The Violence – Wie weit wirst du für deine Freiheit gehen? - Delilah Dawson - E-Book

The Violence – Wie weit wirst du für deine Freiheit gehen? E-Book

Delilah Dawson

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Beschreibung

Amerika in der nahen Zukunft. Nach außen hin führt die Familie Martin ein perfektes Leben, doch Investmentbanker David verprügelt seine Frau Chelsea regelmäßig bis zur Bewusstlosigkeit. Als sich ein mysteriöses Virus ausbreitet, das alle, die es infiziert, in einen exzessiven Gewaltrausch stürzt, sieht Chelsea ihre große Chance, sich und ihren beiden Töchtern ein neues Leben zu ermöglichen. Ein Leben in einer Welt, die sich am Ende radikal von unserer unterscheiden wird …

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Das Buch

Amerika in der nahen Zukunft. Nach außen hin führt die Familie Martin ein perfektes Leben: Chelsea ist die perfekte Hausfrau und Mutter, Investmentbanker David ist in seinem Job ungemein erfolgreich, die beiden Töchter Ella und Brooklyn sind – trotz Pubertät – ganz bezaubernd. Doch hinter der Fassade lauert das nackte Grauen, denn David verprügelt seine Frau regelmäßig bis zur Bewusstlosigkeit. Als sich ein mysteriöses Virus ausbreitet, das alle, die es infiziert, in einen exzessiven Gewaltrausch stürzt, sieht Chelsea ihre große Chance, sich und ihren beiden Kindern ein neues Leben zu ermöglichen. Ein Leben in einer Welt, die sich am Ende radikal von unserer unterscheiden wird …

Die Autorin

Delilah Dawson ist die Autorin mehrerer Jugendbuchserien, Comics und Star-Wars-Romane, die auf der New York Times-Bestsellerliste standen. In ihren Werken setzt sie sich immer wieder mit Themen wie Identität, Selbstwert, Geschlechterrollen und Diversität auseinander, wofür sie bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Sie lebt mit ihrer Familie in Georgia.

Mehr über Delilah Dawson und ihre Werke erfahren Sie auf:

DELILAH DAWSON

THE VIOLENCE

Roman

Aus dem Amerikanischen vonMaike Hallmann

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: THE VIOLENCEDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 02/2023

Redaktion: Sabine Kranzow

Copyright © 2022 by Delilah S. Dawson

Copyright © 2023 dieser Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, nach einem Originalentwurf von Kathleen Lynch

Cover Illustration: Kathleen Lynch nach einem Motiv von Jonathon Kambouris / Gallery Stock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29481-6V002

www.diezukunft.de

ANDIEÜBERLEBENDEN

Früher habe ich mich schuldig gefühlt, weil ich nicht mehr getan habe.

Weil ich nicht früher gegangen bin. Mich nicht gewehrt habe. Nicht gegen ihn angekämpft.

Doch jetzt bin ich freundlicher zu meinem jüngeren Ich.

Jetzt glaube ich: Überleben ist genug.

Vorbemerkung der Autorin

In diesem Buch kommen Themen wie körperliche und emotionale Misshandlung und sexueller Missbrauch vor. Das beinhaltet auch den Tod von Tieren und teils drastische Gewaltdarstellung. Einige dieser Szenen können verstörend auf den Leser wirken. Dieses Buch zu schreiben – und mich mit diesen Themen auseinanderzusetzen – war Teil meines eigenen Heilungsprozesses.

Die Beziehung zu meinem Vater war kompliziert. In nüchternem Zustand war er ständig von mir enttäuscht, und betrunken neigte er dazu, mich körperlich und emotional zu misshandeln. Chelseas Nächte in der Küche beruhen auf dem, was meine Mutter und ich durch ihn erlitten haben. In unserer Heimatstadt war er so angesehen und beliebt, dass niemand uns geglaubt hat. Von außen betrachtet, waren wir die perfekte Vorzeigefamilie.

Als ich achtzehn war, sind meine Mutter und ich gegangen, und wir waren bei einer ganz besonderen Therapeutin namens Betsy. Ich erinnere mich weder an ihren Nachnamen noch an ihren genauen Titel, aber sie war die Erste, die sagte: »Verstehst du, dass so etwas Misshandlung ist ? Du bist misshandelt worden.« Bis zu diesem Moment war mir das nicht bewusst gewesen. Ich hielt mein Leben für normal. Sie hat meinen Vater zu den Narcotics Anonymous geschickt, die in ihm den Entschluss weckten, mit dem Trinken aufzuhören. Soweit ich weiß, hat er danach nie wieder Alkohol angerührt. Aber das hielt ihn nicht davon ab, weiterhin emotionale Misshandlungen zu begehen – Gaslighting, Kontrollsucht und Manipulation bis zum letzten Atemzug. Wie es im Gebet des Narzissten heißt: Das ist nie passiert. Und wenn doch, war es nicht so schlimm. Und wenn doch, war es keine große Sache. Und wenn doch, dann war es nicht meine Schuld.

Als wir 1995 unsere Sachen gepackt haben, konnte man noch nicht so wie heute über alles im Internet nachlesen und dort Antworten finden. Ich bin unserer Familie und unseren Freunden sehr dankbar. Sie haben uns geholfen – uns gerettet. Opfern von Misshandlung bleiben oft nur wenige Ressourcen, aber es gibt Menschen, die einem helfen. Wenn du misshandelt wirst, such dir bitte Hilfe. Du bist nicht allein.

Der erste offizielle Ausbruch des Violence-Virus fand am 15. April 2025 in einem Supermarkt statt. Ruth Belmont aus Land O’Lakes, Florida, wollte gerade eine Tube Mayonnaise in ihren Einkaufswagen legen. Doch dann ließ die friedfertige und zutiefst gläubige Großmutter die Mayonnaise fallen, griff nach einer großen Flasche Thousand-Islands-Dressing und schlug damit auf eine andere Kundin ein, die vierundzwanzigjährige Melissa Mendoza. Mendozas kleine Tochter saß in ihrem Buggy und sah schweigend zu, wie die ältere Dame ihre Mutter mit der Flasche erschlug. Sobald Mendoza tot war, stellte Belmont die Flasche zurück, nahm sich ein neues Dressing und wollte weiter einkaufen. Als die herbeigerufene Polizei sie zu Boden warf, schrie und weinte Belmont und beharrte auf ihrer Unschuld. Die Supermarkt-Kameras hatten die grausige Szene aufgezeichnet. Als sich herausstellte, dass die Ursache für diesen Gewaltausbruch eine Krankheit war, wurde Belmont aus dem Gefängnis entlassen. Jetzt verklagt sie den Staat auf 1,3 Millionen Dollar Schadenersatz, einschließlich Schmerzensgeld wegen ihres gebrochenen Schlüsselbeins. Später Erkrankte hatten weniger Glück.

ERSTER TEIL

1

CHELSEAMARTINSITZTIMLICHTeines perfekten Sonnenstrahls an ihrem perfekten Küchentisch und starrt das Blatt Papier an, das ihr Leben zerstören wird.

Unzureichende Kontendeckung ? Das kann nicht sein.

Ihr Mann David kümmert sich um ihre finanziellen Angelegenheiten, und er arbeitet schließlich im Bankwesen, also muss es sich um einen Fehler handeln. Sie hat die auf aggressive Weise unpersönlichen, computergeschriebenen Zeilen schon hundert Mal gelesen, und tief in ihrem Bauch regt sich ein tiefes Unbehagen und droht ihren Kaffee wieder hochkommen zu lassen. Es ist keine Panik, noch nicht, aber es fühlt sich alles andere als gut an.

Ob David ihr wohl sagen würde, wenn sie in Schwierigkeiten steckten ? Sie wirft einen raschen Blick auf ihr Handy und überlegt, wie sie ihn das am besten fragen kann, ohne ihn zu kränken. Vermutlich ist es am sichersten, wenn sie ihm schreibt; er hasst es, wenn ihre Stimme zittrig klingt. Er sagt, sie wäre zu nah am Wasser gebaut und dass es unmöglich sei, sich vernünftig mit ihr zu unterhalten, wenn sie so emotional ist.

Nein, das ist es nicht wert. Wenn er nach Hause kommt, wird er den Brief sehen, und dann kümmert er sich um die Angelegenheit. Soll er doch wütend auf die Bank sein, nicht auf die Botin, und besser, er ist später wütend als jetzt und später. Unbewusst legt sie eine Hand an die Kehle und schluckt schwer. Ihr graut davor, was passieren wird, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt.

Die Sache ist es definitiv nicht wert, ihn damit jetzt zu belästigen.

Sie überlegt, dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hat, als die Post gekommen ist, aber wenn sie sich jetzt ins Online-Portal einloggt und das wöchentliche »Let’s Sell Dreams«-Pflichtvideo ansieht, wird es ihr nur noch schlechter gehen. Als sie seinerzeit den Vertrag unterzeichnet hat und somit als Verkäuferin von Dream-Vitality-Aromaölen begann, hoffte sie noch darauf, das würde ihr ein wenig Unabhängigkeit verschaffen. Ihr etwas zu tun geben, auf das sie stolz ist. Aber wenn sie jetzt in den tiefen Abgrund des Holzkoffers blickt, der bis zum Rand gefüllt ist mit kleinen lila Fläschchen, die allesamt voll und ungeöffnet Staub ansetzen, dann will sie bis zu ihrem Lebensende nie wieder Bergamotte riechen.

