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"Lektionen 7 Theater der Dinge" gibt einen umfassenden Überblick über die Ausbildung für das Puppen-, Figuren- und Objekttheater. In einer historischen Einführung wird gezeigt, wie in der Geschichte des Theaters vom Ritual bis in die Gegenwart das "Ding auf der Bühne" zum Protagonisten wurde. Im zweiten Teil werden die Grundlagen der Ausbildung beschrieben – vom Animieren, Sprechen, Spielen, Bauen und Führen bis hin zum Netzwerken für einen gelingenden Einstieg in den Beruf. Ein Serviceteil mit den Ausbildungsstätten für das Puppen-, Figuren- und Objekttheater schließt den Band ab. Ein unentbehrliches Handbuch für alle, die mehr darüber wissen wollen, wie die Dinge Theater spielen.
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Seitenzahl: 492
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„Es scheint kein Zufall, dass das Theater der Dinge immer weiter in das künstlerische und menschliche Interesse rückt, ist es doch mit einer Form von Wahrnehmung verbunden, die das ‚vergessene Menschliche‘ (Walter Benjamin) an den Dingen ebenso meint wie die Bereitschaft, diese Theaterform als jenen Ort des ‚Dazwischen‘ zu akzeptieren. Als den Ort zwischen Leben und Tod, zwischen Lebendigem und Totem, zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Göttern und Menschen …“
Silvia Brendenal
Lektionen 7
Theater der Dinge
Ein Gemeinschaftsprojekt von Theater der Zeit,der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin,dem Deutschen Forum für Figurentheater und Puppenspiel e. V. undder Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart
Lektionen 7Theater der DingePuppen-, Figuren- und ObjekttheaterMarkus Joss und Jörg Lehmann (Hg.)
© 2016 by Theater der Zeit
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der ZeitVerlagsleitung Harald MüllerWinsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Lektorat: Nicole GronemeyerGestaltung: Sibyll Wahrig
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-069-8eISBN 978-3-95749-107-7
Puppen-, Figuren- und Objekttheater
Markus Joss und Jörg Lehmann (Hg.)
VORWORT
Silvia Brendenal
DIE PUPPE, DIE FIGUR – DAS DING
Ein Blick in Vergangenheit und Gegenwart des Puppen- und Figurentheaters
I. THEATER DER DINGE – EINE GESCHICHTE
MAGIE, RITUALE, MASKEN – DAS THEATER DER DINGE IM ANTIKEN GRIECHENLAND
Jörg Lehmann
Quelle 1
Sigmund FreudAnimismus, Magie und die Allmacht der Gedanken
Quelle 2
Richard WeiheDie Masken der Tragödie
Quelle 3
Ernst-Frieder KratochwilKultischer und nichtkultischer Gebrauch von Masken und Figuren
FLIEGENDE ENGEL UND BUCKLIGE DÄMONEN
Florian Feisel und Markus Joss
Quelle 4
Anke MeyerKasper – Spaßmacher mit Migrationshintergrund
Quelle 5
Kamil KopaniaPuppentheater im Mittelalter – Neue Sichtweisen
Quelle 6
Abraham von SouzdalRekonstruktion der tramezzo-Bühne
DIE MENSCHEN WERDEN MECHANISCH
Markus Joss
Quelle 7
Florian NelleDas Theater als neue Welt
Quelle 8
Robert JütteDas große Buch des menschlichen Körpers
Quelle 9
Wenzel MračekImitation des Lebens – was die Schildkröte uns lehrt
LITERARISIERUNG UND ENTZAUBERUNG: UND IN LEIPZIG WIRD EINE (KEINE) PUPPE VERBRANNT
Jörg Lehmann
Quelle 10
Enno PodehlDer unzeitgemäße Narr
Quelle 11
Gotthard FeustelDie europäische Aufklärung
Quelle 12
Lars RebehnJohann Georg Geisselbrecht – Ein verkanntes Puppenspiel-Genie der Goethe-Zeit
GOTT ODER GLIEDERMANN. DIE PUPPE TANZT – UND WIRD ZUR METAPHER
Jörg Lehmann
Quelle 13
Heinrich von KleistÜber das Marionettentheater
Quelle 14
Lars RebehnKleist: Über das Metamorphosen-Theater
SEHNSUCHT NACH DEM GESAMTKUNSTWERK – UND DER ZWEIFEL AN DER SPRACHE
Jörg Lehmann
Quelle 15
Maurice MaeterlinckAndroidentheater
Quelle 16
Richard WagnerÜber Schauspieler und Sänger
Quelle 17
Richard TeschnerAus einem Brief an Paul Brann, undat. [zwischen Mai und Juli 1906]
NEUE KÖRPER AUF DIE BÜHNE – DAS THEATER DER HISTORISCHEN AVANTGARDEN
Markus Joss
Quelle 18
Guido HißDer Fall Jarry
Quelle 19
Edward Gordon CraigDer Schauspieler und die Über-Marionette
Quelle 20
Oskar SchlemmerMensch und Kunstfigur
Quelle 21
Oskar PanizzaDas Wachsfigurenkabinett. Abendmahl
GEGENWART I – DAS MATERIAL, DAS EREIGNIS, DIE NAHT
Markus Joss
Quelle 22
Tadeusz KantorDie Realität des niedrigsten Ranges
Quelle 23
Meike WagnerKörper-Störung. Mediale Thesen zum Puppentheater
Quelle 24
Tim SandwegWir werden euch verzaubern – Versprengte Thesen, warum wir die Zukunft sind
GEGENWART II – DIE LITERATUR, DIE PUPPE, DAS ZEIGEN
Jörg Lehmann
Quelle 25
Knut HircheTelefonat zwischen K.H. und M.H. – Aufgezeichnet am 4.9.1988, 23.10 Uhr
Quelle 26
Holger TeschkeIm Theater der Dinge
II. GRUNDLAGEN DER AUSBILDUNG
Methoden
Hartmut Lorenz
DER LANGE WEG ZUR AUSBILDUNG
Puppenspielkunst unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzungszone und der entstehenden DDR
Werner Knoedgen
DEN WIDERSPRUCH ZWISCHEN LEHRE UND KREATION AUSHALTEN
Jörg Lehmann
WISSEN, REFLEKTIEREN UND DIE BEFÄHIGUNG, DIE RICHTIGEN FRAGEN ZU STELLEN
Animieren
Melanie Sowa
DAS SPIEL MIT OBJEKTEN
Florian Feisel
RAUS AUS DER MITTE!
Wie das Verschieben des Schwerpunktes Platz für fremde Körper schafft
Friedrich Kirschner
DIGITALE OBJEKTE
Sprechen und Spielen
Ulrike Völger
SPRECHEN UND STIMME IM THEATER DER DINGE
Hans-Jochen Menzel
IMPROVISATION
Astrid Griesbach
MASKE – ZEIGEN DURCH VERDECKEN
Julika Mayer
DEN ZUFALL PROVOZIEREN
Arbeitsweisen, Praktiken und Ansätze im Fach Animation
Bauen und Führen
Karin Tiefensee und Ingo Mewes
EIN WERKSTATTGESPRÄCH
Michael Mordo
MARIONETTENBAU
Die Hände, die die Marionette bauen, und diejenigen, die sie spielen, sind die gleichen
Regina Menzel
PUPPENFÜHRUNGSTECHNIK
Die Fähigkeit, Puppen zu führen
Netzwerken
Susanna Poldauf
KLAPPERN GEHÖRT ZUR KUNST
Kulturmanagement für Puppenspieler
III. AUSBILDUNGSSTÄTTEN
Hochschulen im deutschsprachigen und internationalen Raum
Das Theater, die Welt des Scheins, gräbt sich sein Grab,
je mehr es sich um Wirklichkeit bemüht, und der Mime desgleichen,
wenn er vergisst, dass er vor allem künstlich ist. Die Mittel jeder Kunst
sind künstliche, und jede Kunst gewinnt durch das Erkennen und
Bekennen ihrer Mittel.
Oskar Schlemmer, Tagebuch, September 1922
Das Gespräch mit Theatergängern oder -machern, die dem Puppenspiel, dem Figuren-, Objekt- oder Maskentheater, dem Schattenspiel oder Materialtheater … also all den Spielarten der Darstellung, die wir hier unter dem Oberbegriff THEATER DER DINGE zu fassen suchen, verbunden sind, kommt oft geradezu unweigerlich auf Erweckungserlebnisse. Das sind erste, überraschende, oftmals ausschlaggebende Begegnungen mit dieser Form von Theaterkunst. Meist sind es Liebeserklärungen.
Eine geht so: An einem heißen Sommertag in den 1990er Jahren saß ein frisch gebackener Absolvent der Fachrichtung Literatur- und Theaterwissenschaften in einem Keller der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin und schaute kritisch-interessiert auf das Spiel eines Studierenden des Studiengangs Puppenspielkunst. Der Spieler probte an seinem Diplomstück und hatte ihn „dazugeholt“, er hätte „das doch studiert“, … außerdem waren sie befreundet, „komm doch mal vorbei“. Da saß er also und schaute angestrengt auf den ersten Versuch einer Szene, in der begehrt wurde. Diese steckte tief in der dadaistischen Logik einer Prosageschichte von Kurt Schwitters: Amanda, „die schönste Frau des Ozeanriesen Paffnich …“, und ihr Held Nasebyll hatten sich unter einem fadenscheinigen Vorwand endlich den Blicken der Mitreisenden ent- und in die Kabine des Kapitäns zurückgezogen. Nun ging es um einen der schwierigsten Vorgänge, nicht nur im realen Leben, sondern vor allem auf der Bühne: die beginnende Liebe zweier Menschen. Amanda begehrte Nasebyll, er sie – aber keiner traute sich, den ersten Schritt zu wagen, das erlösende Wort zu sprechen. Wie oft hatte man sich bei der Bebilderung eines solchen sehr besonderen Moments schon fremdgeschämt, zu Hause auf dem Sofa, bei der Betrachtung einer Vorabendserie ebenso wie im Zuschauerraum des Stadttheaters. Der plötzlich zum Regisseur Erklärte hatte für diesen Vorgang keinen Vorschlag und versuchte, sich in einen unbestimmten Gesichtsausdruck zu retten. Trotz Kellerraum war es warm im Scheinwerferlicht. Der wiederholt suchende Blick in den Text hielt keine Rettung bereit. Die beiden Puppen warteten auf dem Spielbrett. Das Meer rauschte und die Zeit tropfte herein.
