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Polarisierender Skandalautor, Klassiker der Weltliteratur, weltberühmter Dramatiker, österreichisches Phänomen: All das und noch viel mehr war Thomas Bernhard, dessen umfassende Biografie nun vorliegt. Der Thomas Bernhard-Experte Manfred Mittermayer fasst Leben und Werk des Autors in eine große Erzählung, die von Bernhards „Herkunftskomplex" - der Familie seines Großvaters Johannes Freumbichler- bis zu seinem frühen Tod nach jahrelanger Krankheit reicht. Differenziert zeichnet Mittermayer das vielschichtige öffentliche Erscheinungsbild, aber auch die privaten Lebensstationen nach und setzt die wesentlichen Prosawerke und Theaterstücke in Bezug zu einem Lebensweg, der untrennbar mit der Nachkriegsgeschichte verbunden ist.
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Seitenzahl: 765
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Manfred Mittermayer
Eine Biografie
Residenz Verlag
Bildnachweis
Archiv der Salzburger Festspiele: 45 (Foto: Karl Ellinger), 61, 63(Fotos: Hildegard Steinmetz), 67 (Foto Heinz Hosch), 68, 69 (Fotos Harry Weber);Archiv der Stadt Salzburg: 15, 16, 17, 18; 26, 27 (Fotos: Anny Madner);Archiv des Burgtheaters: 70;Fotoarchiv der Thomas Bernhard Nachlassverwaltung GmbH: 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 24, 25, 40, 42, 43, 45;Deutsches Theatermuseum München: 64, 65, 66 (Fotos: Abisag Tüllmann);Sepp Dreissinger: 30, 32 (Fotos: Johann Barth), 49, 52, 53, 55;Karl Ignaz Hennetmair: 41; Ernst Hinterholzer 58, 59;IMAGNO/Helmut Baar:28, 29; Barbara Klemm: 56; Privatbesitz Susanne Kuhn: 44;Österreichisches Theatermuseum/KHM (Foto Palffy): 62;Erika Schmied: 1, 60, 20, 30, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 47,48, 50, 51, 54;Seelackenmuseum St. Veit: 22; Helmut Teutsch 57; Kurt Urban: 14; Foto Votava: 71;Zentrum für Theaterforschung – Hamburger Theatersammlung: 60
Das Buch entstand im Auftrag der Ludwig Boltzmann Gesellschaftim Rahmen eines Forschungsprogramms des Ludwig BoltzmannInstituts für Geschichte und Theorie der Biographie.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2015 Residenz Verlag GmbHWien – Salzburg
www.residenzverlag.at
Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucksund das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Umschlaggestaltung, grafische Gestaltung: BoutiqueBrutal.comUmschlagbild: Peter WurstSchrift: MinionLektorat: Jessica BeerISBN 987 3 7017 4508 1
Für die Frau vom Freumbichlerweg
Als Thomas Bernhard am 12. Februar 1989 starb, war er – vor allem aufgrund der Aufregungen um sein Stück Heldenplatz (1988), die noch wenige Wochen zuvor das ganze Land bewegt hatten – in Österreich eine der umstrittensten Figuren des öffentlichen Lebens. Die Nachrufe, die in den in- und ausländischen Medien erschienen, spiegelten dieses Bild, enthielten jedoch auch andere Aspekte, aus denen sich ablesen ließ, dass hier das Leben einer vielschichtigen und durchaus widersprüchlichen Persönlichkeit zu Ende gegangen war.
Als »haßerfüllter Poet« wurde er von Wilhelm Sinkovicz in der Wiener Presse bezeichnet, als einer, der »aus dem Hinterhalt« stets »mit tonnenschwerer Vokabelmunition gegen alles vorgehen konnte, was ihm krankhaft, morbid, sinnentleert und ganz und gar widerwärtig erschien«; dazu hätten neben politischen Missständen auch alle Mechanismen des Zusammenlebens gehört, die sich unsere Gesellschaft zurechtgelegt habe.1 In der Neuen Zürcher Zeitung stand ebenfalls der Gesellschaftskritiker Bernhard im Zentrum. Hansres Jacobi warnte aber davor, das Bild des aggressiven Brachial-Literaten zu verabsolutieren: Gerade in Bernhards Werken der letzten Jahre seien sehr wohl »Spuren einer geheimen Zärtlichkeit« zu spüren gewesen. Darin sei die »innerste Liebe auch zu seinem Land« angeklungen, das er »so oft in Aufregung versetzt« habe.2
Karin Kathrein, die Bernhards Werk stets mit großer Sympathie publizistisch begleitet hatte, versuchte in der Welt, einen anderen Eindruck zu vermitteln, als er in Reaktion auf den Heldenplatz-Skandal in den Medien vorgeherrscht hatte: Um seine Heimat und die menschliche Existenz ertragen zu können, habe er sich »in den Zorn, in den Spott, in den Hohn« geflüchtet. In seinem Inneren sei er jedoch ein »Liebender« gewesen, »voll Schmerz und Trauer um das groteske Scheitern der Menschen«.3 Sigrid Löffler hingegen, die sich meist kritisch mit Bernhard auseinandergesetzt hatte, hob im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt vor allem die Ambivalenzen des Autors hervor: Der uneheliche Sohn einer »Hausgehilfin« habe gleichzeitig einen Hang zum – von ihm dennoch literarisch diffamierten – »Großbürgertum« gezeigt; er sei ein »konservativer Anarchist« gewesen, ein »Heimatdichter mit dem Negativblick auf Heimat und Natur«.4
Einer der wichtigsten Kritiker, vor allem in Bezug auf Bernhards Theaterstücke, war Benjamin Henrichs. In der Zeit rief er nochmals Bernhards Haltung in Erinnerung: »Seine Texte sind furiose Anklageschriften (auf der Strafbank: Österreich und die Welt)«; der Dichter habe »alle beschuldigt«. Im selben Atemzug habe er jedoch (wenn man genau hinhöre) »alle freigesprochen«. Seine Texte hätten nämlich »Verwünschung, Fluch und jüngstes Gericht« in »grandiose, naturnotwendig tröstende, manchmal sogar rettende Sprachmusik« verwandelt. Henrichs wies damit auf ein Phänomen hin, das bis heute andauert – die ungewöhnliche Zuneigung einer treuen Leserschaft zu einem der gleichzeitig meistgehassten Autoren der zeitgenössischen Literatur: »Wahrscheinlich war er (ausgerechnet er!) der am meisten geliebte Autor unserer Jahre.«5
Seit diesen Nachrufen hat man mehrfach versucht, sich im Rahmen jener Gattung mit Thomas Bernhard auseinanderzusetzen, die bekanntlich historisch aus der Totenrede hervorgegangen ist:6 der Biografie.7 1993 legte Hans Höller in der Reihe der »rowohlt monographien« die erste derartige Lebensbeschreibung des Autors vor – eine bahnbrechende und in vielem bis heute gültige Arbeit. 2000 folgte ein weiterer Band von ähnlichem Umfang, den Joachim Hoell für die Reihe »dtv-Porträts« verfasste. Dazwischen war 1995 unter dem Titel Chronologie die biografische Materialsammlung des französischen Germanisten Louis Huguet erschienen, die für jede Rekonstruktion von Bernhards Leben unverzichtbare Dokumentation einer jahrelangen, geradezu obsessiven Forschungstätigkeit. Die erste biografische Darstellung von deutlich größerem Umfang folgte 2001: Sie stammt von Gitta Honegger, die selbst als Übersetzerin von Bernhards Dramen ins amerikanische Englisch gewirkt hatte; ihr Band war zunächst für den US-amerikanischen Markt geschrieben (unter dem Titel Thomas Bernhard. The Making of an Austrian), wurde aber von der Autorin selbst auch ins Deutsche übertragen: Thomas Bernhard: »Was ist das für ein Narr?« (2003).
Der vorliegende Band baut auf diesen Arbeiten auf – ebenso wie auf einer Reihe weiterer Publikationen, die vor allem auf der Basis von Huguets Materialien entstanden sind. Zudem wurde 2002 mit der Errichtung eines Thomas-Bernhard-Archivs in Bernhards Wohn- und Sterbeort Gmunden eine beträchtliche Anzahl an Lebensdokumenten zugänglich, die den neuerlichen Versuch einer biografischen Darstellung sinnvoll erscheinen ließen. Rund um dieses Archiv entstand eine kleine Forschungsgemeinschaft, die vor allem mit den Germanistik-Instituten an den Universitäten Salzburg und Wien kooperierte; später kam das Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie hinzu, das zwischen 2005 und 2012, unterstützt von der Thomas Bernhard Privatstiftung, eine eigene Programmlinie zu Bernhard betrieb. Hauptstrang der gemeinsamen Arbeit war die Herausgabe einer 22-bändigen Leseausgabe der Werke Bernhards im Suhrkamp Verlag;8 vieles aus den dabei erarbeiteten Kommentaren zur Entstehungsgeschichte von Bernhards Texten ist in die vorliegende Biografie eingeflossen, ebenso wie Passagen aus einer Reihe von Einzelstudien, die ich in dieser Zeit veröffentlicht habe. Ohne die jahrelange freundschaftliche Zusammenarbeit mit Martin Huber, Bernhard Judex und Ursula De Santis im Archiv, aber auch mit Hans Höller, Renate Langer und Wendelin Schmidt-Dengler, dem 2008 viel zu früh verstorbenen Mentor all dieser Projekte, wäre diese Biografie nicht, was sie ist.
Was kann eine Thomas-Bernhard-Biografie von diesem Umfang leisten? Zunächst bietet sie eine Zusammenstellung der für das Leben Bernhards bedeutsamen Fakten – und deren Einordnung in eine Lebensgeschichte, die zwar nicht mehr dem im Mann ohne Eigenschaften des (von Bernhard geschätzten) Robert Musil ein für alle Mal verabschiedeten Modell vom simplen »Lebensfaden«9 folgen kann, aber dennoch in einzelnen, sich chronologisch immer wieder überlappenden und ergänzenden Kapiteln auch Entwicklungszusammenhänge erkennen lässt. Ausgehend davon soll nachgezeichnet werden, wie sich Bernhards künstlerische Persönlichkeit herausgebildet hat: So steht im Zentrum dieses Bandes der Versuch einer Darstellung, wie der Autor der komplizierten Ausgangssituation eines Lebens, das alles andere als durchschnittlich zu nennen ist und buchstäblich auch ein katastrophales Ende hätte nehmen können,10 eines der bemerkenswertesten literarischen Œuvres des späten 20. Jahrhunderts abgewinnen konnte.
