Tödliches Erbe - Amanda Cross - E-Book

Tödliches Erbe E-Book

Amanda Cross

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vor Kate Fanslers Tür steht eines Tages unversehens ihr alter Freund Max Reston, eigenbrötlerischer Snob und frischernannter Nachlassverwalter der berühmten Schriftstellerin Cecily Hutchins. Er bittet sie darum, mit ihm nach Maine zu fahren und in Hutchins' Haus nach dem Rechten zu sehen – insbesondere nach dem wertvollen literarischen Erbe. Bei einem Spaziergang am Meer entdeckt Kate die Leiche einer Studentin. Die junge Frau hatte ausgerechnet über Dorothy Whitmore promoviert, eine Freundin von Hutchins aus dem Dunstkreis des Bloomsbury-Zirkels. Kann das wirklich ein Zufall sein? Und wieso hat Max eigentlich sie um Hilfe gebeten? Auf der Suche nach Antworten reist Kate nach England und taucht tief ins pulsierende Leben an der altehrwürdigen Elite-Universität Oxford ein.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 283

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Amanda Cross

Tödliches Erbe

Ein weiterer Fall für Kate Fansler

Kriminalroman

Deutsch vonMonika Blaich und Klaus Kamberger

DÖRLEMANN

Die amerikanische Originalausgabe »The Question of Max« erschien 1976 bei Alfred A. Knopf, New York.   Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Copyright © 1976 Carolyn Heilbrun © 2023 Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung einer Illustration von Anna Sommer Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-03820-904-1www.doerlemann.ch

Inhalt

CoverTitelei und ImpressumErster Teil – MärzEinsZweiDreiVierZweiter Teil – AprilFünfSechsSiebenDritter Teil – MaiAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierter Teil – JuniVierzehnFünfzehnSechzehnZur Autorin und zu ihren ÜbersetzernZum Buch

Erster Teil

März

Eins

Kate Fansler war es im letzten Jahr gelungen, ihr Leben fein säuberlich in eine urban-elegante und eine ländlich-schlichte Hälfte aufzuteilen, auch wenn die ländliche Schlichtheit gewiss um einige Grade schlichter war als die städtische Eleganz elegant. Ihre bäuerlichen Nachbarn sahen mit kaum verhüllter Geringschätzung auf ihre Hütte, die aus nur einem Raum bestand, und auf den ungemähten Rasen herab, während ihre Bekannten in der Stadt ihr in Sachen Eleganz keinen exponierten Platz einräumten. In den Augen ihrer Kollegen war sie eine ziemlich reiche Frau, aber diejenigen aus der Generation ihrer Mutter, die sie gelegentlich sahen, stuften ihr Leben als beinahe asozial ein. An diesem besonderen Tag im März dachte sie mit Stolz an die tiefen Widersprüche, die ihr Leben prägten. Sie waren es, die den Erfahrungen die Würze verliehen und der Seele die notwendige Ruhe. Natürlich bedurfte es zum Austarieren solch tiefer Widersprüche einer Geschicklichkeit, die an Akrobatik grenzte. Daher fühlte sich Kate, als sie Maximillian Reston entdeckte, wie eine Kunstturnerin, der plötzlich die Muskeln erstarren. Er suchte gerade im ungemähten Gras, das die Hütte umgab, vergeblich nach einem Weg zu ihrer Tür.

Max war der letzte Mensch auf Gottes weiter Erde, der solch einer verwilderten ländlichen Zuflucht irgendetwas hätte abgewinnen können. Und selbst wenn ihr Refugium eine ähnliche Eleganz ausgestrahlt hätte wie Edith Whartons berühmte Jahrhundertwende-Villa nicht weit von hier in den Berkshires – Restons unangemeldetes Auftauchen hätte auch dann Erstaunen ausgelöst. Er war nicht der Mensch, der Ausflüge in das Leben anderer Leute machte. In ihre Arbeit dagegen schon. Freundschaft, oder was Max unter Freundschaft verstand, schlug sich in schön gedrechselten Briefen zu den Veröffentlichungen dieser Freunde nieder. Intimität war für ihn indessen so etwas wie eine Sünde der heutigen Zeit und ebenso bedauerlich wie der Verlust guter Manieren, notwendiger Formen und eine Kleidung, die den Unterschied zwischen den Geschlechtern überspielt.

Kate schaute auf ihre abgetragenen Bluejeans und dreckbespritzten Turnschuhe und erwog ein paar verrückte Fluchtmöglichkeiten. Sie könnte schnurstracks durch die Hintertür in den Wald rennen und sich verstecken, bis Max wieder verschwand. Aber wann würde er gehen und, was noch wichtiger war, wie? Das Taxi, das ihn an der Straße abgesetzt hatte, hatte er fortgeschickt, und in ihrem Haus gab es kein Telefon, um ein anderes zu rufen. Eine Flucht schien also nicht ratsam. Verstellung? Angenommen, sie spielte eine Landstreicherin oder ein verrücktes altes Weib, das von Kobolden faselte … Keine schlechte Idee, führte aber zum selben Problem wie Alternative eins. Wie würde Max wieder fortkommen? Wahrscheinlich blieb ihr nichts anderes übrig, als sich ihm einfach zu stellen. Und würde Max, wenn er sie in diesem Aufzug und in diesem Haus gesehen hätte, da sie doch nie mit ihm in einer weniger eleganten Atmosphäre diniert oder geredet hatte als der seines Clubs (an jenen seltenen Abenden, wenn dieser dem anderen Geschlecht seine geheiligten Hallen öffnete), ihre Hütte verlassen und für immer aus ihrem Leben verschwinden? Kate wurde klar, dass sie den Verlust seiner Gesellschaft bedauern würde. Verdammter, verfluchter Max.