Da griff der Spieler an Amandas, so Schwitters, „schlanken Blusenhals“ (Amanda war eine Tischpuppe und hatte aus zu diesem Zeitpunkt vom plötzlichen Spielleiter noch nicht hinterfragten Gründen statt Beinen zwei Rollen), zog diesen etwas nach oben, ließ sie zu Nasebyll hinüberlugen, der immer noch so tat, als betrachte er durch das Bullauge, das eine Lupe war, das Meer: und dann fuhr Amanda auf ihren Rollen langsam, in zuerst unmerklichen, winzigen Bewegungen vor und zurück, hin und her, um dabei immer wieder (wie jetzt deutlich zu sehen war) schüchtern zu ihm zu blicken, dabei tanzend, wie ein Uhrpendel: eine poetische Unmöglichkeit. Ungeduld, Zögern, Warten, zum Sprung Ansetzen, die Angst, der Moment könne misslingen, keine Worte zu haben: Das alles war in dieser schlicht anmutenden Bewegung enthalten. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ stand unmittelbar und in großen Lettern im Probenraum. Und dieser Zauber wurde zum Ereignis: Es quietschte, erst leise, dann unüberhörbar. Die Rollen aus Holz, das Material spielte beim Begehren mit, gaben den Rhythmus, die Atmosphäre des Vorgangs vor, die Szene war unendlich lustig, traurig, absurd, vor allem aber – beängstigend menschlich. Kein Wort war gesprochen worden, die Dinge spielten Theater.
Von diesem Moment an war der bis dato im eher akademischen Blick auf das Theater geschulte temporäre Spielleiter mit etwas ihm bisher Unbekanntem nachhaltig infiziert und blieb, nicht nur für die Dauer dieser Probe, neugierig auf seinem Stuhl sitzen, das Quietschen in der Inszenierung und eine Frage im Kopf.
Das Zustandekommen des vorliegenden Buchs ist vom anhaltenden Wunsch der Herausgeber beflügelt, den Zauber, das Überraschende des Anfangs dieser ersten Begegnungen mit dem Theater der Dinge im Nachhinein vielleicht besser lesen, verstehen zu können. Um der Frage nachzugehen: Was ist das Besondere, die Kraft, letztlich das magische Andere dieser Theaterform? Was ist es, das da von der Bühne herab in einer unerhörten Leichtigkeit, aber mit Nachdruck nach uns greift? Ist die Puppe, der Schatten, das Objekt, das Ding vielleicht so etwas wie das „mythische Element“ des Theaters?
Dieses Buch will eine Handreichung für all diejenigen sein, die sich für Spielformen des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters interessieren. Wir fassen diese Spielarten der Darstellenden Kunst in dieser Publikation unter den Begriff Theater der Dinge und stellen dessen Spezifik und Historie, die Ausbildung und mögliche Arbeitsfelder vor. Durch Bündelung verstreuter Veröffentlichungen und durch eine Vielzahl von für diesen Band entstandenen Texten und deren Zusammenstellung wird eine Lücke im Diskurs und der Wahrnehmung dieser innovativen Spielart von zeitgenössischem Theater für Theaterschaffende, Lehrende und Lernende geschlossen.
Der 1. Teil des Buches ist der Historie gewidmet und beginnt mit einem einführenden Essay von Silvia Brendenal, in welchem die Bandbreite gewachsener Spielweisen im Theater der Dinge aufgezeigt wird. Es folgen in chronologischen Kapiteln Schlaglichter auf jene Momente der Geschichte des Gegenstandes, in denen die Puppe, das Objekt, das Ding auf der Bühne selbst zum Protagonisten, zum Impulsgeber für das jeweilige Theater wurde oder aber den Referenzpunkt für avantgardistische Entwürfe darstellte. Historische Quellen, Aufsätze und Gespräche werden zu diesen Momentaufnahmen geordnet und durch einleitende Texte der Herausgeber gerahmt.
Der 2. Teil des Bandes stellt die Ausbildung für das Puppen-, Figuren- und Objekttheater im Rahmen eines Studiums an einer Kunsthochschule vor.
Die Möglichkeit eines solchen Studiums ist in der deutschen Bildungslandschaft relativ jung. 1971/72 wurde der Studiengang Puppenspielkunst an der damaligen Staatlichen Schauspielschule, heute Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin gegründet. 1983 folgt der Studiengang Figurentheater an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. In den ersten Beiträgen des Kapitels kommen die langjährigen Leiter der beiden Studiengänge zu Wort und wir erfahren etwas über die gesellschaftliche Situation, in der diese Gründungen stattfanden, und einiges über die sich rasch abzeichnenden differenten methodischen und ästhetischen Feldbestimmungen.
Beiden Gründungen gemeinsam ist die Zuordnung der Studiengänge zu Hochschulen der Darstellenden Kunst, Studienziel in Stuttgart wie in Berlin ist die Entwicklung der Studierenden zu Darstellenden Künstlerinnen und Künstlern. Beiden Studiengängen ist aber immer auch eine starke Affinität zur Bildenden Kunst eigen, das Potential des Theaters der Dinge entspringt u. a. aus der Verortung an genau dieser Schnittstelle. Folglich sieht sich auch die Ausbildung in dieser Form der Darstellung mit der besonderen Herausforderung konfrontiert, die Elemente und Einflüsse aus Theater und Bildender Kunst sichtbar zu machen, innerhalb des Studiums zu gewichten, sie in wechselseitiger Beeinflussung nutz- und erlebbar zu machen – das ist die Kraftquelle, aber auch eine Herausforderung an Lehrende und Lernende zugleich, mitunter bis zum methodischen und künstlerischen Spagat.
Nach diesen beiden Texten zur Geschichte der Studiengänge berichten dann gegenwärtig Lehrende beider deutscher Hochschulen in Form von Essays und Gesprächen über ihre Setzungen, Erfahrungen und Visionen in und für ihre jeweiligen Ausbildungsbereiche. Dabei wurde versucht, das Studium der Zeitgenössischen Puppenspielkunst in Berlin und des Figurentheaters in Stuttgart nicht streng nach dem jeweiligen Curriculum abzubilden, sondern einzelne Bereiche von zu erlernenden Tätigkeiten und Fertigkeiten unter Schlagworten zusammenzufassen.
Teil 3 des Buches versammelt neben den wichtigsten Daten, Bewerbungszeiten etc. der beiden deutschen Hochschulen die Adressen und Kontaktmöglichkeiten aktueller Ausbildungsstätten.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde bei Aufzählungen durchgängig die maskuline Schreibvariante verwendet.
Wir möchten uns ganz herzlich bei unserer Lektorin Nicole Gronemeyer für ihre leisen, aber beharrlichen Hinweise und bei Silvia Brendenal für freundschaftliche Beratung, Ansporn und elementare Unterstützung bedanken.
Markus Joss und Jörg Lehmann
Berlin, Juli 2016
Silvia Brendenal
Kasper tauscht Bett und Sarg mit der Großmutter. Er, der von der Staatsmacht Gejagte und zum Tode Verurteilte, versteckt sich in ihrem Bett, sie, die Todessehnsüchtige, kann sich endlich vom Leben verabschieden und es sich in entsprechend schönem Sarg gemütlich machen …
Einem Tänzer begegnet sein Alter Ego in Puppengestalt. Leidenschaftlich, vehement der Tanz dieses ungleichen Paares. Anziehung schwingt ebenso mit wie Ablehnung, der kurze Moment der Wahrhaftigkeit versucht, dem magischen der Illusion zu widerstehen …
Auf der Bühne die Performerin in golden leuchtendem, plissiertem Gewand. Mit nur wenigen Haltungen und Gesten deutet sie die dargestellte Figur an: Kleopatra. Skulptur, Maske, die Augen blind. Auf Gesicht und Körper projizierte Filmaufnahmen verfremden ihre starre Künstlichkeit …
Eine Figurenspielerin nimmt ihre vogelhaft anmutende, nahezu zerbrechlich wirkende Puppe auf die Schulter. Gemeinsam heben sie an zum Flug des Ikarus, zum Versuch, den Zwängen der Realität zu entkommen …
In buntes Papier eingewickelte Bonbons verwandeln sich in eine Schar spielender Geschöpfe. Aus dem Spiel schließen sie jenes aus, dessen Papierhülle eine andere ist. Vergessend, dass es auch ihr Schicksal ist, ausgewickelt und gelutscht zu werden …
Dies sind nur einige szenische Bilder aus dem breiten Spektrum der Ausdrucksformen des Theaters der Puppen, der Figuren, der Dinge, die von der künstlerischen Vielfalt dieses Theaters erzählen und gleichzeitig dessen Beziehungen zur Bildenden Kunst, zur Performance, zum Tanztheater, zum Schauspiel, zur virtuellen Medienwelt belegen. In kaum einer anderen Theaterkunst vollzog sich in den letzten drei Jahrzehnten eine so tiefgreifende, genreübergreifende Entwicklung wie im Puppen- und Figurentheater, kaum eine andere Bühnenkunst bewegte sich so gelassen und selbstverständlich auf jenem vielbeschworenen und oft gefürchteten Pfad der Grenzüberschreitungen.
