The Way You See Me - Lisa Sophie Laurent - E-Book
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The Way You See Me E-Book

Lisa Sophie Laurent

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Beschreibung

Kann ein Herz wieder heilen, auch wenn es in tausend Stücke zerbrochen ist?

Bei einem Treffen der Umweltschutzorganisation Future Force begegnet die Studentin Mila dem charismatischen Aktivisten Oscar. Er leitet die Gruppe und ist gut aussehend, selbstbewusst und charmant. Bei Mila lässt das alle Alarmglocken schrillen. Oscar erinnert sie viel zu sehr an Niklas. Niklas, auf den sie sich verlassen, den sie geliebt hat. Niklas, der sie nach und nach gebrochen hat. Seither hat Mila Probleme, anderen zu vertrauen. Sie beschließt, Oscar aus dem Weg zu gehen, doch er ist ihr längst unter die Haut gegangen. Stück für Stück lässt er ihre Schutzmauern einstürzen. Dass er, wie sie, die Umwelt retten will, gefällt ihr. Doch können sie sich auch gegenseitig retten? Denn auch Oscar hat mit seiner Vergangenheit zu kämpfen …

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Seitenzahl: 436

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Das Buch

Bei einem Treffen der Umweltschutzorganisation Future Force begegnet die Studentin Mila dem charismatischen Aktivisten Oscar. Er leitet die Gruppe und ist gut aussehend, selbstbewusst und charmant. Bei Mila lässt das alle Alarmglocken schrillen. Oscar erinnert sie viel zu sehr an Niklas. Niklas, auf den sie sich verlassen, den sie geliebt hat. Niklas, der sie nach und nach gebrochen hat. Seither hat Mila Probleme, anderen zu vertrauen. Sie beschließt, Oscar aus dem Weg zu gehen, doch er ist ihr längst unter die Haut gegangen. Stück für Stück lässt er ihre Schutzmauern einstürzen. Dass er, wie sie, die Umwelt retten will, gefällt ihr. Doch können sie sich auch gegenseitig retten? Denn auch Oscar hat mit seiner Vergangenheit zu kämpfen …

Die Autorin

Lisa Sophie Laurent wurde 1994 geboren und ist Content Creatorin, Moderatorin und Autorin. Sie studierte Politikwissenschaften und Psychologie und beschäftigt sich auf ihren Social-Media-Kanälen seit über zehn Jahren mit mentaler Gesundheit, Queerness und Nachhaltigkeit. Gemeinsam mit ihrer Familie und ihren Katzen lebt sie in München.

LISA SOPHIE LAURENT

THE WAY YOU SEE ME

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 08/2023

Copyright © 2023 Lisa Sophie Laurent

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Silvana Schmidt

Covergestaltung: zero-media.net unter Verwendung von FinePic®, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30000-5V003

www.heyne.de

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet sich hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Lisa Sophie Laurent und der Heyne Verlag

Für Aron

KAPITEL 1

Auf einer Skala von eins bis zehn, wie wahrscheinlich war es, dass es auffiel, wenn ich gleich vor Langeweile vom Stuhl kippte? Würde mein Kopf mit einem satten »Klonk«-Geräusch auf dem Boden aufschlagen? Oder würde ich so elegant und leise zu Boden sinken wie eine feine Dame im achtzehnten Jahrhundert, deren Korsett zu eng geschnürt worden war? Ganz ehrlich? Szenario eins war leider deutlich wahrscheinlicher.

Ich unterdrückte ein gequältes Seufzen und rutschte auf dem quietschgelben Stuhl hin und her, auf den ich mich vor geschlagenen vier Stunden hatte fallen lassen. Da hatte ich noch gedacht, der Abend würde angenehm werden. Leider hatte ich meine Müdigkeit nicht mit einkalkuliert, die immer schnell aufkam, sobald ich es mir irgendwo gemütlich machte. Und die war gerade nun wirklich alles andere als hilfreich. Schließlich wollte ich auf keinen Fall, dass Lilly und Jasper mich am Ende des Abends wie ein Kleinkind nach einer langen Autofahrt zurück in unsere WG tragen mussten. Unwillkürlich musste ich grinsen, als ich mir dieses Szenario bildlich vorstellte. Schnell hob ich eine Hand vor den Mund.

Mit einem Blick vergewisserte ich mich, dass niemand meine Reaktion bemerkt hatte, die so gar nicht zum Vortrag über die dramatischen Folgen der Überfischung der Weltmeere passte, dem wir gerade lauschten. Doch von den etwa zwanzig anderen Studierenden, mit denen ich in einem Halbkreis saß, sah glücklicherweise niemand in meine Richtung.

Vor uns befand sich die kleine Bühne, auf der Lilly zu Beginn des Abends gestanden hatte, um über das Thema Upcycling zu sprechen. Das war auch der Grund, warum ich hier war, denn freiwillig hätte ich meinen Freitagabend garantiert nicht bei einer Veranstaltung zum Thema »Nachhaltigkeit und Umweltschutz« verbracht. Was nicht daran lag, dass mich die Zukunft unseres Planeten kalt ließ. Stillsitzen zählte nur einfach nicht zu meinen Stärken. Hätte ich ein Notizbuch dabeigehabt, in dem ich hätte herumkritzeln können, wäre es mir deutlich leichter gefallen, mich zu konzentrieren. Doch ich wusste, dass das nach außen hin oft so wirkte, als würde ich nicht zuhören. Diese Erfahrung hatte ich schon einige Male machen müssen, daher hatte ich es zu Hause gelassen und beschränkte mich stattdessen darauf, alle paar Minuten in meine Jackentasche zu greifen und mit dem Haargummi zu spielen, den ich stets bei mir trug. Es war eines dieser Modelle, die wie ein altes Telefonkabel aussahen. Mit meinem Daumen die einzelnen Ringe entlangzufahren, war zwar nicht dasselbe wie zu zeichnen, doch es half.

Im Laufe des Abends hatte ich bewundernd beobachtet, wie die anderen Teilnehmenden zwar immer mal wieder kurz auf ihre Smartphones gesehen hatten, abgesehen davon jedoch konzentriert den Vorträgen gefolgt waren. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, wie andere Menschen das schafften. Doch bevor ich mich weiter über mich und meine geringe Aufmerksamkeitsspanne ärgern konnte, fiel mein Blick auf Jasper.

Erleichtert stellte ich fest, dass zumindest er ebenfalls damit zu kämpfen hatte, seine Augen offen zu halten. Geistesabwesend starrte er in eine Ecke des Raumes. Doch meinen Blick schien er nach einer Weile zu spüren, denn er sah auf und lächelte mir zu. Das gab mir die nötige Motivation, um trotz des kribbelnden Bewegungsdrangs in meinen Beinen sitzen zu bleiben.

Das hier war keine langweilige Uni-Veranstaltung mit Anwesenheitspflicht. Es gab einen guten Grund, warum ich hier war. Lilly.

Auch wenn wir nie darüber gesprochen hatten, taten Jasper, Lilly und ich alles füreinander. Jasper und ich kannten uns schon seit über zwanzig Jahren. Unsere Mütter hatten sich beim Babyschwimmen kennengelernt, und da Jasper und ich damals durch Zufall die gleiche grüne Badehose mit Froschaufdruck getragen hatten, war eine Freundschaft fürs Leben quasi vorprogrammiert gewesen. Jasper bestand übrigens bis heute darauf, dass ihm die Badehose ganz klar besser gestanden hatte. Lilly hatte ich in der zehnten Klasse kennengelernt. Wir waren gemeinsam in der Theatergruppe unserer Schule gewesen, und ich hatte sie auf Anhieb ins Herz geschlossen. Von Lillys damaligem Lampenfieber war heute kaum noch etwas zu spüren. Ihr Vortrag war der erste des Abends gewesen, und sie hatte locker und souverän gesprochen, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu verhaspeln. Während ich gemeinsam mit dem Rest des Publikums höflich geklatscht hatte, hatte ich Lilly innerlich lautstark zugejubelt. Ein Teil von mir hätte ihren Vortrag am liebsten gefilmt. Dann hätten wir Frau Fischer-Kurth beweisen können, dass Lilly eindeutig nicht der hoffnungslose Fall war, als den sie sie immer bezeichnet hatte. Obwohl es auch etwas Gutes hatte, dass unsere Theaterlehrerin Lilly damals in die Kulissenbau-Gruppe gesteckt hatte. Die handwerkliche Arbeit hatte meiner besten Freundin auf Anhieb so viel Spaß gemacht, dass sie nun eine Ausbildung zur Schreinerin machte. Ihre selbst gebauten Möbel aus Holzresten hatten ihr den heutigen Platz auf der Bühne verschafft.

