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Kate Fansler nimmt eine wohlverdiente Auszeit mit ihrem frischgebackenen Ehemann Reed. Doch ihre gemeinsamen Martini-Abende werden von einer verzweifelten Bitte vom Theban, ihrer geliebten Alma mater, unterbrochen. Sie soll ein Seminar zu Antigone übernehmen. Kate eilt zurück nach New York, wo ihre Schülerinnen nicht nur die Leuchtkraft Antigones kennenlernen, sondern auch gerade dabei sind, Sex und Drogen zu entdecken. Alles ist aufregend und abenteuerlich. Und dann wird auch noch eine Tote in einem Zeichensaal aufgefunden.
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Seitenzahl: 279
Amanda Cross
Thebanischer Tod
Kate Fansler ermittelt
Kriminalroman
Aus dem Amerikanischen von Monika Blaich und Klaus Kamberger
DÖRLEMANN
Die amerikanische Originalausgabe »The Theban Mysteries« erschien 1971 bei Alfred A. Knopf, New York. Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Copyright © 1971 by Carolyn G. Heilbrun Copyright renewed 1999 by Carolyn G. Heilbrun © 2022 Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung einer Illustration von Anna Sommer Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-03820-990-4www.doerlemann.com
Das Telefon und die Türklingel läuteten gleichzeitig in der Wohnung der Amhearsts und lösten so Aktionen aus, die Reed vergnügt an Theaterstücke wie You Can’t Take It With You denken ließen.
»Das waren noch Zeiten im Theater«, sagte er und erhob sich von der Couch, auf der Kate und er sich einen Cocktail gegönnt hatten.
»Vielleicht«, antwortete Kate und stellte ihr Glas ab. »Ich habe aber das Gefühl, die Griechen haben große Dramen geschrieben, weil sie keine Klingeln brauchten, um ihre Darsteller auf die Bühne zu schicken oder wieder zurückzurufen.«
»Du nimmst die Tür«, sagte Reed, »ich das Telefon.« Er ging durch den Flur zu seinem Arbeitszimmer und nahm den Hörer ab. »Hallo«, sagte er und wünschte, er hätte seinen Martini mitgenommen.
»Hier spricht Miss Tyringham vom Theban«, begrüßte ihn eine kultivierte Frauenstimme. »Könnte ich bitte Mrs Reed Amhearst sprechen?«
»Und hier spricht Mr Amhearst von Kaufman und Hart«, hätte Reed am liebsten gespöttelt. Er hörte Kate an der Wohnungstür. »Großer Gott«, sagte sie mit einem erstaunten Unterton, der nichts Gutes ahnen ließ. »Also, komm erst einmal herein und lass uns darüber reden.«
»Bitte bleiben Sie einen Moment am Apparat«, sagte Reed. »Ich sehe nach, ob sie da ist.«
»Danke. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie um diese Zeit störe, aber es handelt sich um etwas recht Wichtiges. Mrs Amhearst hieß doch mit Mädchennamen Kate Fansler, nicht wahr? Früher, auf dem Theban.«
Hieß, heißt und wird immer heißen, dachte Reed zufrieden. »Ja«, antwortete er. »Warten Sie einen Augenblick.« Er ging so vorsichtig zum Wohnzimmer zurück, wie eine Katze an einen Ort zurückkehren würde, wo unbekannte, vielleicht sogar gefährliche Wesen eingedrungen waren.
Er sah, wie Kate sich einen neuen Martini mixte – was eindeutig ein schlechtes Zeichen war; schließlich behauptete sie stets, wenn Reed ihn mixte, schmecke er wie Nektar, bei ihr dagegen würde nur giftiges Haarwasser daraus. Auf der Couch saß zusammengesunken und den Kopf in den Händen vergraben ein langhaariges junges Wesen, dessen männliches Geschlecht an einem Bart zu erkennen war und an der Tatsache, dass er sich nach Kurzem erhob, als erinnerte er sich dunkel an eine Zeit, in der man ihm die Umgangsformen einer versunkenen Welt beigebracht hatte. Auf der Flucht, dachte Reed. Hoffentlich Kaufman und Hart und nicht Sophokles.
»Reed«, sagte Kate, »ich möchte dir John Megareus Fansler vorstellen; Jack nennen ihn seine Freunde.«
»Von denen er sicherlich eine Menge hat«, sagte Reed und gab ihm die Hand.
»Ein Neffe?«, fragte Reed. »Verwandt mit deinem anderen Neffen, dem Leo? Ich glaube, wir haben uns noch nicht kennengelernt.«
»Nein, habt ihr nicht«, sagte Kate. »Er ist nicht aufgekreuzt bei diesem ungeheuren Empfang, den die Fanslers für die Frischvermählten gegeben haben. Kluger Junge.«
Jack lächelte. »Leo hat mir erzählt, dass es ein ziemlicher Mist war«, sagte er, »bis auf das Essen. Ted, der erst zwölf ist, nimmt nie etwas anderes zur Kenntnis außer dem Essen. Ja, ja, meine Brüder.«
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Reed und beugte sich zur Martinikaraffe. »Bier vielleicht, oder einen Sherry?«
Jack schüttelte den Kopf. »Ich trinke nicht«, sagte er. »Ich möchte nichts.«
»Ich vergesse immer wieder, dass deine Generation ja nicht trinkt«, sagte Reed. »Meine sollte es eigentlich auch nicht«, fügte er hinzu und schaute hoch. »Jetzt habe ich doch die beeindruckende Lady am Telefon vergessen, die nach der ehemaligen Kate Fansler gefragt hat. Sie ist wahrscheinlich zu dem Schluss gekommen, dass du es nicht mehr bist, und hat aufgelegt.«
Als Kate jedoch den Hörer nahm, war Miss Tyringham noch am Apparat. Kate entschuldigte sich.