Im Eingangsbereich wartet ein brandneuer Karton auf sie, ihre monatliche Pflichtlieferung, die optimistisch beschriftet ist mit DREAM-LIEFERUNG ! Aber nachdem sie ein Jahr lang versucht hat, ein Produkt an den Mann zu bringen, das sich angeblich ganz von allein verkaufen soll, ist sie drauf und dran, sich geschlagen zu geben. Am Anfang war sie ganz beflügelt von diesem Traum: Sie wollte sich eigenständig ihr Geschäft aufbauen, etwas ansparen, Teil eines Netzwerks voller kluger, motivierter Frauen sein. Stattdessen waren ihre Freunde befremdet von den notwendigen Werbeposts auf ihren Social-Media-Kanälen, ihren Töchtern ist sie peinlich, auf Partys und in Spielgruppen ist sie nicht mehr willkommen. Und was hat sie davon ? Lauter Kartons voller Produkte, die sie nicht mal zum Einkaufspreis wieder loswird. Schon bevor heute die Überziehungsbenachrichtigung ins Haus flatterte – bestimmt ein Fehler der Bank –, hat sie sich Sorgen gemacht, dass die Abbuchung diesen Monat ihr schmales Budget sprengen würde. Und dass es, wenn David das herausfand … unschön werden könnte.

Am härtesten hat sie getroffen, dass der Versuch, sich beruflich etwas aufzubauen, ihr gezeigt hat, dass die meisten ihrer Online-Freunde keine echten Freunde sind. Sie erlebt keinerlei Unterstützung, niemand teilt ihre Posts, niemand bestellt etwas, niemand schreibt Bewertungen. Es gibt nur noch einen kleinen, verschworenen Kreis anderer wagemutiger Mütter, die sich gegenseitig den Rücken stärken, aber in dieser Online-Gruppe ist ausschließlich positive Bestätigung erwünscht, und sie fragt sich, ob wohl außer ihr noch jemand insgeheim so erschöpft ist, sich so außen vor fühlt, so zutiefst einsam.

Eigentlich hat dieser Job sie retten sollen, aber nun ist sie damit nur noch tiefer in Schwierigkeiten geraten.

Reiß dich zusammen, blöde Kuh, ermahnt sie sich selbst. Ist doch nur Öl.

Damit fühlt sie sich auch kein bisschen besser.

Sie fährt sich mit beiden Händen durchs Haar, das immer mehr dem ihrer Mutter ähnelt, seit ihr Friseur das Grau mit immer mehr Bleichmittel kaschiert und das Prozedere mit einem französischen Namen bezeichnet, der es gleich doppelt so teuer macht. Draußen vor dem Panoramafenster funkelt der perfekte Pool in der Sonne, aber sie kann nicht hineinspringen, weil das Wasser ihr Haar so spröde machen würde wie ungekochte Spaghetti mit einem fast moosartigen Grünstich. Sie sieht sich um, betrachtet die Lamellenwand, die Granitarbeitsplatte, die Edison-Glühbirnen, die auf die Jahreszeit abgestimmten Kissenbezüge. Alles ist perfekt, aber nichts stimmt.

Selbst der schneeweiße Hund, der auf einem zum Fell passenden Kissen vor sich hinschnarcht, ist nobel – ein Bichon namens Olaf, der mehr gekostet hat als Chelseas erstes eigenes Auto. Es musste ein Hund sein, der nicht haart, denn David findet den Gedanken unerträglich, dass Knäuel aus Hundehaaren wie Steppenläufer über den Marmorboden wehen. Der arme, süße Olaf hat Todesangst vor ihm und verbringt den Großteil seines Lebens in Verstecken. Allerdings ist Olaf auch schwer inzuchtgeschädigt, eine ständig jaulende Neurosensammlung auf vier Beinen, die immerzu ganz unvermittelt Urinpfützen unter sich lässt.

Das große, geräumige Haus ist das genaue Gegenteil des schäbigen Apartments, in dem Chelsea aufgewachsen ist. Eigentlich sollte sie sich wohlfühlen in einer so schönen Umgebung, aber ihr ist, als kämen die Wände auf sie zu und als würde dieses Haus sie immer mehr erdrücken, wie eine auf sie niedergehende Lawine aus lauter Zeug. Und es ist eine niemals endende Arbeit, dieses ganze Zeug entweder prahlerisch perfekt zu arrangieren oder es zu verbergen, überhaupt alles am Laufen zu halten. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass ihr Leben so sein würde. Dass sie sich von morgens bis abends fühlen würde, als stecke sie in der Falle.

Chelsea gießt sich gerade eine zweite Tasse Kaffee ein, die nichts gegen ihr bis ins Mark reichendes Unwohlsein ausrichten kann, als es an der Tür klingelt. Sie erstarrt. Blickt auf den Wandkalender – ein Fotokalender mit lauter Bildern ihrer Familie in zusammenpassenden blendend weißen Shirts –, aber es sind keine Termine eingetragen. Niemand kommt heute vorbei, um Arbeiten am oder im Haus zu erledigen, und eine Lieferung erwartet sie auch nicht. Dank Dream Vitality und David haben sich die meisten ihrer Freunde zurückgezogen, also kann das Klingeln nur eins bedeuten. Ihre Füße haben es längst begriffen und tragen sie rückwärts, weg vom großzügigen Eingangsbereich und Richtung Hauswirtschaftsraum, in dem sich die Fenster so hoch oben in der Wand befinden, dass man Chelsea von draußen nicht erspähen kann, wenn sie sich dort drinnen versteckt. Das Garagentor ist geschlossen, also verrät nichts, dass sie zu Hause ist.

Und dann vibriert das Handy in ihrer Hand, und auf dem Display erscheint ein Text.

Ich weiß, dass du da drinnen bist.

Selbst der Hauswirtschaftsraum kann sie nicht mehr retten. Sie geht zurück in die Küche, stürzt einen großen Schluck Kaffee runter und knallt den Becher so fest auf die Arbeitsplatte, dass die helle Flüssigkeit über den schwarzen Granit spritzt. Rasch läuft sie ins Bad, kämmt sich das Haar und frischt den Lippenstift auf. Ihre Mascara ist ganz leicht verlaufen und lässt ihre blauen Augen ein wenig hervortreten, und sie tupft rasch mit einem Tuch unter ihren Augen herum. Auf dem Oberteil ist ein winziger Kaffeefleck, also tauscht sie es gegen ein frisches und legt mittelgroße Diamantohrringe an – nicht so klein, dass man denkt, sie könnte sich nicht mehr leisten, aber auch nicht so groß, als wollte sie dringend damit herumprotzen.

Als es klopft, klingt es leicht und fröhlich.

Klopf klopf klopf-klopf-klopf.

Bin nur ich, scheint dieses Klopfen zu sagen. Ist nur ein kleiner Freundschaftsbesuch.

Könnte bösartiger Narzissmus an Türen klopfen, würde es genau so klingen.

Wenn sie sich nicht beeilt, wird das nächste Geräusch das Scharren der Fußmatte sein, die beiseitegeschoben wird, und dann dreht sich der Notfallschlüssel im Schloss, also hastet Chelsea zur Tür, wirft zur Sicherheit einen Blick durch den Spion und öffnet mit jenem Lächeln, das man auch an Schimpansen beobachten kann, die einem größeren Schimpansen gegenüberstehen und wissen, dass sie gleich auseinandergenommen werden.

»Na, das hat aber gedauert«, sagt Patricia Lane, und ihr Lächeln ist, so höflich und korrekt es aussehen mag, doch genau das Lächeln eines stärkeren Affen, der einem rangniedrigeren Tier eine ordentliche Tracht Prügel mit einem Oberschenkelknochen verspricht. »Dreißig Grad hat es heute. Im April ! Ein Glück, dass ich hier draußen nicht geschmolzen bin.«

Hexen schmelzen im Regen, nicht in der Sonne, würde Chelsea gern sagen, aber sie tut es nicht. Und du hast dein ganzes Leben in Zentralflorida verbracht, also zieh doch weg, wenn es dir nicht gefällt. Aber genau wie bei David macht Widerrede alles nur schlimmer.

»Hallo Mom. Komm rein.«

Es gibt keine Umarmung, keine gezierten Küsschen und ganz bestimmt keinen richtigen Kuss.

Gab es nie.

Patricia zupft die Strickjacke zurecht, die sie über ihrer Seidenbluse zusammengeknotet hat, und betrachtet ihre einzige Tochter abfällig, ehe sie eintritt. »Ich bin kein Vampir, Liebling. Ich gehöre zur Familie. Ich bin immer willkommen.«

Um ehrlich zu sein, sieht sie eher wie Chelseas ältere Schwester aus. Patricias Haar ist blonder, ihr Gesicht gebräunter und immer noch glatt, ihre Kleidung gepflegter, und sie ist so schlank, dass sie beide sich problemlos am Kleiderschrank der anderen bedienen könnten, wenn sie nicht vollkommen unterschiedliche Geschmäcker hätten. Die Diamanten an Patricias Ohren und Fingern und Handgelenken sagen nichts von genau die richtige Größe, sondern teilen einem mit, dass sie einen bei der geringsten Provokation genüsslich in Stücke reißen werden, während sie dabei auf höchst herablassende Weise als Erläuterung für die Mohs’sche Härteskala dienen. Chelseas Mutter, wie David zu sagen pflegt, hat alles Nötige machen lassen.