Zahlreiche Informationen für diese Lebensbeschreibung liefert Bernhard selbst durch literarische Hinterlassenschaften, die über die genannten Lebensdokumente hinausgehen. Der Autor hat zwar sein Leben nicht, wie viele andere, durch Tagebücher oder genaue Aufzeichnungen der für seine persönliche Entwicklung oder seine Karriere entscheidenden Ereignisse dokumentiert. Seine privaten Briefe sind außerdem, soweit sie nicht bereits veröffentlicht wurden, durch die Entscheidung des Erben vorläufig nicht zitierbar. Bernhard hat jedoch eine ganze Reihe von autobiografischen Texten verfasst; was die Informationen zu einem beträchtlichen Teil seines Lebens betrifft, sind wir auf die Darstellung, die er darin unternommen hat, angewiesen. Dazu gehören vor allem die fünf Bände seiner Autobiografie, die im Residenz Verlag zwischen 1975 und 1982 erschienen sind, außerdem die Erzählung Wittgensteins Neffe (1982) sowie die postum erschienene Textsammlung Meine Preise (2009), die zu Beginn der 1980er Jahre entstanden sein dürfte.
Diese Texte werden mit all jener Vorsicht, die gegenüber jeglicher Selbstbeschreibung angebracht ist, für die Darstellung von Bernhards Leben herangezogen.11 Immer wieder haben sich die darin aufgestellten Behauptungen aufgrund der Forschungsarbeiten, die nach dem Tod des Autors durchgeführt wurden, als faktisch unrichtig erwiesen. Die darauf basierenden Richtigstellungen sind in dieser biografischen Erzählung berücksichtigt, sollen allerdings nicht im Zentrum stehen; sie sind anderswo, etwa bei Huguet, in aller Akribie nachzulesen. Die Nachzeichnung des Bildes, das Bernhard selbst von sich gegeben hat, die Art und Weise, wie er selbst wahrgenommen werden wollte, ist jedoch für eine Annäherung an seine Persönlichkeit aufschlussreich und wird deshalb ausführlich zitiert und kommentiert.
Zu den Selbstauskünften Bernhards – und damit dem Bild, das er selbst in der Öffentlichkeit von sich erzeugt hat – gehören zahlreiche Interviews, vor allem aber die drei Filme, die er zusammen mit Ferry Radax (1970) und Krista Fleischmann (1981, 1986) gestaltet hat. Auch für sie gilt wie für die autobiografischen Texte, dass darin das Element der Stilisierung nicht übersehen werden darf. »Jeder Tag war inszeniert«, ist ein erhellendes Gespräch mit Bernhards Halbbruder Peter Fabjan (2011) überschrieben; er habe »ununterbrochen gespielt«, erinnert sich der Lyriker Michael Guttenbrunner, mit dem den Autor eine jahrelange Bekanntschaft verband.12 Auch und gerade Bernhards Interviews sind nicht so sehr Bruchstücke einer großen Konfession, als vielmehr einer großen Inszenierung. Raimund Fellinger, der das Werk des Autors im Suhrkamp Verlag seit 1980 als Lektor betreute, hat dafür die passende Formel gefunden: »Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard«13
Nach Bernhards Tod haben zahlreiche ihm nahe stehende Personen in unterschiedlicher Form Aussagen an die Öffentlichkeit gebracht, aus denen sich ein teilweise heterogenes, in manchem aber auch recht kohärentes Bild von der Persönlichkeit des Autors ergibt. Zunächst wurden die mündlichen Statements aus der Fernsehdokumentation Thomas Bernhard – Eine Erinnerung (1992) zugänglich, die Krista Fleischmann zusammengestellt und auch als Buch veröffentlicht hat. Im selben Jahr erschien der Interview-Band von Maria Fialik: Der Charismatiker. Thomas Bernhard und die Freunde von einst. Das Spektrum der Einzelpublikationen reichte – neben Karl Ignaz Hennetmairs viel gelesenem Tagebuch Ein Jahr mit Thomas Bernhard – vom nüchternen Bericht des früheren Unterrichtsministers Herbert Moritz Thomas Bernhard. Vom Journalisten zum Dichter bis zu Seteais,14 einem sehr persönlich gehaltenen Brief Gerda Maletas an den Verstorbenen. Dazu kam 1999 der Band Zeugenfreundschaft von Rudolf Brändle, ein mit großer Empathie, aber gelegentlich auch aus kritischer Distanz verfasster Erinnerungsband, der manche Stilisierungen in Bernhards Autobiografie mit der eigenen Wahrnehmung kontrastiert. 2011 folgte Sepp Dreissingers Band Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard, 2014 erschien unter dem Titel Auersbergers wahre Geschichte eine Sammlung von alphabetisch gereihten Einzeltexten von Wieland Schmied.
Aus diesem reichhaltigen Angebot von Aussagen, die von den »Zeitzeugen« dieses Lebens im Verlauf der letzten Jahre gemacht wurden, wird sich die vorliegende Biografie ausgiebig bedienen. Dabei wird in der Regel nur aus Texten zitiert, die in gedruckter oder gefilmter Form öffentlich vorliegen, sowie aus Interviews und Statements, die von Bernhards Bekannten und Freunden tatsächlich autorisiert wurden. In einzelnen Fällen dienen Informationen aus Gesprächen, die ich selbst mit vielen der hier in den Zeugenstand Berufenen führen durfte, als Bestätigung oder Ergänzung der bereits publizierten Äußerungen. Auch wenn manche dieser Schilderungen mindestens genauso viel (oder noch mehr) über die Sprecherinnen und Sprecher verraten mögen wie über den Gegenstand ihrer Aussage, entsteht aus ihnen eine polyphone Erzählung, die Bernhards komplexer Persönlichkeit entspricht und in ihrer Widersprüchlichkeit viel von jener Faszination vermittelt, die der Autor auf seinen Bekanntenkreis ausübte.
Die hier unternommene Lebensbeschreibung Bernhards enthält immer wieder ausführliche Blicke auf sein Werk. Einerseits war für ihn die Entstehung seiner Prosatexte und Theaterstücke letztlich das Zentrum aller Lebensanstrengungen – »ich mache ja sonst nichts als schreiben«, sagte er zu Beginn seines autobiografischen Projekts in einem Interview (22/II.73f.). Andererseits gibt es kaum einen Autor, dessen Werk so deutlich auf sein Leben bezogen ist und der sich darin so sehr mit sich und seinen Erfahrungen auseinandersetzt. Gegenüber seinem Freund Hans Rochelt hat Bernhard insistiert, dass es ihn selbst gar nicht gebe, sondern nur sein Werk.15 Diese Aussage sollte insofern ernst genommen werden, als das Werk dieses Autors bei aller dichterischen Veränderung der darin gestalteten Realien zum öffentlichen Erscheinungsbild seiner Persönlichkeit gehört. Die Selbstdarstellung des Menschen Thomas Bernhard erfolgt wesentlich über die Literatur, die er schreibt und mit der er in der Öffentlichkeit buchstäblich zu existieren beginnt.
Bernhards Bücher sind wiederholt als Kommentare zur Arbeit von Biografen angelegt. Regelmäßig finden sich darin die Versuche einzelner Protagonisten, eine Lebensgeschichte zu rekonstruieren, ihre gegenwärtige Situation auf die für sie relevanten Entwicklungsprozesse zurückzuführen. »Die meisten Texte Bernhards handeln von einem biographischen Ereignis, das für das weitere Leben eines Protagonisten entscheidend gewesen ist«, fasst dies Christian Klug zusammen. Im Vordergrund stünden die »Fragen nach dem Sinn des gelebten Lebens und nach der Zufälligkeit oder Zwangsläufigkeit, mit der es abgelaufen ist«, nach seinem »inneren Zusammenhalt«.16 Den bemerkenswertesten Versuch der Annäherung an ein fremdes Leben enthält der Roman Korrektur (1975). Sein Protagonist Roithamer hat sich das Leben genommen; nun macht sich dessen Freund daran, die vielen ungeordneten Blätter, aus denen sein Nachlass besteht, zu »sichten« und zu »ordnen«. Es gelingt ihm freilich nicht, diese Ordnung herzustellen; schließlich wirft er verzweifelt alle Papiere, die ihm Roithamer hinterlassen hat, auf einen Haufen, nur um zu erkennen, dass er sie damit »vollkommen durcheinandergebracht« hat, sodass sie »niemehr zusammengebracht werden« können (4/161).
Mitten in jener Schaffensphase, in der Bernhards Autobiografie entsteht, berichtet der Autor in seiner Erzählung Die Billigesser (1978) auf geradezu parodistische Weise von einem weiteren Versuch der Lebens-Rekonstruktion. Der Protagonist dieses Buches, ein typisch Bernhard’scher »Geistesmensch« namens Koller, ist durch einen Hundebiss und die darauf folgende Amputation eines Beines aus seiner »Lebenslaufbahn herausgerissen« worden. Nun hat er sich ein »mathematisches Denken erarbeitet« (13/133), mit dem er die einzelnen Details seines Lebens in einen sinnvollen Zusammenhang integriert. Damit macht Bernhard in der ironischen Überzeichnung das Vorgehen des biografischen Handwerks deutlich: die Verwandlung von »zurückgebliebenen Resten« in einen »Wirkungszusammenhang«.17 Das Scheitern des Ich-Erzählers von Korrektur am Nachlass seines Freundes Roithamer lässt erkennen, wie skeptisch Bernhard die Möglichkeit einer Annäherung an die schriftlichen Hinterlassenschaften eines Menschen einschätzte. Das traditionelle Konzept einer Lebensgeschichte als »kohärente Erzählung einer signifikanten und auf etwas zulaufenden Folge von Ereignissen« stellt sich als jene »biographische Illusion« heraus, auf die Pierre Bourdieu in seinem viel beachteten Essay hinweist.18
Wenn Bernhards Literatur in diesem Band besprochen wird, so geht es dabei vor allem um ihren Platz in seinem Leben, um die Art und Weise, wie sie daraus hervorgeht – und natürlich auch darauf reagiert. Auf keinen Fall soll eine Erklärung dieser Texte aus der Biografie vorgeschlagen werden. Die dafür gültige Formel muss lauten: Bernhards Literatur ist ohne Bezugnahme auf die Biografie nicht zu verstehen – Bernhards Literatur jedoch ist aus seiner Biografie nicht zu erklären. In diesem Sinne werden hauptsächlich Themen angesprochen, die für die biografische Darstellung von Belang sind. Dazu gehört natürlich die intensive Auseinandersetzung des Autors mit seinem historisch-politischen Umfeld, die für seine Wirkung von entscheidender Bedeutung war. Dabei sind Inhalt und Absicht dieser Provokation zu untersuchen, aber auch ihre Genese – nicht als generalstabsmäßig angelegte Interventionen, sondern zunächst als (in dieser Dimension) unbeabsichtigte Irritationen der überraschten Öffentlichkeit. Rudolf Brändle, sein »Kapellmeisterfreund« aus Sanatoriumszeiten, bemerkt dazu, sein Freund sei ihm oft vorgekommen »wie ein Kind, das alles mögliche anstellt und sich dann wundert, daß es nicht alle lieben«.19 Allerdings lernte Bernhard mit den Jahren, souveräner auf diese Konfliktsituationen zu reagieren und mit kritischen Reaktionen umzugehen – und zeigte sich dennoch immer wieder zutiefst von diesen verletzt.