Während Lilly ihre Präsentation abwechslungsreich gestaltet und mit Fotos und Videos untermalt hatte, war alles, was danach kam, leider deutlich trockener gewesen.

Irgendwann hatte ich aufgehört mitzuzählen, aber gefühlt warf der Beamer gerade die hundertste Folie voller langer Textblöcke auf die Leinwand. Es tröstete mich ein wenig, dass der aktuelle Vortrag zumindest der letzte des Abends war. Dennoch vergingen die nächsten Minuten quälend langsam.

Als ich endlich die rettenden Worte »Und damit bedanke ich mich für eure Aufmerksamkeit« hörte, wäre ich am liebsten sofort aufgesprungen. Ich griff bereits nach meinem Rucksack, als mich eine warme Stimme aufhorchen ließ.

»Danke an Jan und an alle anderen, die heute Abend ihr Wissen mit uns geteilt haben. Ich denke, ich bin nicht der Einzige, der viel Neues dazulernen durfte«. Als ich aufsah, erkannte ich, dass die Stimme zu einem jungen Mann gehörte, der gerade die Bühne betrat. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich.

Er war groß, hatte dunkelbraune Locken und trug eine ovale Brille mit braunem Rand. Im Gegensatz zu der Latzhose mit welligem Regenbogen-Print und den pinken Doc Martens, für die ich mich heute entschieden hatte, war sein Outfit eher schlicht: blaue Jeans, schwarzes T-Shirt und weiße Sneakers, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatten. Er war so unscheinbar, dass er mir bis jetzt nicht aufgefallen war. Doch seine Stimme klang wie die eines Hörbuchsprechers, was ihn mir auf unerklärliche Weise sofort sympathisch machte.

»Für die unter euch, die mich noch nicht kennen, mein Name ist Oscar«, stellte er sich vor. »Ich leite die Future Force.«

In meinem Kopf machte es Klick. Er war derjenige, der Lillys Upcycling-Möbel an ihrem Flohmarktstand entdeckt und sie zur Veranstaltung eingeladen hatte.

»Eigentlich wollte ich heute Abend auch schon die Begrüßung übernehmen, aber leider hat mich eine kleine Rettungsmission zu Hause festgehalten.« Oscar machte eine Kunstpause und sah sich im Raum um. »Da hinten findet ihr unser Büfett, an dem ihr euch gern bedienen könnt. Ich habe den Nudelsalat mitgebracht – Probieren auf eigene Gefahr. Beim Kochen habe ich nebenbei eine Serie geschaut und war so gebannt, dass ich es mit dem Würzen etwas übertrieben habe. Geschmacklich ist es sehr … intensiv.«

Das Publikum reagierte mit einem Lacher auf seinen gespielt zerknirschten Gesichtsausdruck.

»Mit Annas Pizzaschnecken seid ihr also im Zweifelsfall besser beraten.«

Ich konnte nicht anders, als zu lächeln. Auch bei mir gingen im Alltag gern einmal Dinge schief, und ich fand, dass Humor und Selbstironie die beste Art waren, damit umzugehen.

Während Oscar noch ein paar Dinge zur Future Force und ihrem Engagement erzählte, ließ ich meinen Blick wieder durch das Publikum wandern. Ich erwartete, dass die ersten Leute langsam unruhig werden und erneut auf ihr Smartphone oder hungrig zum Büfett schauen würden. Was ich jedoch stattdessen sah, ließ mein Lächeln gefrieren.

Die gesamte Aufmerksamkeit des Raums war auf Oscar gerichtet. Alle nickten und lächelten und schienen beim Zuhören förmlich an seinen Lippen zu kleben. Sofort spürte ich, wie das meiner Sympathie für ihn einen herben Dämpfer verpasste. An die Stelle des amüsierten, gelösten Gefühls, das ich gerade noch empfunden hatte, trat nun plötzlich eine dumpfe Leere. Die Reaktionen auf Oscar kamen mir schmerzhaft bekannt vor.

Sie erinnerten mich an jemand anderen, der bei unserer ersten Begegnung ebenfalls so warm und herzlich gewesen war, dass ich mich in seiner Gegenwart direkt wohlgefühlt hatte. An jemanden, der auch immer wie der nette Typ von nebenan gewirkt hatte, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Auch er hatte es mit Leichtigkeit geschafft, andere zum Lachen zu bringen, und war stets das Zentrum der Aufmerksamkeit gewesen, sobald er einen Raum betreten hatte.

Ich merkte, wie Wut die Leere in meinem Körper zu füllen begann und sich ungebremst gegen Oscar richtete. Ich kenne Typen wie dich, schoss es mir durch den Kopf, und auch wenn ich mich ermahnte, rational zu bleiben, setzte sich die folgende Gedankenspirale dennoch erbarmungslos in Gang. Ich stellte mir vor, wie Oscar seine Freundin belog, wie er auf einer Party jemand anderen küsste, wie er das Ganze abstritt und behauptete, mit seiner Freundin würde nur die Fantasie durchgehen. Ich sah sein falsches, beschwichtigendes Lächeln, das bald darauf zu einem überheblichen und abschätzigen Grinsen wurde und die Hände zu Fäusten geballt, sah ich Oscar voller Wut und Enttäuschung an.

Ohne es zu wollen, stieß ich ein genervtes Stöhnen aus und riss mich damit selbst zurück in die Realität. Das Geräusch war nicht gerade leise gewesen, und einen Moment lang hoffte ich inständig, dass es dennoch niemand gehört hatte. Doch da drehte Oscar bereits seinen Kopf in meine Richtung. Ich sah die Frage in seinem Blick, der trotz meiner unhöflichen Unterbrechung offen und freundlich war.

Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Aus meiner Theaterzeit wusste ich genau, wie verunsichernd eine solche Reaktion aus dem Publikum sein konnte. Egal wie intensiv meine Wut gerade auch noch gewesen war, ich hatte sie auf gar keinen Fall nach außen tragen wollen. Schnell bemühte ich mich um eine Unschuldsmiene, und zu meiner großen Erleichterung schien es zu funktionieren, denn Oscars Mund verzog sich zu einem verschmitzten Grinsen. Es überraschte mich, wie deutlich ich plötzlich meinen eigenen Herzschlag wahrnahm.

Eine Woge unterschiedlicher Gefühle schwappte über mich hinweg. Ich war immer noch wütend, gleichzeitig fühlte ich mich ertappt. Und dann war da noch etwas anderes, das ich nicht einordnen konnte.

Nach einem Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, sprach Oscar weiter, als wäre nichts gewesen, und ich zwang mich, langsam und ruhig zu atmen. Ich kannte ihn nicht, und er kannte mich nicht. Wir sahen uns heute Abend zum ersten Mal. Er hatte diese Dinge nicht getan. Nicht er. Nacheinander konzentrierte ich mich auf meine verkrampften Finger, meinen angespannten Bauch und die hochgezogenen Schultern und zwang mich zu entspannen.

Es ist alles gut, sagte ich mir dabei in Gedanken und wiederholte den Satz so lange, bis die Worte auch wirklich bei mir ankamen. Auch wenn es nicht zum ersten Mal passierte, dass meine Gedanken mir derart entglitten, wurde das Gefühl dabei mit der ständigen Wiederholung nicht weniger intensiv. Es war aufwühlend und ermüdend zugleich, und auch dieses Mal ärgerte ich mich über mich selbst, weil ich noch immer keine Strategie gefunden hatte, um damit umzugehen.