Reston wusste nichts von der Verwünschung, die ihm da entgegengeschickt wurde, und schaute kurz die ausgefahrene Straße hinunter. Vielleicht wünschte er sich sein Taxi zurück, das inzwischen verschwunden war. Selbst auf diese Entfernung konnte man erkennen, wie er sich entschloss, durch das Gras der Zivilisation entgegenzustürmen, die er im Inneren der Hütte vermutete. Ihr kam der wilde Gedanke, sich umzuziehen. Aber die Unaufrichtigkeit dessen war ihr zuwider. Andererseits begeisterte sie der Gedanke nicht gerade, von Max sozusagen nackt angetroffen zu werden. Ich muss mich ihm stellen, wie ich bin, sagte sie sich und schob eine lose Haarsträhne zurück.

Die Frage war, wie Max sie überhaupt gefunden hatte. Sie wusste, dass er sich auf allen Haupt- und Nebenstraßen der Zivilisation bestens auskannte, aber Findigkeit auf ländlichem Terrain hätte sie ihm nicht zugetraut. Vorsichtig, doch in ihr Schicksal ergeben, ging Kate zur Tür und öffnete. Sie sah Max zu, wie er sich einen Weg durch die aufgeweichte Wiese bahnte. Als er auf drei Meter herangekommen war, sagte sie: »Zwei Fragen: Wie haben Sie mich gefunden, und warum? Wahrscheinlich ist es nicht gerade taktvoll, aber die erste Frage interessiert mich eigentlich mehr.«

»Guy hat mir davon erzählt«, sagte Max, trat ein und sah sich mit unverhohlen kritisch prüfendem Blick in der Hütte um. »Er hat mir außerdem gesagt, dass Reed sie Ihnen geschenkt hat. Nachdem ich Sie an keinem zivilisierten Ort gefunden habe, habe ich es hier auf gut Glück versucht.«

»Hat Guy genau beschrieben, in welchem Berkshire-Wald sie liegt?«

»Natürlich nicht. Er erwähnte die nächstgelegene Stadt, und dort habe ich nach einer einsam gelegenen Hütte und einer etwas seltsamen Frau gefragt. Haben Sie hier Trinkwasser aus der Leitung, oder muss man sich draußen neben einem plätschernden Bach zu Boden werfen?«

»Wir haben Wasserhähne«, sagte Kate. »Nehmen Sie Platz, und ich hole Ihnen einen Schluck Wasser. Ich fürchte, etwas anderes kann ich auch nicht anbieten, außer Beuteltee, Pulverkaffee oder kalifornischem Wein.«

Mit sichtlicher Mühe unterdrückte Max ein Schaudern. »Wasser ist hervorragend«, sagte er. Er blickte sich um, und Kate betrachtete die Hütte mit seinen Augen. Sie bestand aus einem großen Raum mit gewölbter Decke und an der einen Seite einer Empore, die als Schlafzimmer diente. Als Sitzgelegenheit gab es außerdem noch eine Matratze mit einem Berg Kissen und einer Tagesdecke. Zwei Polstersessel von der Sorte, die jemand ausrangiert hatte, als er zu Geld gekommen war, ein runder Tisch aus Kiefernholz und zwei Stühle waren das restliche Mobiliar.

»Guy erzählte mir, er und Reed hätten sie mit eigenen Händen gebaut«, sagte Max und ließ sich mit einer Mischung aus Erleichterung und Abscheu in einen der tiefen Sessel fallen, dessen Eingeweide unter seinem Gewicht bis zum Fußboden durchsackten. Max gehörte nicht zu den Menschen, die sich gern räkeln, und er fühlte sich offensichtlich unbehaglicher als auf einem Stuhl mit hoher Lehne und gerader Sitzfläche. Aber immerhin hatte er Kate gefunden, und das sagte einiges aus über seine Ausdauer und wohl auch über die Ernsthaftigkeit der Absichten, die ihn herführten. Was das für Absichten sein könnten, darüber mochte Kate sich keine Gedanken machen.

Max schien seltsam zu zögern, was den Grund seines außergewöhnlichen Besuchs anging. »Sieht aus, als wäre sie wirklich mit bloßen Händen gebaut worden, die Hütte.«

»Guy hat sie gebaut, und Reed hat ihm ab und zu geholfen. Ich dachte, das hätte er Ihnen erzählt.«

»Ich habe mitbekommen, dass er sie entworfen hat. Er ist nicht ins Detail gegangen, und irgendwie nahm ich an, dass er die Oberaufsicht geführt und nicht selber Hand angelegt hat.«

»Guy ist seit Langem mit Reed befreundet«, sagte Kate. »Jahre bevor Reed und ich heirateten, hatte Guy einen Zusammenbruch. Die Ärzte nannten es eine sanfte Depression. Der Grund – wenn es denn überhaupt Gründe für Depressionen gibt – war das, was Dichter die Melancholie der erfüllten Aufgaben nennen. Als Werbefachmann hatte Guy schon in sehr jungen Jahren großen Erfolg. Es folgten dann die übliche Psychotherapie, die üblichen Drogen, aber geheilt hat er sich selbst, genauer gesagt: Er hat sich durch Arbeit selbst aus dem Sumpf gezogen. Durch körperliche Arbeit. Hier. Guy hatte dieses Stück Wald vor Jahren geerbt. Er fing an, dieses Haus mehr oder weniger mitten auf seinem Gelände zu bauen, und Reed half ihm. Er sagt, Reeds ruhige Nähe und Unterstützung hätten ihn gerettet. Als es ihm später wieder besser ging, hat er Reed das Haus und das Gelände verkauft, und Reed hat es mir gegeben als Zufluchtsort. ›Es hat Guy geheilt‹, sagte er, ›und es wird auch dich heilen.‹ Nicht dass ich am Zusammenbrechen war, es sind nur die Nerven. Natürlich hat Guy Ihnen von alledem nichts erzählt.«

»Natürlich nicht«, sagte Max, und sein Tonfall sprach Bände.