Eine ganze Reihe dieser Themen lässt sich von den lebensgeschichtlichen Erfahrungen des Autors nicht trennen: etwa die Sehnsucht nach Anerkennung durch die anderen, das Streben nach Ruhm, mit allen Peinlichkeiten, die Bernhard in einigen seiner Komödien durchaus selbstbezüglich untersucht hat; dazu das Problem der Integration des Einzelnen in eine Gemeinschaft – und der Ausgrenzung des Außenseiters, mit allen damit verbundenen Verletzungen. Ein weiteres, vielleicht bisher zu wenig beachtetes Thema ist die Frage nach dem einen Menschen, der ideal für einen anderen geeignet zu sein scheint; überhaupt ist darauf hinzuweisen, wie oft es bei Bernhard, den man (zu Recht) hauptsächlich als Gestalter der Vereinzelung und des Monologischen wahrgenommen hat, um menschliche Beziehungen geht. Gezeigt wird aber auch, wie sehr Bernhard die schriftliche Darstellung seines Lebens, seine Auto-Biografie, im fiktionalen Raum vorbereitet hat, indem er ähnliche Konstellationen, Aussagen und Ereignisse auf dem Umweg über erfundene Figuren seiner Literatur durchgespielt hat, als müsste er ihre Niederschrift auf diese Weise erst erproben. Das heißt immerhin, dass die Relation zwischen Lebensgeschichte und Literatur auch umgekehrt gesehen werden kann: Zuerst erfolgt die literarische Formulierung von Erzählmustern, die dann als autobiografisch ausgewiesen werden.20 Bedeutet das also, dass die fiktionalen Texte auf einer realen Basis beruhen, oder dass die autobiografischen Texte stark fiktionale Elemente enthalten?
Wie kein anderes inhaltliches Element zieht sich die Auseinandersetzung mit dem Großvater Johannes Freumbichler durch Bernhards Werk – in aller Faszination für einen unbeirrbaren Außenseiter, aber auch in zunehmender Erkenntnis der verhängnisvollen Folgen eines solchen Lebensmodells. Das alles sei »in den Büchern« wiederzufinden, »diese Figuren, Männerfiguren, das ist immer wieder mein Großvater, mütterlicherseits«, vereinfacht Bernhard im Filmmonolog Drei Tage das Konstruktionsprinzip seiner Protagonisten (22/II.55) – und gibt dennoch einen entscheidenden Aspekt seines Schreibens preis. Von der irrealen Vorstellung besessen, ein berühmter, weltweit gelesener Schriftsteller zu werden, schart hier ein charismatischer Einzelgänger seine gesamte Familie um sich, in einem sozialen Gefüge, das auf erstaunliche Weise die Struktur totalitärer Sekten widerspiegelt – eine »Verschwörung« gegen die ungeistige Umgebung, mit einem philosophischen Lehrer im Zentrum, der »keinen Widerspruch duldet«21 und die anderen kompromisslos seinem Lebenskonzept unterordnet.22 Der Enkel löst sich – nicht zuletzt durch den Tod des Großvaters – aus dieser familiären Zwangsgemeinschaft und geht, sich gleichwohl lebenslang daran abarbeitend, beharrlich »in die entgegengesetzte Richtung« (10/114).
Bernhard hat immer betont, dass ihm das »Wie« wichtiger sei als das »Was«: »Ich würde sagen, es ist eine Frage des Rhythmus und hat viel mit Musik zu tun«, sagt er im Interview mit dem französischen Journalisten Jean-Louis de Rambures. »Ja, was ich schreibe, kann man nur verstehen, wenn man sich klarmacht, daß zuallererst die musikalische Komponente zählt und daß erst an zweiter Stelle das kommt, was ich erzähle.« (22/II.250) In diesem Sinn ist die Funktion der Realitätssplitter in seinen Texten als Material für den kunstvoll arrangierten Sprachstrom zu sehen. Krista Fleischmann notiert während der Vorbereitungen zu einem ihrer Fernsehinterviews die Bemerkung Bernhards: »Mir geht es um Kunst, um eine sogenannte musikalische Form, was immer das ist. Alles andere interessiert mich im Grunde überhaupt nicht. Ich erfinde ja nichts, ich glaube, ich habe in meinen Büchern noch nie etwas erfunden, verändert – ja, erfunden – nein.«23 Auch Bernhards Figuren sind nicht mit ihrem Autor zu identifizieren. Aber sie sprechen und denken zu einem großen Teil wie er, wie man schon früh bemerkt hat. »Jede Made läuft aus meinem Munde«, sagt er provokant zu einer Journalistin, als er zum Skandal um Heldenplatz Stellung nimmt.24 Gleichzeitig betont er immer wieder, etwa im Zusammenhang mit der Beschlagnahme des Romans Holzfällen, den Unterschied zwischen Wirklichkeit und literarischer Fiktion.
Eines der Bilder, das sich für die Wahrnehmung seiner künstlerischen Persönlichkeit eingebürgert hat, ist jenes vom »Fallensteller« – einer Person, der nicht zu trauen ist, weil sie nie dort zu fassen ist, wo man sie zu orten meint; wie so viele Begriffe, die man auf Bernhard angewandt hat, stammt auch dieser aus seinem Werk: »Theatermacher / Fallensteller schon sehr früh«, charakterisiert sich der Schauspieler Bruscon in der Komödie Der Theatermacher selbst (19/114). Damit ist auch die viel zitierte Ironie angesprochen, mit der Bernhard seine Figuren das sagen lässt, was er selbst andernorts selbst ähnlich artikuliert, wobei er die Gültigkeit des Gesagten aber in seiner Literatur durch den Kontext der Aussage oft wieder ins Wanken bringt. Vielleicht sind bei seinen Äußerungen (und denen seiner Figuren) die Regeln eines Spiels mitzudenken, die es zulassen, dass ein sich lebenslang gefährdet Fühlender zwar radikale Aussagen treffen, sich aber gleichzeitig immer wieder in Sicherheit bringen kann. Bernhards Ironie ermöglicht ihm, die Position des Überlegenen einzunehmen – einem Menschen, der sich lange Zeit als prinzipiell unterlegen erleben musste und erst allmählich die Kontrolle über die von ihm existierenden Bilder erlangte; der stets kommunizieren, aber für die Inhalte seiner Kommunikation nicht bis zum Letzten belangt werden wollte.
Nicht vergessen werden soll zuletzt eine weitere Ebene, die in die Nachzeichnung des Lebens von Thomas Bernhard eingeflochten ist: die Reaktionen auf sein Werk in öffentlichen Medien, vor allem in der Literaturkritik, aber auch die umfangreiche Wirkung, die er mit seinem Werk gerade jenseits der Grenzen des deutschen Sprachraums ausgelöst hat. Dazu gehören die großen Diskussionen über sein Werk und seine ästhetische Haltung, etwa über seine Position als Autor innerhalb der politisierten Landschaft der frühen 1970er Jahre, oder die Auseinandersetzungen um sein Stück Heldenplatz. Aus dieser – notwendigerweise rudimentären – Durchsicht wichtiger Positionen in der Wahrnehmung des Literaten Bernhard ergibt sich immerhin eine kleine Sammlung von Vorschlägen, wie man sich diesem Werk annähern und wie man es verstehen könnte. Außerdem fällt im Rückblick auf, wie viele bedenkenswerte und hellsichtige Charakterisierungsversuche es schon sehr früh auch aus dem Bereich der Zeitungskritik gegeben hat.
Bleibt die Frage, was so viele Menschen bis heute für Thomas Bernhard begeistert – eine Frage, auf die in diesem Band nur ansatzweise Antworten versucht werden können. Ist es der unverkennbare Sound, die Kraft seiner Sprache, die Fähigkeit, eine ganz eigene Ausdrucksweise und wiedererkennbare Formulierungen zu prägen? Ist es die Radikalität seiner Themen, seiner Meinungen und Haltungen? Fasziniert die Tatsache, dass hier jemand – zwar immer wieder ironisch gebrochen, aber mit zumindest auf den ersten Blick klaren Positionen – doch so etwas wie eine Lehre zu vermitteln scheint?25 Vielleicht ist es auch jene Wirkung der Bernhard-Lektüre, die der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk beschreibt: »Was war es, das mir, während ich in diesen Tagen der Depression Bernhard las, wie ein Heilmittel erschien? Eine Art Verzichtbereitschaft vielleicht. Eine moralische Instanz, die mir weise andeuten wollte, vom Leben nicht so viel zu erwarten ... Vielleicht auch nichts Moralisches: dieser echte Zorn, der den Menschen spüren lässt, dass es zu seinem Besten sei, wenn er sich selbst, seinen Gewohnheiten und seinen Wutanfällen treu bliebe.«26
Anmerkungen
1 Wilhelm Sinkovicz: Themen, »vor welchen sich die ganze Welt fürchtet«. In: Die Presse, 17.2.1989.
2 haj.: Heilsamer Unruhestifter. In: Neue Zürcher Zeitung, 17.2.1989.