Als Chelsea die Tür schließt, dreht sich Patricia langsam um die eigene Achse, betrachtet den Kronleuchter und zieht eine perfekte Braue hoch.

»Du musst sie ermahnen, richtig Staub zu wischen, wenn sie einmal pro Woche kommen, Liebling«, sagt sie fast traurig. »Lass diese Reinigungsdienste einmal mit Kleinigkeiten durchkommen, dann vergessen sie als Nächstes, die Fußleisten abzustauben, und am Ende fehlt plötzlich Geld. Reich ihnen den kleinen Finger, und sie nehmen die ganze Hand.«

Chelsea blickt zum Kronleuchter hoch, entdeckt aber keinerlei Staub daran.

»Was kann ich für dich tun ?«, erkundigt sie sich in der Hoffnung, dass dieser Besuch bald vorbei sein möge, bemüht sich aber, so höflich zu sein, dass sie sich keine weitere Lektion einfängt.

Patricia, die gerade die Glasplatten über den Familienportraits auf Wasserflecken hin untersucht, richtet den Blick auf Chelsea und bringt es fertig, finster dreinzublicken, ohne dass sich irgendwelche Falten in die sorgfältig geglättete Spachtelmasse ihres Gesichts graben.

»Braucht eine Mutter denn einen Grund dafür, ihre Tochter zu besuchen ?« Sie klingt verletzt. »Darf ich nicht einfach liebevoll an deinem Leben teilnehmen wollen ?«

Mit zusammengebissenen Zähnen lächelt Chelsea sie an. »Natürlich darfst du das. Worüber möchtest du denn reden ? Ella und Brooklyn kommen in der Schule sehr gut zurecht …«

Patricia seufzt demonstrativ gekränkt und marschiert in die Küche, wo sie eine Tasse vom Haken nimmt, tadelnd hineinblickt und sie mit dem Geschirrhandtuch auswischt, ehe sie sich schwarzen Kaffee eingießt. Sie nippt daran, mit erwartungsvoll geschlossenen Augen, dann verzieht sie das Gesicht.

»Diese Bohnen sind zu stark geröstet. Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht irgendeinen alten Mist kaufen darfst.«

Chelsea greift nach der Zwanzig-Dollar-Packung sortenreinem Kaffee aus einem Feinkostladen und hält ihn ihr hin. »Hab ich auch nicht.«

Statt die Packung zu nehmen oder auch nur eines Blickes zu würdigen, schlägt Patricia mit der flachen Hand darauf. Dieselbe Art Klaps verpasst sie, wie Chelsea weiß, auch klebrigen Kleinkindern, die ihr zu nah kommen. »Dann hast du die falsche Sorte gekauft. Deine Generation, also wirklich. Ihr seid vollkommen lernresistent.« Patricia sieht sich in der Küche um wie ein Hund von der Flughafensicherheit, der auf der Suche nach noch mehr wundervoller Schmuggelware ist, und in dem Moment, als ihre Mutter einen bestimmten Punkt fixiert, ihre Augen aufleuchten und sich die Lippen zu einem Lächeln verziehen, wird Chelsea ihr Fehler bewusst.

»Oh !« Patricia stellt ihre Kaffeetasse ab und schlendert zu dem Holzköfferchen hinüber, das immer noch auf dem Küchentisch steht. »Betreibst du also immer noch dein kleines … Gewerbe ?« Sie nimmt auf gut Glück irgendein Fläschchen heraus, dreht den Deckel auf, wobei sie das Siegel aufbricht, und schnüffelt. Chelsea zuckt zusammen. »Puh. Was haben die denn da zusammengepanscht ? Riecht wie im Ramschladen zur Weihnachtszeit. Bezahlt wirklich irgendwer Geld dafür ?«

Chelsea könnte die Zutaten, Verwendungszwecke und Vorzüge des Öls auswendig herunterbeten, aber das wäre ein Fehler, ebenso wie es ein Fehler wäre, ihrer Mutter zu sagen, dass das Aufdrehen der Verschlusskappe Chelsea zwanzig Dollar gekostet hat, was schon vor Eintreffen des Briefs heute ein Problem gewesen wäre.

»Ja, das tut tatsächlich jemand. Fünfzig Dollar pro Fläschchen.« Sie nimmt es Patricia aus den langen, schmalen Fingern, schraubt es wieder zu und steckt es zurück ins Köfferchen. »Das ist unser beliebtestes Produkt. Dank dieses Öls wird keiner von uns dieses Jahr die Grippe bekommen. Und es heißt, gegen Long Covid hat es ebenfalls positive Effekte.«

Patricia rümpft so stark die Nase, dass sie an eine Französische Bulldogge erinnert. »Na dann. Also ich würde darauf nichts geben, aber ich nehme mal an, ihr Millenials glaubt lieber an falsche Hoffnungen und irgendwelches Voodoo-Schlangenöl als an richtige Arbeit.« Sie greift wieder nach ihrer Tasse und nippt daran, wobei sie in den Garten blickt, als befänden sie sich in einem Werbespot und würden sich im nächsten Moment mit verhangenem Blick darüber unterhalten, heute nicht ganz auf der Höhe zu sein. Chelsea ist heilfroh, dass am Morgen der Gärtner da war und die herabgefallenen Äste eingesammelt hat. »Weißt du, Chel, ich mache mir Sorgen um dich. Du hast alles, was du brauchst, aber du kannst es nicht lassen, ständig deine kleinen … Projekte nebenher zu betreiben. Da war dieser Fernstudiengang, den du, glaube ich, schon vor langer Zeit abgebrochen hast. Dann das mit dem Blog. Einmal wolltest du ein Buch schreiben, aber daraus ist auch nichts geworden. Eine Weile hast du Masken genäht. Und jetzt diese Öle. Ich mache mir wirklich Sorgen, dass du schon wieder von einer Enttäuschung in die nächste stolperst. Eine Frau sollte sich von der Liebe ihrer Familie nähren, nicht von ihren … Experimenten.«

Chelsea lockert die Hände, die sie unwillkürlich zu Fäusten geballt hat. Nicht dass ihre Mutter dazu auch noch etwas sagt. Wenn die Liebe der Familie das wäre, wovon sich eine Frau nährt, dann wäre ihre Mutter ein wandelndes Skelett; sie hat nach Chelseas Geburt den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen, vermutlich aus Scham, und sie taucht nur hier auf, wenn sie etwas will oder mal wieder ihre Krallen wetzen möchte.

»Ich brauche etwas zu tun, Mom. Beide Mädchen sind in der Schule. Ich bin ein wenig rastlos.«

Patricia versucht eine mitleidige Miene aufzusetzen, stellt ihre Kaffeetasse ab und streckt die Hände nach Chelsea aus, um ihrer Tochter das Haar über die Schultern zu legen. Sie seufzt, als es nicht recht klappen will. Chelseas Haut kribbelt, aber sie weiß, dass es besser ist, nicht zurückzuweichen.

»Wenn du so rastlos bist, solltest du diese Energie vielleicht lieber nach innen richten. Eine neue Frisur. Ein Ergometer oder Yoga. Ein bisschen Zeit im Spa verbringen. Vielleicht ein bisschen kosmetisch was machen lassen.« Sie tippt mit einem kalten Finger gegen Chelseas Stirn. »Mein Arzt ist ein Genie. Und Diät-Shakes heutzutage schmecken genau wie Milchshakes. So reichhaltig !«

Chelsea spürt, wie ihr Zornesröte den Hals hinauf bis in Wangen und Stirn kriecht. Kurz stellt sie sich vor, wie sie den Finger ihrer Mutter mit beiden Händen packt und bricht, als wäre er ein Stift. Rasend schnell kreisen Worte durch ihren Kopf, von Wozu brauche ich denn Sport, wenn wir doch dieselbe Kleidergröße haben ? bis zu Unabhängigkeit ist wichtiger, als so zu tun, als wäre man nur halb so alt, wie man ist – nicht dass du das verstehen könntest oder Wenn ich einen wesentlich älteren Mann nur um des Geldes willen geheiratet hätte, wäre ich vielleicht auch so selbstgefällig. Aber Chelsea weiß, dass es bei den Äußerungen ihrer Mutter niemals wirklich um Chelsea geht. Und wie fast immer in ihrem Leben macht Gegenwehr alles nur noch schlimmer.

»Ich denke mal drüber nach«, sagt sie. »Yoga, meine ich. Danke fürs Zuhören, Mom.«

Patricia schließt die Augen und bewegt geschmeidig die Schultern, wie bei einem kleinen Tanz, als hätten Komplimente für sie einen Nährwert. Witzigerweise erinnert sich Chelsea ganz genau daran, wie ihre Mutter sich früher gegeben hat, als sie noch arm waren und bevor sie beschlossen hat, reich zu heiraten und zu diesem Zweck ihren Südstaatenakzent abgelegt hat, zusammen mit ihrer Angewohnheit, Leute anzuschreien, die nicht taten, was sie von ihnen wollte. Diese aktuelle Version von Patricia ist eine Erfindung, das ganz eigene … Experiment ihrer Mutter. Und verdammt soll sie sein, aber es hat funktioniert.