Als Oscar kurz darauf den offiziellen Teil des Abends beendete und alle ihre Aufmerksamkeit dem Büfett zuwandten, hatte ich mich wieder im Griff. Betont locker stand ich auf, schüttelte meine Arme und Beine aus und schob mir eine Strähne hinters Ohr.

Meine Haare reichten mir inzwischen bis zum Schlüsselbein und erinnerten mich daran, dass ich einen Friseurtermin ausmachen wollte, um mal wieder die Spitzen schneiden zu lassen.

»Deine Haare wissen nicht, ob sie blond oder braun, lang oder kurz, glatt oder lockig sein wollen. Du musst da dringend eine Entscheidung treffen. Bei Castings wird ein bestimmter Typ gesucht, und dieses Zwischending ist da ganz eindeutig ein Nachteil für dich.«

Viel zu lange hatte ich auf seine vermeintlich guten Ratschläge gehört. Sie hatten mich dazu gebracht, meine Haare hellblond zu färben und sie wachsen zu lassen. Weil sie eigentlich zu fein dafür waren, hatte ich Tape Extensions getragen und sie alle paar Wochen wieder hochsetzen lassen müssen.

Der straßenköterblonde, leicht gewellte Long Bob, den ich nun trug, war der erste optisch sichtbare Befreiungsschlag von ihm gewesen, und meine Haare zu berühren half mir auch heute dabei, mich wieder auf die Realität zu konzentrieren. Genauso wie Lillys Hand, die ich in dem Moment auf meinem Arm spürte.

»Es tut mir echt leid, Mila«, raunte sie mir zu, und das schlechte Gewissen in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Hätte ich gewusst, dass das alles hier so lange dauert, dann hätte ich dich garantiert nicht gezwungen mitzukommen.«

»Das hast du nicht, mach dir keine Sorgen.« Beruhigend lächelte ich ihr zu. Bestimmt hatte auch sie mein genervtes Stöhnen gehört, und ich wollte ihr auf gar keinen Fall ein schlechtes Gefühl geben. Das hier war ihr Abend.

»Dein Vortrag hat mir echt gut gefallen«, sagte ich daher. »Du hast sehr frei gesprochen und die PowerPoint fand ich auch gut.« Mein prototypisches Schulreferats-Feedback brachte Lilly zum Lachen. Diesen kurzen Moment nutzte ich, um mir ein paar passende Worte zurechtzulegen. »Nein, mal im Ernst. Du hast das richtig gut gemacht, und die anderen Themen heute Abend fand ich auch sehr interessant. Ich habe viel Neues über Nachhaltigkeit gelernt. Nur meine Konzentration … Du weißt ja, dass das bei mir immer so eine Sache ist. Aber ich arbeite daran.«

Lilly nickte verständnisvoll und wandte ihren Blick dann Jasper zu, der in diesem Moment mit einer Pizzaschnecke in der Hand neben mich trat. Er hatte sich seinen schwarzen Mantel lässig über die Schulter geworfen und hielt ihn mit dem Zeigefinger fest. Eine Pose, die bei jemand anderem vielleicht albern gewirkt hätte, bei Jasper jedoch absolut natürlich aussah.

»Am Ende ist die Konzentration vermutlich bei allen ein wenig flöten gegangen«, sprang er mir zur Seite. »Ich kann mir aber auch gut vorstellen, dass es schwierig ist, sich kurz zu fassen, wenn einem ein Thema wirklich wichtig ist.«

Ich nickte, weil ich wusste, dass er recht hatte. Doch der kleine Rest Wut, den ich noch immer verspürte, stachelte mich an, ihm dennoch zu widersprechen.

»Ich verstehe, was du meinst, Jasper«, hörte ich mich sagen, bevor ich es mir anders überlegen konnte. »Aber wer so viel Inhalt in einen Abend quetscht, dass einem beim Zuhören fast das Gehirn platzt, braucht sich auch nicht zu wundern, wenn beim nächsten Mal niemand mehr kommt.«

»Also ich persönlich fände es sehr schade, wenn ihr nicht noch mal herkommen würdet.« Es war die Hörbuchstimme, die plötzlich dicht hinter mir erklang, und ich spürte, wie sich die Härchen in meinem Nacken aufstellten. Ein zweites Mal an diesem Abend fühlte ich mich ertappt und verfluchte mich innerlich selbst.

Als wäre es nicht schon genug gewesen, dass ich Oscars Abschlussrede gestört hatte. Nein, er musste jetzt natürlich auch noch mitbekommen, wie ich seine Veranstaltung kritisierte. Es war wie in einem schlechten Film, in dem die Protagonistin alles dafür tat, auch ja kein Fettnäpfchen auszulassen.

Vermutlich hielt Oscar mich nun für unhöflich und taktlos. Auch wenn sein Tonfall eher amüsiert als gekränkt geklungen hatte, drehte ich mich zu ihm, um mich zu entschuldigen.

Doch er sprach bereits weiter. »Mir ist ehrliches Feedback wichtig. Vorne an der Bühne liegen Zettel und Stifte. Wenn du magst, kannst du gern Verbesserungsvorschläge aufschreiben. Dafür wäre ich sehr dankbar.«

Er schenkte mir dasselbe Grinsen wie kurz zuvor auf der Bühne, und bevor ich noch irgendetwas erwidern konnte, wandte er sich bereits der nächsten Gruppe zu. Das leichte Kribbeln, das sich nun in meinem Bauch breitmachte, musste mit meinem schlechten Gewissen zusammenhängen. Und das hatte ich absolut zu Recht. Grundlos wütend auf Oscar zu sein, war eine Sache. Ihn das aber auch noch spüren zu lassen, obwohl er mir absolut nichts getan hatte, war nicht okay.

»Das ist dann wohl der Moment, in dem wir unauffällig das Weite suchen, oder?«, fragte Jasper trocken.

Ich nickte ihm und Lilly zu, doch als wir uns gerade auf den Weg zur Wendeltreppe machten, die hinunter ins Erdgeschoss führte, hielt uns ein Teilnehmer mit blau gefärbten Haaren auf. Er bestürmte Lilly geradezu mit Fragen zu ihren Möbeln, daher gab ich ihr ein Zeichen, dass wir vor der Tür auf sie warten würden.

Dann folgte ich Jasper nach unten ins Erdgeschoss. Dort befand sich das Café, zu dem der Veranstaltungsraum unter dem Dach gehörte.

»Hab ich dir schon gesagt, dass ich deinen Mantel mag?«, fragte ich meinen besten Freund, als wir an den kleinen Tischen und der Theke vorbei in Richtung Ausgang gingen.

Jasper hatte es auch heute Abend wieder einmal geschafft, so auszusehen, als wäre er einem Hochglanz-Modemagazin entsprungen – ein Talent, um das ich ihn wirklich beneidete. Während ich mich in unserer Schulzeit durch alle erdenklichen Fashion Blogs geklickt hatte, um herauszufinden, was mir wohl stehen könnte, hatte Jasper immer schon ein gutes Gespür für Stil gehabt. Im Gegensatz zu meinen Outfits, die oft laut und bunt waren, entschied er sich meist für klassische, zeitlose Schnitte. Heute hatte er einen cremefarbenen Rollkragenpullover mit einer schwarzen Stoffhose und einem eleganten Gürtel mit runder silberner Schnalle kombiniert.

Am Morgen hatte ich ihn außerdem dabei beobachtet, wie er im Bad mit seiner Haarschneidemaschine hantiert hatte. Alle paar Monate war Jasper gelangweilt von seiner aktuellen Frisur. Diesmal hatten seine Braids dran glauben müssen, und er hatte seinen Afro stattdessen fein säuberlich in einen Fade Cut verwandelt.

»So oft, wie du mich auf diesen Mantel ansprichst, sollte ich die Zeichen wohl langsam mal richtig deuten und ihn dir ausleihen.« Jasper zog belustigt die Augenbrauen nach oben, doch als wir durch die Tür hinaus auf die große Holzplattform traten, auf der das Café stand, wurde sein Blick wieder ernst. »Mila, ist alles okay bei dir? Ich meine nicht die Situation gerade eben – die wäre uns, glaube ich, allen ein bisschen peinlich gewesen.«

»Na danke«, murmelte ich, doch Jasper ging nicht darauf ein.