Brunella Eruli, italienische Kunstprofessorin, fasste dieses Phänomen in einem prägnanten Satz zusammen: „Die gegenwärtige Theaterszene scheint von einem Gespenst heimgesucht zu werden: dem Gespenst der Puppe.“1 Wie viel Faszination, Irritation und Unerklärliches steckt in diesen Worten, die wohl auch das Unaufhaltsame der Entwicklung meinen. Die Puppe hat sich nach und nach mit den Schwesterkünsten des Theaters verbunden, folglich wurde die Öffnung des Genres vollzogen. Und trotz jener Stimmen, die vehement davor warnten (die Puppe riskiere den Verlust ihrer Tradition und damit den ihrer Wurzeln und letztlich ihrer Seele), scheint eine neue Generation von Regisseuren und Darstellern herangewachsen zu sein, die die Puppe mit neuem, vorurteilsfreiem Blick betrachten und in ihr die Trägerin kraftvoller Ideen und ursprünglicher Sichtweisen auf Ausdrucksmittel sehen, die das heutige Theater ausmachen: Körper, Material, Stimme, Bild, Wort und Raum. Das heißt, bzw. könnte heißen, dass sich das Puppen-, Figuren-, Objekt- oder Materialtheater und deren Schwesterkünste gegenwärtig in der gemeinsamen Suche nach einer Theatersprache begegnen, die die althergebrachte Beziehung von Subjekt und Objekt, von Rolle und Darstellung infrage stellt und die einem gewandelten bildnerischen bzw. ästhetischen Konzept zuzuordnen ist. Trotz des laut vernehmbaren Schreis nach Abgrenzung und Schutz des Genres lag und liegt in dieser gemeinsamen Suche eine unglaubliche schöpferische Provokation für das Puppen- und Figurentheater: Zurückgeworfen auf sich selbst durch die „fremde“ Aufmerksamkeit, ist es herausgefordert, immer wieder und neu das Eigene, das Besondere zu behaupten, somit den Belebungsprozess / die Animation als den zentralen Gestaltungsvorgang der Kunst des Puppenspiels immer wieder ins Zentrum jeglicher künstlerischen Auseinandersetzung zu rücken.
Und wo das geschieht, spricht die Puppe, das Objekt, das Ding seine eigene leise, unüberhörbare Sprache – wie in dieser Szene: Stille. Das Licht im dunklen Bühnenraum richtet sich auf einen länglichen Kokon. Eine Hand schält sich daraus hervor. Ein Rucken, ein Kratzen, ein Hin-und-her-Schwingen, schließlich fällt ein kleines Wesen heraus. Ein Mensch, androgyn, bar jeglicher Geschlechtsmerkmale. Abbild der Schöpfung an und für sich, das wagt, auf dem hoch oben gespannten, schwankenden Seil einen Abgrund zu überqueren, unbekanntem Ziel entgegen. Schritt für Schritt nähert es sich den wartenden menschlichen Händen – Halt und neuerliche Gefahr zugleich.2
Dass diese kunstvolle Sprache in Deutschland dennoch oft nicht gehört wird, bzw. überhört wurde und das Figurentheater wie kaum eine der anderen Darstellenden Künste um seine gesellschaftliche bzw. kulturpolitische Anerkennung ringt und ringen muss, hat seine Ursache vor allem darin, dass das Verständnis vom Puppen- und Figurentheater nach wie vor geprägt ist durch Klischees und Vorurteile.
Puppen- und Figurentheater, im öffentlichen Bewusstsein dem Kindertheater zugeordnet – was zunächst nichts Ehrenrühriges hat, wird doch das Repertoire des Puppen- und Figurentheaters tatsächlich von Inszenierungen für Kinder dominiert –, wird in vielen Fällen als pädagogisch-didaktisches Instrument verstanden, wird degradiert zur Kinderbelustigung, oft gleichgesetzt mit inhaltsloser Belanglosigkeit.
Eine andere künstlerische Realität wurde und wird von den Puppenspielern geschaffen. Ihre phantasievollen, poetischen Produktionen für Kinder verblüffen nicht nur durch den ungewöhnlichen ästhetischen Zugriff, sondern vor allem durch das schöpferische Bündnis, das die Macher mit den kindlichen Zuschauern eingehen. Schließlich machen die kleinen Zuschauer oft sicht- und erlebbar, was im Theater gewöhnlich verborgen bleibt: den aktiven Prozess des Wahrnehmens.
Auch das Puppen- und Figurentheater für Erwachsene – lange Zeit dem offiziellen Kunstbetrieb nicht mehr als eine Randnotiz wert – hat sich inzwischen zu einer unverrückbaren künstlerischen Größe in der deutschen Theaterlandschaft entwickelt. Seit über vier Jahrzehnten stellen sich Puppen- bzw. Figurenspieler, ausgebildet an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, Abteilung Zeitgenössische Puppenspielkunst, oder im Studiengang Figurentheater der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, der ästhetischen Herausforderung, die sich hinter der szenischen Entdeckung des Verhältnisses von Spieler und Figur, Körper und Material verbirgt. Entstanden sind viele herausragende Inszenierungen – jede für sich künstlerischer Ausdruck des stetigen Wandels der Beziehung zwischen den Akteuren und dem Material, sowie der Bereitschaft der Macher, die Grenze zwischen dem Wesen der Körper und dem Wesen der Dinge spielerisch zu überschreiten.
In der Bühnenadaption von Alessandro Bariccos Roman Novecento, in dem die Geschichte des Mannes erzählt wird, der Zeit seines Lebens das Schiff nicht verlassen hat, auf dem er geboren wurde, der die Gabe besaß, die Menschen zu erkennen, die Zeichen zu lesen, die sie trugen, und der sich entschied, mit dem Schiff, das gesprengt werden wird, zu sterben, haben Regie und Darsteller für diesen Moment des Todes ein Bild gefunden, das nahezu selbstverständlich diese „Überschreitung“ thematisiert: Der Darsteller löst sich von den Hüllen, die Novecento vorgaben, entkleidet sich bis auf die Haut, verlässt den Dampfer und kriecht in einen durchsichtigen, aufgeblasenen Ballon, der seinen nackten Körper aufnimmt. Als verpuppe er sich, rollt er sich in dieser durchscheinenden Hülle zusammen. Im grellen Lichtkegel entsteht der Eindruck, er schwebe einem Embryo gleich im Bühnenraum. Langsam, sehr langsam erlischt das Licht. Mensch und Material, Leben und Tod – so spürbar nahe.3
Die Puppe – auch wenn sie sich beharrlich zu wehren suchte, sie ist es, die die radikalste Wende in den vergangenen Jahrzehnten deutscher Puppen- bzw. Figurentheatergeschichte erfuhr. Nicht nur, dass in der Zeit politischer Wende, der Wiedervereinigung, unterschiedliche Theatersprachen aufeinandertrafen, auch das Verhältnis zur Puppe als Bühnengestalt hätte unterschiedlicher nicht sein können. In der DDR bekannten sich die Puppentheatermacher ganz bewusst zur Puppe, was einem politischen Statement gleichkam. Ging es doch auch um ein Bekenntnis zu einer Puppenspiel-Tradition, die per Doktrin nahezu zerstört worden war und dessen künstlerischer Anspruch sich in dem Begriff Puppenspielkunst formulierte, den Konstanza Kavrakova-Lorenz so definierte: „Puppenspielkunst – was ist das? Das Wort selbst, wenn man es in seine Bestandteile zerlegt und als kürzeste Bezeichnung eines Programms auffasst, weist auf bestimmte Materialien (Puppe), auf Machart (Spiel) und auf Ziele bzw. Absichten (Kunst) hin. Alle drei Worte sind Begriffe, die einen sehr breiten historischen, kulturellen und sozialen Hintergrund besitzen und mit diesem Kontext, der individuell interpretierbar ist, in die Verknüpfung ‚Puppen-Spiel-Kunst‘ eingehen.“4
In den alten Bundesländern etablierte sich eine künstlerische Bewegung, die der inzwischen durch den Kommerz verschlissenen Puppenspiel-Tradition das kunstvolle, in Produktions- und Wirkungsweise völlig neue Verständnis eines Theaters entgegensetzte, das die Wechselbeziehung zwischen Mensch und gestaltetem Material, zwischen Lebendigem und Leblosem thematisierte. Begriffe wie Figurentheater, Material- oder Objekttheater etablierten sich, fassten Fuß und schufen zunehmend ein anderes öffentliches Bewusstsein für ein anderes Theater.
Eine Frau sitzt an der Nähmaschine. Sie näht Bettbezüge. Bezug für Bezug. Inmitten der tristen Monotonie dieser Tätigkeit entwickelt sich, Naht für Naht, ein absurdes Spiel: Auf Stoffbahnen, Fingerhut, Schere, Stecknadeln, Garn oder Geräusch der Maschine projiziert die Weißnäherin ihre Wünsche, Sehnsüchte und Ängste. Merkwürdige Vorgängen nehmen Gestalt an, spiegeln die innere Zerrissenheit dieser Frau wider, der es am Ende nur mühsam gelingt, sich wieder zusammenzuflicken.5
So die Beschreibung nur einer der zahlreichen Inszenierungen, egal, ob in Ost oder West entstanden, die jene Brücke zu den philosophisch-theatralischen Dimensionen einer Theaterkunst schlugen, die das Verhältnis zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Ding-Welt, zwischen Geist und Materie als eigenständig definierte, die das Entstehen und Vergehen, Beleben und Sterben, Beseelen und Verdinglichen tatsächlich zu ihrem Inhalt gemacht hat.