»Also, wenn Sie auf Diskretion Wert legen, Max, und darauf, dass jeder vornehm seine Gefühle für sich behält, dann sind Sie hier am falschen Ort. Ich meine nicht mich, sondern diesen Ort. Ich bin die meiste Zeit allein hier, aber allein oder nicht, ich halte mich an keine Spielregeln. Dieser Ort ist eine Erlösung.«

»Wovon?«, fragte Max, stand auf und schaute hinaus. »Von der Zivilisation, nehme ich an. Von einem kultivierten Leben voller Höflichkeit, Stil und schicklichem Benehmen.«

»Oh, Max, was sind Sie für ein Snob. Ich kenne all die Metaphern von ungepflegten Gärten mit wild wuchernden Hecken, dem Unkraut in der Auffahrt und dem Wind, der in den Bäumen singt. Ich mag die Natur als Wildnis, und sie macht mich weder traurig noch finster. Eigentlich stelle ich mir so den Garten Eden vor, falls Sie das interessiert. Die meisten Leute verbinden damit zweifellos das Bild von einem teuren Golfplatz. Können Sie sich vorstellen, wie viele Vögel ich gerade wegen des Dickichts hier im Sommer um mich habe? Selbstverständlich ist das nicht Ihr Stil, aber – wenn ich eine Haltung annehmen darf, die Sie bestimmt nicht höflich finden werden – ich habe nie einen Gedanken daran verschwendet und hätte Sie auch im Traum weder dieser Wildnis ausgesetzt noch mir in dieser Umgebung.«

»Selbstverständlich, meine Liebe.« Max bemühte sich, seine gewohnte Höflichkeit wiederzugewinnen. »Wahrscheinlich sollte ich nach meinem Taxi telefonieren. Ich hätte Sie nicht so aufdringlich überfallen und dann noch kritisieren dürfen …«

»Hier gibt es kein Telefon. Ich dachte, Sie hätten begriffen, dass ich hier fernab von allem bin.«

»Aber was geschieht in einem Notfall?«

»Die meisten Notfälle sind nur welche in den Augen derer, die sie erleben, und müssen also warten, bis ich sie zur Kenntnis nehme. Nehmen wir einfach an, ich klettere im Yukon herum. Reed und ein, zwei meiner besten Freunde kennen eine Telefonnummer unten an der Straße. Sie gehört einer ebenso habgierigen wie beschränkten Frau, der man jedes Mal eine große Belohnung verspricht, damit sie heraufkommt und mir von einem Anruf erzählt. Viele hat es noch nicht gegeben. Wenn Sie gehen wollen, werde ich Sie in die Stadt fahren und darauf hoffen, dass Sie barmherzig genug sind, niemandem zu erzählen, wo Sie mich gefunden haben und wie. Wollen Sie sich jetzt auf den Weg machen?«

»Könnte ich trotz allem eine Tasse Tee haben?«

Kate stand auf, um ihm den Wunsch zu erfüllen. »Vielleicht«, sagte sie zu Max gewandt, »ist es am Tisch bequemer für Sie. Ich habe übrigens ein richtiges Badezimmer, falls Sie sich das gefragt haben.«

»Hat Guy das auch eingebaut?«

»Nein. Guy hat zwar alles gebaut, aber keine Installationen und auch keinen richtigen Weg durch den Wald angelegt. Das Bad habe ich einrichten und auch den Kamin dort drüben bauen lassen.«

»Heißt das, Sie kommen auch im Winter hierher?«

»Sicher. Die Schönheit der Landschaft ist unvorstellbar, wenn auch die Stille, die eine der stärksten Anziehungspunkte war, dahin ist. Aber davon fange ich lieber gar nicht erst an. Diese verrückten Motorschlitten, die bis tief in die Nacht herumfahren, einen Krach machen wie Kreissägen, Tiere aus dem Winterschlaf reißen und den Menschen die Wiesen ruinieren. Mit Zäunen kann man sich nicht gegen sie schützen, aber glücklicherweise mit Wäldern. Und dann ist da diese verdammte Schneekanone auf so einer verfluchten Skipiste. Die ist zwar Meilen entfernt, aber in klaren Nächten kann man sie sicher bis nach Schenectady hören. Mein Anwalt geht der Sache nach.«

Kate holte die Teetassen und stellte sie auf den Tisch. »Da ist Zucker, wenn Sie welchen mögen. Die Leute glauben, ich komme hierher, um mit irgendeinem Geist in Verbindung zu treten, meinem eigenen oder dem eines anderen. Und in gewisser Weise tue ich das auch. Aber ich verbringe eine Unmenge Zeit damit, von der Ausrottung des Verbrennungsmotors zu träumen. Von einem System aus Flugzeugen, Eisenbahnen und umfassendem öffentlichem Verkehrswesen in den Städten. Wer will, bekommt ein Fahrrad, und die Älteren, die Kranken und die Nostalgiker Pferd und Einspänner. Wie gefällt Ihnen das?«

»Ich glaube nicht, dass sich das je durchsetzt!«

»Leider. Aber wer will mir verbieten, davon zu träumen, dass General Motors auf elektrisch betriebene Busse und Straßenbahnen umrüstet? Max, was um alles in der Welt hat Sie zu mir geführt? Selbst wenn Sie nicht gewusst haben, wie spartanisch ich hier lebe, so hätten Sie doch wissen müssen, dass Sie mich hier nicht gerade im Oak Room des Plaza vorfinden.«

»Ich hatte gehofft«, sagte Max, rührte in seinem Tee und schaute in die Ferne, »Sie zu einer Fahrt mit mir überreden zu können. Jetzt«, fügte er hinzu. »In Ihrem Wagen«, schloss er endlich, als wollte er alle finsteren Absichten auf einmal auf den Tisch bringen.