»Ich habe deinen Gesichtsausdruck beobachtet, als dieser Oscar auf der Bühne stand. Du sahst richtig wütend aus. Ist es, weil er dich an Niklas erinnert?«

Als er den Namen aussprach, zuckte ich zusammen und ärgerte mich noch im selben Moment über meine heftige Reaktion. So schön es auch war, dass Jasper und ich uns nach all den Jahren unserer Freundschaft inzwischen in- und auswendig kannten, wünschte ich in diesem Moment doch, er wäre ein bisschen weniger aufmerksam. Und vielleicht auch ein bisschen weniger direkt, denn mit seiner Vermutung hatte er komplett ins Schwarze getroffen.

Ich zögerte einen Moment und betrachtete dabei das Café. Mit seiner Holzverkleidung, der hübschen Veranda, dem Satteldach mit den grauen Schindeln und den großen Giebelfenstern machte das Häuschen seinem Namen wirklich alle Ehre. In großen, geschwungenen Buchstaben stand er über der Eingangstür: Baumhauscafé.

Natürlich wusste ich es zu schätzen, dass Jasper sich um mich sorgte und für mich da sein wollte. Doch ich fühlte mich nicht bereit dazu, ein Gespräch über dieses Thema zu führen. Vor allem nicht hier, wo uns möglicherweise jemand belauschen konnte, und schon gar nicht nach der Gefühlsachterbahn, die der heutige Abend bereits gewesen war.

Ich versuchte mich an einem Lächeln und einem möglichst entspannten Tonfall. »Nein, ich war nur mit dem Kopf woanders. Das hatte nichts mit ihm zu tun.«

Jasper wirkte nicht sonderlich überzeugt. Doch er schien zu spüren, dass es nichts brachte, weiter nachzuhaken, und wechselte bereitwillig das Thema. »Dann freut es dich doch bestimmt, dass ab morgen ein so spannendes Programm auf dich wartet. Da wird garantiert keine Langeweile mehr aufkommen.«

Sein ironischer Tonfall brachte mich zum Lachen. Morgen begann das neue Semester. Es war mein fünftes, und mein Politikstudium näherte sich damit langsam dem Ende.

»Ich kann’s kaum erwarten«, antwortete ich mit gespielter Begeisterung. Es war nicht so, dass ich mein Studium nicht mochte. Doch nach heute Abend war mir definitiv nicht nach noch mehr Stillsitzen und Zuhören zumute.

Weil allein der Gedanke daran plötzlich einen unbändigen Bewegungsdrang in mir auslöste, hakte ich mich bei Jasper unter und zog ihn den Holzsteg entlang, der vom Café aus in Richtung einer großen, zylinderförmigen Konstruktion aus Holz und Metall führte. Diese bildete den Start- und Endpunkt des Baumwipfelpfads – der örtlichen Touriattraktion, zu der auch das Baumhauscafé gehörte. Der Turm war kein solides Gebäude, sondern bestand aus Pfeilern, die einen Kreis mit etwa zwanzig Metern Durchmesser bildeten. Innen führte ein Weg spiralförmig nach oben. Zu Beginn des Abends hatten wir dort einige Runden drehen müssen, bis wir auf den fünfzehn Metern Höhe angekommen waren, auf denen wir uns nun befanden. Dort hatten wir uns dann für die Abzweigung entschieden, die zum Café führte. Die andere Option wäre ein Holzsteg gewesen, über den man den Baumwipfelpfad betreten konnte. Der führte, auf Pfähle gestützt, einmal kreuz und quer durch den Wald, und man hatte von dort einen tollen Blick über Elderstedt.

Inzwischen war es dunkel geworden, sodass von den rot-braunen Dächern der Fachwerkhäuser in der Altstadt leider nicht mehr viel zu erkennen war. Lediglich der See war zu erahnen. Wir machten uns in gemütlichem Tempo auf den Weg nach unten. Etwa auf der Hälfte der Strecke holte Lilly uns ein. Während Jasper und sie begannen, sich über einen der Vorträge zu unterhalten, wanderten meine Gedanken wieder zum morgigen Tag.

Ich bemühte mich, meinen Blick auf das Positive zu lenken. Die Uni würde auf jeden Fall wieder etwas mehr Routine in meinen Alltag bringen, und das war etwas Gutes. Außerdem würde ich dadurch keine Zeit haben, mir weiterhin den Kopf über die unangenehme Situation mit Oscar zu zerbrechen. Bis jetzt war er mir noch nie auf dem Campus begegnet. Die Chancen standen also gut, dass ich ihn nie wiedersehen würde, und damit konnte ich den heutigen Abend getrost vergessen.

Wie immer, wenn ich unsere Wohnung betrat, breitete sich ein vertrautes, warmes Gefühl in mir aus. Die WG, in der ich seit Studienbeginn zusammen mit Jasper, Lilly und Nour lebte, fühlte sich genauso an, wie es ein Zuhause tun sollte. Wie ein gemütlicher und sicherer Rückzugsort. Ich lächelte, als ich auf das Bild blickte, das Lillys vierjährige Tochter vor ein paar Tagen im Kindergarten gemalt und abends ganz stolz an die Pinnwand neben der Tür gehängt hatte. Ein roter Teddy war darauf zu sehen, mit zwei gelben, einer grünen und einer blauen Pfote. Er trug einen Schal, und Nour hatte Lilly diktiert, dass sie den Satz »Günther der Bär mag den Winter sehr« unten auf das Blatt schreiben sollte.

Von außen betrachtet war unsere Wohnung vielleicht nicht perfekt. Die Tür, die links in die Küche führte, klemmte und brauchte immer einen kleinen Tritt, um richtig zu schließen. Auf der anderen Seite des Flurs lag das Bad. Dort musste man mindestens zwei Minuten lang warten, bis das Wasser unter der Dusche eine halbwegs erträgliche Temperatur hatte, und daneben, in Lillys und Nours Zimmer, war der kleine Balkon unbenutzbar geworden, seitdem eine Gruppe Tauben ihn zu ihrem Zuhause auserwählt hatte.

Doch ich hätte nirgendwo anders leben wollen.

Ich seufzte kurz, zog meine pinken Docs aus und stellte sie neben Nours kleine gelbe Gummistiefel ins Schuhregal. Die Garderobe an der gegenüberliegenden Flurwand war meiner Meinung nach eine von Lillys schönsten Arbeiten. Sie bestand aus einem großen weißen Holzrahmen, in dem Lilly eine Reihe von Birkenstämmen befestigt hatte. Ich hängte meine Jacke an eine der Astgabeln.

»Gute Nacht«, rief Jasper, der schon auf halbem Weg in sein Zimmer war. Lillys und meine Antwort bestand aus einem synchronen Gähnen.

»Magst du zuerst ins Bad?«, fragte sie mich, doch ich winkte ab. »Geh du ruhig.« Dankbar lächelte Lilly mir zu und gähnte noch einmal, bevor sie ins Badezimmer trat und nach ihrer Zahnbürste griff.

Ich nahm meinen Rucksack und ging damit zur Tür neben der Küche, die in mein Zimmer führte. Als ich es betrat, schaltete ich wie immer zuerst die Lampionkette an, die über meinem Bett hing und für gemütliches warmweißes Licht sorgte. Ich warf einen kurzen Blick zu meinen Pflanzen, die an jedem freien Platz im Zimmer standen. Einige hingen auch in selbst geknüpften Makramees von der Decke. Es schien ihnen gut zu gehen, nur die große Efeutute auf meinem Kleiderschrank würde ich morgen gießen müssen, denn sie rollte bereits ein wenig ihre Blätter ein.

Ich stellte meinen Rucksack beiseite und ließ mich dann erschöpft auf meinen Schreibtischstuhl fallen. Es war bereits kurz nach Mitternacht, und ich hörte förmlich, wie die vielen bunten Kissen auf meinem Bett nach mir riefen.