»Bitte entschuldigen Sie, dass ich zu dieser Zeit störe«, sagte Miss Tyringham. »Ich rufe auf Empfehlung von Julia Stratemayer an. Hat Ihr Mann Ihnen schon gesagt, dass hier Miss Tyringham, die Direktorin des Theban, spricht?«
Bei dem Wort »Theban« schossen Kate plötzlich eine ganze Reihe von Erinnerungen durch den Kopf, so wie es angeblich Menschen geht, die gerade ertrinken: das Singen zu Beginn des Schuljahres, die Fahrstühle, in denen man nicht reden sollte, die tiefschürfenden Gespräche über Sex, die auf dem Klo stattfanden, das Schlangestehen in der Cafeteria, und wie sie ihre Eltern überredet hatte, sie nicht in ein Internat zu schicken. »Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet«, fuhr Miss Tyringham fort.
»Nein, aber ich höre von Julia Stratemayer, dass Sie in diesen schwierigen Zeiten hervorragende Arbeit leisten.«
»Wir tun unser Bestes, aber leicht ist es nicht. Man weiß nie, was als Nächstes kommt: Alle Mädchen in langen Hosen oder Sandalen oder barfuß, oder sie wollen wegen des Krieges die Schule schließen. Wir versuchen mit den Ereignissen Schritt zu halten, die aber nicht nacheinander, sondern in wahren Sturzfluten über uns hereinbrechen. Julia leistet hervorragende Arbeit bei der Lehrplanreform.«
»Ja, das habe ich gehört«, sagte Kate. Sie fragte sich, worauf dieses Gespräch wohl hinauslaufen mochte. Miss Tyringham war zwar schon zwanzig Jahre an der Schule, aber erst nach Kates Abschluss dorthin gekommen. Sie hatte den Ruf einer ausgezeichneten Schulleiterin, aber für Kate lag – abgesehen von einem flüchtigen Blick in die Zeitung der »Ehemaligen«, bereitwilligen Spenden, wenn sie dazu aufgefordert wurde, und genüsslichen Gesprächen über das Theban mit ihrer Freundin und Klassenkameradin Julia Stratemayer – ihre Schule in einer anderen Welt.
»Ist Julia etwa meinem Anruf zuvorgekommen und hat Ihnen schon alles erzählt?«
»Nein. Was alles?«
»Wir sind in Schwierigkeiten«, sagte Miss Tyringham. »Eine der Änderungen im Lehrplan, die bereits eingeführt worden sind, besagt, dass die Schülerinnen im Abschlusssemester Seminare über selbst gewählte Themen belegen können. Sie haben alle Pflichtfächer schon abgeschlossen, und wir versuchen zu vermeiden, dass das letzte Semester enttäuschend und langweilig wird, zumal die Arbeit dieses Semesters für die Zulassung zum College bedeutungslos ist. Sind Sie noch am Apparat?«
»Ja«, sagte Kate. »Ich erinnere mich an die Sache mit dem letzten Semester; obwohl man natürlich zu meiner Zeit so tat, als würde man arbeiten, und eigentlich faulenzte.«
»Ja. Heutzutage tut niemand mehr so als ob, was ich gut finde, wenn ich auch manchmal den Eindruck habe, dass das ständige Ausleben von Emotionen zum Selbstzweck wird. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Eines der Seminare des Abschlusssemesters beschäftigt sich mit der Antigone von Sophokles und möglichen Bezügen zur heutigen Zeit.«
»Nun, das klingt jedenfalls wunderbar akademisch und belanglos.«
»Nur auf den ersten Blick. Sehen Sie, Antigone steht für Liebe contra Tyrannei, für die Bewegungsfreiheit der Frau in einer männerbestimmten Welt, für die Auseinandersetzung der Jugend mit dem Alter. Ich kann verstehen, dass George Eliot von der Antigone besonders fasziniert war, und vielleicht ist Julia Stratemayer gerade deshalb auf Sie gekommen.«
»Es freut mich, dass jemand über George Eliot auf mich kommt«, sagte Kate, »aber ich fürchte, irgendwie verstehe ich nicht …«
»Natürlich nicht; ich bin schrecklich umständlich. Mrs Johnson, die dieses Seminar hätte halten sollen, hat einen Bandscheibenvorfall. Sie muss für Monate flach auf dem Rücken im Streckbett liegen. Und das neue Semester beginnt nächste Woche. Da Julia wusste, wie dringend wir eine besonders engagierte Persönlichkeit brauchen, die dieses Seminar halten kann, schlug sie vor …«
»Aber, Miss Tyringham«, unterbrach Kate, »ich habe mich dieses Jahr beurlauben lassen.«
»Genau, meine Liebe. Wir dachten – oder hofften vielmehr –, dass Sie deshalb Zeit haben. Den Mädchen liegt wirklich sehr viel daran, aber sie brauchen eine Lehrkraft, die nicht nur erfahren ist in der Leitung von Seminaren, sondern auch, wie sie es ausdrücken würden, ›up to date‹. Leider sind die meisten Altphilologen zwar ausgesprochen firm im Griechischen, schätzen jedoch moderne Interpretationen nicht in dem Maße, wie wir es gern hätten. Mrs Amhearst, wir brauchen ganz dringend Hilfe und appellieren an Ihr Verständnis und Ihr Entgegenkommen. Selbstverständlich gegen Honorar, aber mir ist klar, dass …«
»Geben Sie mir ein paar Tage Bedenkzeit?«, fragte Kate. »Sehen Sie, ich soll eigentlich an einem Buch arbeiten.«
»O ja, ich weiß, Sie sind schrecklich beschäftigt und müssten uns irgendwie einschieben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar wir Ihnen wären. Nein, sagen Sie jetzt noch nichts. Ich werde Mrs Johnson bitten, Ihnen ihre Literaturvorschlagsliste zu schicken. Vielleicht möchten Sie auch mit ihr sprechen? Ich lasse Ihnen ein oder zwei Tage Zeit, sich zu entscheiden. Darf ich Sie übermorgen wieder anrufen, Mrs Amhearst?«