3 Karin Kathrein: »So lange man lebt, saust man im freien Fall«. In: Die Welt, 17.2.1989.
4 Sigrid Löffler: Der lange Weg nach Grinzing. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 24.2.1989.
5 Benjamin Henrichs: Der Triumph des Untergehers. Thomas Bernhard ist tot – es lebe Thomas Bernhard. In: Die Zeit, 24.2.1989.
6 Vgl. Jan Romein: Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik. Bern: Francke 1948 (=Sammlung Dalp 59).
7 Vgl. zum Forschungsstand – und damit zum theoretischen Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit: Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002; Bernhard Fetz (Hg.): Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin, New York: de Gruyter 2009.
8 Herausgeber: Wendelin Schmidt-Dengler und Martin Huber; weitere Bandherausgeber: Wolfram Bayer, Hans Höller, Bernhard Judex, Renate Langer, Jean-Marie Winkler, der Verfasser der vorliegenden Biografie sowie Raimund Fellinger, der die Edition auch als Lektor im Verlag betreute. Eine weitere wichtige Quelle für die Biografie bildet die aus dem Thomas-Bernhard-Archiv heraus entstandene Edition des Briefwechsels zwischen Bernhard und seinem Verleger Siegfried Unseld durch Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer (2009).
9 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 650.
10 Bernhards Bemerkung gegenüber Jeannie Ebner: »Wenn ich nicht schreiben tät, so wäre aus mir ein Verbrecher geworden, vielleicht sogar ein Mörder!«, war in diesem Sinn vielleicht nicht nur so daher gesagt; zit. nach Maria Fialik: Der Charismatiker. Thomas Bernhard und die Freunde von einst. Wien: Löcker 1992, S. 46.
11 Ein kleines Resultat der intensiven Beschäftigung mit dem Genre der Autobiografie im Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie ist mein Beitrag: Die Autobiographie im Kontext der ›Life-Writing‹-Genres. In: Fetz: Die Biographie, S. 69–101.
12 Michael Guttenbrunner, zit. nach Maria Fialik: Thomas Bernhard. Das Theatrale in Leben und Werk oder »Solche Menschen muß ein Mensch haben«. Ein Leben rekonstruiert aus Briefen und Gesprächen, Phil. Diss. Wien 1997, Bd. 2, S. 33.
13 Raimund Fellinger: »Antworten sind immer falsch«. Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard. In: Begleitheft zur DVD-Edition der Filme mit Thomas Bernhard: Eine Herausforderung: Monologe auf Mallorca und Ein Widerspruch. Die Ursache bin ich selbst, filmedition suhrkamp, S. 4–37.
14 Der Name eines Hotels in Bernhards portugiesischem Urlaubsort Sintra.
15 Thomas Bernhard an Hans Rochelt, 13.9.1967, zit. nach Fialik: Das Theatrale …, Bd. 3, S. 73: »Kurz: es gibt meine Arbeit, aber es gibt mich nicht, nein, nicht, niemals, nie!«
16 Christian Klug: Thomas Bernhards Theaterstücke. Stuttgart, Weimar: Metzler 1991, S. 112.
17 Sigrid Weigel: Die Gattung der Biographie – Hinterlassenschaften zwischen Fragment, Zusammenhang und Korrespondenzen. In: dies.: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München: Fink 2006, S. 163–174, hier S. 168f.
18 Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 75–83, hier S. 77.
19 Rudolf Brändle: Zeugenfreundschaft. Erinnerungen an Thomas Bernhard. Salzburg, Wien: Residenz 1999, S. 48f.
20 Eine ähnliche Konstellation untersucht Peter André Alt im Zusammenhang mit seiner Kafka-Biografie; vgl. ders.: Mode ohne Methode? Überlegungen zu einer Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographie. In: Klein: Grundlagen der Biographik, S. 23–39, hier S. 23f.: Demnach wären Leben und Werk »in ihrer Wechselbeziehung« und nicht als Pole eines Ableitungsverhältnisses zu sehen; das Leben könne »Konfigurationen des Werkes begründen, initiieren, motivieren«, es könne aber durchaus auch welche »aufgreifen und nachahmen«.
21 Formulierungen, die in Bernhards Werk auffällig wiederkehren; Beispiele aus den Dramen: 16/53, 17/63 u. 318, 18/41 u. 69 (»Verschwörung«), 15/303, 18/22, 20/246 (»Widerspruch«).
22 Vgl. dazu Hugo Stamm: Sekten – im Bann von Sucht und Macht. Zürich: Kreuz 1995, S. 125–128.
23 Zit. nach Komm. 4/138–140.
24 Conny Bischofberger und Heinz Sichrovsky: Bernhard bricht sein Schweigen. Extra zum Skandal – das große Interview. In: Basta, 26.10.1988, zit. nach Heldenplatz. Eine Dokumentation. Hg. vom Burgtheater Wien. Wien 1989, S. 159.
25 Wir werden über die vielen »Wir«-Sätze zu reden haben, die vor allem in den späteren Texten prinzipiell formulierte Aussagen über die Welt und die Existenz transportieren.
26 Orhan Pamuk: Der Koffer meines Vaters. München: Hanser 2010, zit. nach Volltext 1/2010, S. 19.
(Johannes Freumbichler)
»Mein Großvater entstammte einer Bauern-, Krämer- und Gastwirtefamilie«, schreibt Thomas Bernhard in seinem autobiografischen Band Ein Kind (1982); »sein Vater hatte erst mit zwanzig Jahren mühselig angefangen zu schreiben und an seinen Vater aus der Festung Cattaro einen Brief geschrieben, von dem er behauptete, er sei von seiner Hand, was mein Großvater immer anzweifelte« (10/432). Damit weist Bernhard mit Nachdruck auf die ländliche Herkunft seines Großvaters Johannes Freumbichler – und damit auf seine eigene – hin. Gleichzeitig macht er deutlich, welcher kulturelle Sprung sich innerhalb der vier Generationen zwischen seinem Urgroßvater und ihm vollzogen hat: von der Alphabetisierung über den Erwerb der Autorschaft bis hin zur Etablierung im Kontext der Weltliteratur. Schon seinem Großvater sei, so Bernhard, das Ausmaß der zurückgelegten Entwicklung bewusst gewesen: »Schopenhauer, Nietzsche, ich wußte gar nicht, daß es so etwas gibt«, zitiert er Freumbichler in Ein Kind. »Mein Vater konnte nicht einmal rechtschreiben, meinte er oft voll Stolz. Und ich entwarf Romane, Riesenromane.« (10/438)
Freumbichlers Vater tritt in Bernhards Werk bereits viel früher in Erscheinung. »Mein Urgroßvater war Schmalzhändler / und heute / kennt ihn noch jeder / zwischen Henndorf und Thalgau, / Seekirchen und Köstendorf«, beginnt eines der einleitenden Gedichte des Lyrikbands Auf der Erde und in der Hölle (1957). »1881, im Frühjahr, / entschied er sich für das Leben«, heißt es wenige Zeilen danach, »seine Frau, Maria, die mit dem schwarzen Band, / schenkte ihm weitere tausend Jahre.«1 Die Entscheidung »für das Leben« fällt mit dem Geburtsjahr von Bernhards Großvater zusammen: Am 22. Oktober 1881 wird Johannes Freumbichler in Henndorf am Wallersee, etwa 15 Kilometer nördlich von Salzburg, geboren. Sein Vater Joseph Freumbichler (1830–1909), der »Schmalzsepp«, lebt dort als erfolgreicher Händler von Butter und Schmalz, der seine Produkte nicht nur nach Salzburg, sondern zeitweise auch auf den Wiener Naschmarkt liefert.
Er ist seinerseits der Sohn von Michael Friembichler (1808–1882) aus Steindorf bei Straßwalchen, der im Alter von 21 Jahren die um acht Jahre ältere Bauerntochter Anna Rutziger heiratet und sich 1852 durch Erwerb der beiden Heisinggüter Berg 21 und 22 in der Nähe von Henndorf ansiedelt. Der Name findet sich in den diversen Urkunden in unterschiedlichen Schreibweisen – »Freunbichler« (so heißt Bernhards Großvater im Taufbuch), »Freinbichler«, »Freumbüchler« oder »Friembichler«. Der Großvater selbst leitet seinen Familiennamen von mhd. »friema«, d. i. »anschaffen«, und »Büheler«, d. i. »Bergler«, ab, also »der auf dem Berge wohnende Anschaffer«.2 Da nach dem Erbrecht der Region nicht der älteste, sondern der jüngste Sohn den Hof erbt, muss Joseph, der Erstgeborene, das väterliche Gut verlassen; er hat einen jüngeren Bruder, der wie der Vater Michael heißt.
Thomas Bernhards Urgroßvater Joseph Freumbichler tritt 1850 in die k. k. Armee ein und dient bis 1858 u. a. als Kanonier in Dalmatien, wobei er vermutlich bis vor Cattaro (Kotor) gelangt. Drei Briefe sind von ihm überliefert; es ist davon auszugehen, dass er sie einem Kameraden diktiert hat. Sein Sohn Johannes verwendet die Erinnerungen des Vaters als Basis für seinen unveröffentlichten Roman Ljubica (= Die Perlenstickerin von Cattaro oder Das Wunder vom Orangenbaum); er schildert darin das Soldatenleben in Dalmatien recht idyllisch wie einen »Erholungsurlaub junger Salzburger Bauernburschen unter südlicher Sonne, gewürzt mit einer Liebesbekanntschaft«.3 1863 heiratet Joseph Freumbichler die um acht Jahre ältere Bauerntochter Katharina Haigerer – er wiederholt somit das Heiratsmuster seines Vaters und erwirbt durch die Eheschließung ein kleines Haus als Basis für die junge Familie.4 Katharina Haigerer stirbt jedoch schon 1873; nur sieben Wochen später heiratet er die um 13 Jahre jüngere Bauerntochter Maria Langer (1843–1920), die ihm vier Kinder schenken wird: Maria, Rudolf, Rosina und Johannes. 1888, also bereits sieben Jahre später, wird das Geburtshaus der Kinder unterhalb der Henndorfer Kirche verkauft und das größere »Binderhaus« (Nr. 68) erworben, wo eine Viktualienhandlung entsteht.