Und egal, wie man das dem Darsteller zur Seite gegebene Medium künstlerischen Ausdrucks auch nennen mag, ob nun Figur, Objekt oder Material, selbst die Puppe – nur traditionellerweise als Abbild von Mensch oder Tier in verkleinerter Form verstanden, also als eine Nachahmung, die anstatt der echten Menschen in Situationen gestellt wird, in denen sie sich stellvertretend verhält bzw. entsprechend behandelt wird – gesellt sich ihnen selbstverständlich zu, wissend, dass sie alle den Dingen zugehören. Den Dingen, die ihrer Beschaffenheit nach die Funktionen von Bildgestalt und Medium der Darstellung in dieser besonderen Theaterkunst zu übernehmen bereit sind. Theater der Dinge: Vielleicht wird dieser Begriff, den Konstanza Kavrakova-Lorenz für diese besondere Theaterkunst adaptierte und der nicht nur den Gedanken der Liaison von Darstellender und Bildender Kunst beinhaltet, sondern auch eine Bezeichnung für eine Theaterform ist, „die all die Phänomene zusammenfasst, deren Hauptelement ein dingliches ist“, deren Benennungen „auf eine Begegnung zwischen einer theatralischen Tätigkeit des/der Menschen und der Dingwelt in ihrer Darstellungsfunktion“6 hinweisen, irgendwann das Puppentheater, Figurentheater, Objekttheater, Materialtheater, Bildertheater, visuelle Theater aus Erklärungszwängen erlösen. Ist er doch nicht mehr und nicht weniger als eine begriffliche Klammer für all das, was in dieser Kunst an Ausdrucksvielfalt und schöpferischem Reichtum möglich ist. Und es scheint kein Zufall, dass das Theater der Dinge immer weiter in das künstlerische und menschliche Interesse rückt, ist es doch mit einer Form von Wahrnehmung verbunden, die das „vergessene Menschliche“ (Walter Benjamin) an den Dingen ebenso meint wie die Bereitschaft, diese Theaterform als jenen Ort des „Dazwischen“ zu akzeptieren. Als den Ort zwischen Leben und Tod, zwischen Lebendigem und Totem, zwischen Heiligem und Profanem, zwischen Göttern und Menschen …
Silvia Brendenal (geb. 1949), Studium der Theaterwissenschaft in Berlin, Mitarbeiterin am Theater der Jungen Generation Dresden und Puppentheater Berlin, Redakteurin bei Theater der Zeit, double und Das andere Theater. Von 1992 bis 1997 war sie Direktorin des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst und Künstlerische Leiterin des internationalen Figurentheaterfestivals FIDENA in Bochum. Von 1997 bis 2015 war sie Künstlerische Leiterin der Schaubude Berlin sowie zahlreicher internationaler Festivals. 2012 wurde sie zum „Chevalier dans l’ordre des Arts et des Lettres“ durch den französischen Kulturminister ernannt und erhielt 2013 den Preis der ASSITEJ für besondere Verdienste für das Kinder- und Jugendtheater.
1Brunella Eruli: „Träger unbekannten Lebens“, in: Silvia Brendenal (Hg.): Animation fremder Körper, Berlin 2000, S. 30.
2Ein(s)ein, Inszenierung der Numen Company, Berlin.
3Inszenierung Novecento, Florian Feisel, Puppentheater Magdeburg, 2004.
4Vorlesungsmaterial von Prof. Dr. Konstanza Kavrakova-Lorenz an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, Abt. Puppenspielkunst.
5Die Weißnäherin, Inszenierung des Materialtheater Stuttgart, 1995.
6Kavrakova-Lorenz, a.a.O.
„Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen neben einander her, zumeist im offnen Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren, den das gemeinsame Wort ‚Kunst‘ nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ‚Willens‘, mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.“
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Das Theater im antiken Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. steht zweifellos am Beginn einer beschreibbaren Theatergeschichte Europas. Allerdings ist schon solch ein rasch hingeschriebener Satz eine tollkühne Behauptung, berührt die Aussage in diesem Satz doch die zentrale Frage nach den Ursprüngen von Theater und die noch schwieriger zu beantwortende Frage: Was ist eigentlich Theater? Ab welcher Erscheinung eines Spiels, einer Darstellung sprechen wir heute eigentlich von „Theater“? In der attischen Polis werden vor rund 2500 Jahren die seit Urzeiten vorhandenen und praktizierten theatralen Handlungen von Menschen zum ersten Mal belegbar und nachhaltig institutionell gerahmt; das Theater beginnt, sich aus dem rein kultisch-religiösen Bereich und dessen Zweckgebundenheit zu lösen. Ob man allerdings geneigt ist, an diesem Punkt der Entwicklung schon in den aufklärerischen Optimismus Bertolt Brechts einzustimmen, der hier den Sprung aus dem kultischen Bereich heraus in ein Theater vollzogen sieht, dessen Ziel er fortan als Unterhaltung definiert, soll an dieser Stelle nicht umfassend diskutiert werden. Einerseits führen die klare Trennung zwischen Spielenden und Zuschauer, die staatliche Organisation der Aufführungen, die Arbeitsteilung der künstlerisch Produzierenden und der Festcharakter in der Summe mit einiger Sicherheit zu einer neuen Stufe kultureller Kommunikation, zu Theater in seiner institutionalisierten Variante. Öffentlich, zentral und inmitten der Polis werden Fragen gestellt und behandelt, welche die Polis, ihre Verfasstheit und das Leben ihrer Bewohner direkt betreffen. Um es mit dem Romantiker Novalis zu sagen: „Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst.“ Auf der anderen Seite kann die religiös-kultische Anbindung und Einbindung der Aufführungen attischer Tragödien nicht übersehen werden. Von der Opferung zu Beginn der Feste, der zentralen Rolle des die Götter anrufenden Chores bis zu den verhandelten Stoffen: Das alles nimmt sich als eindeutiger Referenzpunkt in den Aufführungen aus. Aber, und das interessiert uns hier, welche Rolle spielen die Dinge in diesem Transfer aus dem kultischen Denken?
Lange vor diesem ersten Aufscheinen einer theatralen Hochkultur im 5. Jahrhundert v. Chr., von deren Setzungen und Maximen das Theater bis in unsere Gegenwart zehrt, in deren dramatischen Texten wir uns immer noch glauben gespiegelt zu sehen, finden wir bereits Formen theatraler Handlungen der Menschen, die z. B. die attische Tragödie aufnimmt, nutzt, und: auch bändigt. Und wir finden irritierende Gemeinsamkeiten – und wieder die Spur dessen, was wir hier das Theater der Dinge nennen.
Die bei vielen „Naturvölkern“ nachweisbaren Rituale der Opferung etwa haben einen klaren (rituellen) Ablauf, in dem Requisiten, Kostüme und Masken verwendet werden. Gegenstände können beschworen, an Gegenständen können Handlungen vorgenommen werden, die einem Toten oder nicht anwesenden Menschen, Geist, Gott gelten. Ein Ding kann für etwas anderes stehen – das theatrale Prinzip des als ob wird hier bereits sichtbar. Die Ahnen werden durch Dinge personifiziert oder durch deren besondere Behandlung stellvertretend zu Bindegliedern zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit oder Zukunft erfahren. Verwandlung, Ekstase, Rauschzustände werden angestrebt und genutzt, um in existenziellen Situationen Auskunft zu erhalten über den Willen der Götter, den Zeitpunkt der Ernte oder das Ende der Trockenzeit. Kern dieser Vorstellungen oder die Bedingung für dieses Denksystem ist der Animismus, der Glaube an die Beseeltheit auch der Dingwelt. Wie sonst sollte man etwa an einer Puppe aus Stroh eine Handlung ausführen können, die einem dadurch fortan aus der Gemeinschaft ausgestoßenen Straftäter gilt? Zum Vorstellungs- und Denksystem des Animismus gibt ein Auszug aus Totem und Tabu von Sigmund Freud Auskunft. (Quelle 1)
Diese beiden Axiome – die religiöse Referenz und die die theatrale Kommunikation erst konstituierende Rolle von Dingen (die Maske) – gehen in die Erscheinung der attischen Tragödie ein. Ersteres manifestiert sich in der Gebundenheit der Aufführungen an den Mythos, Letzteres durch das Bindeglied der Maske. Diese konstituiert die griechische Aufführungspraxis in einer Form von Theater, welche zwar mit Menschen über den Menschen reflektiert (Novalis), aber die Götter zum Bezugspunkt hat – und diese sind nur mit Masken darstellbar, welche Richard Weihe beschreibt. (Quelle 2)
Der zentrale Ort, die Keimzelle des Theaters, der kreisrunde Platz der Orchestra, wird auch von den Mitgliedern des Chores nur maskiert singend, tanzend (und betend!) betreten, zentrales Requisit und Referenzpunkt der Handlung ist häufig ein Altar. Dies alles generiert eine Form der Darstellung, die keine Form von Realismus anstrebt, die deutlich auf etwas anderes, nicht in der Realität Vorhandenes verweist. „Zeus, wer immer du auch bist …“, heißt es uns fast ironisch anmutend im berühmten ersten Standlied des Chors in der Orestie des Aischylos. Das Spiel vergegenwärtigt etwas außerhalb Stehendes – und stellt dabei konsequenterweise nicht den Menschen als Spieler in den Mittelpunkt. Das Theater in antiker Zeit verfremdet diesen Menschen und sein Tun mittels Masken, in späterer Zeit auch durch Kothurne (Schaftstiefel mit erhöhten Sohlen), durch das Metrum der verwendeten Sprache, durch Tanz und Gesang.