»Ich will nur das Beste für dich, Liebes. Das wollte ich immer. Du musst für dich sorgen. Und für die Kinder.« Patricia blickt zum Wandkalender hinüber, auf dem Ella und Brooklyn am Strand um die Wette strahlen, und runzelt die Stirn. »Wann war denn dieser Ausflug ? Ich kann mich nicht erinnern, dass ihr mich eingeladen hättet.«

Aber ehe Chelsea antworten kann, hat sich Patricia die Überziehungsbenachrichtigung vom Küchentresen geschnappt und liest sie so eifrig wie eins der Klatschmagazine, die sie angeblich so sehr verabscheut, aber heimlich unter dem Waschbecken in ihrem Bad hortet. Sie keucht auf und presst eine Hand gegen die Brust.

»Chelsea, was ist das ? Dein Konto ist überzogen ?«

Chelsea beißt die Zähne so fest zusammen, dass sie befürchtet, eine Krone zu spalten, reißt ihrer Mutter das Dokument aus der Hand, faltet es entschlossen zusammen und steckt es in die Gesäßtasche ihrer Skinny Jeans. »Das ist nichts. Da ist nur irgendwem ein Fehler unterlaufen. David kümmert sich darum.«

Patricia leckt sich über die Lippen wie ein Fuchs und tritt dicht an Chelsea heran, legt ihr die knochigen Hände auf die Schultern. Ihr Parfüm dringt Chelsea in Nase und Mund, Lilien und giftige Maiglöckchen, und am liebsten hätte sie sich würgend abgewandt.

»Liebling«, sagt ihre Mutter salbungsvoll und mitfühlend, die Augen unschuldig aufgerissen. »Wenn du in Schwierigkeiten steckst … du kannst mir alles erzählen.«

Nicht werde ich dir helfen, wie Chelsea sehr wohl bemerkt, sondern du kannst mir alles erzählen.

»Es ist alles in Ordnung, Mom.« Chelsea zuckt mit den Schultern und versucht zu lächeln. »Sieh dich doch um. Uns geht es blendend.«

Patricia sieht sich um, mit einem Blick, als befürchte sie, das Haus könne rings um sie herum zusammenbrechen. »Dann gehe ich mal davon aus, dass David weiß, was er tut. Aber ich sollte jetzt los. So viel zu tun. Du kennst das ja.«

Während ihre Mutter eilig zur Tür marschiert und im Vorbeigehen mit kritischer Miene einen Finger über die Wandvertäfelung gleiten lässt, fragt sich Chelsea, ob sie es überhaupt bemerken würde, wenn sie hier und jetzt einen Herzinfarkt hätte. Enge Kehle, Schmerzen in der Brust, heiße Stirn, taube Finger – all das sind Symptome, die sie auch bei jeder noch so kurzen Begegnung mit Patricia Lane verspürt. Zum Glück zieht sich ihre Mutter in den Ferien in ihr Refugium auf den Outer Banks zurück. Sie sagt, von den Kindern bekäme sie Migräne. Chelsea fragt sich, ob sie wohl einsam und traurig ist, wenn sie Weihnachten in dem wunderschön eingerichteten, aber leeren Strandhaus verbringt, während ihr neuester Ehemann Golf spielen geht, aber sie würde sie nie danach fragen. Am Ende bekäme sie vielleicht noch eine Antwort.

»Danke, dass du vorbeigeschaut hast«, sagt sie an der Tür.

Patricia dreht sich um, und auf ihrer Stirn prangt rebellisch eine einzige elegante Falte. »Ich wollte dir noch irgendwas sagen, aber ich erinnere mich nicht mehr, was es war. Werde ja nicht alt, Liebling. Glaub mir, mein Gedächtnis ist das reinste Sieb.«

Chelsea lächelt verständnisvoll und öffnet die Tür. »Na ja, du kannst mir ja jederzeit eine Nachricht schreiben.«

Patricia tritt nach draußen, die Hand schützend gegen den gleißenden Sonnenschein erhoben, der über sie hinwegspült. »Nachrichten sind so unpersönlich. Ich begreife nicht, was ihr jungen Leute gegen echten Kontakt habt.«

Darauf gibt es keine vernünftige Antwort, also sagt Chelsea nur munter: »Mach’s gut, Mom !«

Patricia nickt, vollführt eine Kehrtwendung auf ihren hochhackigen Sandalen und ist schon halb bei ihrem Wagen, als sie auf einmal stehen bleibt. »Ach, jetzt fällt es mir wieder ein !«, ruft sie, macht sich aber nicht die Mühe, wieder ein Stück auf ihre Tochter zuzugehen. »Da kam etwas in den Nachrichten. Irgendein neues Virus ? Nicht wie Covid. Die Leute benehmen sich eigenartig, werden gewalttätig. Es gab einen Vorfall in irgendeinem Geschäft. Jemand wurde getötet. Erschlagen mit einer Flasche Thousand Islands, kannst du dir das vorstellen ?«

Chelsea ringt um ihre Beherrschung; ihre Mutter ist schon fast weg, und sie will ihr auf keinen Fall einen Grund liefern, doch noch länger zu bleiben.

»Okay. Ich sehe mir die Nachrichten an und gehe nicht einkaufen. Verstanden. Danke, Mom !«

Patricia kommt einen Schritt näher und blickt sie flehend an. »Nein, Liebes. Geh nicht in den Laden. Sieh im Internet nach, welcher es war. Mach dich schlau, was da los war. Trag vielleicht erst mal eine Maske. Sei einfach vorsichtig. Für die Kinder.«

Für mich, meint sie in Wirklichkeit.

Ihrer Mutter liegt nicht viel an ihr, aber sie hat auch keine Lust auf all die unerfreulichen Umstände, die mit dem Tod eines Angehörigen verbunden sind. Ihren ersten Mann zu verlieren war so lästig – ihre eigene Formulierung –, vor allem, da seine Kinder das ganze Geld geerbt haben und Patricia sich auf die Suche nach einem neuen, reicheren Mann machen musste, und zwar schnell, damit sie zur Sommergala des Country Clubs jemanden gefunden hatte. Wenn Chelsea oder ihren Mädchen etwas zustoßen würde, müsste Patricia deswegen womöglich extra ihren regelmäßigen Friseurtermin absagen.

Nachdem sie ihre Botschaft losgeworden ist, macht Patricia wieder auf dem Absatz kehrt und eilt zu ihrem eleganten weißen Sedan.

Sie winkt nicht zum Abschied, aber dafür trampelt sie über die frisch gepflanzten Begonien hinweg.

2

PATRICIAÜBERPRÜFTIMRÜCKSPIEGELihr Make-up und beschließt, ihr nächstes Estée-Lauder-Geschenkpaket Chelsea zu überlassen. Das arme Mädchen braucht dringend mal einen teureren Mascara und ein bisschen Farbe auf den Wangen. Die Sache mit Chelsea ist, dass sie von Geburt an kränklich, mürrisch und nachtragend war, sie hat immerzu um sich getreten und gebrüllt. Aber ist es denn wirklich so schwer, mal einen neuen Lippenstift auszuprobieren ? Patricia war für all die kleinen, nützlichen weiblichen Tricks immer sehr aufgeschlossen, und sie ist zufrieden mit dem, was sie im Spiegel sieht, auch wenn ihre Stirn mal wieder eine Auffrischung braucht. Sie legt den Rückwärtsgang ein und setzt zurück, und als die Hinterräder unerwartet über etwas hinwegruckeln, das in der Einfahrt liegt, japst sie ganz damenhaft auf. Vermutlich ein Gartenschlauch oder eine Zeitung oder irgendwas anderes, das weggeräumt gehört. Wenn Rosa oder Miguel irgendwelches Zeug in Patricias Einfahrt liegen lassen würden, gäbe es eine Ansage, die sich gewaschen hat.

Die Gegend, in der Chelsea wohnt, ist gar nicht so schlimm, aber das Tor an der Zufahrt braucht eine Ewigkeit, ehe es sich ratternd öffnet. Als Patricia weiterfährt, hupen die Fahrer hinter ihr sie an, weil sie sich auf der kurvenreichen Straße, die um den See herumführt, vernünftigerweise an die Geschwindigkeitsbegrenzung hält. Verärgert schaltet sie das Radio ein und geht mehrere Sender durch, aber überall schreien und schimpfen und jammern sie wegen dieses unglücksseligen Vorfalls herum, über diese Gewalttat, die für eine solche Gegend höchst ungewöhnlich ist. Patricia würde niemals in so einem Laden einkaufen, wo man sich mit irgendwelchen übergewichtigen Hausfrauen um Klopapier und Käsebällchen streiten muss. Für so etwas hat man Angestellte.

Sie verpasst knapp eine grüne Ampel und muss an einer großen Kreuzung halten. Gegenüber sieht sie ein kleines gelbes Gebäude, kaum mehr als eine Hütte. Ein verblichenes Schild verkündet: BIGFRED’S FUSSBÖDEN, und im schlampig dekorierten Schaufenster befinden sich schäbige Beispiele für Bodenbeläge, die einst vermutlich brauchbar waren, allerdings auch schon in besseren Tagen unansehnlich. Doch jetzt sind sie verblichen und abgenutzt, und niemand, der noch bei klarem Verstand ist, würde anhalten und sich in diesen winzigen Laden begeben, um ein Wort mit Big Fred zu wechseln. Über die Digitalanzeige draußen ruckeln rote Buchstaben: WENNDUESVERSAUTHAST, BESORGIHR, WASSIEWIRKLICHWILL: EINENNEUENFUSSBODEN !