Johannes entwickelt zu seiner Mutter, die ihn über viele Jahre bis zu ihrem Tod immer wieder unterstützt, eine sehr enge Beziehung; den Vater behält er als arbeitsame, aber dem Alkohol zugeneigte Persönlichkeit in Erinnerung. Jahre später notiert er unter dem Titel Biographisches Überlegungen zu den Ursachen für seine eigene psychische Konstitution, die er als äußerst labil wahrnimmt. »Wir waren außer der Schulzeit ganz frei, die Eltern hatten zu tun und kümmerten sich nicht um uns«, schreibt er. »Was mir am meisten gefehlt hat, war die liebevoll leitende, verständnisvolle Hand. Die beiden Alten liebten mich über alles, aber sie standen auf so niedriger Bildungsstufe, daß sie nichts tun konnten.«5 Auf die Trunksucht des Vaters reagiert Johannes mit einer starken Abneigung gegen alle Unmäßigkeit und mit nachdrücklichen Ermahnungen zur Enthaltsamkeit.
In seiner Autobiografie stellt Bernhard die Familie seines Großvaters als eine Ansammlung von Menschen dar, die großteils vor dem elterlichen »Einkauf-Verkaufsdenken« geflüchtet seien, weil es »auf nichts anderes hinauslief als auf eine reine Vermögensansammlung«. Schon Johannes’ ältere Schwester Marie (wie sie in der Familie heißt) habe diesen »stupiden Mechanismus als eine Zumutung durchschaut und in jungen Jahren einen sogenannten Kunstmaler aus Eger geheiratet, der später in Mexiko eine Berühmtheit geworden ist, von welcher heute noch die großen Zeitungen in ihren Kunstspalten schreiben«; ihre Tochter sei »jahrzehntelang durch den Orient« gezogen, »von Pascha zu Pascha, von Scheich zu Scheich, von Bei zu Bei« (10/432). Die Wirklichkeit ist weniger glamourös: Marie Freumbichler (1875–1952) heiratet 1898 den aus Wien stammenden Maler Ferdinand Russ (geb. 1872) und bekommt von ihm zwei Kinder: die Tochter Fernanda (1899–1979), die als Sängerin und Tänzerin in Varietés auftritt und vorübergehend mit dem Türken Said Edip Bei verheiratet ist, außerdem den Sohn Kaspar Roland (1900–1982), der ebenfalls Kunstmaler wird. Die ständig verschuldete Familie übersiedelt 1901 nach Wien, 1904 emigriert Ferdinand Russ nach Brasilien, wo sich seine Spuren für immer verlieren. Marie verdient den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder durch den Betrieb einer Kantine; ihre nationalsozialistische Gesinnung ist Anlass für heftige Konflikte mit ihrem Bruder Johannes.6
»Ein älterer Bruder meines Großvaters, Rudolf, hatte Zuflucht im Forst gesucht und als Förster der gräflich uiberackerischen Waldungen rund um den Waller- und den Mondsee Selbstmord begangen mit zweiunddreißig«, heißt es weiter in Ein Kind. »Immerhin, weil er ›das Unglück der Welt nicht länger ertragen‹ hatte können, wie er auf einem handgeschriebenen Zettel vermerkte« (10/433). Rudolf (1876–1902) war zunächst als Erbe des elterlichen Geschäfts vorgesehen gewesen. Doch der sensible junge Mann zieht ein Leben in der Natur der Gesellschaft der Menschen vor, schreibt Notiz- und Tagebücher wie sein Bruder Johannes und will Jäger und Förster werden. Als er keine Anstellung findet, erschießt er sich auf dem Zifanken, einem Berg nahe Henndorf, auch der zitierte Abschiedsbrief ist erhalten.7 Bernhard spielt gleich mehrfach auf dieses Schicksal an, nicht nur im autobiografischen, sondern auch im fiktionalen Teil seines Werks (Korrektur, Der Stimmenimitator).
Rosina Freumbichler (1878–1943), die Drittgeborene, bleibt als Einzige im Dorf. Zunächst unterstützt sie ihre Mutter bei der Haushaltsführung, 1908 übernimmt sie die Gemischtwarenhandlung der Eltern; später kommt die Vermietung von Zimmern hinzu – Henndorf profitiert zunehmend vom Ausbau des Fremdenverkehrs. Bernhard nennt seine »Tante Rosina« ein »richtiges Kind der Idylle, unfähig, auch nur zehn Kilometer aus Henndorf wegzureisen«; sie sei im ganzen Leben »niemals in Wien, aber wahrscheinlich auch niemals in Salzburg gewesen«, er habe sie aber schon im Kindesalter als »Regentin ihres Einkaufs- und Verkaufsimperiums« bewundert (10/432f.). Sie heiratet Joseph Schlager, der ebenfalls dem Alkohol zuneigt, und ist nach ihrer Mutter und der Schwester Marie eine weitere der starken, lebenstüchtigen Frauen aus der Familie Freumbichler.
Johannes Freumbichler absolviert die letzten Jahre seiner Schulpflicht bereits in Salzburg: an der Allgemeinen Volks- und I. Bürgerschule in der Haydnstraße, wo auch sein Enkel Thomas Bernhard hingehen wird. Ab 1895 besucht Freumbichler die k.k. Staats-Oberrealschule in Salzburg am Hanuschplatz; er wohnt damals (wie später auch Bernhard) im Katholischen Schülerheim, Schrannengasse 4. Doch 1902 bricht Johannes den Schulbesuch ein halbes Jahr vor der Reifeprüfung ab; sein Freiheitsdrang und das Leiden unter der autoritären Lehrerschaft mögen daran beteiligt gewesen sein. Vergeblich versucht er, in eine k.u.k. Kadettenanstalt einzutreten und Offizier zu werden; die Bewerbung scheitert an seiner Kurzsichtigkeit. Noch im selben Jahr meldet er sich am Technikum, der heutigen Ingenieursschule für Papier- und Verpackungstechnik, in Altenburg (Sachsen) an, 1903 am Thüringischen Technikum, der heutigen Technischen Hochschule, in Ilmenau; das offiziell angestrebte Studium der Elektrotechnik dürfte Freumbichler freilich nie ernsthaft betrieben haben.
Von Ilmenau aus beginnt Johannes Freumbichler einen Briefwechsel mit einer jungen Frau, die sich aus den Ketten einer unglücklichen Ehe befreien möchte: Bernhards späterer Großmutter Anna. Im autobiografischen Band Die Ursache (1975) erweckt Bernhard den Eindruck, er stamme zumindest teilweise aus dem wohlhabenden Salzburger Bürgertum – ein Hang zur Selbstvergrößerung, dem er in seinen Darstellungen wiederholt nachgibt. Seine Großmutter sei die »Tochter einer großbürgerlichen Salzburger Familie, deren Verwandte überall in der Stadt ihre alten stattlichen Häuser hatten und haben«, ihre Eltern seien ein »Großhändlerpaar« gewesen (10/91). Anna wird am 20. Juni 1878 als uneheliche Tochter von Maria Schönberg (1842–1925) und Johann Pichler (1843–1926) geboren; erst 1886, sechs Jahre nach der Heirat der Eltern, wird sie als Anna Pichler legitimiert. Marias Vater Johann Schönberg (1793–1881) ist im niedrigen Staatsdienst beschäftigt. 1826 heiratet er die Maurerstochter Theresia Sonnleitner (1806–1881) und wird 1840 von Ried/Innkreis nach St. Radegund versetzt (der Name des Ortes taucht in Bernhards Stück Der Theatermacher auf); dort wird er u. a. als Zöllner am Grenzübergang Tittmoning eingesetzt. Nach seiner Pensionierung übersiedelt die Familie 1867 nach Salzburg.
Zum Zeitpunkt von Annas Geburt arbeitet Johann Pichler als Metzgergehilfe in Bad Reichenhall, Maria Schönberg ist als Näherin tätig. Nach der Heirat 1880 übersiedeln die Pichlers nach Salzburg; dort lebt im Haushalt der Schwiegereltern auch Annas um 12 Jahre ältere Halbschwester Franziska, eine uneheliche Tochter Maria Schönbergs mit unbekannt gebliebenem Vater aus Laibach (heute Ljubljana).8 1890 kann sich Pichler selbstständig machen, er erwirbt einen Gewerbeschein als Stech- und Viehhändler. In seiner Autobiografie berichtet Bernhard, seine Großmutter habe häufig »von ihrer entsetzlichen Kindheit und Jugend« gesprochen (10/91). Im Alter von 18 Jahren heiratet Anna 1896 den um 12 Jahre älteren Schneidermeister Karl Bernhard (1866–1927) und hat mit ihm zwei Söhne: Karl (1897–1981) und Hans (1900–1974). Bernhard schreibt, sie sei in eine Ehe gezwungen worden, »die nichts anderes als ein Geschäft gewesen war« (10/91).9
Da das Ehepaar Zimmer vermietet, lernt die unglückliche junge Anna zunächst zwei Freunde Johannes Freumbichlers kennen, die so wie er der deutschnationalen Burschenschaft »Cheruskia« (auch: »Der eiserne Ring«) angehören. Erst zieht Josef Rumpler ein, der auf den Burschenschaftsnamen »Tuisko« hört. Anna verliebt sich in ihn, aber auch in Rudolf Kasparek (1885–1920), den engsten Freund Johannes Freumbichlers, wie dieser ein schwärmerischer Verfasser von wenig erfolgreichen Gedichten – die beiden verbindet eine homoerotisch getönte Beziehung.10 Der im »Eisernen Ring« als »Giselher« bekannte Kasparek, der Annas Gefühle nicht erwidert, stellt brieflichen Kontakt mit dem »Werinhard« genannten Johannes Freumbichler her, der ebenfalls per Brief die ihm kaum bekannte Frau mit Gedanken über die Befreiung aus der Ehe fasziniert: »Das Weib ist überall die Sklavin des meist rohen und gefühllosen Mannes«, schreibt er aus Ilmenau. »Es kommt eine neue Welt, die aller Not und aller Leiden Erlösung bringt!«11
Anna Bernhard antwortet Freumbichler, den mittlerweile bei ihm in Ilmenau lebenden Kasparek einschließend: »Ich liebe Euch, dann, mehr als alles auf der Welt, in Eure Mitte müßt Ihr mich nehmen, mich erziehen, und lehren nach Eurer hohen Methode.«12 In den Weihnachtsferien bespricht man im Salzburger Hotel Wolf Dietrich, wo Rudolf Kasparek und Johannes Freumbichler nächtigen, die Flucht. Freumbichler übersiedelt im Januar 1904 nach Basel – um sich anarchistischen Kreisen anzuschließen, wie es Bernhard in der Autobiografie darstellt: »Seine Hosen waren ausgefranst, wie übriggebliebene Fotos beweisen, auf der Nase hatte er den berühmt-berüchtigten Anarchistenzwicker.« (10/433) Auch an dieser Darstellung sind Zweifel angebracht. Freumbichler dürfte in der Schweiz nicht zuletzt auf finanzkräftige Unterstützer gehofft haben. Im Februar 1904 verlässt Anna Bernhard ihren Mann und die beiden Söhne und begibt sich mit dem Zug zu Freumbichler in die Schweiz. Ihre Position innerhalb der Familie nimmt ihre Halbschwester Franziska ein; sie kümmert sich um den Haushalt und die beiden Söhne, 1920 heiratet sie den verlassenen Ehemann.