Kate starrte ihren Besucher an. Wären der Universitätspräsident oder auch der Schah von Persien persönlich ihr mit einem derartigen Vorschlag gekommen, sie hätte, nicht weniger besorgt, plötzlich an ihrem eigenen Verstand gezweifelt. Oder war etwa Max, der elegante, beherrschte, brillante Max, plötzlich und unerwartet übergeschnappt? Max musste den besorgten Ausdruck in ihrem Blick bemerkt haben.

»Eine seltsame Bitte, ich weiß«, sagte er, schob seinen Stuhl zurück und schlug die langen, elegant gewandeten Beine übereinander. Max war einer von jenen Männern, die eher in Unterwäsche über die Straße gehen würden, als auch nur ein Stückchen nacktes Bein zwischen Socken und Hosen zu enthüllen. Kate – und das war einer der akrobatischen Züge ihrer widersprüchlichen Natur – bewunderte das. Sie versuchte edelmütig, nie aus der Art der Socken, die ein Mann trug, auf seinen Charakter zu schließen – das wäre lächerlich –, aber zugleich konnte sie auch nichts dagegen tun, dass ihr Socken auffielen. Reed, mit ihr in der Sockenfrage durchaus einer Meinung, tröstete sie wegen dieser merkwürdigen Unduldsamkeit. »Ich zum Beispiel«, lautete sein mitleidiger Kommentar, »kann roten Nagellack nicht ausstehen. Man muss tolerant sein sich selbst gegenüber.« Keine Frage, dachte Kate, ich fange an, in Bewusstseinsformen zu denken, wie sie zweitklassige Schriftsteller unter dem Einfluss von Virginia-Woolf-Imitatoren beschreiben.

»Eine seltsame Bitte, in der Tat«, sagte Kate und sammelte ihre Gedanken. »Wohin wollen Sie denn fliehen?«

»Nicht fliehen«, sagte Max. »Einen Besuch abstatten. Der Küste von Maine. Dem Haus von Cecily.«

»Jetzt? Ist sie nicht vor Kurzem gestorben? In England?« Egal wie lang seine Socken sind, sinnierte Kate, seine Gedanken sind auch nicht gerade kurz und knapp.

Max hatte gefragt, ob er rauchen dürfe, und Kate hatte Ja gesagt. Er steckte sich auf seine Art seine Zigarette an, auf eine Art, die eigentlich mit dem verstorbenen Noël Coward untergegangen war. Plötzlich fühlte Kate sich besser. Alles in allem war Max trotz seiner Vorurteile – und die waren, weiß Gott, ebenso vehement wie reaktionär – der vernünftigste Mann, den sie kannte; zweifellos weil er sich in allem so absolut sicher war. Kate hatte einmal über Max gesagt, sie wünschte, sie wäre sich in einem Punkt so sicher wie er in allen Fragen des Lebens. Ursprünglich stammte diese Bemerkung von Macaulay. Eine Unterhaltung mit Max war trotzdem lebendig und interessant. Man musste sich durch seine Vorurteile hindurchkämpfen wie durch einen verminten Hafen, aber die Aussicht und die Brise waren ein Genuss. Als Professor für Kunstgeschichte war Max ebenso berühmt wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen, wie er stadtbekannt war für seine Eleganz als Mann und Junggeselle. Im Allgemeinen war er unbeliebt und beneidet, besaß aber die Gabe, jeden Menschen für sich einzunehmen, der ihm gefiel. Das waren zwar nicht viele, aber es waren stets interessante Leute. Kate, die aus dem frostigen Hinterland in die noch immer kühlen Regionen einer Bekanntschaft mit ihm vorgedrungen war, hatte im Lauf der Jahre eine tiefe Zuneigung zu Max entwickelt. Sie trafen sich zum Dinner, unterhielten sich und wechselten witzige Briefe, die sie vermutlich mehr Anstrengung kosteten als ihn. Doch eine gemeinsame Fahrt mit Max konnte überhaupt nur eine Taxifahrt sein, bei der er sie zu Hause absetzte, um sich anschließend zu seiner eleganten Wohnung in Turtle Bay chauffieren zu lassen.