Die großen Masken, in späterer Zeit noch kunstvoll ausgeschmückt, führen zu grotesken Verzerrungen des Spiels, die Gewänder haben weite, die Gesten optisch vergrößernde Ärmel. Aber auch in den Satyrspielen zeigen sich Überhöhungen des menschlichen Körpers; im derben, auch obszönen Spiel des Mimus etwa ist der allgegenwärtige aufgerichtete und grotesk vergrößerte Phallus zentrales Objekt und Zeichen. Dieses Spiel ist mit unserem gegenwärtigen Begriff des Schauspielens nur unzureichend zu fassen, der Mensch verkörpert nicht den Gott, er zeigt ihn, er verweist auf ihn. Ernst-Frieder Kratochwil spricht daher folgerichtig von Solisten, nicht von Schauspielern. (Quelle 3)
Die Maske selbst scheint somit das Bindeglied zwischen einer animistisch konnotierten Kulthandlung und dem theatralen Spiel zu sein. Das Theater als Anlage selbst befindet sich im kultischen Bereich Athens, am Südhang der Akropolis. Die Aufführungen finden im Rahmen von Festen statt, die Dionysos, dem Maskengott, gewidmet sind. Der Kult dieses Halbgottes mit den ihn im Zustand der Ekstase umtanzenden Frauen, ein Kult der Verwandlung, des Rausches und der Ekstase, findet Eingang ins antike Theater, umgeformt und: gebändigt. Interessant für uns ist es – wenn wir das attische Theater als Wiege der europäischen Theaterentwicklung ansehen – auf Spielweisen des heutigen Theaters zu schauen: mit seiner Forderung nach einer vermeintlichen Authentizität der Darstellung, mit seiner Fokussierung allein auf den Menschen, der, der Maske, des Textes und jeglicher Verfremdung, ja der Kunstfigur entkleidet, auf sich und seine Körperlichkeit zurückgeworfen, nur noch als Experte seiner selbst auftritt.
Ein anderer Berührungspunkt des Theaters der Griechen zu heutigen Formen des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters findet sich in einer Spezifik der Spielweise: Das attische Theater, das für seine Szenen noch keine Innenräume kennt, nutzt – vor allem bei der Darstellung von Extremsituationen des menschlichen Lebens und Leidens – das Prinzip des Zeigens durch Verbergen und ist damit dem heutigen Theater der Dinge in seiner wirkungsstrategischen Absicht verblüffend nahe. Der Vorgang der skandalösen Selbstblendung des König Ödipus wird uns wortgewaltig berichtet, nicht gezeigt. Medeas Mord an den eigenen Kindern erleben wir durch deren Hilferufe und die ahnungsvollen Repliken des Chores, wir sehen das Grauen aber nicht. Auch das Theater der Dinge setzt durch die Rahmung bewusst auf den Ausschnitt und den kofabulierenden Zuschauer, der das nicht zu Sehende durch seine Imagination ergänzt, ja punktuell geradezu erst durch diese entstehen lässt. Das alles verschlingende, aber nur akustisch suggerierte Monster wird in der Imagination des Zuschauers dadurch nur noch gewaltiger. Der nicht vorhandene Körper eines Kopfs an Fäden, der zu seinen Füßen spricht, wird in unserer Vorstellung komplettiert. Es mag ein kühner Vergleich sein, aber der Bericht von Kassandras und Agamemnons Tod im nicht zu sehenden Bad im ersten Teil der Orestie ist in seinem Skandalon dem dramatischen Klagen des Kaspers verwandt, der uns vom Krokodil berichtet, welches sich in sein – nicht sichtbares, da unterhalb der Spielleiste überhaupt nicht vorhandenes – Bein verbissen hat.
In wichtigen Drehpunkten setzt das Spiel im antiken Theater genau wie unsere Darstellungskunst auf das Mittel des Epischen: Die Vorfälle werden berichtet, nicht dargestellt, und können so im Kopf des Zuschauers eine eigene Vorstellungswelt entfachen – die in ihrer Wirkung mitunter der Kraft einer trickreichen Darstellung voller Einfühlung und Schweiß weit überlegen ist …
Jörg Lehmann
Sigmund Freud
Animismus im engeren Sinne heißt die Lehre von den Seelenvorstellungen, im weiteren die von geistigen Wesen überhaupt. Man unterscheidet noch Animatismus, die Lehre von der Belebtheit der uns unbelebt erscheinenden Natur, und reiht hier den Animalismus und Manismus an. […]
Was zur Aufstellung dieser Namen Anlaß gegeben hat, ist die Einsicht in die höchst merkwürdige Natur- und Weltauffassung der uns bekannten primitiven Völker, der historischen sowohl wie der jetzt noch lebenden. Diese bevölkern die Welt mit einer Unzahl von geistigen Wesen, die ihnen wohlwollend oder übelgesinnt sind; sie schreiben diesen Geistern und Dämonen die Verursachung der Naturvorgänge zu und halten nicht nur die Tiere und Pflanzen, sondern auch die unbelebten Dinge der Welt für durch sie belebt. Ein drittes und vielleicht wichtigstes Stück dieser primitiven „Naturphilosophie“ erscheint uns weit weniger auffällig, weil wir selbst noch nicht weit genug von ihm entfernt sind, während wir doch die Existenz der Geister sehr eingeschränkt haben und die Naturvorgänge heute durch die Annahme unpersönlicher physikalischer Kräfte erklären. Die Primitiven glauben nämlich an eine ähnliche „Beseelung“ auch der menschlichen Einzelwesen. Die menschlichen Personen enthalten Seelen, welche ihren Wohnsitz verlassen und in andere Menschen einwandern können; diese Seelen sind die Träger der geistigen Tätigkeiten und bis zu einem gewissen Grad von den „Leibern“ unabhängig. Ursprünglich wurden die Seelen als sehr ähnlich den Individuen vorgestellt, und erst im Laufe einer langen Entwicklung haben sie die Charaktere des Materiellen bis zu einem hohen Grad von „Vergeistigung“ abgestreift. […]
Wie sind die primitiven Menschen zu den eigentümlich dualistischen Grundanschauungen gekommen, auf denen dieses animistische System ruht? Man meint, durch die Beobachtung der Phänomene des Schlafes (mit dem Traum) und des ihm so ähnlichen Todes und durch die Bemühung, sich diese jeden Einzelnen so nahe angehenden Zustände zu erklären. Vor allem müßte das Todesproblem der Ausgangspunkt der Theoriebildung geworden sein. Für den Primitiven wäre die Fortdauer des Lebens – die Unsterblichkeit – das Selbstverständliche. Die Vorstellung des Todes ist etwas spät und nur zögernd Rezipiertes, sie ist ja auch für uns noch inhaltsleer und unvollziehbar. Über den Anteil, den andere Beobachtungen und Erfahrungen an der Gestaltung der animistischen Grundlehren gehabt haben mögen, die über Traumbilder, Schatten, Spiegelbilder u. dgl., haben sehr lebhafte, zu keinem Abschluß gelangte Diskussionen stattgefunden. […]
Der Animismus ist ein Denksystem, er gibt nicht nur die Erklärung eines einzelnen Phänomens, sondern gestattet es, das Ganze der Welt als einen einzigen Zusammenhang, aus einem Punkte zu begreifen. Die Menschheit hat, wenn wir den Autoren folgen wollen, drei solcher Denksysteme, drei große Weltanschauungen im Laufe der Zeiten hervorgebracht: die animistische (mythologische), die religiöse und die wissenschaftliche. Unter diesen ist die erstgeschaffene, die des Animismus, vielleicht die folgerichtigste und erschöpfendste, eine, die das Wesen der Welt restlos erklärt. […]
Eine der verbreitetsten magischen Prozeduren, um einem Feind zu schaden, besteht darin, sich ein Ebenbild von ihm aus beliebigem Material zu machen. Auf die Ähnlichkeit kommt es dabei wenig an. Man kann auch irgendein Objekt zu seinem Bild „ernennen“. Was man dann diesem Ebenbild antut, das stößt auch dem gehaßten Urbild zu; an welcher Körperstelle man das erstere verletzt, an derselben erkrankt das letztere. Man kann dieselbe magische Technik anstatt in den Dienst privater Feindseligkeit auch in den der Frömmigkeit stellen und so Göttern gegen böse Dämonen zu Hilfe kommen. Ich zitiere nach Frazer [James George Frazer: The magic art and the evolution of kings. Macmilian and Co., London 1920, Bd. 1 S. 67]: „Jede Nacht, wenn der Sonnengott Ra (im alten Ägypten) zu seinem Heim im glühenden Westen herabstieg, hatte er einen bitteren Kampf gegen eine Schar von Dämonen zu bestehen, die ihn unter der Führung des Erzfeindes Apepi überfielen. Er kämpfte mit ihnen die ganze Nacht, und häufig waren die Mächte der Finsternis stark genug, noch des Tags dunkle Wolken an den blauen Himmel zu senden, die seine Kraft schwächten und sein Licht abhielten. Um dem Gotte beizustehen, wurde in seinem Tempel zu Theben täglich folgende Zeremonie aufgeführt: Es wurde aus Wachs ein Bild seines Feindes Apepi gemacht, in der Gestalt eines scheußlichen Krokodils oder einer langgeringelten Schlange und der Name des Dämons mit grüner Tinte darauf geschrieben. In ein Papyrusgehäuse gehüllt, auf dem eine ähnliche Zeichnung angebracht war, wurde dann diese Figur mit schwarzem Haar umwickelt, vom Priester angespuckt, mit einem Steinmesser bearbeitet und auf den Boden geworfen. Dann trat er mit seinem linken Fuß auf sie, und endlich verbrannte er sie in einem von gewissen Pflanzen genährten Feuer. Nachdem Apepi in solcher Weise beseitigt worden war, geschah mit allen Dämonen seines Gefolges das nämliche. Dieser Gottesdienst, bei dem gewisse Reden hergesagt werden mußten, wurde nicht nur morgens, mittags und abends wiederholt, sondern auch jederzeit dazwischen, wenn ein Sturm wütete, wenn ein heftiger Regenguß niederging oder schwarze Wolken die Sonnenscheibe am Himmel verdeckten. Die bösen Feinde verspürten die Züchtigung, die ihren Bildern widerfahren war, als ob sie sie selbst erlitten hätten; sie flohen, und der Sonnengott triumphierte von neuem.“
[…] Man erzeugt den Regen auf magischem Wege, indem man ihn imitiert, etwa auch noch die ihn erzeugenden Wolken oder den Sturm nachahmt. Es sieht aus, als ob man „regnen spielen“ wollte. Die japanischen Ainos z. B. machen Regen in der Weise, daß ein Teil von ihnen Wasser aus großen Sieben ausgießt, während ein anderer eine große Schüssel mit Segel und Ruder ausstattet, als ob sie ein Schiff wäre, und sie so um Dorf und Gärten herumzieht. Die Fruchtbarkeit des Bodens sicherte man sich aber auf magische Weise, indem man ihm das Schauspiel eines menschlichen Geschlechtsverkehrs zeigte. So pflegen – ein Beispiel anstatt unendlich vieler – in manchen Teilen Javas zur Zeit des Herannahens der Reisblüte Bauer und Bäuerin sich nachts auf die Felder zu begeben, um durch das Beispiel, das sie ihm geben, den Reis zur Fruchtbarkeit anzuregen. Dagegen fürchtete man von verpönten inzestuösen Geschlechtsbeziehungen, daß sie Mißwuchs und Unfruchtbarkeit des Bodens erzeugen würden.