Doch es gab noch eine Sache, die ich erledigen musste, bevor ich schlafen gehen konnte. Mit einem Seufzen griff ich nach meinem Smartphone. Eigentlich war ich mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass meine erste Uni-Veranstaltung morgen um acht Uhr begann. Doch weil ich mich selbst kannte und wusste, wie gern ich solche Details wie Uhrzeiten vergaß oder verwechselte, wollte ich lieber noch mal auf Nummer sicher gehen.

Es war mir wichtig, beim ersten Seminartreffen pünktlich zu erscheinen. Zum einen weil Professor Albrecht dafür bekannt war, einfach mit dem Sprechen aufzuhören, wenn jemand zu spät den Raum betrat, und erst dann wieder damit zu beginnen, wenn die Person unter den Blicken aller anderen zu ihrem Platz gelaufen war. Das würde ich mir wirklich gern ersparen. Zum anderen wollte ich auf keinen Fall das Referatsthema abbekommen, das am Ende übrig blieb.

Daher öffnete ich die App meiner Fakultät und rief meinen Stundenplan auf. Ich nickte zufrieden, als ich in der Spalte für den nächsten Tag ein kleines Rechteck erblickte, in dem »Politische Theorie, 8–10 Uhr c. t.« stand. Um pünktlich aufzuwachen, stellte ich mir gleich drei Wecker, die jeweils fünf Minuten zeitversetzt klingeln würden. Dabei entschied ich mich für den schrillsten Klingelton, den mein Smartphone zu bieten hatte.

Obwohl ich damit nun wirklich alle Sicherheitsmaßnahmen getroffen hatte, merkte ich, wie angespannt ich dennoch im Hinblick auf den Semesterstart war. Es war nicht so, dass ich an meiner Intelligenz zweifelte. Mir war klar, dass ich klug genug für das Studium war, und in meinen Prüfungen schrieb ich auch fast immer gute Noten.

Doch der Weg dorthin war harte Arbeit. Neben meinen Konzentrationsproblemen fiel es mir auch jedes Mal aufs Neue schwer, meinen Uni-Alltag zu organisieren. Ich hatte einfach kein Gefühl dafür, wie lange ich für das Erledigen einer Aufgabe brauchte, und begann deswegen meist reichlich spät damit. Wenn ich erst einmal in meinem Arbeitsfluss war, konnte ich so viel auf einmal schaffen, dass es mich oft selbst überraschte. Doch in diesen Zustand zu kommen war schwierig, vor allem wenn es so viel Ablenkung gab.

Lilly und Jasper fanden mich deswegen an den Vorabenden von Abgaben regelmäßig an meinem Schreibtisch vor, wo ich stundenlang saß, das Essen und Trinken vergaß und händeringend versuchte, schnell noch alles fertig zu bekommen.

»Du würdest wahrscheinlich selbst deinen Kopf vergessen, wenn er nicht angewachsen wäre.« Jasper hatte vorhin natürlich absolut richtig gelegen. Die Stimme in meinem Kopf gehörte zu Niklas, meinem Ex-Freund. Fast spürte ich die Faust, mit der er mir nach diesem Satz auf die Stirn geklopft hatte, nur um mir danach lachend durch die Haare zu wuscheln. Seine Bemerkungen hatten sich im Laufe der Zeit immer seltener nach einem harmlosen Spaß angefühlt, sondern vielmehr nach gezielten Demütigungen.

Auch zwei Jahre nach der Trennung fiel es mir noch schwer, mich nicht nur auf all die Schwächen zu konzentrieren, die er in mir gesehen hatte.

Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen an Niklas zu vertreiben, und wollte mein Smartphone schon zur Seite legen, als mir noch der Gedanke kam, kurz in meine Mails zu schauen. Vielleicht waren dort in den letzten Tagen ja noch Infos zum Seminar eingetrudelt. Als ich die App öffnete, leuchtete dort tatsächlich eine neue Mail auf. Allerdings drehte sie sich weder um »Politische Theorie«, noch kam sie von Professor Albrecht. Stattdessen lautete der Betreff »Ihre Stipendienvoraussetzungen«.

Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich verzog das Gesicht und öffnete die Nachricht äußerst widerwillig.

Sehr geehrte Frau Lešnik,

wie Sie bereits wissen, gehört neben einem sehr guten Notendurchschnitt und der regelmäßigen Teilnahme an Veranstaltungen unserer Stiftung auch ein ehrenamtliches Engagement zu den Voraussetzungen für den Erhalt Ihres Stipendiums. Die Arbeit in einem Verein, einer sozialen Einrichtung oder Organisation Ihrer Wahl hat dabei wöchentlich zu erfolgen. Im letzten Semester wurde Ihnen nach Beendigung Ihres bisherigen Engagements eine Frist von sechs Wochen bewilligt, um einen Ersatz zu finden. Da wir seither keine Rückmeldung von Ihnen erhalten haben, fordern wir Sie nun dazu auf, uns innerhalb von vierzehn Tagen einen Nachweis Ihres ehrenamtlichen Engagements zukommen zu lassen. Sonst sehen wir uns leider gezwungen, Ihren Stipendienplatz anderweitig zu vergeben.

Mein Atem stockte, und ich merkte, wie mein Magen sich schmerzhaft zusammenzog. Die Mail kam von der Stiftung, mit deren Hilfe ich mein Studium finanzierte. Das Nachhilfeprojekt, für das ich mich bisher engagiert hatte, war im letzten Semester eingestellt worden, und ich hatte mich eigentlich direkt um Ersatz kümmern wollen.

Doch die Prüfungsphase hatte mich so sehr gestresst, dass ich das Thema immer weiter vor mir hergeschoben hatte. Die Erinnerung war in meinem digitalen Terminkalender von einem Tag auf den nächsten gewandert. Irgendwann musste ich dann aber wohl vergessen haben, sie zu verschieben. Vermutlich am Abgabetag meiner Hausarbeiten, an dem ich wieder einmal eine hochkonzentrierte Nachtschicht hatte einlegen müssen.

Ich schüttelte vehement den Kopf, genervt von mir selbst. Ich wusste doch ganz genau, wie viel daran hing. Mich in den Semesterferien um das Ehrenamt zu kümmern, wäre so viel entspannter gewesen, als jetzt innerhalb von vierzehn Tagen etwas finden zu müssen.

Mit einem Blick auf das Datum der Mail musste ich mich seufzend korrigieren. Die Frist, die mir die Sachbearbeiterin gegeben hatte, war bereits zur Hälfte verstrichen. Mir blieb also nur noch eine Woche, um das Ganze zu regeln. Ich fluchte und vergrub meinen Kopf in den Händen. Die Vorstellung, mein Stipendium und die damit verbundene Freiheit zu verlieren, schnürte mir die Kehle zu.

Ich merkte, dass mein Puls sich beschleunigt hatte und meine Hände schwitzig geworden waren. Mit einer ruckartigen Bewegung wischte ich sie an den Hosenbeinen ab. Panik brachte mich jetzt auch nicht weiter. Ich brauchte dieses Stipendium.

Zwar waren meine Eltern beide berufstätig und verdienten genug, um für meinen Lebensunterhalt und die Studiengebühren aufkommen zu können, doch auch wenn mir das Geld zugestanden hätte, wollte ich nicht länger von ihnen abhängig sein. Nicht nach dem, was vor zwei Jahren passiert war.

Das Vertrauen zwischen uns, das zuvor so selbstverständlich da gewesen war, hatte sich von einem Moment auf den anderen in Luft aufgelöst. Zu ihnen zurückzuziehen, um Geld zu sparen, war daher auch keine Option.

Meine Gedanken begannen zu kreisen, und ich zwang mich, tief durchzuatmen. Noch war die Frist ja nicht verstrichen. Ich hatte sieben Tage. Das würde ich schon irgendwie schaffen.