Am 21. Dezember 1904 wird in Basel Herta Paula Bernhard geboren, die Mutter Thomas Bernhards. Den Vornamen schlägt Rudolf Kasparek vor; »Bernhard« heißt sie, weil die Ehe ihrer Mutter zum Zeitpunkt ihrer Zeugung noch nicht geschieden ist; die offizielle Trennung erfolgt erst im April 1904, so steht in ihrem Taufschein (und sogar noch in ihrer Heiratsurkunde) Karl Bernhard als Vater. Zur gleichen Zeit wird Johannes Freumbichler von seinem Schwager Ferdinand Russ eingeladen, mit ihm nach Brasilien auszuwandern: Eine Kolonialisierungsinitiative garantiert jedem neuen Siedler ein kostenloses Familienhaus und eine günstige Parzelle in Pedra d’Agua bei Rio de Janeiro. Freumbichler widersteht der Verlockung, lässt diese Ereignisse jedoch in seinen 1938 veröffentlichten Abenteuerroman Atahuala oder Die Suche nach einem Verschollenen einfließen – man kann spekulieren, was aus ihm und seinen Nachkommen geworden wäre, wenn er sich tatsächlich zur Emigration entschlossen hätte.
In den folgenden Jahren wechseln Johannes Freumbichler und seine Lebensgefährtin Anna Bernhard häufig die Wohnsitze. Der Enkel Thomas Bernhard behauptet in der Autobiografie, dies sei »der sozialistischen Idee zuliebe« geschehen (10/381), gleichzeitig sagt er seiner Großmutter eine imponierende Weltläufigkeit nach: Sie sei »in ganz Europa herumgekommen, kannte beinahe alle Städte in Deutschland und in der Schweiz und in Frankreich« (10/92). Der eigentliche Grund für die kontinuierlichen Übersiedlungen dürfte jedoch die ökonomische Not der Familie gewesen sein; wiederholt drohte die Pfändung aufgrund von Mietschulden. Nicht immer wohnen Hertas Eltern zusammen; Schwerpunkte der teilweise kurzen Aufenthalte bilden neben Salzburg und Henndorf der Raum München, aber auch Südtirol. Für Freumbichler, bei dem sich zunehmend eine Lungenschwäche herausstellt, sind Meran und Bozen klimatisch günstige Wohnorte, außerdem findet er dort vorübergehend bei der Firma »Electrobosna« Arbeit. Inzwischen wächst die Familie weiter an: Der 1905 in Salzburg geborene Sohn Farald Rudolf stirbt zwar schon nach wenigen Wochen, doch am 19. Januar 1910 kommt in München Rudolf Harald zur Welt, den die Familie später (in Erinnerung an den verstorbenen Bruder) ebenfalls Farald nennen wird.
Verzweifelt versucht Freumbichler in den nächsten Jahren, als Schriftsteller den Durchbruch zu schaffen. »Einen inneren, unwiderstehlichen Drang zu arbeiten, zu ringen mit meinen künstlerischen Entwürfen – und vor Sorgen, Kummer und Arbeit nicht zu können!«, notiert Freumbichler um 1912.13 Es ist seine Lebensgefährtin Anna, die als Haushälterin und Kinderpflegerin das Notwendigste beschafft und so den verehrten Dichter und die Familie über Wasser hält. In München bringt Freumbichler ohne jede Resonanz sein erstes Buch heraus: den (Elemente aus Anna Bernhards Leben verarbeitenden) Roman Julia Wiedeland – gegen eine Kaution von 3 000 Mark. Im Zentrum steht eine unglückliche Ehe: Eine junge, empfindsame Frau fühlt sich durch den nüchtern-rationalistischen Charakter ihres Ehemanns, eines Ingenieurs, befremdet. Sie flüchtet sich in eine Beziehung mit einem jungen Intellektuellen, der sie mit Vorträgen über die Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft beeindruckt. Als dieser ihrer überdrüssig wird, sucht sie Vergebung bei ihrem mittlerweile dem Alkohol verfallenen Ehemann, der sie jedoch in einem Wahnsinnsanfall erschießt.
In Südtirol lernt die Familie 1913 Clarita Thomsen (geb. Scholvien, 1860–1925) kennen, die mit dem wohlhabenden Justizrat Karl Friederich Thomsen verheiratet ist. Clarita Thomsen unterstützt die Familie finanziell, bezahlt Anna Bernhard zur Verbesserung ihrer Berufschancen eine Hebammenausbildung an der Landesfrauenklinik in Salzburg und gibt Johannes Freumbichler den Rat, sich in Wien anzusiedeln, weil er dort als Schriftsteller größere Erwerbschancen habe. Nach mehreren Wohnsitzwechseln in der Hauptstadt (ab April 1914) lässt sich die Familie im Juli 1916 unter der Adresse Wernhardtstraße 6/3/13 im 16. Bezirk nieder; Bernhard betont später, er habe hier zum ersten Mal das Wort »Großvater« ausgesprochen (10/441) – bezeichnenderweise ist es das erste Wort, das er sich selbst zuschreibt. Die Familie wohnt im Bezirk Ottakring: einem klassischen Arbeiterbezirk, in dem von der großbürgerlich-intellektuellen Atmosphäre der Wiener Moderne nichts zu bemerken ist. »Die Großstadt ist ein Sumpf in ihren Außenbezirken und gerät da ein feiner Mensch hinein, wird er sofort von Hunderten umringt und verhöhnt«,14 schreibt Anna Bernhard an ihre Südtiroler Gönnerin, auf deren Unterstützung sie und ihr Lebensgefährte weiterhin angewiesen bleiben.
Denn die ökonomische Situation bessert sich durch die Übersiedlung nach Wien in keiner Weise. Freumbichler schreibt und schreibt, doch kein Verlag interessiert sich für die Romane, Erzählungen und Theaterstücke, die zu dieser Zeit entstehen. Ab Frühjahr 1914 soll die neunjährige Herta eine Ausbildung an der Ballettschule der Wiener Staatsoper erhalten: »Herta abrichten. Unterricht etc. alles einteilen!«, schreibt Freumbichler in sein Notizbuch. »Herta soll eine große Tänzerin o. Sängerin werden und ihre Laufbahn auf allen Bühnen der Welt in 6–7 Jahren beginnen!«15 Aber die Karriere, die vielleicht finanzielle Absicherung versprochen hätte, scheitert, weil die körperlichen Anstrengungen zu groß sind. Ohne Erfolg bleibt auch der als Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift publizierte Eduard Aring (1918): Der Protagonist, ein Bauernsohn, erliegt den unmoralischen Verlockungen der Stadt, verkörpert durch die frühere elterliche Magd Auguste, die ihn als Prostituierte verführt. Er scheitert im Studium, verfällt dem Alkohol und ruiniert nach dem Tod des Vaters den ererbten Hof. Sowohl Auguste als auch Eduard enden im Suizid. 1922 beginnt Freumbichler mit der Arbeit an dem Roman Philomena Ellenhub, den er um 1933 fertigstellt, der jedoch ebenfalls zunächst keinen Abnehmer findet.