Auch gewisse negative Vorschriften – magische Vorsichten also – sind dieser ersten Gruppe einzureihen. Wenn ein Teil der Bewohner eines Dayakdorfes auf Wildschweinjagd ausgezogen ist, so dürfen die Zurückgebliebenen unterdes weder Öl noch Wasser mit ihren Händen berühren, sonst würden die Jäger weiche Finger bekommen und die Beute aus ihren Händen schlüpfen lassen. Oder, wenn ein Gilyakjäger im Walde dem Wilde nachstellt, so ist es seinen Kindern zu Hause verboten, Zeichnungen auf Holz oder im Sand zu machen. Die Pfade im dichten Wald könnten sonst so verschlungen werden wie die Linien der Zeichnung, so daß der Jäger den Weg nach Hause nicht fände. […]
Es unterliegt keinem Zweifel, was an all diesen Beispielen als das Wirksame betrachtet wird. Es ist die Ähnlichkeit zwischen der vollzogenen Handlung und dem erwarteten Geschehen. Frazer nennt darum diese Art der Magie imitative oder homöopathische. Wenn ich will, daß es regne, so brauche ich nur etwas zu tun, was wie Regen aussieht oder an Regen erinnert. In einer weiteren Phase der Kulturentwicklung wird man anstatt dieses magischen Regenzaubers Bittgänge zu einem Gotteshaus veranstalten und den dort wohnenden Heiligen um Regen anflehen. Endlich wird man auch diese religiöse Technik aufgeben und dafür versuchen, durch welche Einwirkungen auf die Atmosphäre Regen erzeugt werden kann.
In einer anderen Gruppe von magischen Handlungen kommt das Prinzip der Ähnlichkeit nicht mehr in Betracht, dafür ein anderes, welches sich aus den nachstehenden Beispielen leicht ergeben wird.
Um einem Feinde zu schaden, kann man sich auch eines anderen Verfahrens bedienen. Man bemächtigt sich seiner Haare, Nägel, Abfallstoffe oder selbst eines Teiles seiner Kleidung und stellt mit diesen Dingen etwas Feindseliges an. Es ist dann geradeso, als hätte man sich der Person selbst bemächtigt, und was man den von der Person herrührenden Dingen angetan hat, muß ihr selbst widerfahren. Zu den wesentlichen Bestandteilen einer Persönlichkeit gehört nach der Anschauung der Primitiven ihr Name; wenn man also den Namen einer Person oder eines Geistes weiß, hat man eine gewisse Macht über den Träger des Namens erworben. Daher die merkwürdigen Vorsichten und Beschränkungen im Gebrauche der Namen, die in dem Aufsatz über das Tabu gestreift worden sind. Die Ähnlichkeit wird in diesen Beispielen offenbar ersetzt durch Zusammengehörigkeit.
Der Kannibalismus der Primitiven leitet seine sublimere Motivierung in ähnlicher Weise ab. Indem man Teile vom Leib einer Person durch den Akt des Verzehrens in sich aufnimmt, eignet man sich auch die Eigenschaften an, welche dieser Person angehört haben. Daraus erfolgen dann Vorsichten und Beschränkungen der Diät unter besonderen Umständen. Eine Frau wird in der Gravidität vermeiden, das Fleisch gewisser Tiere zu genießen, weil deren unerwünschte Eigenschaften, z. B. die Feigheit, so auf das von ihr genährte Kind übergehen könnten. Es macht für die magische Wirkung keinen Unterschied, auch wenn der Zusammenhang ein bereits aufgehobener ist oder wenn er überhaupt nur in einmaliger, bedeutungsvoller Berührung bestand. So ist z. B. der Glaube an ein magisches Band, welches das Schicksal einer Wunde mit dem der Waffe verknüpft, durch welche sie hervorgerufen wurde, unverändert durch Jahrtausende zu verfolgen. Wenn ein Melanesier sich des Bogens bemächtigt hat, durch den er verwundet wurde, so wird er ihn sorgfältig an einem kühlen Ort verwahren, um so die Entzündung der Wunde niederzuhalten. Ist der Bogen aber im Besitz der Feinde geblieben, so wird er gewiß in nächster Nähe eines Feuers aufgehängt werden, damit die Wunde nur ja recht entzündet werde und brenne. Plinius rät in seiner Naturalis Historia XXVIII, wenn man bereut, einen anderen verletzt zu haben, solle man auf die Hand spucken, welche die Verletzung verschuldet hat; der Schmerz des Verletzten werde dann sofort gelindert. Francis Bacon erwähnt in seiner Natural History den allgemein gültigen Glauben, daß das Salben einer Waffe, welche eine Wunde geschlagen hat, diese Wunde selbst heilt. Die englischen Bauern sollen noch heute nach diesem Rezept handeln, und wenn sie sich mit einer Sichel geschnitten haben, das Instrument von da an sorgfältig rein halten, damit die Wunde nicht in Eiterung gerate. Im Juni des Jahres 1902, berichtete eine lokale englische Wochenschrift, stieß sich eine Frau namens Matilda Henry in Norwich zufällig einen eisernen Nagel in die Sohle. Ohne die Wunde untersuchen zu lassen oder auch nur den Strumpf auszuziehen, hieß sie ihre Tochter, den Nagel gut einölen, in der Erwartung, daß ihr dann nichts geschehen könne. Sie selbst starb einige Tage später an Wundstarrkrampf infolge dieser verschobenen Antisepsis. (Frazer, ibid., 203.)
Sigmund Freud: Totem und Tabu (Auszug aus Kapitel 3: „Animismus, Magie und die Allmacht der Gedanken“), Verlag Volk und Wissen, Berlin 1988, S. 407 ff.
Sigmund Freud (1856 bis 1939), Kulturtheoretiker, Neurologe und Tiefenpsychologe. Er gilt als Begründer der Psychoanalyse und als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts.
Richard Weihe
Jede Aussage über Form und Bauweise der antiken griechischen Theatermasken beruht im Wesentlichen auf Vasenbildern und ist daher bis zu einem gewissen Grad eine Frage der Interpretation.1 Eindeutig feststellen lässt sich, dass es sich um Vollmasken handelte, die wie Visierhelme über den Kopf gestülpt wurden.2 Sie bestanden aus vergänglichen Materialien.3 Vermutlich wurde ein leichtes Holzgerüst mit Leinwand überzogen, innen mit Wolle ausstaffiert und außen mit Kleister gesteift und mit Stuck überformt.4 Anschließend wurden Öffnungen für Augen (offenbar nur in Größe der Pupillen oder Iris) und Mund herausgeschnitten und die Masken bemalt.5 Die Maske wurde als Arbeitsinstrument des Schauspielers verstanden; die Maskenbildner nannte man Hersteller der Ausrüstung (skeuopoiós).6 Der Bezug zu Dionysos äußerte sich vor allem darin, dass siegreiche Protagonisten ihre Masken als Weihgaben im Dionysos-Tempel hinterlegten.7 […]
Im Zuge der Vergrößerung der Theaterbauten musste auch die Frage der optischen Präsentation der Figuren neu durchdacht werden. Unter freiem Himmel sollten die Masken über beträchtliche Entfernungen hinweg klare optische Signale vermitteln. Es mussten zudem eindeutige visuelle Kriterien für die Unterscheidbarkeit der Figuren geschaffen werden. Indes ist die Maske nur eine von mehreren Komponenten, die zur Fernwirkung einer Theaterfigur beitragen. Mithilfe von ónkos und Kothurn wurde die Figur erhöht.8 Der Onkos war ein bogenförmiger Maskenaufsatz, von dem dichtes Haar seitlich herabfiel.9 Auf Vasenbildern der klassischen Zeit haben die Schaftstiefel der Schauspieler noch flache Sohlen.10 Der „hohe Kothurn“, die Stelzschuhe, auf denen man sich bis heute die Schauspieler in den antiken Tragödien vorstellt, waren erst im hellenistischen Theater gebräuchlich.11 Allerdings hielt man bereits im späten Hellenismus diesen hohen Schuh für ein Merkmal auch des klassischen Theaters. Horaz schrieb den Kothurn in seiner Ars poetica ohne weiteres schon dem Aischylos zu.12 Es ist unschwer zu erkennen, dass die Bewegungsfreiheit des Schauspielers durch die umständlichen Stelzschuhe beträchtlich eingeschränkt wurde; umso wichtiger wurden die Frontalität des Spiels und eine stilisierte Gestik. […]
Der entscheidende spieltechnische Vorteil der Masken bestand darin, dass sie den schnellen Rollentausch ermöglichten. Mit ihrer Hilfe konnte jeder Akteur in einer Aufführung mehrere Rollen übernehmen. Auch innerhalb derselben Rolle konnte es zu einem Maskenwechsel kommen, wenn es darum ging, eine drastische physiognomische Veränderung der Figur sichtbar zu machen, beispielsweise nach einer Blendungsszene.13 Im römischen Pantomimus wurde die Praxis, dass ein Akteur während des Spiels die Masken wechselte, auf die Spitze getrieben. Ein einziger Schauspieler übernahm sämtliche Rollen (Masken) einer Tragödie oder einer mythologischen Handlung.14 Die verschiedenen Personen wurden vom Akteur, im schnellen Austausch von Masken und Kostümen, allein mit tänzerischem Körperspiel vorgeführt – mit Musikbegleitung, doch ohne Text.