KAPITEL 2

Der Politikbegriff bei Hannah Arendt«, las Professor Albrecht das nächste Referatsthema vor und sah fragend in die Runde. Schnell hob ich die Hand und beglückwünschte mich innerlich dazu, heute überpünktlich im Seminarraum erschienen zu sein. Statt wie sonst den Snooze-Button zu drücken, war ich direkt beim Klingeln des ersten Weckers aufgestanden. Wahrscheinlich, weil mir das Stipendien-Thema im Nacken saß und ich mir selbst beweisen wollte, dass ich mein Leben zumindest in anderen Bereichen im Griff hatte.

Auf dem Weg zum Seminarraum war ich wieder einmal sehr dankbar dafür gewesen, dass meine Uni sich nicht in irgendeinem verwinkelten, historischen Gebäude in der Innenstadt befand. Stattdessen hatte man sich vor ein paar Jahren dafür entschieden, einen Campus aus modernen, rechteckigen Gebäuden mit Glasfassade am Ufer des Eldersees zu bauen. In jedem der Gebäude war eine andere Fakultät untergebracht, und ich liebte das simple und logische System, nach dem die Hörsäle und Seminarräume nummeriert waren.

Sich zu verlaufen war dadurch eine Sache der Unmöglichkeit, und so hatte ich den Raum heute bereits um Punkt acht Uhr betreten. Das hatte sich eindeutig gelohnt, da unser Dozent das »c. t.« im Stundenplan geflissentlich ignoriert und direkt mit der Referatsverteilung begonnen hatte.

Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie schräg hinter mir ebenfalls jemand die Hand hob. Professor Albrecht nickte. »Mila Lešnik und Nhi Tran«, wiederholte er unsere Namen, während er sie aufschrieb. Als ich meinen Kopf drehte, blickte ich in das Gesicht einer Kommilitonin, die ich vom Sehen kannte. Nhi hatte lange, silbern gefärbte Haare und war mir schon häufiger wegen ihrer tollen Outfits aufgefallen.

Als ich sie nach dem Seminar darauf ansprach, wie sehr ich ihren Stil mochte, freute Nhi sich sichtlich darüber.

»Kannst du das mal meiner Mutter erzählen?«, fragte sie mich und warf dabei einen Blick nach unten zu ihrem karierten Rock, der Netzstrumpfhose und den schwarzen Doc Martens. »Sie hofft seit Jahren inständig, dass diese ›Phase‹ bald vorbei ist. Hauptsächlich, damit meine Tanten aus Vietnam endlich aufhören, sie zu fragen, warum ich keine anständige Kleidung trage.«

Sie schob eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und gab damit den Blick auf einen schwarzen Tunnel-Ohrring mit silbernem Rand frei. »Die hier hasst sie ganz besonders, und sie fragt mich ständig, ob ich immer noch die Musik von ›diesem langhaarigen, zotteligen Typ‹ höre.«

»Kurt Cobain?«, mutmaßte ich, und Nhi seufzte theatralisch.

»Wie sagt man so schön? Eine Jugend ohne Nirvana-Phase ist zwar möglich, aber sinnlos. Inzwischen hab ich mein Musikrepertoire zwar schon längst erweitert, aber für meine Mutter ist Kurt immer noch die Quelle allen Übels.« Sie deutete auf die hellblaue Jeansjacke mit aufgestickten Sonnenblumen, die ich über dem Arm trug. »Hast du die von Second Chance? Die kommt mir irgendwie bekannt vor.«

Ich nickte. »Der ist quasi mein zweites Zuhause.«

»Geht mir genauso. Hey, damit leben wir wohl inoffiziell in einer WG.«

Diese Schlussfolgerung brachte mich zum Lachen, und ich stellte erleichtert fest, dass Nhi mir sehr sympathisch war. »Klingt gut! Ich glaube, unser Stil ist unterschiedlich genug, dass ich damit leben kann, den Laden zu teilen.« Dass wir ein gemeinsames Gesprächsthema hatten, beruhigte mich tatsächlich ungemein. Das würde unsere nächsten Treffen deutlich entspannter machen, denn Small Talk über das Wetter und die Qualität des Mensa-Essens war nicht unbedingt mein Ding.

So gern ich mich sonst auch mit anderen Menschen unterhielt, diese bemühten Gespräche strengten mich einfach nur an.

Nachdem Nhi und ich unsere Kalender abgeglichen und einen Termin für unser erstes Treffen gefunden hatten, fiel mir das Dilemma mit meinem Stipendium wieder ein.

»Sag mal, arbeitest du zufälligerweise irgendwo ehrenamtlich?«, fragte ich sie, während wir gemeinsam den Seminarraum verließen. »Ich bin gerade auf der Suche nach einer Organisation, für die ich mich engagieren kann.«

Nhi nickte. »Ich habe einen Patenhund, Sammy heißt er. Mit ihm gehe ich zweimal pro Woche spazieren. Wenn du magst, kann ich dir die Telefonnummer meiner Ansprechpartnerin im Tierheim geben.«

Mit einem Hund spazieren zu gehen, klang tatsächlich nach einem tollen Ehrenamt. Dennoch musste ich bedauernd den Kopf schütteln. »Das ist wirklich sehr nett von dir, danke. Leider habe ich eine Tierhaarallergie.« Ich seufzte. »Dann werde ich wohl weitersuchen müssen.«

Nachdem ich mich von Nhi verabschiedet hatte, beschloss ich, dass ein wenig Ablenkung nicht schaden konnte. Noch war ich nicht bereit dazu, das warme Erfolgsgefühl gehen zu lassen, das sich seit dem pünktlichen Aufstehen am Morgen in mir breitgemacht hatte. Also ging ich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss und betrat die Bibliothek, um dort nach Literatur für das Referat zu suchen. Tatsächlich fand ich gleich mehrere Bücher über Hannah Arendt sowie einige interessante Artikel in politischen Fachzeitschriften. Ich packte alles auf einen Stapel, setzte mich damit an einen der Tische und begann, mir die wichtigsten Informationen herauszuschreiben.

Ich kam gut voran, und als ich fertig war, teilten mir die Uhr und mein knurrender Magen mit, dass es Zeit fürs Mittagessen war.

Auf dem Weg zur Mensa traf ich auf Jasper, und weil der April beschlossen hatte, einen richtig guten Start mit Sonnenschein und angenehmen Temperaturen hinzulegen, beschlossen wir, uns etwas zum Mitnehmen zu holen. Mit je einem Falafel-Wrap in der Hand, machten wir uns wenig später auf den Weg zu dem kleinen Kiesstrand, der Teil des Uni-Campus war. Von dort aus führte ein Steg in den Eldersee, der zur Mittagszeit ganz klar der beliebteste Ort auf dem ganzen Gelände war.

Der See war an dieser Stelle nur etwa knietief, und im Sommer gab es nichts Schöneres, als die Beine ins Wasser baumeln zu lassen. Heute war es dafür leider noch ein wenig zu kühl, aber ich freute mich dennoch, als Jasper und ich noch ein freies Plätzchen auf dem Steg fanden. Während wir unsere Wraps aßen, erzählte ich ihm von meiner Stipendien-Situation und beobachtete, wie sich seine Stirn in besorgte Falten legte.

»Du könntest es vielleicht mal im Seniorenheim versuchen«, schlug er vor. »Oder in der Uni-Bibliothek. Ich hab vorhin am schwarzen Brett gesehen, dass sie gerade Leute suchen.«

Dankbar sah ich ihn an. Das waren zwei wirklich gute Vorschläge, und es war nicht das erste Mal, dass Jasper es mit seiner ruhigen und pragmatischen Art schaffte, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Diese Eigenschaft schätzte ich sehr an ihm, und es erinnerte mich wieder einmal daran, dass ich die letzten Jahre ohne Jasper kaum überstanden hätte.

Als mein Körper sich nur noch wie eine leere Hülle angefühlt hatte, war er für mich da gewesen. Alles in mir hatte so geschmerzt, dass es sich unmöglich angefühlt hatte, Luft zu bekommen. Zu Beginn war Jasper mit dieser Situation komplett überfordert gewesen. Eine Weile lang hatte er nach beruhigenden Worten gesucht, doch als ihm nichts Passendes eingefallen war, hatte er sich einfach neben mich gesetzt und nichts gesagt. War einfach nur da gewesen.