»Ich erkläre Ihnen gleich alles«, sagte Max. »Aber erzählen Sie mir …« Er fuchtelte mit der Zigarette herum. »Ich wusste gar nicht, dass Sie sich mit Depressionen befassen. Aber bevor Reed auftauchte, wusste ich ja auch nicht, wie Sie zur Ehe stehen.«

»So spricht ein wahrer Junggeselle«, sagte Kate, »im angemessenen Ton des Bedauerns. Aber Sie wissen ganz genau, dass Sie, wäre ich nicht verheiratet, niemals hier aufgetaucht wären, um mit mir ins finsterste Maine fahren zu wollen.«

»An die Küste«, sagte Max. »Nicht ins finsterste. Es ist wahr, mit verheirateten Frauen ist der Umgang angenehmer. Aber es gibt immer Ausnahmen. Sie sind eine davon.«

»Sie nicht. Mir ist aufgefallen, dass es viel mehr Spaß macht, mit Junggesellen essen zu gehen als mit verheirateten Männern – selbst wenn der Verheiratete ohne seine Frau käme, was jedoch selten der Fall ist. Warum, glauben Sie, hat das Verheiratetsein so erschreckende Auswirkungen auf die Gespräche, die Manieren und den Witz eines Mannes?«

»Weil Junggesellen sich ihr Abendessen mit ihrem Charme verdienen müssen.«

»Dummes Zeug. Sie könnten sich morgen von der Universität zurückziehen, ohne sich jemals das Abendessen egal wie verdienen zu müssen.«

»Mag sein. Reeds Art der Unterhaltung, seine Manieren und sein Witz sind mir sehr zufriedenstellend erschienen.«

»Mir auch, Gott sei Dank. Ich fahre von Zeit zu Zeit hierher, nicht um vor Reed zu flüchten, sondern vor mir selbst. Reed ist ein Wunder an Verständnis in diesen Dingen und hat mir dieses Refugium überlassen. Dennoch schreckt er nicht vor Intimität zurück, im Gegensatz zu Ihnen. Vielleicht ist der Witz der Junggesellen ein Schutzwall gegen die menschliche Natur. Wie wenig wir doch von den Menschen wissen.«

»Eine Tatsache, die ich stets und von ganzem Herzen begrüßt habe. Man kann schließlich mit einem Menschen von gleichem Geschmack und gleicher Intelligenz ein Gespräch führen, ohne sich gleichzeitig in die quälendsten Details seiner Psyche zu vertiefen.«

»Auf ein Gespräch bezogen, bin ich anderer Meinung, aber auf das Leben im Allgemeinen trifft das wohl zu. Deshalb bin ich ja hier: Um mich weder von den Dingen beherrschen zu lassen noch von den Erwartungen, die andere Leute an mich stellen.«

»Das habe ich verdient und bitte demütig um Vergebung.«

»Werden wir von hier bis Maine fahren, ohne unsere jeweilige Psyche wenigstens so weit erforscht zu haben, dass wir den Grund wissen? Vor allem, da wir mit meinem Wagen fahren sollen? Sie haben so etwas erwähnt.«

»Also, entweder mit Ihrem Wagen oder mit einem, den wir in der Stadt mieten. Wissen Sie, ich habe Reed nicht erzählt, dass ich hierherfahre. Er hat mir die Adresse nicht verraten, aber er hat mit Fassung getragen, dass ich sie ausfindig mache. Ich habe ihm die Sache mit Cecily erklärt.«

»Unsere Herzen, Reeds und meines, schlagen im gleichen Takt, aber wir stehen nicht in telepathischer Verbindung. Das sollten Sie jedenfalls nicht aus dem Fehlen eines Telefons schließen.«

»Strenge steht Ihnen, Kate. Besser als dieses schrecklich männliche und viel zu weite Hemd. Der große, gelassene, unerschütterliche Max Reston möchte Cecilys Haus nicht allein aufsuchen. Ich hoffe auf Ihr Erbarmen. Die Nachbarn dort oben meinen, es sei vielleicht eingebrochen worden. Als ihr literarischer Nachlassverwalter muss ich hin. Als Mensch jedoch bin ich zu feige, allein zu gehen. Ich brauche Sie sehr, und dahinter steckt meinerseits mehr Bewunderung als Leidenschaft. Würden Sie mitkommen? Jetzt gleich? Wir könnten die Nacht in einem ruhigen, zivilisierten Gasthaus in einer netten Stadt an der Küste verbringen, wenn Sie mir die Ehre erweisen.«

»Angenommen, diese Jeans und dieses riesige, männliche, unpassende Hemd wären meine einzigen Kleidungsstücke?«

»So leicht entwischen Sie mir nicht«, sagte Max. »Außerdem haben Sie vergessen, dass ich Ihre Erziehung kenne. Sie haben zumindest einen eleganten Hosenanzug in dem Schrank dort. Kate, meine Liebe, Sie sind dabei, sich meiner ewigen Dankbarkeit zu versichern. Ich werde Ihnen von Cartier ein herrliches Geschenk schicken lassen und mein Leben lang darauf warten, Ihnen eine ähnlich wunderbare Gefälligkeit erweisen zu können.«

»Sie können gleich damit anfangen«, sagte Kate, »indem Sie draußen rauchen, damit Ihnen das Rotwerden erspart bleibt. Ich habe nämlich nicht vor, meinen eleganten Hosenanzug im Badezimmer anzuziehen. Können Sie Auto fahren?«

»Leider nein«, sagte Max und begab sich mit einer Verbeugung nach draußen, als verließe er einen edwardianischen Salon in Belgravia. »Aber während Sie fahren, werde ich Ihnen mit Geschichten über Cecily die Zeit vertreiben.«

»Auch Cecily Hutchins, die berühmte Schriftstellerin, wollte allein sein«, sagte Max, während sie den Massachusetts Turnpike ansteuerten. »Ich glaube, wenn ich meine Vorstellungskraft ein wenig bemühe, kann ich das verstehen. Der Wunsch nach Einsamkeit ist begreiflich; sie hat allerdings verheerende Auswirkungen auf die Konversation: Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Einzelgänger buchstäblich überlaufen, wenn man ihnen begegnet? Ihr Redestrom will nicht enden. So groß ist der Druck der vielen Ideen, die sie so lange nicht loswerden konnten.«