Freumbichlers Briefe, aber auch seine Notizbücher, in denen er eine Art literarisches Selbstgespräch führt, legen Zeugnis ab von der Not dieser Jahre, von den finanziellen Sorgen, aber auch vom Leiden am vollständigen Scheitern aller künstlerischen Ambitionen. »Es ist noch immer ein starkes Gift in mir, das ich, trotz aller Anstrengungen, nicht hinausbringen kann«, schreibt er etwa Mitte der zwanziger Jahre an Anna, die gerade bei einer Familie außerhalb Wiens Dienst tut, um ihn und die Kinder über Wasser zu halten. »Es ist das Gift der Erfolglosigkeit, das heißt des Mißerfolges. Habe oft Stunden tiefen Grauens.« Zunehmend reagiert Freumbichler aber auch mit absolutem Rückzug aus der als feindlich wahrgenommenen Welt und einer immer deutlicheren Misanthropie auf die erlebten Enttäuschungen und Zurückweisungen: »Wir müssen nach außen tun, als ob wir Teilnahme hegten, nach innen aber völlig unbewegt bleiben. Wer durch diese Welt kommen will, muß sich mit einem Panzer von Rohheit umgeben.«16
1920 verliert Freumbichler zwei wichtige Menschen: Rudolf Kasparek erliegt in Mieders bei Innsbruck seiner Tuberkulose, und in Henndorf stirbt am 14. November 77-jährig seine Mutter Maria Freumbichler. Für Anna, die als Kinderfrau arbeitet und dabei auch gelegentlich bei den betreuten Familien wohnt, sind die Prioritäten klar gesetzt: »Auf die Kinder darf ich keine Rücksicht nehmen«, schreibt sie an Clarita Thomsen, »denn von Kindern weiß man nicht, wie und welchen Platz sie in der Welt einnehmen werden, aber für Johannes muß ich alles einsetzen, Kindheit, Gesundheit, Lebensglück.«17 Aus ihrer Perspektive stellen sich diese Jahre vor allem als Leidenszeit einer Künstlergattin dar, die sich der bedingungslosen Unterstützung ihres Mannes zu widmen hat. »Man muß es verbergen können, wenn man zärtlichkeitsbedürftig zu ihm kommt und er sich mit einer Mauer von Kälte umgibt«, schreibt sie. »Der Künstler liebt nur seine Kunst und die macht ihn zum Egoisten.« Er sei die Beute seiner Stimmungen, und er vertrage keine Fesseln. »Man muß ihn tun und machen lassen was er will ohne nach Gründen zu fragen.« 18 In Freumbichlers Notizbüchern findet sie gelegentlich erschreckende Belege für die Aggressionen des erfolglosen Autors, die sich auch gegen sie richten. 1921 schreibt sie an Clarita Thomsen: »Ich glaubte mich geliebt. Es ist nicht wahr. Ich las zufällig einmal im Tagebuch und – wie ein Trümmerhaufen stürzte alles in mir zusammen.«19
Mit einer bürgerlichen Existenz möchte sie dennoch nicht tauschen: »Wie reich bin ich dagegen!«, schreibt sie 1927 an Freumbichler. Sie will keine jener Frauen sein, die außer ihren Männern »nur noch das Geld lieben«.20 Anna Bernhard ist »in gewisser Hinsicht zu einer modernen, berufstätigen Frau geworden, wenngleich sie nach wie vor ihre Unterordnung unter Freumbichlers Künstlertum betont«, so die Bernhard-Forscherin Renate Langer. »Ihr Status ist eine merkwürdige Verquickung von Emanzipation und freiwilliger Unterwerfung.«21 Neben der Lebensgefährtin ist es zunehmend auch die Tochter, die als Serviererin, Hausgehilfin und Köchin für den Familienunterhalt sorgen muss. Das verdiente Geld liefert sie zum Großteil beim Vater ab: »als wären wir zusammen ein einziger Mensch der leben oder zugrunde gehen muß«.22 »Herta weiß, was ich von ihr jeden Ersten erwarte, ohne Ausnahme«, schreibt Freumbichler an Anna Bernhard.23 Sie wird von ihren Eltern »ohne Skrupel auf dem Altar des Geniekults geopfert«. Sie verlangen von ihr dieselbe Hingabe, die ihre Mutter freiwillig zu ihrem Lebensinhalt gemacht hat. Doch während die Lebensgefährtin »trotz ihrer scheinbaren Unterordnung in Wirklichkeit die Stärkere ist«, kommt die Tochter »aus ihrer Ohnmachtsposition nicht heraus«.24
Wenn sie gelegentlich an ihre eigenen Bedürfnisse denkt, kommen sogleich die entsprechenden Vorwürfe: »An Herta schrieb ich einen Brief wie ihn eine Mutter nicht gern schreibt an ihr Kind«, berichtet Anna Bernhard im August 1927 ihrem Lebensgefährten. »Der Vater hungert und die Tochter vertut das Geld mit einem nichtswürdigen Lumpen.«25 Ein Jahr später ist die Dreiundzwanzigjährige erstmals schwanger. Anna rät Freumbichler, er solle seine Tochter abschütteln, »wie man ein Ungeziefer abschüttelt. So ein Kind ist nicht wert, daß Du sie mit Deiner Sorge umgibst.« Sie werde Herta »jede Zuneigung, jede Hilfe« entziehen. »Mag sie sich töten, oder in Schande weiterleben einerlei.«26 Zwei Tage später kommt Entwarnung: »Habe heute von Herta einen Brief erhalten, und beeile mich Dir wenigstens diesbezüglich eine Erleichterung zu schaffen«, teilt Anna ihrem Johannes mit. »Hertas Angelegenheit ist geordnet. Der Mann kam für die Sache auf. Kostete nicht weniger als 700 Sch.«27
*
»Ich hatte immer Schwierigkeiten gemacht.« So beginnt Thomas Bernhard im letzten autobiografischen Band Ein Kind den Bericht über die frühesten Monate seines Lebens. Sein Geburtsort sei »nicht zufällig Heerlen in den Niederlanden« gewesen, wohin seine Mutter »auf den Rat einer in Holland arbeitenden Freundin aus Henndorf geflohen« sei. In Henndorf, »dem kleinen Nest«, wäre seine Geburt »völlig unmöglich gewesen«: Ein »Skandal« und die »Verdammung« seiner Mutter wären die »unausbleibliche Folge gewesen in einer Zeit, die uneheliche Kinder nicht haben wollte«. Außerdem habe sie seine Geburt den Großeltern in Wien ein ganzes Jahr lang verschwiegen. »Was sie fürchtete, weiß ich nicht. Der Vater als Romanschreiber und Philosoph durfte in seiner Arbeit nicht gestört werden, ich glaube fest, das war der Grund, warum mich meine Mutter so lange verschwieg.« (10/439f.)
Bernhard berichtet von einer aufregenden ersten Lebenszeit: Er sei »in einem Kloster, das nebenbei auch noch auf sogenannte gefallene Mädchen spezialisiert war«, geboren worden. In dem Kloster bei Heerlen hätte seine Mutter ihn jedoch nicht lange unterbringen können, und so habe sie ihn »in einem von ihrer Freundin geliehenen kleinen Wäschekorb« nach Rotterdam gebracht. Da sie ihren Lebensunterhalt verdienen musste, sei sie gezwungen gewesen, sich von ihm zu trennen. »Die Lösung war ein im Hafen von Rotterdam liegender Fischkutter, auf welchem die Frau des Fischers Pflegekinder in Hängematten unter Deck hatte, sieben bis acht Neugeborene hingen an der Holzdecke des Fischkutters und wurden jeweils nach Wunsch der ein- oder zweimal wöchentlich erscheinenden Mutter von der Decke heruntergelassen und hergezeigt.« Er habe »jedesmal jämmerlich geschrien« und sein Gesicht sei »von Furunkeln übersät und verunstaltet gewesen«. Aber seine Mutter habe »keine andere Wahl« gehabt (10/440).
An Bernhards Darstellung sind schon deshalb Zweifel angebracht, weil die Existenz unehelicher Kinder damals durchaus keine Seltenheit war – gerade auch in seiner eigenen Familie.28 Mittlerweile sind die Fakten, soweit möglich, durch die Forschungen von Louis Huguet und, daran anschließend, von dem niederländischen Forscher Niels Bokhove, der die in seiner Landessprache abgefassten Dokumente29 auswerten konnte, ermittelt worden. Dabei stellte sich heraus, dass auch Bernhard selbst für seine autobiografische Darstellung Informationen einer Zeitzeugin zur Verfügung hatte. In seinem Nachlass existiert ein Brief von Luzia Prusa,30 der Tochter von Caroline Weiss, einer jener Freundinnen, die Herta Bernhard in den Niederlanden behilflich waren. Luzia Weiss war zehn Jahre alt, als Thomas Bernhard geboren wurde; am 4. März 1981 schrieb sie dem mittlerweile berühmt gewordenen Autor einen Brief, in dem sie ihre Erinnerungen an dessen Mutter überlieferte.
Im Jahre 1930 hatte Herta Bernhard auf Anregung von Aloisia Ferstl, einer weiteren Freundin aus Henndorf, die in die Niederlande ausgewandert war, beschlossen, sich ebenfalls dort nach Arbeit umzusehen. Das ist zu dieser Zeit gar nicht selten: Aufgrund der großen Armut und der starken Inflation nach dem Ersten Weltkrieg gibt es eine wachsende Zahl junger Frauen aus Deutschland und Österreich, die ihr Glück »in den unabhängigen und relativ wohlhabenden Niederlanden« suchen, schreibt Bokhove. »1909 arbeiteten in den Niederlanden 2600 ausländische Dienstboten, kurz nach dem Krieg schon mehr als 9000 und Ende 1930 nicht weniger als 30 500.« Von diesen 30 500 seien etwa 3000 aus Österreich und etwa 25 000 aus Deutschland gekommen. »Hausfrauen waren weniger auf den Haushalt orientiert, zugleich bevorzugten sie ausländische, gut geschulte, erfahrene, billige, disziplinierte und anpassungswillige (preußische!) Dienstboten gegenüber den inländischen, die teurer, anspruchsvoller und freiheitsbewusster waren.«31
Nach einem ersten Kurzbesuch in den Niederlanden Anfang des Jahres hält sich Herta Bernhard im Mai nochmals kurz bei ihrer Tante Rosina Schlager in Henndorf auf. Schon vorher hatte sie längere Zeit im Herkunftsort ihres Vaters verbracht. Zu dieser Zeit muss sie mit dem Tischler Alois Zuckerstätter (geb. 1905), den sie schon aus der Volksschule kennt, in engsten Kontakt gekommen sein.32 Es ist viel spekuliert worden, wie diese kurze, aber folgenreiche Begegnung verlaufen ist. Aloisia Ferstl, die sich damals ebenfalls in Henndorf befindet, geht 1989 aufgrund von Schilderungen ihrer Bekannten Maria Neumayr, zu der sich Herta im Nachthemd mit Verletzungen am Bauch geflüchtet habe, von einer Vergewaltigung aus;33 sie hat die Information bewusst bis zu Bernhards Tod zurückgehalten. Nach der Darstellung von Therese Schober, einer anderen Henndorferin, habe Zuckerstätter die zunächst widerstrebende Herta solange beredet, bis sie sich gefügig zeigte.34 Bernhard überliefert in seinem Band Die Kälte (1981) ein höchst dramatisches Ereignis, das ihn daran gehindert habe, selbst mehr über seine Entstehung zu erfahren: Maria Neumayr kommt nämlich 1973 bei einem Autounfall ums Leben; für den nächsten Tag sei ein Zusammentreffen vereinbart gewesen, in dem die beiden über seine Geburt sprechen wollten.35
Mitte Juni 1930 reist Herta Bernhard jedenfalls neuerlich in die Niederlande. Ihre Freundin Aloisia Ferstl vermittelt ihr eine Stelle als Köchin in der Familie der Baronin Catherine de Vos van Steenwijk, deren Ehemann als Oberlandesgerichtsrat in Arnhem wirkt. Zu Beginn ist Hertas Dienstgeberin mit ihr äußerst zufrieden.36 Doch bereits in der zweiten Woche ihrer Tätigkeit zeigt Herta deutliche Symptome einer Schwangerschaft; schließlich gesteht sie der Baronin und auch Aloisia Ferstl, dass sie ein Kind erwartet.37 Durch die Baronin erhält Herta Kontakt zur »Vroedvrouwenkweekschool« in Heerlen, wo ungewollt schwanger gewordene Frauen Aufnahme finden können. Die Anstalt wird von den »Missiezusters van het Kostbaar Bloed« (»Missionsschwestern des Kostbaren Blutes«) als sogenanntes »Doorgangshuis« (Durchgangshaus) für ledige Mütter geführt. Seit 1930 wird auch eine Ausbildung für Säuglingsschwestern angeboten.