Als ich dann irgendwann bereit gewesen war, zumindest über einen Teil dessen zu sprechen, was passiert war, hatte er mir zugehört und mich zuerst gefragt, ob ich seine Meinung hören wollte, bevor er mir Ratschläge erteilt hatte. Dafür liebte ich ihn noch immer.

Nicht nur deswegen war es mir wichtig, ihm regelmäßig zu sagen, wie dankbar ich für unsere Freundschaft war. Das tat ich auch jetzt, und Jasper, der noch nie gut mit Komplimenten hatte umgehen können, reagierte wie üblich. Mit Sarkasmus.

»Du weißt doch, wie das bei uns ist. Ich halte dich am Boden, und du lässt mich fliegen.«

Doch trotz des Kalenderspruchs wusste ich, dass Jasper es ernst meinte. Es war ihm immer schon schwergefallen, locker zu sein und neue Leute kennenzulernen. Daher hatte ich ihn bereits im Kindergarten an die Hand genommen und ihn mitgezogen, wann immer es etwas zu erleben gab.

Als ich Jasper nun dabei beobachtete, wie er seinen Blick über den See wandern ließ, fiel mir auf einmal auf, wie erschöpft er aussah. Seine Mundwinkel waren zwar nach oben gezogen, doch er wirkte plötzlich genauso müde und geistesabwesend wie beim Vortragsabend der Future Force.

»Geht es dir gut?«, fragte ich ihn vorsichtig und beobachtete, wie seine Schultern sich bei meinen Worten anspannten. Schnell sah er zu mir.

»Ja, alles okay. Ich hab gerade nur viel zu tun und hab es in den letzten Wochen vielleicht auch ein bisschen übertrieben. Ich wollte unbedingt schon so viel Lernstoff wie möglich durcharbeiten. Du weißt schon, die freien Tage sinnvoll nutzen, damit im Semester nicht so viel Zeug auf mich zukommt.«

Schön, dass zumindest einer von uns sein Zeitmanagement im Griff hat, dachte ich bitter, nickte aber verständnisvoll.

Jaspers Zielstrebigkeit war wirklich bewundernswert. Schon in der fünften Klasse hatte er genau gewusst, dass er später einmal Jura studieren und Anwalt werden wollte. Währenddessen war ich selbst in unserem Abschlussjahr noch so überfordert von der schieren Menge an Möglichkeiten gewesen, dass ich einfach auf gut Glück Politikwissenschaften gewählt hatte. Das hatte allgemein genug geklungen, um danach beruflich viele Möglichkeiten zu haben. Quasi mein persönliches BWL, nur ein klitzekleines bisschen weniger klischeehaft.

Ich sah Jasper eindringlich an. »Versprichst du mir, dass du Bescheid sagst, wenn du Unterstützung bei irgendetwas brauchst? Oder auch, wenn du einfach nur abgelenkt werden möchtest. Ich bin immer für dich da, das weißt du, oder?«

Jaspers Lächeln wirkte nun aufrichtiger, und er nickte.

Bevor ich den Campus für heute verließ, schaute ich noch mal kurz in der Bibliothek vorbei. Als ich dort nach der Ausschreibung fragte, wurde mir gesagt, dass tatsächlich Leute für eine ehrenamtliche Tätigkeit gesucht wurden. Allerdings ging es dabei nur um eine Inventur, die an zwei Wochenenden stattfinden sollte. Da ich für das Stipendium etwas Regelmäßiges brauchte, kam das also leider ebenfalls nicht infrage.

An der Uni gab es für mich danach nichts mehr zu tun, und ich hätte mich eigentlich auf den Nachhauseweg machen können. Doch neben der Suche nach dem Ehrenamt stand auch noch eine weitere ungeliebte Tätigkeit auf meiner To-do-Liste. Die Versuchung, sie einfach aufzuschieben, war groß. Aber ich wusste, wie dankbar Zukunfts-Mila sein würde, wenn ich sie heute erledigte. Also verließ ich den Campus und stieg in den Bus, um ans andere Ende von Elderstedt zu fahren.

Als ich mich einige Zeit später mit einem tiefen Seufzen über einen Stapel Briefe beugte, wünschte ich mich fast zurück in die Uni. Die erste Sitzung in »Politische Theorie« am Vormittag zwar ziemlich langweilig gewesen. Doch zumindest hatte es in dem Raum große Fenster gegeben. Und Tageslicht. Der Bürostuhl, auf dem ich jetzt saß, quietschte bei jeder kleinen Bewegung. Es war wirklich langsam an der Zeit, dass meine Eltern sich einen neuen zulegten.

Ich atmete tief durch und bereute es direkt. Das winzige, fensterlose Hinterzimmer ihres Bestattungsinstituts war stickig, und der Teppichboden hätte schon längst einmal ersetzt werden müssen. Doch meine Eltern waren schon genug ausgelastet, und dieser Raum, den niemand außer mir betrat, stand auf ihrer Prioritätenliste nicht sonderlich weit oben.

Der Beruf meiner Eltern war der Grund dafür, dass ich als Kind mehr Zeit auf Friedhöfen als auf Spielplätzen verbracht hatte. Die beiden hatten früher gern gescherzt, dass ich ja schon mal Ausschau nach einem schönen Platz für sie halten könnte. Jasper hatte das furchtbar makaber gefunden, doch für mich war dieser lockere Umgang mit dem Tod immer etwas ganz Normales gewesen.

Inzwischen war in meiner Familie leider niemandem mehr nach Scherzen zumute. Dennoch kam ich weiterhin einmal pro Monat für einen Nachmittag ins Bestattungsinstitut, um meine Eltern bei ihrem Papierkram zu unterstützen. Die beiden waren erst im Erwachsenenalter von Slowenien nach Deutschland ausgewandert, und Deutsch war nicht ihre Erstsprache. Im Alltag war das inzwischen kein Problem mehr, doch bei bürokratischen Dingen stand ihnen die Sprachbarriere manchmal noch im Weg. Trotz der angespannten Stimmung zwischen uns hatte ich es nicht über mich gebracht, sie in dieser Hinsicht hängen zu lassen.

Mit einem Augenrollen legte ich einen Brief vom Finanzamt auf den Stapel vor mir. Das war der letzte für heute gewesen.

Damit war ich fertig und hätte nun wirklich nach Hause gehen können, doch ich hörte meine Mutter draußen im Gang auf und ab laufen. Sie schien gerade mit jemandem zu telefonieren und die Details einer Trauerfeier zu besprechen. Da ich keine große Lust verspürte, ihr zu begegnen, griff ich nach meinem Smartphone und suchte online nach der Telefonnummer des nächstgelegenen Seniorenheims. Wenn ich sowieso wartete, dann konnte ich die Zeit auch sinnvoll nutzen und mich um mein Ehrenamt kümmern.

Es dauerte eine Weile, bis jemand den Hörer abhob. Die Mitarbeiterin am anderen Ende klang gestresst, und als ich ihr mein Anliegen vortrug, seufzte sie tief.

»Dass Sie sich gern bei uns engagieren wollen, freut mich natürlich. Wir sind fast immer unterbesetzt und könnten dringend Unterstützung gebrauchen. Das Problem ist nur, dass bei uns gerade niemand Zeit hat, Freiwillige einzuarbeiten. Deswegen käme nur jemand mit Erfahrung im Bereich Altenpflege infrage. Haben Sie die?«

Leider musste ich verneinen. Damit hatte sich dann wohl auch meine dritte Option erledigt.

Ich bedankte mich für ihre Zeit, legte auf und stöhnte frustriert. Vielleicht war dieser Gedanke naiv gewesen, doch ich hatte mir die Suche irgendwie leichter vorgestellt.

»Was ist denn los, Mila, Schatz?«

Meine Mutter war in den Raum getreten, ohne dass ich es bemerkt hatte. Wie jedes Mal, wenn wir uns in den letzten beiden Jahren gesehen hatten, sprach sie so vorsichtig mit mir, als wäre ich ein angefahrenes Reh. Zaghaft machte sie einen Schritt auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter.

