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Deutschland nach der atomaren Apokalypse Keiner kennt die Wurzeln von Cee – er scheint ein Findelkind zu sein. Von klein auf ist er ausgesprochen mutig und freiheitsliebend, was ihn zum geborenen Anführer macht. Deshalb ist er es auch, der die Mitglieder der Bikergang Thor zum ersten Mal seit Jahrzehnten aus dem Bunker führt. Doch in einer Zeit, in der zahllose rivalisierende Banden mit Strahlung, Nahrungsknappheit und zerschlagenen Hierarchien kämpfen, hat jeder Anführer eine Herkulesaufgabe vor sich. Der scheinbar unverwundbare Gladiatoreskrieger Zeno fühlt sich all dem aber mehr als gewachsen. Er versteht sich als Sohn eines neuen Gottes und versucht mit seinem Feuerkult die zerstreuten, elendszermürbten aber dennoch kampflustigen Banden zu einen. Dazu sucht er rätselhafterweise immer wieder die Nähe zu seinem größten Gegner: Cee. Um Thor auf seine Seite zu ziehen, braucht Zeno jedoch eines mehr als alles andere: Cees Jugendliebe Eve. Die rebellische Ärztin weiß sich zwischen Krieg und Gewalt jedoch sehr gut selbst zu behaupten – besser als so manch Anderer, dem diese futuristische Welt, die langsam aber stetig ins Mittelalter abdriftet, zu schaffen macht. Ein nordischer Mythos in einer postapokalyptischen Zukunft. Diese Science-Fiction Dystopie könnte aktueller nicht sein!
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UND DER GOTT DES FEUERS
von
CHRISTOPH FROMM
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.de abrufbar.
Originalausgabe
Copyright © 2023 by Primero Verlag GmbH,
Herzogstraße 89, 80796 München
www.primeroverlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat:
Sabrina Neidlinger, München
Anne Fessler, München
Yvonne Ramp, München
Claudia Graßl, München
Michael Hild, München
Korrektorat:
Anne Fessler
Yvonne Ramp
Umschlaggestaltung:
Maximilian Stark, München
Satz:
Agentur Marina Siegemund, Berlin
www.siegemund-dtp.de
Druck und Bindung:
FINIDR s.r.o.
www.finidr.cz
Printed in Czech Republic
ISBN 9783981973273
eISBN 9783981973280
Für Anne und Michael, danke für euren guten Rat!
Figuren
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Thor:
Cee, ein Mann, der weder seinen wahren Namen noch seine Eltern kennt
Eve
Wolf, Ratz, Hipp: Eves Brüder
Der alte Duke, Herbie, verstorbener Vater der vier Geschwister
Hilde, seine Frau, ebenfalls verstorben
Tommi, ihr ältester Sohn, ebenfalls tot
Taio, Cees bester Freund, ein Falkun
Lilo, Freundin von Ratz
Pinka, gelegentliche Freundin von Ratz
Dragon, ebenfalls gelegentliche Freundin von Ratz
Dannie, Mike, Rotz, Susan, Fitz, Peggi, Cancan, Ritch, Pit, Soya, René, Betty: Kriegerinnen und Krieger der Thorgang
Zenos Truppe, Geheimwaffe der Gladiatores:
Zeno, der Mann, der vom Himmel fiel. Angeblich Alvaros Sohn
Gatto, sein Stellvertreter, Katzenliebhaber
Anno, Zenos Priester, Nano
Gladiatores, ehemalige NATO-Soldaten und Mafiosi, Hauptsitz in Roka:
Alvaro, ehemaliger General, tot
Solon, amtierender General
Giulia, Herrscherin über die Gladiatores, Solons Geliebte
Nardo, Giulias und Solons Sohn
Savager:
Crash
Rose, seine Frau
Luca, ihr Sohn
Atte
Hexe
Nanos, rätselhaftes Gebirgsvolk, Meister der Schmiedekunst:
Fenja, Königin der Nanos, angeblich Zenos Mutter
Falkuns, beherrschen dank brillanter Taktik Teile Nordafrikas und Europas bis zum Ostufer des Veleno:
Hannu
Belim, Hannus Bruder
Sie hatten bei dem Überfall fünf Mann verloren. Fünf Krieger, die ersetzt werden mussten, damit sie wieder auf eine Kampfstärke von exakt 400 kamen. Das war die magische Zahl, die Gattos großer Meister für sein Elitebataillon einforderte. Gatto, ein blonder Hüne mit kantigen Gesichtszügen, hatte seinen Namen von einem kleinen Kätzchen, das er auf einem ihrer Streifzüge erobert hatte und das er liebevoll pflegte. Mit dem Vorbesitzer war er weniger gnädig umgegangen. Einige der Männer behaupteten, dass er das Kätzchen mit dessen Fleisch gefüttert habe. Das Kätzchen war auf jeden Fall genauso unberechenbar wie Gatto. Insofern passten die beiden hervorragend zusammen. Gatto und die anderen Männer hatten mit ihren Bikes einen großen Kreis um die elf Gefangenen gezogen, die sie bei der Eroberung des Tanklastzugs gemacht hatten. Sprit brauchten sie, um beweglich zu bleiben, um Sprit drehte sich alles. Sie hatten die Helme ihrer ABC-Schutzanzüge abgenommen, da ihr großer Meister ihnen versichert hatte, sie befänden sich an einem der magischen Orte, an denen die Strahlenbelastung wieder erträglich sei. Jetzt trat Zeno in die Mitte des Kreises. Gatto und seine Männer wussten, der Name ihres Anführers bedeutete in einer fremden Sprache: Der Mann, der vom Himmel fiel. Genau das war Zeno für sie: Ein Außerirdischer, unverwundbar, unbesiegbar, unantastbar.