Freilich wechselten die Schauspieler in derselben Tragödie auch zwischen Rollen unterschiedlichen Geschlechts, denn auch sämtliche Frauenrollen wurden von Männern gespielt. Zwischen der Maske und dem Gesicht des Schauspielers besteht keinerlei Beziehung, so konnte die Maske auch ohne weiteres das Geschlecht der Figur kodieren. Frauen waren vom Theaterbetrieb ausgeschlossen. Sie hatten in der griechischen Polis nicht das Recht, „ihr eigenes Geschlecht auf der Bühne darzustellen“.15 Die griechische Gesellschaft empfand die weibliche Sexualität als verborgen und geheimnisvoll, die männliche dagegen als äußerlich und nobel.16 Daraus leitete man unterschiedliche Rollenbilder ab. Die Frau sollte sich inneren Aufgaben im Hause und in der Familie zuwenden, vor dem Blick der Öffentlichkeit geschützt. Daher war sie sozusagen schon im Alltag maskiert; sie sollte sich nicht öffentlich zur Schau stellen.17
In einem Aufsatz über die Frauendarsteller im römischen Theater entwickelt Goethe den Gedanken einer „dritten Natur“, der sich auch auf das griechische Theater anwenden lässt. Wenn ein Mann eine Frau spielt, so sind zwei Arten der „Nachahmung“ zu unterscheiden. Erstens zeigt der Mann allgemein weibliche Verhaltensweisen, zweitens zeigt er die Verhaltensweise einer bestimmten Frau. Voraussetzung für das Rollenspiel ist zunächst ein theatralischer Geschlechterwechsel. Bei der Darstellung des Individuums bleibt die Darstellung des Geschlechts stets in ihrer Künstlichkeit präsent.18 Da das Geschlecht somit als bewusstes Imitationsspiel vorgeführt wird, lernt der Zuschauer „eine dritte und eigentlich fremde Natur“, wie Goethe meint, „nur desto besser kennen, weil sie jemand beobachtet, jemand überdacht hat …“19 Dem entspricht, was Bertolt Brecht in Bezug auf Frauendarsteller im chinesischen Theater als „doppeltes Zeigen“ bezeichnet. Der Schauspieler zeigt eine Frauenfigur, und zugleich zeigt er, wie man Frauen spielt: „Das sind deutlich zwei Figuren. Eine zeigt, eine wird gezeigt.“20 Das Geschlecht wird somit auch zu einem Gegenstand der Darstellung, zu einer Spielform. „Die Chinesen zeigen nicht nur das Verhalten der Menschen, sondern auch das Verhalten der Schauspieler.“ Die Menschen werden nicht unmittelbar dargestellt, sondern es wird gezeigt, „wie die Schauspieler die Gesten der Menschen in ihrer Art vorführen“.21
Die Rollenvielfalt, die durch den Maskenwechsel ermöglicht wurde, ist der eine Aspekt; der andere ist die entsprechende stimmliche Differenzierung der Figuren, zumal dann, wenn derselbe Schauspieler Frauen- und Männerrollen spielte.22 Nachweislich hatte beispielsweise der Deuteragonist in der Elektra des Sophokles Orest und Klytaimestra zu spielen.23 Der antike Schauspieler verkörperte also stets mehrere Stimmen, und die stimmliche Gestaltung und Ausdifferenzierung der Figuren war zweifellos eine große Herausforderung.24
Angesichts der ständigen Wechsel kann von Rollenaufbau und -identifikation seitens des Schauspielers wohl kaum die Rede sein; vielmehr wurden die Figuren vorgeführt. Die Maske gehört der Figur, das Gesicht dem Schauspieler. Indes sind Gesicht und Maske bei den frühen Vasenbildern noch kaum auseinander zu halten, da auch das Gesicht so stilisiert dargestellt wird, dass es einer Maske gleicht (einmal abgesehen vom geschlossenen Mund): eine Ambivalenz ganz im Sinne des prósopon.25 Dieses Übereinander von Maske und Gesicht – als Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbaren – kontrastiert nun mit einem anderen Verhältnis. Die Stimme gehört stets dem Schauspieler, die Maske selbst ist stimmlos und augenlos – die stumme Maske über der Stimme des Akteurs. Die Stimme tönt hindurch, so hatte dereinst eine frühe, aber dauerhafte Fehletymologie das Wort persona von personare abgeleitet. […]
Betrachten wir zum Beispiel eine expressive Maske (der hellenistischen Zeit) mit aufgerissenem Mund, weit geöffneten Augen und hohen, schrägen Brauen. Man könnte sagen, sie zeige Furcht. Dieser Ausdruck ist optisch fixiert. Die Maskenfigur hat selbst keine Emotionen, sie zeigt sie nur. Statt dass sich die Mimik des Schauspielers auf die wechselnden Emotionen der Figur fortlaufend einzustellen wüsste, kann mittels der Maske während der Dauer der Tragödie nur ein einziger unveränderlicher Ausdruck gezeigt werden. Der Ausdruck der Maske scheint den inneren Zustand der Figur als Resultat einer Handlung optisch vorwegzunehmen. Indes werden in den Texten durchaus dynamische Gefühlsäußerungen genannt, z. B. Tränen oder Küsse, die ja nicht gezeigt werden können.26 Zu fragen wäre allenfalls, ob sie nicht eben deshalb genannt werden, weil sie nicht gezeigt werden können.
Die starre Maske steht womöglich nur scheinbar im Widerspruch zur Emotionalität der Rolle. Indem die Mimik des Schauspielers ausgeschaltet wird, bietet sich die Maske als Hohlform für die Emotionen des Zuschauers an. Der Akteur ist der Träger der Maske; diese löst bei ihm Bewegungen aus, setzt ihn in Gang, und dadurch entsteht das Rollenspiel. Das wäre die physische Wirkung der Maske, ihre Motion. Andererseits lässt sich der Zuschauer durch die Maske innerlich bewegen, indem er seine Gefühle in ihren fertigen Ausdruck hineinprojiziert; der Zuschauer gibt dem Ausdruck der Maske den passenden Inhalt – das wäre die psychische Wirkung der Maske, ihre Emotion. Somit spiegelt sich die Emotion des Zuschauers in der Motion des Schauspielers. Der Zuschauer betrachtet die äußere (theatralische) Welt der Maskenfiguren und füllt die Maske gleichsam von hinten mit seiner eigenen Innenwelt; das gemeinsame Werk von Schauspieler und Zuschauer ist die sichtbare Plastik des Gefühls. Die Masken erlauben es dem Zuschauer, menschliche Gefühle in künstlichen Situationen real zu erleben. Sie vereinen komplementäre Welten: die fiktive Außenwelt der Bühnenfiguren mit der realen Innenwelt der Menschen im Zuschauerraum.
Darin äußert sich von neuem die Doppeldeutigkeit des Prosopon: eine Maske für den Schauspieler, nur ein Gebrauchsgegenstand, aber ein Gesicht für den Zuschauer, das er mit den eigenen Gefühlen besetzt. Gerade diese Doppelbezüglichkeit – durch die Innenseite zum Schauspieler, durch die Außenseite zum Betrachter – macht die plastische Maske zum Emblem des Theatervorgangs.27 Indem sie stellvertretend für das Gesicht des Schauspielers (A) das künstliche „Gesicht“ einer Theaterfigur (B) zur Schau stellt, operiert sie als Zeichen für den theatralischen Vorgang selbst, bei dem eine Übertragung von A auf B stattfindet. Ist die Maske das Mittel für diese Übertragung, so bezeichnet Prosopon ihre Spannweite vom Natürlichen zum Künstlichen. Will das Theater Wahrheit zeigen, scheint es dazu beide Seiten des Prosopon zu benötigen: einmal dann, wenn Natürliches künstlich verstärkt und hervorgehoben, das Innere nach außen gekehrt und eindeutig gemacht wird (wie beim plakativen Gefühlsausdruck einer expressiven hellenistischen Tragödienmaske); das andere Mal, wenn das Künstliche (in Form der Maske) symbolisch niedergerissen, das Gesicht demaskiert und in seiner Nacktheit exponiert wird.28
Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske. Die Geschichte einer Form (Auszug aus Teil 2: „Die Masken der Tragödie“), Wilhelm Fink Verlag, München 2004, S. 132 ff.