»Gibt es etwas, worüber du sprechen möchtest?« Die Hoffnung in ihrer Stimme zu hören, tat mir fast körperlich weh. Ein Teil von mir hätte meine Mutter am liebsten in eine Umarmung gezogen und ihr sofort alles erzählt. Doch ich wusste, dass es besser war, wenn ich auf Distanz blieb. »Nein, alles gut, Mama«, sagte ich daher nur und griff nach den Briefen vor mir, um meinen zitternden Händen etwas zu tun zu geben.

»Es gibt zu Semesterbeginn einfach viel zu organisieren.«

Ich sah in ihrem Blick, dass sie gern noch weiter nachgefragt hätte, doch ich stand schnell auf, und ihre Hand rutschte von meiner Schulter. Ich fühlte mich furchtbar dabei, doch ich konnte sie aktuell einfach nicht weiter in mein Leben lassen. Als ich sie am dringendsten gebraucht hatte, hatte sie mich im Stich gelassen. Ich hatte erwartet, dass sie klar auf meiner Seite stehen würde. Dass sie mich fragen würde, wie ich mit der Situation umgehen wollte, wie sie mir dabei helfen könnte.

Ich hatte den Schmerz und das Mitgefühl in ihren Augen gesehen, als sie mir zugehört hatte. Doch dann hatte sie darauf bestanden, dass wir keine rechtlichen Schritte unternahmen. Sie hatte es einfach über meinen Kopf hinweg entschieden, so sicher war sie sich gewesen, dass niemand mir glauben würde. Dass die Leute mich als Lügnerin hinstellen würden und ich mir selbst und meiner Familie mit einer Klage nur schaden würde.

Mein Vater war sogar noch einen Schritt weiter gegangen. Bis heute war er nicht bereit, die Situation als das anzuerkennen, was sie nun mal gewesen war.

»Da übertreibst du jetzt aber ein bisschen, oder Mila? Bist du dir sicher, dass das so passiert ist?«

Ein Elternteil, der alles unter den Teppich kehren wollte, und ein anderer, der meine Erfahrungen und Gefühle einfach leugnete. Das war das Letzte gewesen, was ich in diesem Moment gebraucht hatte. Nur der Gedanke, dass die beiden es sicherlich auf ihre Art gut gemeint hatten, hatte mich davon abgehalten, den Kontakt komplett abzubrechen.

»Die Unterlagen sind fertig.« Schnell drückte ich meiner Mutter den Papierstapel in die Hand. »Ich gehe jetzt. Wir kochen heute Abend gemeinsam in der WG.«

»Grüß Jasper und Lilly von mir.«

Ihre Stimme klang so traurig, dass ich am liebsten den Blick abgewandt hätte.

»Mach ich«, murmelte ich stattdessen, rang mir ein kleines Lächeln ab und ging an ihr vorbei durch die Tür. »Bis dann.«

Als ich mit zwei Jutebeuteln voller Lebensmittel die Küche betrat, war der Kochabend bereits in vollem Gange. Wir hatten beschlossen, heute alle ein typisches Gericht aus dem Heimatland unserer Familie zuzubereiten.

Lilly war noch in der Schreinerei, doch Jasper stand bereits vor einem Topf voll heißem Öl und ließ gerade vorsichtig ein kleines Teighäufchen hineingleiten. Er war für den Nachtisch zuständig und machte Maandazi, ein kenianisches Gebäck, das geschmacklich an Donuts erinnerte.

»Das Geheimnis ist, ein bisschen Kokosmilch und Kardamom hinzuzugeben. Dann wird der Teig besonders lecker«, erklärte er fachmännisch.

Said, der zusammen mit Nour am Küchentisch saß, nickte interessiert, während er seiner Tochter dabei half, Gemüse in eine Tajine-Form zu schichten.

»Hallo!«, rief ich in die Runde, und Nour winkte mir begeistert zu.

»Mila, Mila! Papa und ich machen das große Essen!«

»Wow!« Mit einem anerkennenden Nicken trat ich zu den beiden an den Tisch. »Ihr macht die Hauptspeise? Das ist ja super. Was kommt denn alles rein in eure Tajine?«

Bereitwillig zählte Nour die Zutaten an ihren Fingern auf. »Zucchini, Karotten, Paprika und Kichererbsen.«

»Bist du auch eine Kichererbse?«, fragte Said sie, und Nour ließ ein so glückliches Glucksen hören, dass die sprichwörtliche dunkle Wolke über mir plötzlich wie weggeblasen war.

»Magst du Mila noch sagen, was wir als Beilage machen?«

Nour nickte und machte zwei Küsschen in die Luft.

Ich nickte wissend. »Ah, Couscous also. Das klingt gut. Ich mache heute Rateški Krapi.« Ich wandte mich zur Arbeitsplatte, um die Zutaten aus meinem Jutebeutel zu räumen. »Das sind Dumplings aus Kartoffelteig, gefüllt mit Polenta und Quark. Eine slowenische Vorspeise.«

Ich hatte das Rezept online gefunden und fand, dass es lecker klang.

»Seid nett zu mir, falls ich es vermassle«, warnte ich die anderen direkt schon einmal vor. »Bei uns zu Hause gab es nie slowenisches Essen, es ist also eine Premiere.«

Verwundert sah Said mich an. »Warum habt ihr nie slowenisch gekocht? Mochtest du das Essen als Kind nicht?«

Ich zog eine Schüssel aus dem Küchenschrank. Darin würde ich den Teig zubereiten.

»Nein, das war es nicht. Meine Eltern haben es damals mit der Integration einfach nur besonders gut gemeint. Bei uns gab es ausschließlich deutsches Essen, und sie haben mich auch nicht zweisprachig erzogen, weil sie nicht wollten, dass ich in der Schule ›das Ausländerkind‹ bin.«

Ich blickte zu Jasper, der mit den Augen rollte. Er kannte diese Geschichte bereits.

»Du weißt ja, dass wir zusammen zur Grundschule gegangen sind«, erklärte er Said. »Bei uns wurde zu Hause viel kenianisch gekocht. Trotzdem weiß ich noch ganz genau, wie Milas und meine Mutter sich einen regelrechten Wettkampf geliefert haben, wer seinem Kind das deutscheste Pausenbrot mitgibt.« Er zog eine Augenbraue nach oben. »Nichts gegen deine Mutter, Mila, aber ich fürchte, mit den in Blümchenform geschnittenen Radieschen hat meine Mama ganz klar gewonnen.«

»Obwohl meine Mutter mit ihren Vollkorn-Käsebroten mit Gurkenscheiben durchaus mit der Konkurrenz mithalten konnte.« Ich ließ meine Stimme so klingen, als wäre ich Jury-Mitglied einer Castingshow. »Ihr Pausenbrot war mindestens eine Neun von Zehn – jedenfalls bis zu dem Moment, in dem sie begonnen hat, noch eine dicke Senfschicht hinzuzufügen.«

»Das war sehr deutsch, aber auch echt eklig«, sagte Jasper wenig diplomatisch und brachte Said damit zum Lachen.

»Bei Senf wäre ich auch raus«, gestand er, und während die beiden sich weiter unterhielten, blieb ich gedanklich bei den Pausenbroten. Auch wenn ich mich gerade noch darüber lustig gemacht hatte, wusste ich es sehr zu schätzen, dass meine Mutter sich in meiner Kindheit so viele Gedanken gemacht hatte.

Umso undankbarer fühlte ich mich, als mir nun deutlich bewusst wurde, wie sehr ich Jasper beneidete. Nicht um die Radieschen in Blumenform. Sondern darum, dass in seiner Familie zu den anderen Mahlzeiten kenianisches Essen gekocht wurde.

Damit aufzuwachsen, dass die Kultur der eigenen Familie im Alltag gelebt wurde, stellte ich mir wunderschön vor.

Ich hatte mich immer nur mit ein paar dürftigen Erzählungen und Dokus im Fernsehen zufriedengeben müssen.