»Das ist der Nachteil eines wirklich einsamen Landlebens«, sagte Kate, »aber damit habe ich ja nichts zu tun, wie Sie bemerkt haben werden. Jedenfalls nicht ständig. Ich verliere mich im hohen Gras und Dickicht nur gelegentlich am Wochenende und in den Semesterferien. Aber ich weiß, was Sie meinen. Natürlich kann jemand, der den Tag über mit vielen Leuten zu tun hat, an den Abenden und Wochenenden das Schweigen genießen, sich besinnen, Erfahrenes wiederentdecken, wenn er die Gabe hat, das Alleinsein zu schätzen. Das ist, hoffe ich, meine Art. Aber für die, die den ganzen Tag allein sind – wie es Cecily offenbar war –, könnte daraus ein Problem werden.«

»Natürlich gibt es Nachbarn, aber sie leben meistens in einer gewissen Entfernung und sind, eine Folge unserer Automobilkultur, nur per Wagen erreichbar.«

»Das könnten meine Worte sein. Aber eben diese Automobilkultur, wie Sie es nennen, bringt Sie in diesem Augenblick genau dorthin, wo Sie hinwollen.«

»Nur, weil es hier keine Züge gibt. Stellen Sie sich vor, wir hätten ein Abteil für uns, man servierte uns Tee oder Champagner, und wir schauten hinaus in die vorbeifliegende Landschaft, während die Räder dazu ihr beruhigendes Klick-Klack ratterten. Keine Frage, ich bin hundert Jahre zu spät geboren, in eine Zeit hinein, die alles zerstört, was mir etwas hätte bedeuten können.«

»Hat Cecily auch so empfunden? In dem Fall wäre es schon merkwürdig, dass sie überhaupt nach Amerika gekommen ist.«

»In Cecilys Leben gab es zwei Leidenschaften: Die eine galt Ricardo, ihrem Mann – es gehörte zu ihren besonders exzentrischen Einfällen, dass sie ihn stets beim Nachnamen rief –, die andere war das Meer. Nach Ricardos Tod blieb ihr nur noch das Meer. Ihr Haus liegt nicht direkt am Strand, wie die meisten in der Gegend. Es liegt etwas geschützt hinter einer Wiese. Man kann das Meer von den Fenstern aus sehen, nicht aber die felsige Küste. Man muss die Wiese überqueren, wenn man den Wellen zuschauen will, die unerbittlich gegen die Felsen schlagen. Durch ihre Wiese«, fügte Max mit einer gewissen Strenge hinzu, »führte stets ein kurz gemähter, ordentlicher Weg, von der Tür bis zum Meer. Sie konnte ohne das Meer nicht leben, aber sie sagte, wie in einer guten Ehe brauche man beides: Abstand und Nähe.«

»Ein Hoch auf Cecily. Warum haben Sie mir erst jetzt, da sie tot ist, erzählt, dass Sie sie kannten?«

»Ja, warum? Ich habe sie nur selten gesehen. Sie hatte in den letzten Jahren etwas von einer Einsiedlerin an sich und vergaß immer häufiger, wenn man sich angekündigt hatte. Dann gab es ein Stück vertrockneten Käse und ein Glas Wein als Mahlzeit. Der Wein war allerdings immer hervorragend«, fügte Max hinzu und wirkte dabei, als hätte er sich vorgenommen, stets Gerechtigkeit walten zu lassen. »Sie mochte in Maine Meilen von allem entfernt gelebt haben – in diesen eleganten Küstenregionen gibt es genug Geld, und soweit man Zivilisation kaufen kann, ist sie dort auch zu haben.«

Die höfliche Zurückhaltung, die Kate an Max immer so geschätzt hatte, ließ ihn nun in Schweigen fallen, während sie auf der Revere, der umstrittenen Umgehungsstraße von Boston, nach dem richtigen Weg suchte. Sie musste dazu mehrere Verkehrskreisel überwinden, die offenbar extra dazu angelegt waren, Autos in die entgegengesetzte Richtung zu lenken, um ihnen Gelegenheit für einen Frontalzusammenstoß zu bieten. Erleichtert stellte sie fest, dass kaum jemand außer ihr in Richtung Norden unterwegs war: Die anderen Verkehrsteilnehmer waren offensichtlich auf der Suche nach belebteren Gebieten. Als sie sicher die Route i erreicht hatte, über die sie zur Route 95 kommen würde, schweiften ihre Gedanken zu Cecily Hutchins. Ihr Tod war ein Schock gewesen, einmal, weil es keinerlei Vorwarnung gegeben hatte, keinen Hinweis auf eine Krankheit oder ein Nachlassen ihrer geistigen Kräfte, aber mehr noch, weil solch ein Verlust Kates ganzes Universum bis in die Grundfesten erschütterte. Cecily Hutchins war eine jener englischen Schriftstellerinnen gewesen, die der Aufmerksamkeit des Feuilletons und der akademischen Kritiker zu entgehen schienen oder sie mieden. Vielleicht war sie zu lesbar gewesen und zu feminin für die Zeit vor den Siebzigerjahren. Eine von jenen, für die der erste Krokus immer wieder ein Wunder war. Den Ruhm, wie er sich in Einladungen zu Talkshows im Fernsehen und Fototerminen für Hochglanzmagazine niederschlägt, hatte sie spät kennengelernt. Sie hatte damals ein Buch über das Alleinsein geschrieben, über ihr einsames Leben an der felsigen Küste von Maine. Aber sie hatte sich so vehement gegen aufdringliche Wissenschaftler und die Schmeicheleien der Medienwelt gewehrt, dass diese sich am Ende mit Klatschgeschichten über ihr fantastisches und mysteriöses Privatleben zufriedengeben mussten.