Patricia zieht eine Braue hoch. Als müsste sie erst warten, bis ihr Mann zu Kreuze kriecht, wenn sie neue Böden haben will. Tatsächlich hätte sie sehr gern einen neuen Boden im Wintergarten, aber Randall beklagt sich immer noch über den Staub von der letzten Badrenovierung. Sie muss warten, bis er das nächste Mal mit den Jungs vom Gericht seinen zweiwöchigen Angeltrip auf die Bahamas unternimmt, bis sie das in Auftrag gibt. Und ganz sicher wird sie ihre neuen Böden nicht aus einem schäbigen kleinen Drecksladen wie diesem beziehen, der sie allzu sehr an die winzige Mühle erinnert, in dem sie in einem einzigen Zimmer gehaust hat, als Chelsea noch ein Baby war. Sie hat ihr Bestes gegeben, um diese Zeit aus ihrer Erinnerung zu verbannen, den ständigen Kampf, die Unordnung und den Lärm. Sie hat das hinter sich gelassen. Es ist vorbei. Diese Hütte ist nur eine groteske Erinnerung daran, wie hart sie gearbeitet hat, um dort hinzukommen, wo sie jetzt ist.

Endlich springt die Ampel auf Grün, und sie ist nicht mehr gezwungen, diese Laufschrift anzustarren, die sie auf so unelegante Weise daran erinnert, dass sie mit ihrem nächsten Renovierungsprojekt mal in die Gänge kommen sollte. Der Besuch bei Chelsea war so ermüdend, dass sie schnell wieder aufgebrochen und jetzt zu früh dran ist für ihren wöchentlichen Lunch mit Randall, aber im Club gibt es immer etwas zu tun, vor allem seit sie Mitglied in dem Ausschuss ist, der die Wohltätigkeitsveranstaltungen organisiert. Ihr erster Mann war ebenfalls Mitglied im Emerald Cove Country Club, deshalb ist sie ohne Unterbrechung seit fast zwanzig Jahren mit dabei. Hank winkt sie durchs Tor, und sie stellt den Wagen weiter vom Clubhaus entfernt ab als üblich, weil sie nach einem schattigen Parkplatz sucht. Während sie aufs Clubhaus zuläuft, berührt sie unauffällig ihr Armband, ihre Halskette, die Ohrringe, ihr Haar. Richtet die Strickjacke, streicht die Hose glatt und überprüft, als sie den Bordstein erreicht, mit einem Blick ihre pedikürten Zehennägel. Patricia ist nicht religiös, aber das hier ist ihre Art des Bekreuzigens. So segnet sie sich selbst, erdet sich. Wenn alles so ist, wie es sein soll, wenn alles perfekt ist, dann wird ihr nichts zustoßen.

Die automatischen Glasschiebetüren gleiten auf, und sie schließt kurz die Augen, als kalte Luft über sie hinwegspült wie eine Welle, die die drückende Hitze, den Schweiß und die Mühsal der Außenwelt von ihr abwäscht. Hier drinnen ist alles genau richtig, und Patricia fühlt sich ganz und gar zu Hause. Unaufdringliche Kunstwerke in Pastellfarben und goldenen Rahmen hängen an den buttergelben Wänden, und die gemusterten Teppiche sind stets makellos sauber. Die Plastikpflanzen sterben nie, verwittern nicht, bekommen keine braunen Spitzen – und werden, anders als Chelseas Kronleuchter, täglich abgestaubt. Barbara Chatham hat mal versucht, einen Assistenzhund mit ins Clubhaus zu nehmen, und alle haben sich derart über sie aufgeregt, dass sie am Ende lieber umgezogen ist. So sauber ist es hier drinnen. Kein Wunder, dass sie sich zu Hause fühlt.

»Guten Morgen, Mrs. Lane«, sagt irgendein junger Mensch hinter dem Empfangstresen mit gekünsteltem Lächeln. Patricia hebt die Hand so minimal wie möglich und behält das unverbindliche Lächeln im Gesicht. Nach so vielen Jahren hier im Club vergisst sie manchmal, dass sie jetzt Mrs. Lane ist und nicht mehr Mrs. Worthington. Oder, noch viel früher, eine junge, unverheiratete Mutter, auf deren schäbigem Plastik-Namensschild einfach nur PATTY stand.

Die Türen des Speisesaals sind noch geschlossen, und sie zieht die Brauen zusammen, ehe sie das Lächeln wieder an Ort und Stelle tackert und Richtung Lounge geht. Sie hört das melodische Stimmengewirr, ehe sie sie sieht: Lauter Frauen, die höflich miteinander diskutieren. Phrasen fliegen durch die Luft, so etwas wie Ich meine ja nur und Sollten wir nicht vielleicht auch bedenken und So ist es nun einmal, aber natürlich habe ich das nicht zu entscheiden, was weiß ich also darüber ? Die kleinen Härchen in ihrem Nacken richten sich auf. Irgendwas geht hier vor in ihrem Königreich, ohne dass sie davon wusste. Sie biegt um die Ecke, späht durch die offen stehenden französischen Flügeltüren und entdeckt lauter bekannte Gesichter im Konferenzraum. Ganz vorn steht eine Frau, die sie früher mal als Freundin betrachtet hat.

»Patty, bist du es ?« Ihre Stimme klingt unangenehm triumphierend. »Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst.«

Als Patricia hereinkommt, wird es ganz still. Zwanzig Frauen mustern sie von Kopf bis Fuß, ihre Blicke tasten sie ab wie Ameisen, die über sie kriechen und nach einem Riss in der Fassade suchen. Sie hebt das Kinn und lächelt ihr bewährtes Lächeln, das besagt, dass jene, die das Sagen haben, ihre Vormachtstellung niemals anzweifeln.

»Nun, ich wäre schon hier gewesen, wenn ich wüsste, dass du eine Party für mich organisierst, Karen.« Ihrer Stimme fehlt nicht viel zu einem Schnurren.

»Es ist eine spontan anberaumte Krisensitzung«, meldet sich Lynn zu Wort, ihre Stimme klingt gepresst. »Wegen der Blumen.« Karen wirft ihrer Handlangerin einen wütenden Blick zu, sagt aber nichts. Patricia zieht die Brauen hoch, um eine Erklärung zu verlangen. »Die Floristin hat abgesagt. Also brauchen wir für die Gala einen neuen Floristen.«

Würde es einen freien Platz geben, hätte sich Patricia gesetzt, aber Karen hat dafür gesorgt, dass das nicht geht, so wie sie offenbar dafür gesorgt hat, dass niemand ihre Mitvorsitzende über dieses geheime Treffen informiert hat. Diese theatralische alte Fledermaus plant vermutlich, irgendwelche Nelken mit Schleierkraut zu bestellen oder etwas ähnlich Grauenhaftes.

»Das ist ja ganz einfach.« Patricia schnippt mit den Fingern und lässt ihre Diamanten klimpern. »Die Frau von Randalls Golffreund ist Floristin. Die beiden spielen heute zusammen. Ich kümmere mich darum. Siehst du ? Es gibt überhaupt kein Problem. Ich hoffe doch sehr, Karens … kleines Meeting hat euch keine allzu großen Umstände bereitet.« Sie hebt das Handgelenk und blickt strahlend auf ihre neue Armbanduhr. »Oh, seht nur, wie spät es schon ist ! Ich muss zum Lunch mit dem Richter. Ich schreibe euch allen am Nachmittag eine Rundmail, um die Buchung der neuen Floristin zu bestätigen. Und ich kümmere mich darum, dass alles bei unserer ursprünglichen Planung mit dem tropischen Arrangement bleibt. Diese Paradiesvogelblumen werden so edel aussehen. Wir sehen uns später !«

Sie winkt ihnen mit den Fingerspitzen zu, macht kehrt und marschiert zur Tür hinaus Richtung Speisesaal. Er ist noch nicht geöffnet, aber der Schlüssel zum Gewinnen solcher Schlachten ist immer noch derselbe wie damals, als sie noch jung war und diese Schlampe namens Candy im Diner versucht hat, ihr das Trinkgeld zu stehlen: Rein, direkt an die Kehle und Abgang. Irgendwo hat sie noch immer ein Büschel von Candys Haar, eine Kampftrophäe, die sie stets daran erinnert, dass man Gegner am besten loswird, indem man dafür sorgt, dass sie bereuen, sich jemals mit einem angelegt zu haben.

Sie setzt sich auf das Sofa vor dem Speisesaal und lauscht dem verheißungsvollen Klirren von Silberbesteck und Porzellan, da klingelt ihr Handy. Sie nimmt es aus ihrer Birkin-Handtasche und hält es ein Stück von ihrem Ohr weg; sie hat auf Facebook gelesen, dass man Krebs bekommen kann, wenn man es zu nah ans Ohr hält, und außerdem mag sie es nicht, wenn ihre Ohrringe übers Display kratzen.

»Hallo ?«

»Bist du es, Schatz ?« Randalls Stimme ist leise und honigsüß, und Patricias Blick verfinstert sich. Sie weiß, was das bedeutet.