Im September 1930 (also nicht erst nach einem Jahr, wie Bernhard behauptet) gesteht Herta ihren Eltern die Schwangerschaft.38 Welche Gefühle sie bewegen, lässt sich aus einem Brief an ihren Vater ablesen: »Wüßte ich, daß Du, lieber Vater, mich lieber tot sehen würdest als verworfen und elend, so möchte ich mit Freuden für Dich sterben!«39 Aus einem Brief Hertas vom 15. September 1930 geht hervor, dass sie mehrere Abtreibungsversuche unternimmt, die alle nicht zum gewünschten Ziel führen.40 Immerhin reagiert ihre Mutter diesmal auf die Schwangerschaft der Tochter anders als beim letzten Mal. Sie erinnert Johannes Freumbichler daran, dass sie von Herta so viele Jahre lang finanziell unterstützt worden seien. »Hätte sie all das Geld in der Sparkasse brauchte sie heute nicht so verzweifelt sein wie sie es ist, so daß sie kaum das Notwendigste hat.« Allerdings fügt Anna Bernhard hinzu, es sei notwendig, für das Kind einen »passenden Vater« zu suchen.41 Ebenfalls im September 1930 erhält die Baronin einen Brief von Alois Zuckerstätter, in dem er sie bittet, ihm eine Arbeitsstelle in den Niederlanden zu verschaffen, sie weigert sich allerdings, ihm zu helfen.42 Zuckerstätter schreibt an die werdende Mutter mehrere Briefe in durchaus liebevollem Ton,43 doch dann versiegt die Korrespondenz. In Henndorf wird einige Zeit nach einem geeigneten Ehemann für Herta gesucht, aber die ins Auge gefasste Verbindung zu Stefan Kosa, einem Schustergehilfen, kommt nicht zustande.44
Am 9. Februar 1931 bringt Herta Bernhard einen Sohn zur Welt. Die Geburt erfolgt um 20.45 Uhr abends, das Kind wiegt 3240 Gramm und ist 50 cm lang. Am folgenden Tag wird das Neugeborene in der Schulkapelle getauft, als Namen werden eingetragen: »Nicolaus Thomas«.45 Am 12. Februar 1931 folgt die offizielle Meldung bei der Gemeinde, jetzt wird der Name in der holländischen Fassung festgehalten: »Nicolaas Thomas«.46 Kurz zuvor hat Herta ihren Eltern fasziniert von der Bedeutung des Sankt-Nikolaus-Fests in den Niederlanden berichtet – mag sein, dass sich der erste Vorname davon herleitet;47 der Name Thomas wird laut Aloisia Ferstl nach Thomas Mann gewählt.48 Am 15. Februar schreibt die junge Mutter an ihre Eltern, ihr Kind sei »samtweich« und habe »schwarze ganz lange Haare«, es sehe »mehr dem Vater ähnlich« als ihr.49 Die Umgebung im »Doorgangshuis« ist ihr nicht angenehm: »Hier sind bei 50 Mädchen rohester Art, aber ich sehe und höre nur mein Engelchen in der Wiege«, schreibt sie an ihren Vater.50 Sie kann jedoch nicht länger auf die Unterstützung der Baronin hoffen. Diese hat offensichtlich in der Zwischenzeit von Herta erfahren, »daß es schon das 3. Mal ist, daß ihr so etwas passiert«.51
Am 7. Mai 1931 verlässt Herta Bernhard mit ihrem Sohn Thomas das »Doorgangshuis« in Heerlen und begibt sich nach Rotterdam. Caroline Weiss ist im Januar mit ihrem Mann nach Schiedam übersiedelt, eine kleine Stadt nur wenig außerhalb Rotterdams, weil er in Veenendaal seinen Arbeitsplatz verloren hat. Nach kurzem Aufenthalt bei Aloisia Ferstl zieht Herta Bernhard mit Thomas bei Familie Weiss in Schiedam ein.52 Man räumt im oberen Stock ein kleines Zimmer für sie frei. »Das Kind kam im Wäschekorb«, so Luzia Prusa.53 Da Thomas nur für kurze Zeit bei Familie Weiss bleiben kann, bringt sie das dreimonatige Kind zunächst bei einer Frau unter, deren Wohnung jedoch vor Schmutz starrt; »es war für mich der schwerste Gang in meinem Leben«, schreibt Herta an die Baronin.54 Daraufhin findet sie ein kinderloses Ehepaar, das ihr Baby betreuen kann;55 der Mann ist Lastenträger auf einer Schiffswerft. Die Zustände dort erweisen sich ebenfalls als untragbar: »Thomas war ganz und gar verschmutzt und verklebt und schrie!«56 Daraufhin bringt sie ihren Sohn am Pfingstsonntag, 24. Mai 1931, ins Kinderheim »Bergsteyn« in Hilligersberg, das nördlich von Rotterdam gelegen ist und vor allem uneheliche Kinder aufnimmt.
Für den Kontakt der Mutter zu ihrem Kind ist diese Lösung verhängnisvoll. Die Van Musschenbroekstraat in Schiedam, wo Herta Bernhard bei Familie Weiss wohnt, ist vom Straatweg 173, wo sich das Heim befindet, fast zehn Kilometer entfernt. Herta muss also eine beträchtliche Strecke zurücklegen, wenn sie zu ihrem Baby kommen will, »eine gute halbe Stunde«, wie sie selbst schon am ersten Tag festhält.57 Am 11. Juni 1931 schreibt sie an ihren Vater, sie besuche Thomas jeden Sonntag um die Mittagszeit. Er sei nun »wieder rein und sauber«, in dem Raum seien noch sechs Wiegen. Allerdings sei die Besuchszeit eingeschränkt: »länger als zwanzig Minuten kann man nicht bleiben, auch darf man das Kind nicht aus der Wiege nehmen, also nur ansehen«, oft sei es schwer, man dürfe »keinen Gefühlen nachgeben, es hindert am Vorwärtskommen«.58 Es sind Umstände, die dem Aufbau einer stabilen Bindung zwischen Mutter und Kind in allem entgegenstehen. Bereits am Tag seiner Übersiedlung nach Hilligersberg berichtet sie ihren Eltern, Thomas sehe sie »ganz fremd an«.59 Ihr will es scheinen, ihr Sohn lache, als ob er über ihre »Traurigkeit lachen möchte«60
Mitte Juni verliert Herta Bernhard ihre Unterkunft, weil der Mann von Caroline Weiss erneut arbeitslos wird. Nach kurzer Tätigkeit bei einer Familie, die sie aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen bald wieder aufgibt, findet sie über eine Zeitungsannonce eine neue Stelle als Köchin bei einer gut situierten Familie in Rotterdam; der Vater ist Direktor beim bekannten Warenhaus Vroom & Dreesmann.61 Ende August gibt sie jedoch ihren Schuldgefühlen nach, weil sie wegen der Kosten für das Heim Bergsteyn ihren Eltern kein Geld mehr nach Wien schicken kann und deshalb vorwurfsvolle Briefe erhält. Noch Jahre später empört sich Aloisia Ferstl, Herta Bernhard sei von ihren Eltern immer »ausgepresst« worden »wie eine Citrone«, sie habe »alles für den Vater« tun müssen und sei »ihr Leben lang« ausgenutzt worden.62 Eines Tages kommt Aloisia vergeblich nach Bergsteyn, um Thomas zu besuchen:63 Herta hat ihr Kind aus Bergsteyn abgeholt. »Das Kind wurde gewissermaßen dem Großvater geopfert«, kommentiert Bokhove.64
Wieder leben Mutter und Kind nicht zusammen. Herta Bernhard bringt ihren Sohn in eine Unterkunft, die weniger kostet – erst jetzt kommt er auf jenen Fischkutter, den er selbst als frühesten Wohnort erwähnt und mit seiner Affinität zum Meer in Verbindung bringt: »Im Grunde bin ich ein Meermensch, erst, wenn ich am Meerwasser bin, kann ich richtig atmen«, schreibt er in Ein Kind. »Manchmal kommt es mir vor, wenn ich den Geruch des Meeres einatme, als wäre dieser Geruch meine erste Erinnerung. Nicht ohne Stolz denke ich oft, ich bin ein Kind des Meeres, nicht der Berge.« (10/441) Es handelt sich um einen zum Hausboot umgebauten Fischkutter in der Delfshavense Schie.65 Kurzfristig eröffnet sich die Möglichkeit einer völlig anderen Biografie für Thomas Bernhard: Aloisia Ferstl macht für das Kind, das von einem Ort zum anderen verschoben wird, eine wohlhabende Adoptivfamilie ausfindig. Doch die Mutter will ihren Sohn trotz aller Beschwernisse nicht hergeben.66
Zwischen dem 7. und dem 10. September 1931 bringt Herta Bernhard ihren inzwischen sieben Monate alten Sohn Thomas nach Wien zu ihren Eltern, wo er vorläufig bleiben soll. Kurze Zeit später fährt sie erneut nach Rotterdam; schon bald findet sie eine Arbeitsstelle in Den Haag, was sie schon seit der Geburt ihres Kindes angestrebt hat, und zwar bei der Familie eines Margarinefabrikanten. Im Mai 1932 verlässt sie die Niederlande endgültig und begibt sich zurück nach Österreich – gegen den Willen ihres Vaters, der befürchtet, dass die finanzielle Not der Familie dadurch noch größer werden könnte.67
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»Die Wiener Zeit unter der Obhut meines Großvaters, meiner Großmutter und meiner Mutter, mit meinem Onkel Farald zusammen, der für ständige Abwechslung sorgte, ist mir nur noch in einzelnen, wenigen Bildern erhalten«, schreibt Bernhard in Ein Kind