle dahinschmelzen zu lassen.