»Wer außer mir sollte an mein Handy gehen ?« Sie weiß, wie gereizt sie klingt, aber das soll er ruhig merken. »Wo bist du ? Sie öffnen gleich den Speisesaal.«

»Genau darum geht es, Liebste. Ich befürchte, ich kann dir heute keine Gesellschaft leisten. Die Zeugenbefragungen dauern doch länger …«

Was ein Code dafür ist, dass seine Sekretärin heute zum Lunch bleibt … was Patricia weiß, weil sie ihn kurz nach ihrer Hochzeit mal mit seinem Lieblings-Hühnersandwich überraschen wollte und ihr aus seinem Büro dieses kleine Miststück entgegengehuscht kam, mit verschmiertem Lippenstift, aufgeknöpfter Bluse und Mascaraschatten unter den Augen.

»Zum Abendessen schaffe ich es wohl auch nicht. Du weißt ja, wie das ist.«

Ihr Lächeln ist scharf wie eine Sense. »Ja, das weiß ich.«

»Mach dir einen schönen Tag mit deinen Mädels, okay ? Trinkt eine Runde Champagner oder so. Worauf immer du Lust hast.«

Die Türen öffnen sich und geben den Blick frei auf einen leeren Speisesaal, der funkelnd sauber auf Gäste wartet. Auf sämtlichen Tischen stehen frische Blumen, und Sonnenstrahlen fallen durch die kristallklaren Fenster, hinter denen makellos grün der Golfplatz liegt. Sie weiß: Wenn sie noch einen Moment wartet, wird sie sehen, wie Männer ihre Golfwagen über das Grün steuern, neben sich ihre Ehefrauen, und sie lachen und trinken Bier und necken einander, während andere Paare fröhlich die Wanderwege entlangwalken, begleitet von Irischen Settern, oder sie nehmen stattdessen die puderblauen Fahrräder, die säuberlich aufgereiht neben dem Club stehen. Frank und Emily Lambert gehen an ihr vorbei ins Restaurant, Arm in Arm, lachend, und bekommen den besten Tisch. Den Tisch, den sich eigentlich Patricia heute für den Lunch mit Randall sichern wollte.

»Hab einen schönen Tag, meine Süße«, sagt er.

»Du auch«, antwortet sie, wie es sich gehört, und klingt dabei wie die automatische Stimme eines der grauenhaften, programmierten Teddybären, die ihre jüngste Enkeltochter so liebt. Jene Bären, die in einem obszönen Ritual im Einkaufszentrum befüllt werden, bei dem man zusehen muss, wie ein Teenager ein Rohr in den pelzigen Bärenhintern steckt und ihn bis zum Bersten mit Flaum füllt.

Die Verbindung wird unterbrochen, und sie hält das Handy noch einen Moment in der Luft, als könne ihm noch der Gedanke kommen, dass er sich mit keiner Silbe entschuldigt hat.

Andere Frauen, so nimmt sie jedenfalls an, lieben ihre Ehemänner. Aber sie hat schon mal einen Mann geliebt, oder zumindest hat sie das damals gedacht, und was hat es ihr gebracht ? Mit achtzehn schwanger, wurde sie von ihm verlassen und von ihrer Familie aus dem Haus gejagt. Sie war vollkommen am Boden. Und seither betrachtet sie Männer nur noch unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit, sie waren ihre Leitersprossen auf dem Weg zu mehr Sicherheit und schließlich, als sie genug Arbeit investiert hatte, einem angenehmen Leben. Ihren ersten Gatten, den Unternehmer, fand sie und sicherte sie sich, nachdem Chelsea mit achtzehn endlich ausgezogen war, und er verschaffte ihr Ansehen und Respekt. Ihr zweiter Mann, der Richter, hat ihr schließlich zu Macht und Reichtum verholfen.

Vielleicht stirbt er ja, während er seine Sekretärin auf seinem Mahagonischreibtisch durchorgelt. Dann steht ihrem neuen Fußboden nichts mehr im Weg.

3

ELLAWARTETVORDEMGEBÄUDEH in einem kleinen Schattenfleck, der nur zwischen der sechsten und siebten Schulstunde da ist. Ihr Oberteil und einzelne Haare bleiben an der rauen Ziegelmauer hängen, an der sie lehnt, während sie sich so cool wie möglich gibt, die Arme vor der Brust verschränkt, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Wenn sie hier draußen außerhalb der Schulstunden erwischt wird, wird sie bestimmt suspendiert, zumindest aber bekommt sie einen Verweis. Wenn ihr Dad rausfindet, dass sie einen Freund hat, bringt er sie um.

Wirklich, dann bringt er sie um.

Die Tür schwingt auf, und Hayden kommt heraus, wie immer in Knopfleistenhemd und Khakihosen, das weiche blonde Haar in einer Frisur, die exakt zwischen Klassensprecher und Klassenclown liegt. Er lächelt. Früher hat sie geglaubt, dieses Lächeln sei speziell für sie reserviert, aber inzwischen weiß sie, dass er so lächelt, wenn er sich aufs Rumknutschen freut.

»Hey, mein Engel«, sagt er.

»Hey«, antwortet sie.

Er lässt seine Tasche mit den Büchern darin zu Boden plumpsen und legt eine Hand hinter ihr flach an die Backsteinwand, kesselt sie mit seinem Körper ein. Ehe sie ihre Reaktion unterbinden kann, zuckt sie leicht zurück und wendet das Gesicht ab. Er sieht es und umfasst mit der anderen Hand ihr Gesicht, dreht es grob zu sich und hebt es an, sodass er sie küssen kann. Sie lässt es zu, aber … na ja, es gefällt ihr nicht. Es fühlt sich nicht richtig an, nicht so wie in den Büchern, die sie gern liest und in denen Mädchen gute Küsse als warm, trocken, weich, zärtlich und herantastend beschreiben. Wenn sie solche Beschreibungen liest, kribbelt es in ihrem Bauch, und beim ersten Mal, als Hayden sie geküsst hat, hat sie dieses Bauchkribbeln ebenfalls verspürt. Jetzt aber spannt sich alles in ihrem Bauch an, ihr wird ein wenig übel, und an seinem Kuss ist überhaupt nichts zärtlich.

Seine Lippen sind hart, die Bartstoppeln kratzen, seine Zunge dringt grob in ihren Mund vor, und seine Zähne schlagen gegen ihre. Sein Atem riecht nach Blaubeeraroma, und sie fängt fast an zu würgen. Also hat er wieder mit Tyler gedampft, obwohl er ihr versprochen hat, dass er damit aufhört und obwohl er bis zum Hals in Schwierigkeiten steckt, falls sein Vater davon Wind bekommt. Seine Zunge drängt und schiebt sich vorwärts, es erinnert sie an das systematische, professionelle Vorgehen eines Zahnarztes. Sie öffnet die Augen, nur einen Spalt, und sieht, dass er die Stirn gerunzelt hat. Dann löst er sich von ihr.

»Was ist los, El ?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich meine, warum küsst du mich nicht ?«

Der Satz wühlt sie auf. Es klingt, als wäre er verärgert, dass sie angenommen haben könnte, er sorge sich um ihre Gefühle. Anfangs hat sie das wirklich geglaubt. Sie waren Freunde. Haben jeden Tag bei den Theaterproben miteinander geflirtet, sich ständig geschrieben und gegenseitig Memes geschickt und auf der Bank beim Parkplatz miteinander rumgemacht, beobachtet von ihren kichernden Freundinnen. Aber sobald sie eingewilligt hatte, offiziell mit ihm zusammen zu sein, seit feststand, dass er sie jederzeit küssen konnte, hatte sich etwas verändert. Er gab sich irgendwie eher … geschäftsmäßig? Jedenfalls fühlte es sich nicht sehr nach Liebe an, das stand fest.

Klar, er schenkt ihr immer zum Monatstag ihrer Beziehung eine Blume, stets vor Publikum, und ja, sie gehen gemeinsam zum Abschlussball, und er hat bereits die Farben mit ihr abgestimmt. Aber sie hat gedacht, es würde irgendwie … mehr sein. Mehr Bauchkribbeln und tiefsinnige Gespräche, Insiderwitze und nächtliche Nachrichten, in denen er ihr wünscht, dass sie gut schläft. Sie hat geglaubt, es würde alles sehr liebevoll sein.

Er ist niemals liebevoll.

Am liebsten würde sie ihn wegschieben, vielleicht sogar Schluss machen, aber er ist in der Theater-AG, so wie alle, mit denen sie befreundet sind, und wenn sie einfach so mit ihm Schluss macht, obwohl er der perfekte Freund ist, bringt sie damit alle gegen sich auf, und am Ende werden sie sie hassen, so wie es seiner Ex-Freundin Maddie Kim letztes Jahr ergangen ist, und dann stellt ihr bei der nächsten Aufführung jemand absichtlich ein Bein, damit sie vor den Augen der ganzen Schule auf die Nase fliegt. Denn in der Öffentlichkeit behandelt Hayden sie wie eine Prinzessin.

Er stellt sie auf ein Podest.

Sie möchte von diesem Podest runterspringen.

»Es ist ja nur … ich steh nicht so darauf, vor allen Leuten rumzuknutschen.«

»Tun wir doch gar nicht. Hier sind wir total unter uns.«

Ella schnaubt und zeigt auf die belebte Straße hinter dem Maschendrahtzaun, der die Schule umgibt.