»In Ordnung. Entschuldigen Sie bitte, Miss Tyringham, aber beruflich, und darum geht es hier ja wohl, benutze ich den Namen Kate Fansler. Miss Fansler, falls die Schüler ihre Lehrer überhaupt noch mit dem Nachnamen anreden.«
»Zum Glück ja. Selbstverständlich, meine Liebe. Man möchte gesellschaftlich korrekt sein, aber niemand weiß besser als die Leiterin einer Mädchenschule, wie verwirrend dieser ständige Namenswechsel sein kann in diesen Zeiten häufiger Scheidungen und Zweitehen. Ich möchte mich jetzt verabschieden, Miss Fansler, und ich hoffe, ja vertraue darauf, dass Sie uns in diesem Notfall helfen.«
»Auf Wiedersehen«, hallte es schwach in der bereits unterbrochenen Leitung nach. Fluchend wählte sie schnell Julia Stratemayers Nummer. »Julia«, sagte Kate, als sie ihre Freundin am Apparat hatte, »gerade habe ich einen Anruf von Miss Tyringham bekommen, und wenn ich im Moment nicht mit einem Neffen beschäftigt wäre, der Probleme hat, würde ich auf der Stelle zu dir kommen und dir den Hals umdrehen.«
»Kate«, sagte Julia, »ich kann mir denken, wie du dich fühlst, aber ich bin wirklich überzeugt davon, dass du diese Schülerinnen der Abschlussklasse faszinierend finden wirst, und außerdem sind wir wirklich in einer verzweifelten Lage.«
»Die Antigone, Julia, was soll das? Seit dem Theban habe ich nicht mehr an Griechisch gedacht.«
»Kümmer dich nicht um Griechisch, Liebes; lies das Stück mithilfe der Übersetzung von Jebb. Virginia Woolf war der Meinung, es habe zwischen Antigone und ihrer eigenen Mrs Ramsay keine authentische Frauengestalt mehr gegeben. Und George Eliot …«
»Ich werde nicht über George Eliot diskutieren ohne einen neuen Drink. Und außerdem ist Jack da. Lass uns morgen darüber reden«, schloss Kate hastig.
Im Wohnzimmer fand Kate Reed und Jack in ein Gespräch vertieft vor. Der Junge hatte von Reeds Verbindungen zur Staatsanwaltschaft gehört und warf ihm jetzt vor, Teil repressiver Polizeigewalt zu sein, ein verlängerter Arm des Establishments, ein Werkzeug des Systems. Reed hatte jedoch keine Lust, sich durch das Thema provozieren zu lassen. Er spürte, dass der Junge Probleme hatte, und wollte ihn nicht in die Lage bringen, Hilfe ablehnen zu müssen, auch wenn er sie brauchte. »Hoffentlich keine schlechten Nachrichten«, sagte er zu Kate.
»Das war die Direktorin des Theban«, sagte Kate. »Erinnerungen aus der Mädchenzeit tanzen vor meinen Augen.«
»Miss Tyringham«, sagte Jack. »Sie und der Direktor meiner alten Schule reden immer wieder darüber, die beiden Schulen zusammenzulegen.«
»Warum, um alles in der Welt?«, fragte Kate.
»Wegen der Koedukation natürlich.«
»Ach du meine Güte«, sagte Kate. »Aber wenn Antigone und Haemon zusammen zur Schule gegangen wären, wäre vielleicht eine andere Geschichte daraus geworden.«
»Quassel du nur«, sagte Reed.
»Kate«, sagte Jack und strich sich über den Bart. Für einen so jungen Mann fand Kate die Bewegung ein wenig seltsam. »Dad hat mich rausgeworfen. Und ich habe Harvard geschmissen. Kannst du mir etwas Geld leihen, bis ich einen Job gefunden habe?«
»Jack, mein Lieber, du vergisst hoffentlich nicht, dass dein Vater mein Bruder ist. Sicher, ich war oft nicht seiner Meinung; eigentlich kann ich mich nicht daran erinnern, jemals einer Meinung mit ihm gewesen zu sein. Aber ich hätte kein gutes Gefühl, wenn ich etwas hinter seinem Rücken täte. Weiß er, dass du hier bist?«
»Er weiß nicht, wo ich bin, und es interessiert ihn auch nicht.«
»Hättest du etwas dagegen, wenn ich ihm sagte, dass du hier bist?«
»Wenn dein ehrliches Gemüt das braucht, tu’s ruhig. Er wird nur sagen, dass ich die Suppe, die ich mir eingebrockt habe, auch selbst auslöffeln soll.«
»Was ist passiert?«
»Ich werde den Kriegsdienst verweigern. Ich vermute, das war der Auslöser. Meine Haare, und dass ich Harvard geschmissen habe, und jetzt das. Ich glaube nicht an diesen dreckigen Krieg.«
»Will dein Vater, dass du Soldat wirst?«
»Er hätte nichts dagegen, seine Verbindungen spielen zu lassen, damit ich ein gemütliches Plätzchen im Pentagon bekomme; ich glaube, er wäre auch nicht böse, wenn ich beim Losverfahren eine hohe Nummer zöge. Was er aber absolut nicht ausstehen kann, ist das, was er mein Auf-die-Fahne-Spucken nennt – seine Auffassung kannst du, in Stabreime gefasst, von Spiro Agnew hören. Ich sehe das so: Wer nicht gegen den Krieg protestiert, ist dafür. Vielleicht wäre ich sogar untauglich wegen meines Asthmas, aber dann würden sie ja nicht erfahren, wie ich über Vietnam denke, stimmt’s? Leo wollte gleich mit mir kommen, aber ich habe ihm gesagt, er soll bis achtzehn auf der Schule bleiben. Er findet dich toll.«
Kate sah Reed an. »Was schlägst du vor?«, fragte sie.