»Warum ist sie Ihrer Ansicht nach zum Sterben nach England heimgekehrt?«, fragte Kate.

»Ich glaube, der Tod hat sie dort überrascht«, sagte Max. »Sie ist nicht auf der Suche nach ihm in Englands grüne und liebliche Fluren zurückgekehrt. Was für ein romantischer Mensch Sie sind, Kate.«

»Sie war Mitte siebzig. Der Gedanke müsste ihr gekommen sein. Warum nicht den Tod an jener felsigen Küste erwarten, die man so geliebt hat?«

»Ich hoffe, Sie haben nicht vor, als Autorin romantischer Rührstücke zu reüssieren. Sollten Sie sich etwa diese primitive Hütte für einen derart ruchlosen Zweck ausgesucht haben?«

»Ach, Unsinn. Nach Ricardos Tod lebte sie weiter an der Küste von Maine und konnte es kaum ertragen, sie auch nur für einen Tag zu verlassen. Zumindest wird das in den Artikeln über sie behauptet. Wenn sie plötzlich beschloss, noch einmal nach England zu fahren, muss es dafür einen Grund gegeben haben.«

»Keinen sehr wichtigen. Sicher, ihr alter Hund war gestorben, und sie konnte unbeschwerter auf Reisen gehen. Cecily gehörte, ich muss das leider sagen, zu jenen Menschen, die sich bereitwillig an Lebewesen aus dem Tierreich binden, ein bedauerlicher, aber in England weitverbreiteter Fehler. Wenn Sie den oberflächlichsten Grund wissen wollen: Sie fuhr zur Hochzeit meines Neffen. Aber ich glaube keine Sekunde, dass das mehr als ein Vorwand war. Sie wollte England wiedersehen, und zufällig ist sie dann dort gestorben.«

»Sie waren nicht auf der Hochzeit Ihres Neffen?«

»Selbstverständlich nicht. Ich habe ihm ein Geschenk geschickt, das allerdings etwas zu extravagant war, und bin weiter meinen Pflichten nachgegangen. Schließlich kann man nicht seinen Universitätsposten verlassen, um auf der anderen Seite des Atlantiks Hochzeiten zu feiern, auch nicht, wenn Familienmitglieder involviert sind. Außerdem hätte ich wie verrückt hin- und herfliegen müssen, und ich fliege nur, wenn es unbedingt nötig ist. Mein Ruf als egozentrischer Exzentriker hat sich inzwischen zufriedenstellend etabliert, und man hat mir verziehen. Die meisten Menschen machen einen Fehler, liebe Kate, wenn sie generös erscheinen wollen. Ein unkluges Ziel. Hält man Sie erst einmal für einen egoistischen Menschen, verzeiht man Ihnen nicht nur eine Lebensführung, die in erster Linie ihrer eigenen Zufriedenheit gilt und bei jedem anderen als monströs gelten würde. Ein zufälliger Anfall von Großzügigkeit gilt dann außerdem fünfmal so viel wie die jahrelange Nettigkeit einer armen selbstlosen Seele. Man muss den Menschen vorsichtig beibringen, was sie von einem erwarten dürfen.«

»Ich weiß nicht, ob Sie ein finsterer Zyniker sind oder mir nur eine Rolle vorspielen.«

»Das ist eine spitzfindige Unterscheidung, meine Liebe. Zyniker ist der Name, den der Sentimentale dem Realisten gibt.«

»Cecily hat sich demnach mit Absicht einen Realisten als Testamentsvollstrecker ausgesucht. Ich hätte einen Optimisten für geeigneter gehalten, um ihren Ruhm zu mehren.«

»Cecily war eine intelligente Frau und daher in diesen Dingen eine Fatalistin. Wer am eigenen Ruf oder dem anderer herumbastelt, führt einen Kampf gegen die Uhr. Wer dagegen auf das Urteil der Geschichte vertraut, gibt sich in die Obhut der Stille und der langsamen Gangart. Um genau zu sein: Ich war der Sohn ihrer besten Freundin und entsprach in literarischen Dingen eher ihren Vorstellungen als ihre eigenen Kinder. Sie hat ihnen den größten Teil ihres Geldes schon vor ihrem Tod gegeben, und von dem, was jetzt noch übrig ist, bekommen sie auch den größten Teil. Ich habe nur mit den Papieren zu tun und irgendwann mit ihrer Biografie.«

»Hat sie sich eine Biografie gewünscht?«

»Nicht direkt, aber wäre das nicht das Beste, angesichts all der hungrigen Wissenschaftler und Verlage, die heutzutage wie die Fliegen um einen Leichnam schwirren? Ich jedenfalls werde sie beschützen. Sie wusste, dass sie da auf mich zählen kann. Und ich werde die Biografie schreiben, die sie verdient hat.«

»Und was kommt dabei für Sie heraus, außer einer Menge Arbeit?«

»Also wirklich, Kate, ich bin nicht so bar aller normalen menschlichen Tugenden, wie Sie vielleicht denken mögen. Ich mache nur keinen großen Wirbel darum. Ich mochte Cecily so sehr, wie meine Mutter sie mochte. Sie müssen kein Ungeheuer aus mir machen.«

»Verzeihung. Aber Sie haben selbst gesagt, eine ihrer Lebensregeln sei die Vermeidung persönlicher Verantwortung.«