»Scheiß auf die Leute. Ich konzentriere mich ganz auf uns, Babe.«

Sein Kopf schießt auf sie zu, und er küsst sie erneut. Es fühlt sich an, als würde eine Möwe auf sie herabstoßen; als wäre er fest entschlossen, sich von ihr zu nehmen, was immer er kriegen kann. Er legt die Hände an ihre Hüften und drückt sanft zu, streicht ihr pflichtbewusst ein paarmal über den Rücken, ehe er sich nach vorn vorarbeitet und versucht, die großen Daumen mit den abgekauten Nägeln unter ihren BH zu schieben. Sie versucht sich aus seinem Griff zu winden und hofft, er versteht das als Hinweis, aber er packt sie nur fester, und seine Daumen drücken hart genug zu, dass sie später blaue Flecken an den Rippen haben wird.

»Komm schon«, sagt sie, drückt seine Hände nach unten und hält sie fest. Mit der Backsteinmauer im Rücken, die ihr das Oberteil zu zerreißen droht, kann sie nicht weg. »Die nächste Stunde fängt doch gleich an. Hast du gelernt ?«

Er entreißt ihr seine Hände und wirft einen Blick aufs Handy. Das Display spiegelt sich in seinen Augen, und er presst verärgert die Lippen zusammen. »Ach was. Ich bekomme doch eh immer Einsen.«

Und das ist wahr. Sie selbst muss lernen wie blöd, weil ihr Vater ihr bei schlechten Noten den Wagen wegnimmt, aber Hayden strengt sich kein bisschen an und hat trotzdem in allen Fächern glänzende Noten. Er ist klug, er ist in der Theater-AG, er ist in der Baseball-Mannschaft. Er ist überall. Er ist perfekt. Sein Dad unterrichtet hier an der Schule. Und in aller Leute Augen ist er der reinste Goldjunge.

So hat ihn Ella anfangs auch gesehen. In Büchern ist der Bad Boy immer in Wirklichkeit ein guter Kerl, der seine gute Seite nur dem Mädchen zeigt, das er liebt. Im echten Leben allerdings sind die guten Jungs alle in Wirklichkeit üble Typen, die sich gut tarnen können, und niemand will es glauben, ehe es zu spät ist. Das ist der Grund, weshalb ihre Freundin Kaylin letztes Jahr vom Assistenten des Basketball-Trainers vergewaltigt wurde und die Schule verlassen musste – er hingegen ist jetzt natürlich Cheftrainer. Denn es gab keine Beweise, und als Kaylins Wort gegen seins stand, hat Kaylin verloren. Gute Trainer findet man eben nicht an jeder Ecke.

Die Basketball-Mannschaft gab Kaylin die Schuld an einigen verlorenen Spielen. Nachdem sie während einer Brandschutzübung unter ungeklärten Umständen zu Boden gestoßen wurde und sich einen Arm brach, hat sie sich fürs Homeschooling entschieden. Sie antwortet nicht mehr auf Ellas Nachrichten.

»Hey, fährst du mich nachher nach Hause ?«, fragt Hayden. Er ist im zweiten Highschool-Jahr und bekommt seinen brandneuen Jeep erst nächstes Jahr, während sie bereits seit einem Jahr ihren uralten Honda fährt.

»Ich muss nach Hause und auf Brooklyn aufpassen«, behauptet sie.

»Dann setz mich unterwegs ab. Ich verspreche dir, dass ich mich benehme.«

Der Schulgong ertönt, und überall fliegen Türen auf. Schüler hasten an ihnen vorbei, und unter ihren wissenden Blicken brennen Ellas Wangen.

»Komm schon, Babe. Nimm mich nachher mit«, fleht er sie an und reibt an ihrem Arm. »Ich bin auch ganz artig.«

Sie will nicht, aber zu ihrer Beschämung weiß sie verdammt gut, dass sie es trotzdem tun wird.

Außerdem weiß sie verdammt gut, dass er sich nicht benehmen wird.

»Ich muss los.« Sie dreht sich rasch um und taucht in der Menge unter; zieht den Kopf ein und drückt sich durch so enge Lücken hindurch, dass Hayden ihr nicht folgen kann.

Er kennt ihren Stundenplan auswendig und kommt manchmal in den Unterricht und witzelt mit den Lehrern herum, mit denen sein Vater befreundet ist. Anfangs hat ihr das imponiert, aber mittlerweile fühlt es sich an, als würde er sie kontrollieren. Manchmal kommt es ihr vor, als wäre der einzige sichere Rückzugsort für sie das Mädchenklo, also geht sie dorthin, wenn sie zwischen den Schulstunden mal ein bisschen Zeit für sich braucht. Auf der Toilette ganz hinten im Gebäude F ist normalerweise nichts los, aber heute trifft sie dort zu ihrer Überraschung auf ihre Freundin Olivia.

»Kann es etwa sein, dass ich gesehen habe, wie du und Hayden vor Haus H rumgeknutscht habt ?«, fragt sie und trägt vor dem Spiegel klebrigen rosa Lipgloss auf. »Scheiße, er ist so heiß, das ist einfach nicht fair.«

»Ja, oder ?« Ella nimmt eine Bürste aus ihrem Rucksack, um ihr von Hayden und der Backsteinwand zerzaustes Haar in Ordnung zu bringen. Sie weiß nie, was sie sagen soll, wenn ihre Freundinnen von Hayden schwärmen, aber ihr ist klar: Wenn sie etwas Schlechtes über ihn sagt, wird er es auf irgendwelchen Wegen erfahren. Eine ihrer zwei Freundinnen ist also nicht wirklich ihre Freundin, aber sie weiß nicht, welche es ist, und sie hegt den Verdacht, dass sie beide gern mit ihr Platz tauschen würden.

Oder zumindest glauben sie das.

Sie hört die Toilettenspülung, und Sophie kommt heraus. Es gibt drei Waschbecken, und Ella steht an dem in der Mitte, flankiert von den beiden anderen Mädchen, die ihr Make-up auffrischen und sie lächelnd und zugleich prüfend betrachten. Die beiden sind ihre besten Freundinnen, oder zumindest waren sie es mal. Sie sind seit der Mittelschule befreundet und haben früher ständig beieinander übernachtet, aber das hier fühlt sich eher wie ein Hinterhalt an als wie ein zufälliges Zusammentreffen. Olivia und Sophie hängen in letzter Zeit ständig zusammen rum, und Ella fühlt sich ein bisschen ausgegrenzt. Jetzt gerade aber nicht.

»Ich weiß, was Hayden dir für euer dreimonatiges Jubiläum besorgt hat«, flötet Sophie und trägt mehr Mascara auf. »Es wird dir so gefallen !«

»Weil du ihm beim Aussuchen geholfen hast.« Olivia kichert, und ihre Augen leuchten auf. »Als ihr beiden zusammen im Einkaufszentrum wart, hast du auf keine meiner Nachrichten geantwortet.«

Sophie verdreht die Augen. »O mein Gott, du weißt doch, dass wir nur Freunde sind.«

Sie geben sich fröhlich und zuckersüß, als wäre es ein Spiel, aber es ist ein Spiel, das darauf angelegt ist, dass Ella verlieren wird, ganz gleich, was sie tut.

»Und ich weiß, was er von dir will. Es kostet nichts und ist ganz leicht zu besorgen …« Olivia räuspert sich, um Ellas Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und vollführt eine sehr eindeutige Geste.

Ellas Freundinnen brechen in Gelächter aus, und Ella wird rot. Diese Geste – sie hat so was noch nie mit einem Jungen gemacht, sie will es nicht mit Hayden tun, und ganz sicher will sie mit niemandem darüber reden.

»Tja, ich schenke ihm Rasierwasser und wollte ihm einen Kuchen backen, aber das muss dann auch reichen«, sagt sie im Versuch, die freche, verspielte Art der beiden zu imitieren, was ihr misslingt.

Sophie legt ihr eine Hand auf die Schulter, ihre perfekten Brauen ziehen sich zusammen. »Okay, aber jetzt mal im Ernst, du weißt schon, dass Jungs das erwarten, oder ? Hayden ist für dich der Erste, aber …« Sophie kichert. »Du musst quasi.«

Ella schüttelt ihre Hand ab. »Ich muss gar nichts.«

Olivia zuckt mit einer Schulter und trägt eine weitere Schicht Gloss auf. »Wenn du ihn halten willst, dann schon.«

Wenn sie nur wüsste, wie wenig bedrohlich das in Ellas Ohren klingt. Nimm ihn ruhig, wenn du ihn haben willst, würde sie am liebsten sagen. Aber sie tut es nicht, denn sonst wird er sie nachher, wenn sie ihn fährt, ganz sicher fragen, weshalb alle behaupten, dass sie ihn nicht mehr liebt.

»Du willst aber schon mit ihm zusammen sein, oder ?«, ergreift jetzt Sophie das Wort, die braunen Augen so groß und unschuldig, als ginge es ihr um nichts anderes als Ellas Gefühle.