»Ruf deinen Bruder an. Ich brate uns inzwischen ein paar Steaks. Einverstanden, Jack?«
»Nur zu«, sagte Jack.
Die Schule war hundert Jahre alt und von Matthias Theban gegründet worden, weil er seinen vier Töchtern eine gute Ausbildung sichern wollte. Andere Männer hätten vielleicht die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, Gouvernanten eingestellt und mit dem Schicksal gehadert, das ihnen einen Sohn versagt hatte. Nicht so Matthias Theban. Hatte das Schicksal ihm weibliche Nachkommen beschert, so nahm er die Herausforderung an und erzog sie zu Menschen und künftigen Mitgliedern des Bildungsbürgertums. Da er seinen exzentrischen Standpunkt bezüglich der Zukunftschancen der Frau mit großem Vermögen, Einfluss und Geschick in finanziellen Dingen verband, war er in der Lage, in jenen einfacheren Zeiten, seinen Plan mit einer Leichtigkeit in die Tat umzusetzen, die dem geradezu fantastisch erscheinen muss, der heutzutage irgendeine Institution gründen will. Matthias Theban brauchte weder bürokratische Instanzen zurate zu ziehen noch örtliche Behörden, Gründungsgremien oder Minoritätenvertreter. Er kaufte ein Grundstück im Zentrum New Yorks, in einer Gegend, in der die Grundstückspreise zu steigen versprachen, gewann einflussreiche Freunde als Treuhänder, stellte einen fortschrittlichen Erzieher aus Harvard ein (einen Mann; Matthias Thebans Wunsch, eine Frau an der Spitze des Theban zu sehen, sollte sich erst im zwanzigsten Jahrhundert erfüllen), baute seine Schule, und sein Erziehungsexperiment nahm seinen Lauf.
In den folgenden Jahren wurden viele Mädchenschulen und auch einige neue Jungenschulen in New York gegründet, ja sogar eine Reihe von Koedukationsschulen – diese waren eher experimentell und gaben sich weniger exklusiv. Spence, Chapin, Brearley, Miss Hewitt’s, Nightingale-Bamford und Sacred Heart gehörten mit dem Theban zur Gruppe, die unter dem Namen »Die knicksenden Schwestern« bekannt wurde: Die Schülerinnen machten einen Knicks, wenn sie Erwachsene begrüßten, gaben höflich die Hand, trugen Uniformen mit Schulblazer und wurden fast automatisch vom College ihrer Wahl aufgenommen. All das geschah natürlich nur bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Danach machte niemand über zehn noch einen Knicks, gab die Hand oder trug widerspruchslos eine Schuluniform; und die Aufnahme in ein College wurde zu einer ebenso schwierigen und langwierigen Prozedur wie ein Antrag auf die Schweizer Staatsbürgerschaft. Obwohl das Theban zu den »knicksenden Schwestern« gehörte, nahm es eine besondere Stellung ein; dessen waren sich seine Absolventinnen mit einer derart gelassenen Sicherheit bewusst, dass es die Absolventen aller anderen Schulen auf die Palme brachte. Was die Besonderheit des Theban ausmachte, war schwer zu definieren, obwohl viele, unter anderen auch Kate, es versucht hatten. Es erfüllte seine Schülerinnen trotz der unvermeidlichen Teilnahme an Kotillons und Debütantinnenbällen mit einer unbefangenen und wilden Emanzipiertheit, die sich nie vollkommen verlor.
Das Theban rühmte sich (was nur eine Redensart ist, denn das Theban prahlte niemals mit irgendetwas) seiner verschiedenen Turnhallen, in denen die Mädchen zu den unmöglichsten Tageszeiten Basketball, Volleyball, Hallenbaseball und Hochsprung trainierten oder wie die Affen ungestüm an Ringen durch die Luft schwangen. Wie alle derartigen Schulen bot das Theban vier Jahre Lateinunterricht und, was schon seltener war, drei Jahre Griechisch. Es zahlte seinen Lehrern ungewöhnlich gute Gehälter und bildete seine Schülerinnen so sorgfältig aus, dass für alle das College ein fast unerträglicher Abstieg wurde. Die durchschnittliche Theban-Schülerin (natürlich gab es gar keine durchschnittlichen Theban-Schülerinnen) wusste zwei Wochen nach ihrer Ankunft in Vassar oder Radcliffe, dass sie dort ohne jede Mühe Bestnoten erreichen konnte; daher beschäftigte sie sich in den folgenden Jahren mit Bridge, Liebesgeschichten und einem gelegentlichen kleinen Nervenzusammenbruch; im letzten Jahr nahm sie sich dann so weit zusammen, dass sie mit Auszeichnung ihren Abschluss machen und – so sie wollte – weiterstudieren konnte. Viele Theban-Absolventinnen wollten. Die Liste der Ehemaligen war in der Tat sehr beeindruckend oder wäre es gewesen, hätte das Theban sie veröffentlicht. Aber das Theban hatte kein Interesse daran, irgendjemanden zu beeindrucken.