Richard Weihe (geb. 1961) habilitierte nach Schauspielakademie und Studium in Zürich, Oxford und Bonn im Bereich Theater und Philosophie. Er übersetzt Dramen und Lyrik aus dem amerikanischen Englisch und moderiert die Sternstunden Philosophie im Schweizer Fernsehen DRS.
1Horst-Dieter Blume: Einführung in das antike Theaterwesen, Darmstadt 1978, 89; Françoise Frontisi-Ducroux: Du masque au visage. Aspects de l‘identité en Grèce ancienne, Paris 1995, S. 6.
2Horst-Dieter Blume, Artikel „Maske“, in: Der neue Pauly, Bd. 7, Stuttgart 1999, Sp. 974 – 980, Sp. 979.
3Erika Simon nennt Holz, Gips, Leinen und Wolle als Materialien, in: Das antike Theater, Heidelberg 1972, S. 19.
4Horst-Dieter Blume: Einführung in das antike Theaterwesen, S. 89.
5Margarete Bieber, Artikel „Maske“, in: Pauly’s Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, 28. Halbband, Stuttgart 1930, Sp. 2070 – 2105, hier Sp. 2073.
6Horst-Dieter Blume, Artikel „Maske“, Sp. 979.
7Horst-Dieter Blume, ebd., Sp. 979.
8Eine Entwicklung, die allerdings nach Erika Simon, Das antike Theater, S. 24, nicht früher als im Hellenismus begann.
9Horst-Dieter Blume, Artikel „Maske“, Sp. 976. Besonders der hohe bogenförmige Haaraufsatz über der Maske hat die Vorstellung von antiken Theatermasken geprägt.
10Erika Simon: Das antike Theater, S. 23.
11In der Zeit der großen Tragiker war der Kothurn noch ein Schaftstiefel mit dünner Sohle. Heinz Kindermann: Das Theaterpublikum der Antike, Salzburg 1979, S. 52.
12„Aeschylus et modicis instravit pulpita tignis / et docuit magnumque loqui nitique cothurno.“ Horaz: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch und deutsch, übersetzt und hrsg. von Eckhart Schäfer, Stuttgart 1994, AP 279 f. Dies ist ein geradezu klassischer Fall dafür, dass Texte der Antike durch archäologische Zeugnisse korrigiert werden müssen; auf bildlichen Darstellungen ist ein hoher Kothurn erst in der Mitte des 2. Jhs. v. Chr. zu sehen.
13Zu Maskenwechseln innerhalb derselben Rolle (insbesondere das Beispiel Ödipus) Horst-Dieter Blume: Einführung in das antike Theaterwesen, S. 92; ders., Artikel „Maske“, in: Der neue Pauly, Sp. 979; Robert Löhrer: Mienenspiel und Maske in der griechischen Tragödie, Paderborn 1927, S. 138.
14Allerdings wurden die Szenen als lautloses Körperspiel zu Musikbegleitung vorgetragen, eben pantomimisch. Dazu Horst-Dieter Blume: Einführung in das antike Theaterwesen, S. 128.
15Siegfried Melchinger: Das Theater der Tragödie, München 1974, S. 209.
16Dazu John Nunley: “Men as women”, in: John Nunley und Cara McCarty (ed.): Masks. Faces of culture, New York 1999, S. 159 – 177, hier S. 163.
17John Nunley: “Men as women”, S. 163.
18Ich beziehe mich auf die Bemerkung von Goethe, „dass bei einer solchen Vorstellung der Begriff der Nachahmung, der Gedanke an Kunst immer lebhaft blieb und durch das geschickte Spiel nur eine Art von selbstbewusster Illusion hervorgebracht wurde“. Johann Wolfgang Goethe: „Frauenrollen auf dem Römischen Theater durch Männer gespielt“, in: Klaus Lazarowicz und Christopher Balme (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart 1991, S. 167 – 170, hier S. 169.
19Johann Wolfgang Goethe: „Frauenrollen auf dem Römischen Theater durch Männer gespielt“, S. 170.
20Bertolt Brecht: „Über das Theater der Chinesen“, in: Gesammelte Werke, Bd. 15 (Schriften zum Theater I), Frankfurt a. M. 1982, S. 424 – 428, hier S. 427.
21Bertolt Brecht: „Über das Theater der Chinesen“, S. 427.
22Es scheint naheliegend, dass die männlichen Darsteller für die Frauenrollen das Stimmregister änderten. Dabei gab es offenbar keine spezialisierten Frauendarsteller, wie es beispielsweise im japanischen Nô-Theater der Fall ist. Zu diesem Aspekt Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 37.
23Ebd., S. 38.
24Hans-Thies Lehmann betont, dass der antike Schauspieler zunächst und vor allem die Verkörperung einer Stimme war. Ebd., S. 36.
25Martha Johnson: Reflections of inner life. Masks and masked acting in ancient Greek tragedy and Japanese Noh drama, Modern Drama 35, 1992, S. 20-34, hier S. 30.
26Arthur Pickard-Cambridge: The Dramatic Festivals of Athens, Oxford 1988, S. 171.
27„Tragen der Maske erscheint als theatralischer Grundvorgang par excellence“, wie Erika Fischer-Lichte feststellt, in: Semiotik des Theaters, Bd. 1, Tübingen 1983, S. 108 f.
28Auf diese unterschiedlichen Methoden beim Spiel mit der Wahrheit, entweder die Maske zu „demaskieren“ oder sie stattdessen besonders „auffallend zu machen“, macht Siegfried Melchinger aufmerksam, in: Das Theater der Tragödie, S. 203.
Ernst-Frieder Kratochwil
Die Zeiten und Gebiete, in denen erstmals in Europa neben der religiösen auch die nichtreligiöse Verwendung von Masken und Figuren praktiziert wurde, lassen sich recht genau benennen. Es sind allerdings verschiedene Zeiten und Gebiete.
Der nichtkultische Gebrauch von Masken begann eher als der Gebrauch von Figuren. Dieser Vorsprung lässt sich damit begründen, dass der Unterschied nur thematischer Art war. Die Technik der Maskenherstellung und des Maskenspiels veränderte sich ebenso wenig wie die Sprache der Spieler und ihres Publikums. Es war eine griechische.
Das kultische Maskentheater entstand ab 534 v. Chr. aus balladenartigen Chorgesängen zu Ehren des Gottes Dionysos in Attika mit der Hauptstadt Athen. Für uns Nachgeborene wird es erst in seiner klassischen Periode 472 bis 404 v. Chr. fassbar, belegt durch zahlreiche archäologische Funde, durch das Freilichttheater im Tempelbezirk des Dionysos am Südhang der Akropolis sowie 41 erhaltene Stücktexte von vier Autoren aus dieser Periode. Die Stücke bestanden durchgehend aus Versen, von denen ein großer Teil chorisch oder solistisch gesungen und getanzt wurde. Bis zum Ende der klassischen Periode wurde ein Stück nur einmal bei einem der beiden Dionysosfeste im Winter und im Frühjahr aufgeführt. Eine solche Aufführung konnte von 14 000 bis 17 000 Besuchern gesehen werden, und zwar im Rahmen eines Wettbewerbs, einer bei den Griechen sehr beliebten Form der Unterhaltung (siehe Olympische Spiele). Am Ende jedes Festes vergab eine Jury symbolische, aber sehr prestigeträchtige Preise.
Ensembles, die die Stücke zeigten, bestanden ausschließlich aus Männern, die freie Bürger Athens waren. Unter der Leitung eines Choregen, der die Herstellung von Masken und Ausstattung sowie die Verdienstausfälle durch Proben bezahlte, agierten vier Ensemblegruppen: drei Solisten in Tragödie und Satyrspiel, vier in der Komödie, Chor mit Chorführer, stumme Masken, drei nicht maskierte Musiker mit je einem Instrument. Technische Helfer, die gar nicht oder nur bei Umbauten zwischen zwei Stücken sichtbar wurden, stellte der Tempelbezirk.
Unter einer Maske verstand man die Bildgestalt einer Stückfigur vom Scheitel bis zur Sohle. Der Träger der Maske verlor unter Maskenkopf und Kostüm seine Identität. Seine Bewegungsfähigkeit und – als Solist oder Chormitglied – seine Stimme gehörten nicht mehr ihm, sondern der Maske. Der Mensch unter ihr musste also nicht sich, sondern das Bild der Maske im Kopf haben, um die Übertragung seiner Beweglichkeit und seines Sprechens auf diese so gut wie möglich zu bewältigen.
Die Aufführungen waren kein Theater im heutigen Sinn, weil sie einen ganzen Tag dauerten, der mit einem Opfer für die Götter begann und wohl auch endete. Es fand die Vergegenwärtigung von Vergangenem und Vergangenen in Tragödie und Satyrspiel, von Künftigem und Künftigen in der Komödie statt. Gelang die Vergegenwärtigung, vergaßen die Athener, dass unter den Masken Mitbürger steckten, denen sie möglicherweise an anderen Tagen auf der Straße begegneten.
Es existieren zwei ebenso verbreitete wie irrige Vorstellungen über das kultische Maskentheater in Attika. Die erste lautet: Die gezeigten Geschichten waren den Zuschauern bekannt. Diese Behauptung im Geiste eines verstaubten bürgerlichen Bildungstheaters impliziert „natürlich“ nicht die Komödie, sondern nur die Tragödie und das Satyrspiel, deren Stofflieferant der Mythos war, also die Erzählung, Nachricht und Kunde von Göttern, Halbgöttern und Heroen. Hinzu kommt die irrtümliche Gleichsetzung der griechischen olympischen Religion mit einer uns bekannten Schriftreligion, die auf kanonisierten heiligen Texten basiert.
Tatsächlich aber hatte der griechische Mythos drei Quellen:
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