»Vermeiden, nein, das ist das falsche Wort. Das erinnert an Steuererklärung. Ich akzeptiere die Aufgaben, die wirklich meine sind. Jetzt sagen Sie sich: ›Wie gefühllos er ist!‹ Aber ich bin’s nicht, verstehen Sie? Ich weigere mich nur, auf diese übliche gedankenlose Art vor Gefühlen überzuströmen. Haben Sie jemals erlebt, dass ich mich den Wünschen eines Freundes und Kollegen gegenüber unzugänglich gezeigt hätte?«

»Nein«, sagte Kate, »das habe ich nicht. Aber da ich eine ziemlich klare Vorstellung von Ihrer Persönlichkeit habe, waren meine Wünsche nie übermäßig groß.«

»Genau das meine ich. Aber gesetzt den Fall, ich wäre der einzige Mensch, der Ihnen helfen könnte – würden Sie dann nicht zu mir kommen, wie ich zu Ihnen gekommen bin? Und würden Sie nicht erwarten, dass ich Ihnen entgegenkomme – bereitwillig und freundlich?«

Kate starrte Max so lange an, dass sie, als ihr Blick auf die Straße zurückkehrte, das Steuer ziemlich heftig herumreißen musste, um wieder auf ihre Fahrbahn zu kommen. »Ja«, sagte sie. »Sie haben Recht, Max. Sie gehören zu den Menschen, denen ich vertraue, die ich respektiere und für die ich, was noch mehr ist, Zuneigung empfinde, obwohl ich nicht im Traum auf die Idee käme, mein Selbstmitleid an Ihrer Schulter auszuweinen. Ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Es stimmt.«

Sie fuhren eine Zeit lang schweigend weiter. »Natürlich«, sagte Kate nach ein paar Meilen, »weiß ich noch immer nicht, was wir dort an der felsigen Küste von Maine oder in Cecilys Haus zu finden hoffen.«

»Wir hoffen, dort alles an seinem Platz zu finden und nichts verändert. Ich muss sichergehen, dass all ihre Papiere in Ordnung sind und so weit vorbereitet, dass sie fortgeschafft werden können, wenn ich auch noch nicht weiß, welcher berühmten Bibliothek ich sie verkaufen werde. Aber ein Besuch dort ist unbedingt nötig. Die Nachbarn reden von Herumtreibern. Ich hoffe, dass es nicht so schlimm ist. Ihre Kinder sind gerade aus England zurück und haben mit ihren eigenen Angelegenheiten genug zu tun (ich möchte wetten, ihr Hochzeitsgeschenk war weniger extravagant als meines), und ihr Anwalt gibt dauernd telefonisch ermunternde Geräusche von sich. Ich wollte Sie, schon bevor ich wusste, dass ich Sie in Ihrer mysteriösen Fluchtburg aufstöbern muss, bitten, mitzukommen. Sie sind nicht nur eine gute Fahrerin, worauf ich gehofft hatte, sondern auch eine angenehme Gesellschaft. Man kann sich gut mit Ihnen unterhalten, und das wusste ich von vornherein. Ich habe vor, das Haus schnell, aber gründlich zu untersuchen. Dann möchte ich mit Ihnen gut essen und einen angenehmen Abend in dem Gasthaus verbringen. Morgen fahren wir ebenso angenehm zurück und berichten, dass alles in bester Ordnung ist. Übrigens, an wen sollte ich mich Ihrer Meinung nach wegen der Papiere wenden? An die Morgan- oder die Berg-Bibliothek? Oder an die von Yale, Harvard oder Wallingford? Ich persönlich neige zu Wallingford, aber in diesem Punkt bin ich, wie in allen anderen, durchaus aufgeschlossen. Wallingford ist berühmt für äußerste Diskretion, das spricht mich an.«

»Halten Sie sich fest«, sagte Kate. »Wir biegen hier ab. Jetzt müssen wir wahrscheinlich nach der Richtung fragen.«

»Ganz bestimmt. Ich bin selten hier gewesen, und das auch nicht in letzter Zeit. Ich konnte mir all die Feldwege mit den Toren, die jedes Mal geöffnet werden mussten, nie merken. Wir fragen am besten an der nächsten Tankstelle.«

Zwei

Die unbefestigten Straßen waren tatsächlich ein Problem. Sie führten teilweise durch Wälder, kreuzten sich und boten hin und wieder verlockende Ausblicke auf das Meer. Max und Kate hatten Glück gehabt, denn sie waren an der Tankstelle, an der sie gehalten hatten, um nach dem Weg zu fragen, auf einen Mechaniker getroffen, der sich auskannte. Max hatte sich, tüchtig wie er war, ein paar schnelle Notizen der komplizierten Schilderung gemacht.

»Sie werden schon merken, wenn Sie auf der richtigen Straße sind«, sagte der Tankwart. »Sie hat nämlich ein Eisentor installiert. Nicht dass sie das vor dem Tod bewahrt hätte«, fügte er philosophisch hinzu. »Sie müssen aussteigen, es öffnen, dann wieder aussteigen und es schließen, und dann … ja, dann fahren Sie immer weiter bis zum Haus.«

Sie waren den Notizen in Max’ ordentlicher Handschrift gefolgt. Max öffnete das Tor, ließ Kate durchfahren, schloss es wieder und stieg für die letzten Meter noch einmal in den Wagen. »Die Tore sollten offenbar zufällig vorbeikommende Leute abhalten, die vor allem im Sommer auf der Suche nach dem Meer sind. So, da wären wir.«