Zur Zeit seiner Gründung war das Theban aber noch in anderer Hinsicht einzigartig: Es nahm auch Jüdinnen auf. Natürlich nur die richtigen, die Jüdinnen, von denen es später heißen würde, »sie gehören zu uns«; trotzdem war Matthias Theban mit dieser Maßnahme wie mit anderen seiner Zeit weit voraus. In den Abschlussklassen der Schule gab es Warburgs, Schiffs, Loebs und Guggenheims; später, nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich sogar Spence, Chapin und Miss Hewitt’s bemüßigt fühlten, ein paar Jüdinnen aufzunehmen, stellte sich heraus, dass das Theban revolutionär gewesen war, ohne seinen konservativen Ruf dadurch zu verlieren: ein kluger Schachzug.
Aber nicht so klug wie die Verbindung erzieherischer Weisheit mit den Feinheiten der Bodenspekulation. Das erste Gebäude des Theban wurde, als es zu klein und die Umgebung zu kommerziell geworden war, für ein Vielfaches des ursprünglichen Preises verkauft: Von dem Gewinn wurde das neue Gebäude errichtet und die Stiftung aufgestockt. Nach Matthias Thebans Tod konnte die Schule erneut seinen Namen preisen, denn das zweite Gebäude – auf dem Gelände befindet sich heute das Biltmore – finanzierte problemlos den dritten und heutigen Standort der Schule in den East Seventies.
Gegen Ende der Wirtschaftskrise hatte Kate die Unterstufe des Theban besucht, während des Zweiten Weltkriegs die Mittelstufe und während des Kalten Krieges und der hektischen Rückkehr zum »normalen« Leben die Oberstufe. Alle diese Wirren überstand das Theban wie ein Fels in der Brandung. Natürlich machte es auch Zugeständnisse: Sogar die Fanslers, Guggenheims und Rockefellers mussten Zugeständnisse machen. Aber es wurde nichts Wesentliches verändert. Kate war vor 1950 vom Theban abgegangen, zu einer Zeit, als die Studenten – die so genannte »schweigsame Generation« – nicht aufzumucken wagten und zugleich ein Demagoge die Nation in einen Haufen zeternder Hexenjäger verwandelte. Die jungen Damen der guten Gesellschaft zogen damals in die Vorstädte, bekamen sieben Kinder und redeten über ihre Rolle als Frau.
Miss Tyringham war die Frau, die in den Fünfzigern das Theban am Leben erhielt. Sie bezog keinen politischen Standpunkt – das gehörte sich nicht für die Leiterin des Theban. Aber sie machte auf die ihr eigene, geradlinig-heitere Weise deutlich, dass Veränderungen möglich waren. Sie wusste, dass Schulen nicht sterben; aber das, was heute noch lebendig ist, kann morgen schon versteinert sein, ohne dass der Wandel den Beteiligten bewusst wird. Diese Entwicklung hatte Tyringham verhindert, bevor sie möglich werden konnte. Auf subtile Weise sorgte sie dafür, dass die neu aufgenommenen Schülerinnen weniger dem alten Geldadel entstammten als vielmehr Familien, deren Reichtum neu und deren Vitalität noch frisch war. Natürlich unterliefen ihr dabei auch Fehler, und das Theban hatte ein paar Mädchen in seinen Abschlussklassen, die vulgärer waren, als man sich das gewünscht hätte; aber sie wusste: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Das Durchschnittsalter der Lehrer verschob sich von fünfundfünfzig auf fünfunddreißig; Miss Tyringham befürwortete die Einstellung junger, verheirateter Frauen, ermutigte diese, auch während der Schwangerschaft weiter zu unterrichten, fand Vertretungen für die Zeit der Entbindung und beglückwünschte die jungen Mütter, wenn sie nach kurzer Zeit zurückkehrten. Sie erweiterte den Lehrplan um zeitgenössische Literatur und Geschichte der Gegenwart, lange bevor das modern wurde, führte Spanisch als Alternative zu Französisch ein in einer Stadt, in der es inzwischen viele Puertoricaner gab, nahm schwarze Schülerinnen auf und sorgte mit Nachdruck dafür, dass die Treuhänder Stipendien für sie bereitstellten – und all dies, bevor Martin Luther King begonnen hatte, in Montgomery die Busse zu boykottieren. Sie honorierte Anregungen aus der Lehrerschaft und förderte so einen ausgeprägten Gemeinsinn zu einer Zeit, da die meisten Privatschulen noch die Patina frostiger Förmlichkeit pflegten und erfolglos die Feindseligkeiten vor den Schülern zu verbergen suchten, die die Lehrer in verschiedene Fraktionen spalteten. Kurz gesagt: Miss Tyringham war genial in ihrer Arbeit.
Aber auch ein Verwaltungsgenie hätte auf die zweite Hälfte der Sechzigerjahre nicht vorbereitet sein können. Niemand war darauf vorbereitet, aber einige wenige waren weniger vorbereitet als andere. Die Privatschulen überstanden den Sturm durch vorsichtig dosierte Erpressung: Ihre Wartelisten waren lang und die öffentlichen Schulen indiskutabel. Der diskrete Hinweis, Johnny oder Susy sollten sich besser benehmen oder aber die Eltern sich nach einer besser geeigneten Schule für ihre Sprösslinge umsehen, reichte im Allgemeinen für eine Verhaltensänderung.