Ella schluckt schwer; ihr ist zumute, als würden die beiden von vorne und hinten zugleich mit Messern auf sie losgehen. Sie erinnert sich noch daran, wie sie sich früher aufeinander verlassen konnten, wie sie einander ihre Geheimnisse anvertraut und über ihre heimlichen Flammen gesprochen haben. Damals, als sie noch ehrlich zueinander gewesen sind. Sie erinnert sich daran, wie Olivia weinend geschworen hat, niemals so zu werden wie ihre Mutter, die jedes Jahr einen neuen Typen hatte; eine endlose Abfolge arbeitsloser Verlierer, die sich von ihr aushalten ließen. Jetzt hat Olivia jeden Monat einen Neuen. Und Sophie war so wütend, als ihre Eltern sich haben scheiden lassen, zornig auf ihre Mutter, die mit einem verheirateten Mann fremdgegangen ist, und auf ihren Vater, der sie daraufhin einfach verlassen hat. Jetzt verbringt sie hinter Ellas Rücken Zeit mit ihrem Freund und ist auch noch stolz darauf. Was ist bloß mit den beiden passiert ? Wann haben sich diese beiden Mädchen in solche Miststücke verwandelt ? Und wie kann es sein, dass Ella nichts davon bemerkt hat ?

Auf ihrer letzten gemeinsamen Übernachtungsparty hat Ella, ermutigt dadurch, dass ihre Freundinnen ihre Geheimnisse mit ihr geteilt haben, erzählt, was ihr Vater abends mit ihrer Mutter macht. Obwohl sie gemerkt hat, dass die beiden ihr nicht recht glauben, haben sie sie umarmt und mit ihr zusammen geweint und ihr versichert, Ella würde niemals so werden, würde niemals zulassen, dass ein Mann solche Macht über sie hat.

Und das stimmt, das wird sie auch nicht. Manchmal ist es leichter, einfach mitzuspielen, aber sie ist nicht Haydens Besitz, er kann nicht über sie bestimmen. Schon bald wird er wegen irgendeiner anderen mit ihr Schluss machen, und dann werden alle Mitleid mit ihr haben, statt sie gehässig anzustarren und hinter ihrem Rücken zu tuscheln. Bis dahin …

Olivia und Sophie wechseln einen Blick, den sie nicht zu deuten vermag, der ihr aber trotzdem ganz und gar nicht gefällt, und Ella wirft einen Blick auf ihr Handy. Gleich wird es zum Unterricht läuten, was heißt, dass sie sich beeilen muss, denn Mr. Harkey hasst es, wenn man zu spät kommt.

»Fährst du mich nach der Schule nach Hause ?«, fragt Sophie.

»Ich, äh, ich nehme schon Hayden mit …«

»Zeit für mehr Fummeleien !«, johlt Olivia.

»Meine Damen ?«

Diese zwei Wörter, so leise sie sind, lassen die Stimmung augenblicklich kippen. Olivia und Sophie lassen ihre unbekümmerte Party-Girl-Attitüde fallen und sind auf einmal wieder ganz normale Teenager. Alle drei Mädchen rücken instinktiv dichter zusammen, nervös und linkisch wie junge Antilopen.

»Es läutet gleich«, sagt Mr. Brannen und beugt sich ein Stück herein, beide Hände in den Taschen und mit den Füßen technisch gesehen noch draußen im Flur.

Ihr stellvertretender Schulleiter ist dafür bekannt, dass er manchmal Mädchen den Weg versperrt, wenn sie nicht da sein sollten, wo sie gerade sind. Im Augenblick blockiert er den einzigen Ausgang, und als es klingelt, blickt er wissend und fast entschuldigend zu dem Lautsprecher an der Decke hoch.

»Und da ist es auch schon so weit. Sieht ganz so aus, als würden Sie alle drei zu spät kommen. Es sei denn, Sie haben eine gute Entschuldigung.«

Mr. Brannen ist ungefähr so alt wie ihr Vater, mit einem dicken Bauch, über dem sich das Hemd spannt. Sein Haar wird bereits schütter, er trägt hässliche, spitz zulaufende Schuhe, und als seine trüben braunen Augen sie langsam von oben bis unten mustern, möchte sich Ella am liebsten zusammenrollen und einfach sterben. Sie hat unerfreuliche Geschichten über ihn gehört, vor allem seit seiner Scheidung, aber alles nur aus zweiter Hand.

»Ich fühle mich nicht besonders«, sagt Olivia und schnieft übertrieben.

»Oh, ich wette, die Jungs küssen Sie trotzdem. Ich würde jedenfalls !« Mr. Brannen zwinkert ihr grinsend zu. »Aber wenn Sie zur Schwester gehen möchten, tun Sie das ruhig. Die körperliche Gesundheit unserer Schüler liegt uns sehr am Herzen.« Olivia schiebt sich an ihm vorbei, und er bewegt die Hüfte gerade so weit in ihre Richtung, dass sie ihn streifen muss. »Und Ihre Entschuldigung, Miss Gibson ?«

»Meine Regel hat zu früh begonnen.« Ella ist beeindruckt, als sie sieht, wie angriffslustig Sophie das Kinn hebt und ihm ins Gesicht sieht.

»TMI, Miss  Gibson. Too much information. Ist Ihnen bekannt, dass die Pille dabei hilft, den Zyklus zu regulieren, um solchen unangenehmen Überraschungen vorzubeugen ?«

»Ja, Sir.« Sophie eilt an ihm vorbei. »Hatten wir im Unterricht.« Sie lässt Ella allein zurück und sieht sich nicht einmal um.

Mr. Brannen bewegt die Hand in der Hosentasche, als würde er mit Kleingeld herumspielen. »Miss Martin. Eine meiner Lieblingsschülerinnen. Gute Noten, keinerlei Disziplinarmaßnahmen. Aber mir ist da ein Gerücht zu Ohren gekommen.« Er kommt näher, legt eine Hand an den Mund und flüstert verschwörerisch: »Haben Sie etwa in unseren bescheidenen Räumlichkeiten mit einem Jungen öffentlich Zärtlichkeiten ausgetauscht ?« Er tritt zurück und grinst, als wäre er sehr mit sich zufrieden. »Sie wissen doch, dass das nicht geduldet wird.«

»Ich … nein, Sir. Das würde ich nie tun. Ich meine, das habe ich nicht getan.« Ella spürt, dass sie rot geworden ist, sie ist eine schlechte Lügnerin, aber die Wahrheit kann sie auch nicht sagen.

Mr. Brannen lehnt sich gegen die Wand, und seine Jacke klafft auf. Der Reißverschluss seiner Hose ist nur halb hochgezogen. »Experimente sind für ein Mädchen in Ihrem Alter etwas ganz Normales. Im Mittelalter wären Sie vermutlich längst verheiratet und hätten Kinder.« Er zwinkert ihr zu. »Und in manchen Ländern und Kulturen unserer Zeit würde man sagen, Sie sind genau im richtigen Alter.«

Ella ist angewidert und wie betäubt, und ihr fällt nicht ein, was sie einem erwachsenen Mann entgegnen soll, der so etwas zu ihr sagt, zumal er ihre Zukunft in der Hand hat. Aber anscheinend muss sie zu dieser Unterhaltung auch gar nichts beitragen, denn er redet schon weiter.

»Ich weiß, was für eine aufregende Zeit das ist, aber versuchen wir doch, keine Regelverstöße zu begehen, hm ? Wenn ich Sie dabei erwischen sollte, wie Sie mit Ihrem Freund herummachen, wie man so schön sagt, dann sitzen Sie nach. Und zwar an einem Samstagmorgen in meinem Büro und unter meiner Aufsicht. Sie müssen anscheinend lernen, was Mädchen blüht, die sich nicht an die Regeln halten.«

Ella schluckt, um nicht vor Schreck nach Luft zu schnappen.

»Haben wir uns verstanden ?«

»Ja, Sir.«

Er nickt lächelnd, ganz ruhig und selbstsicher und offenbar erfreut. »Der Klang dieser Worte hat mir schon immer gefallen. Ja, Sir. Einer der vielen Vorzüge meines Berufs. Jetzt gehen Sie in Ihren Unterricht, Miss Martin. Und falls Ihr Lehrer fragen sollte, weshalb Sie so spät kommen, dann sagen Sie ihm, dass wir beide uns unterhalten haben.«

Ella bringt nur ein stummes Nicken zustande und huscht durch die Tür hinaus, in der er immer noch steht, wohlwissend, dass es sich nicht vermeiden lässt, ihn zu streifen. Sie ist ziemlich sicher, dass er kurz eine Hand über ihren Hintern gleiten lässt, aber die Bewegung ist so schnell, die Berührung so kurz, dass sie es nicht hätte beschwören können. So ist es immer mit Mr. Brannen – alles, was er sagt, fühlt sich vollkommen unangemessen und widerlich an, aber wenn man es vor der Vertrauenslehrerin oder auch der Polizei wiederholen würde, könnte man die Sache als ganz normale Unterhaltung abtun und ihre Reaktion als hysterisch.

Als sie in den Unterricht kommt, sagt sie nicht, dass sie sich mit Mr. Brannen unterhalten hat.

Sie nimmt lieber den Eintrag wegen ihrer Verspätung in Kauf, als dass sie irgendwem Anlass für Tuscheleien bietet.

4

BALDWIRDDAVIDNACHHAUSEkommen, und Chelsea fragt sich, was sie sich jeden Tag etwa zu dieser Zeit fragt: Wird es ein guter oder ein schlechter Abend ?

Sie fühlt sich immer plötzlich so klein, wenn ihr Mann zur Tür hereinkommt. Und das liegt nicht daran, dass er so groß wäre – er ist von ganz durchschnittlicher Größe, was ihn sehr wurmt –, aber er trainiert ständig, und irgendetwas an seiner Ausstrahlung lässt sie förmlich in sich zusammenschrumpfen.