Zumindest für eine Weile. 1968 jedoch nahmen Schüler allen elterlichen und schulischen Warnungen zum Trotz in Kauf, von der Schule zu fliegen. Im Theban funktionierte der Gemeinschaftssinn im Großen und Ganzen. Miss Tyringham, standhaft und freundlich wie immer, wurde mit allem fertig – mit Hosen in der Schule (sie ignorierte sie einfach), mit Drogen (sie konfrontierte Schüler und Eltern auf möglichst wenig moralisierende Weise mit den Tatsachen), mit der Schwarzen Revolution (die hatte sie vorausgesehen) und mit der Forderung nach Koedukation (in regelmäßigen Zusammenkünften mit dem Direktor der Jungenschule, die Kates Neffen besuchten, erkundete sie die Lage und gab ab und an rätselhafte Berichte über den Stand der Dinge ab; ob sie Koedukation ins Auge fasste oder dagegen war, wusste niemand so recht).
Nicht meistern konnte sie dagegen den Vietnamkrieg. Ob die Geschichte der Vereinigten Staaten ohne diesen Krieg wesentlich anders verlaufen wäre, ist eine müßige Frage. Miss Tyringham wusste nur, dass er die Generationen und die politischen Gruppen am Theban weiter voneinander entfernt hatte als jede Krise zuvor. Die Schüler fingen an, einander bei jeder Sitzung niederzuschreien, und verletzten dadurch die älteren Lehrer, die an Jeffersons Form der Demokratie gewöhnt waren, an das Recht eines jeden, gehört zu werden. Die Schüler weigerten sich, an Moratoriumstagen in der Schule zu erscheinen. Miss Tyringham hielt die Schule offen als Forum für Diskussionen und das Verfassen von Petitionen für oder gegen den Krieg (nur sehr wenige waren dafür). Sie hatte bereits eine grundlegende Lehrplanreform begonnen, für die Julia Stratemayer zuständig war; die Schule ging weiter. Aber Miss Tyringham spürte im Frühjahr 1970 wie jeder andere im Land die Anspannung. Dies war die Situation, in die Kate an einem verdächtig milden Februartag hineinstolperte, einem Tag, der ebenso heuchlerisch Frühling verhieß, wie ein Schürzenjäger Treue gelobt.
»Wir sind ja so froh, dass Sie da sind«, sagte Miss Tyringham, als sie Kate in ihrem Büro willkommen hieß. Das Allerheiligste, dachte Kate. Sie erinnerte sich, nur dreimal während ihrer Schulzeit darin gewesen zu sein. Einmal war sie als Mitglied der Schülermitverwaltung zu einer wichtigen Sitzung geholt worden, auf der es nicht darum ging, ob die Schüler die Leitung der Schule übernehmen und Lehrer ihrer Wahl einstellen sollten (was inzwischen durchaus an der Tagesordnung war), sondern ob die Schüler motiviert werden könnten, ihre eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen und damit eine Schülermitverwaltung überhaupt zu rechtfertigen. Danach war sie mit ihren Eltern im Büro der Leiterin gewesen, um ihre Anmeldung zum College zu besprechen; Miss Tyringhams Vorgängerin war es mit unendlichem Feingefühl gelungen, Kates Eltern Vassar auszureden (ihre Mutter hatte dort studiert). Genau so hatte sie drei Jahre zuvor Kate geholfen, ihnen die Miltron Academy auszureden. Kate erwähnte Miss Tyringham gegenüber diese drei Ereignisse. »Und nun bin ich hier«, sagte sie, »um über Antigone zu diskutieren. Wussten Sie, dass der Rektor von Princeton ein Buch über die Metaphorik der Antigone geschrieben hat? In vergangenen, weniger turbulenten Zeiten natürlich.«
»Wirklich? Ich hoffe, es ist nicht der letzte Rektor eines Colleges in diesem Land, der zu so etwas in der Lage ist. Wissen Sie, dass in diesem Jahr tatsächlich einige unserer Graduierten nach Princeton gehen werden? Wir leben in einer so aufregenden Zeit, und ich versuche immer wieder, die Älteren unter den Eltern zu beruhigen, die sich fragen, ob sie vielleicht länger leben werden als dieser sich so schnell verändernde Planet. Die älteste Ehemalige unserer Schule bemerkte kürzlich, in ihrer Jugend habe es kaum Automobile gegeben, und jetzt landeten wir schon auf dem Mond. Ich konnte mir nicht verkneifen dagegenzuhalten, dass damals die Long Island Railroad etwas schneller war als heute und die Post in der Hälfte der Zeit zugestellt wurde. All das ist natürlich ohne Bedeutung. Wichtig ist, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die – ob wir nun wollen oder nicht – bereit sein muss, von der Jugend zu lernen. Für die meisten Menschen in meinem Alter ist das eine bittere Pille.«
»Wenn wir nichts zu lehren haben, warum lehren wir dann?«, fragte Kate.
Miss Tyringham lehnte sich in ihrem Sessel zurück und lächelte – das schönste Lächeln, das Kate je gesehen hatte. Miss Tyringham war eine wirklich schöne Frau, nicht zuletzt weil ihr von jeher ungeschminktes Gesicht und ihr lässig zurückgebürstetes Haar den Eindruck erweckten, von ihrer Schönheit ablenken, ja sie leugnen zu wollen: Dem Betrachter wurde ihre Schönheit umso deutlicher bewusst, weil er sich zugutehielt, sie dank seiner außergewöhnlichen Beobachtungsgabe überhaupt wahrgenommen zu haben. Es gab natürlich auch Eltern, die die Art und Weise, wie sich Miss Tyringham »aufmachte«, ablehnten, und sie bemerkten gelegentlich im Gespräch, irgendjemand möge ihr doch sagen, sie solle nicht so männliche Kleidung tragen. Eltern von Mädchen, die nicht ins Theban aufgenommen worden waren, gaben spitzzüngigere Kommentare über Miss Tyringham ab. Kate bewunderte den Mut oder die natürliche Unbefangenheit oder den schlichten Mangel an Zeit, der es einem Menschen erlaubte, so ganz und gar er selbst zu sein.
»Ich frage mich«, sagte Miss Tyringham, »ob nicht unsere Auffassung vom Begriff des Unterrichtens neu überdacht werden muss. Sind wir vielleicht allzu lange davon ausgegangen, dass Lehren ein Ritual ist, in dem ich, die Ältere und angeblich Weisere, ihnen, den Jüngeren und Ahnungsloseren, die Früchte meines Lernens und meiner Erfahrung weitergebe? Vielleicht ist Lehren wirklich eine gemeinsame Erfahrung von Älteren und Jüngeren, ja vielleicht liegt alles Lernen in dem, was sie miteinander und aneinander erfahren. Ich meine damit natürlich nicht, wie so viele Mädchen hier, endlose Sitzungen, bei denen jeder redet und keiner zuhört, geschweige denn etwas lernt. Ich meine eine disziplinierte Form von Seminar, in der ein Mensch, Sie zum Beispiel, moderiert, referiert und die Schritte festlegt, immer mit der Hoffnung, dass Sie, wie auch die Schüler, zu neuen Einsichten über die Antigone gelangen, die keinem der Beteiligten allein möglich gewesen wären.«
»Nun«, sagte Kate voll Bewunderung für die beiläufige Art, in der ihr Anweisungen für dieses Seminar gegeben wurden, »es besteht sicher keine Gefahr, dass ich mich als Expertin für das Leben und die Gewohnheiten der Griechen aufspiele – und selbst wenn ich Expertin wäre, wäre der größte Teil meiner Erkenntnisse einfach nachzulesen. Ich bin inzwischen überzeugt, dass unsere herkömmlichen Vorstellungen vom Unterrichten aus einer Zeit stammen, in der es so wenige Bücher gab, dass nur irgendein Priester sie lesen konnte; der hat dann das Wissen an die anderen weitergegeben, die wissensdurstig, aber bücherlos waren. Das ist zweifellos der Grund, warum man von Vorlesungen spricht – die zu unserem Leben genauso passen wie diese irrwitzigen Talare, die für zugige Klöster entworfen wurden und in denen wir heute unter heißer Junisonne herumspazieren. Wie dem auch sei, ich hoffe, es tut Ihnen nicht leid, dass Sie mich gefragt haben. Ich habe Angst, mich vor der Klasse wie ein Mauerblümchen aufzuführen, das nicht weiß, was es sagen soll, wenn es zum Tanz aufgefordert wird.«
»In der akademischen Welt sind Sie wohl kaum ein Mauerblümchen.«
»In diesem Teil der akademischen Welt bin ich es; die Schüler sind jung, so sicher, so mit sich selbst beschäftigt. Das müssen sie auch sein, wenn sie das Erwachsenwerden überleben wollen. Aber ich weiß nicht, ob ich ihre Sprache besser verstehe als ihre Tänze.«
»Sie sollten nicht so viel darauf geben«, sagte Miss Tyringham; »Ihnen steht noch immer die Waffe des Benotens und Beurteilens zur Verfügung. Außerdem ist die gute alte Scheu des Schülers vor dem Lehrer noch nicht völlig ausgestorben. Ich bin jedoch der Meinung, dass es heute neue Formen des Dialogs gibt, auch auf schulischer Ebene. So weit meine hoffnungsvolle Rede.«
»Ich freue mich, dass Sie noch hoffnungsvolle Reden halten können. Wir, Reed und ich, haben einen Neffen am Hals – das heißt, er und Sie traten sozusagen, wenn auch nicht Hand in Hand, so doch gewissermaßen Klingel an Klingel in unser Leben. Ich hatte die erfreuliche Aufgabe, bei Harvard vorzusprechen, einer Institution, deren Existenzberechtigung er für äußerst fragwürdig zu halten scheint. Dass sie Militär und Industrie dieses Landes dient, bestärkt ihn in dieser Meinung. Nun, wie Sie wohl ahnen, haben Harvard und alle anderen Colleges so viele Nestflüchter, dass es heute in ihren Computern einen speziellen Code für inoffizielle Abgänge gibt. Dank vieler Konzessionen von beiden Seiten darf Jack jetzt zurückkommen. Am College angenommen zu werden mag heutzutage verdammt schwierig sein, aber offensichtlich ist man dort bewundernswert zögerlich, wenn es darum geht, jemanden hinauszuwerfen oder auch nur zuzulassen, dass jemand die Tür hinter sich zuwirft. Ob es sich hierbei um Großmut oder Schuldgefühl handelt, das vermag ich nicht zu entscheiden.«
»Sieht so aus, als hätten Sie in diesem Fall die wichtigsten Dinge im Griff, jedenfalls eher als die Eltern des Jungen. Ich fürchte, das ist normal. Wird er in Harvard bleiben?«
»Vorläufig. Was mich dabei beunruhigt, Miss Tyringham, ist die Tatsache, dass er ungehobelt und ungewaschen ist, unüberlegt handelt und bis über die Ohren voller Schlagworte steckt, die die Dinge abscheulich vereinfachen. Leider hat er auch noch recht.«
»In jeder Beziehung?«
»Das wohl kaum. Aber er hat recht, was meinen Bruder angeht, hat recht mit seiner Haltung zu diesem entsetzlichen Krieg, und er ist so wunderbar mutig, dass es zum Verrücktwerden ist. Ich meine damit, theoretisch sind wir alle für Prinzipientreue, aber die wenigsten von uns werden einen guten Vorwand, sich zu drücken, ungenutzt lassen.«
»Das nennt man Kompromiss.«
»Die Jugend würde das niemals tun. Zum Glück. Vielleicht auch zu meinem Glück. Darf ich mich ein wenig umsehen? Vielleicht bekomme ich ja Lust, in der Turnhalle an einem Seil herumzuklettern.«
»Mrs Copland erwartet Sie und wird Ihnen alles zeigen. Sicher hätten Sie gerne Julia als Führerin gehabt, aber sie hat gerade eine Besprechung mit einer Frau, die einmal in der Woche zu uns kommt, um uns alles über Computer beizubringen – immer dann wünsche ich mir die einfacheren Zeiten zurück. Ich glaube, Sie werden mit Mrs Copland gut zurechtkommen. Sie unterrichtet Literatur in der elften Klasse und beaufsichtigt die Hausaufgaben der Sechsten. Wir hoffen, sie übernimmt die Leitung der englischen Abteilung, wenn sie diesen ganzen Kinderkram überstanden hat, aber sagen Sie ihr das nicht: Wir wollen ihr keine Angst einjagen. Es hat mir viel Freude gemacht, mit Ihnen zu sprechen«, schloss Miss Tyringham, richtete sich in ihrem Sessel auf und schüttelte energisch Kates Hand. »Und denken Sie daran: Wir müssen für unser nächstes Gespräch auf keinen Notfall warten.«
Dieser Wunsch ging, weiß Gott, in Erfüllung. Sie brauchten auf keinen neuen Notfall zu warten. Denn binnen Kurzem wurden sie von einem Notfall überrollt, mit dem zu rechnen niemandem auch nur im Traum eingefallen wäre.
Kate verzichtete auf die Hilfe von Miss Tyringhams Sekretärin und machte sich allein auf den Weg zur sechsten Klasse und zu Mrs Copland. Das Schulgebäude sah noch aus wie zu Kates Tagen, es bot genug Platz, war aber veraltet. Nichts altert schneller als der letzte Schrei. Neue Schulbauten, die voller Stolz die modernste Ausrüstung präsentieren, altern wie eine Frau, die sich das Gesicht hat liften lassen, ohne die Verwüstungen der Zeit ausgleichen zu können. Aber schließlich kann man auch kein Winchester in New York City bauen, oder?
Da sie nicht gern an einer Klassenzimmertür anklopfte – das tat vielleicht ein Dienstbote zurzeit des British Empire –, öffnete Kate vorsichtig die Tür.
»Oh«, rief Mrs Copland von vorn, »kommen Sie herein.« Kate öffnete die Tür ganz und wurde vom Scharren dreißig geräuschvoll zurückgeschobener Stühle und dreißig aufstehender Zwölfjähriger begrüßt. Sie war starr vor Schreck. »Setzt euch, meine Damen«, sagte Mrs Copland. »Mal sehen, ob ihr drei Minuten allein im Klassenzimmer bleiben könnt, ohne die Wände einzureißen. Es wird gleich läuten.«
Sie verließ mit Kate den Raum und schloss die Tür mit Nachdruck.
»Rechnen Sie mit einer Explosion?«, fragte Kate nervös.
»Nicht innerhalb von drei Minuten. Willkommen im Theban. Für Sie ist es ein Wiedersehen, nicht wahr?«
»Ich bin genauso aufgestanden. Hat jemals jemand darüber nachgedacht, was für eine Wirkung das auf einen unvorbereiteten Erwachsenen hat, der hereinkommt?«
»Erst heutzutage, weil es so ungewöhnlich geworden ist. Vor zwanzig Jahren dagegen«, sagte Mrs Copland und ging voraus, »wäre jeder Erwachsene, der nicht vom Geräusch sich ehrfurchtsvoll erhebender Jugendlicher begrüßt wurde, auf der Stelle ohnmächtig geworden und hätte mit Riechsalz, oder was sonst das Krankenzimmer zu bieten hatte, ins Leben zurückgeholt werden müssen. Wollen wir unsere Runde im obersten Stock beginnen? Ich weiß, Sie erinnern sich gewiss an alles, aber Miss Tyringham meinte, eine kleine Auffrischung könnte nicht schaden. Unterwegs sollten wir die Problematik des Literaturunterrichts besprechen. Oh«, schloss sie, als sich die Fahrstuhltür öffnete, »zehnter Stock, bitte. Ich heiße Anne. Ich bin eigentlich nicht dafür, jeden gleich beim Vornamen zu nennen, habe aber festgestellt, dass es besser ist, die üblichen Stufen zu einer gewissen Vertrautheit zu überspringen, wenn man über Abschlussseminare und widerspenstige Jugendliche diskutieren will. Da wären wir.« Sie traten in die Aula, in deren hinterstem Winkel eine Gruppe entweder ein Stück probte oder eine Encountersitzung abhielt: Das war auf den ersten Blick nicht zu unterscheiden.