Er war unbewaffnet, ebenso wie seine elf Gefangenen. Seine Männer waren gespannt, was er sich heute für das Aufnahmeritual ausgedacht hatte. Zeno entzündete ein Streichholz und lächelte sie an, während die kleine Flamme zu ersterben drohte. Bevor sie erlosch, spie er eine Flüssigkeit in den Nachthimmel, einige Tropfen verfingen sich im ersterbenden Feuer, das blitzartig zu neuer Größe aufloderte. Zenos Feueratem schoss auf die Gefangenen zu, die entsetzt zurückwichen. Er lenkte das Feuer auf seine eingeölten Arme und Beine und stand in Flammen vor seinen Männern. Mit katzenhafter Geschwindigkeit stürzte er sich auf sein erstes Opfer und tötete es mit einem einzigen Genickschlag. Unter dem frenetischen Beifall seiner Männer wiederholte er das Ritual, bis die Flammen auf seinem Körper erloschen. Fünf hatten überlebt. Sie würden die Verluste in seiner Truppe ersetzen. Keiner weigerte sich. Alle schworen Zeno den Treueeid und pressten die Stirn auf seine Hände, die unversehrt waren, wie der Rest seines Körpers.
Nachdem Zeno den rhythmischen Applaus seiner Männer entgegengenommen hatte, beglückwünschte ihn auch Gatto, sein erster Untergebener. Zeno musterte ihn spöttisch.
»Willst du auch mal den Zauberer spielen?«
Gatto schluckte vor Begeisterung.
»Darf ich wirklich?«
»Wenn du dein Kätzchen nicht verbrutzelst. Das ist nur Zirkus für Kinder. Wir müssen besser werden. Viel besser.«
Den Schlag auf seine Schulter spürte Gatto bis in die Fußsohlen.
»Diese Welt duldet keine Verlierer.«
Das Kätzchen fauchte.
Niemand kannte seinen Namen. Sie nannten ihn »Cee«, aber wofür das C stand, wusste nicht einmal er. Die anderen hatten wenigstens Namen: Wolf, Ratz und Hipp saßen vor der ausgebrannten Ruine eines Supermarkts und blinzelten hinter ihren dunklen Schutzbrillen über den von Granattrichtern übersäten Parkplatz in die Sonne. Das Licht war nicht stark, aber zu stark für jemanden, der sein Leben hauptsächlich in einem spärlich beleuchteten Bunker verbracht hatte. Es war beinahe wie eine zweite Geburt, endlich einmal ohne Luftfilter zu atmen. Das ölige Wasser ließ die Granattrichter aussehen wie Augen, die tückisch jede menschliche Bewegung überwachten. Die Sonne bohrte zwar wieder einige dünne Strahlen durch den kilometerdicken Ring aus Asche, universalem Schrott und Fallout, aber ihr Licht war das kalte, kraftlose Lächeln einer Schwerkranken, das kaum die Haut erwärmte. Es war der siebte Tag, seitdem sie das erste Mal ohne Schutzanzüge die Bunkeranlagen verlassen hatten, diese aus grauem Beton gegossenen Gänge und Räume, ein vibrierendes Nervengeflecht im Schädel des Bergs, das, seitdem sie denken konnten, ihr Zuhause gewesen war. Tief unter der Erde hatten sie die Atompilze überlebt, unterhalb einer Raubritterburg, die Jahrhunderte bevor sie mit neuem Krieg überzogen wurde, bereits eine finstere, rußgeschwärzte Ruine gewesen war. In ihrem Labyrinth waren sie zu neuen Raubrittern herangewachsen, gemeinsam mit ungefähr 200 anderen, die widerstandsfähig genug gewesen waren, um die Strahlendosis von bis zu 50 Gy zu überleben: Mit Konserven, deren Verfallsdatum irgendwann abgelaufen war, und Wasser, das aus unterirdischen Rinnsalen tröpfelte und die Geigerzähler auf bis zu 40 Kilobequerel ausschlagen ließ. Seit einigen Wochen zeigte das Wasser nur noch fünf Kilobequerel an und die Strahlendosis war auf 120 Millisievert gesunken, falls ihre jahrzehntealten Messinstrumente stimmten. In ihrer letzten Versammlung, die sie »Thing« nannten und vor zehn Tagen abgehalten hatten, hatte die Mehrzahl der Mitglieder von »Thor« zugestimmt, das Restrisiko, das mit der Strahlung verbunden war, einzugehen und zu einem Leben über der Erde zurückzukehren.
Es blieb ihnen auch nichts Anderes übrig. Die Konserven, die Thors Krieger, geschützt durch ABC-Anzüge, auf ihren Streifzügen erbeutet hatten, gingen endgültig zur Neige und die Abgesandten der verbündeten »Gladiatores« am Unterlauf des großen Flusses hatten den drei Brüdern bei ihrem letzten Besuch und Warenaustausch zu verstehen gegeben, dass sie Thor zwar als treuen Verbündeten schätzten, aber selbst keine Konserven mehr besaßen und Thor, wie alle anderen auch, sich ernsthaft mit Ackerbau befassen müsse.
Der Fluss würde dabei keine Hilfe sein. Alle nannten ihn Veleno, weil er nur noch eine stinkende Kloake war, in der missgestaltete Fische und übergroße Echsen, die seit Jahrmillionen jeder Vernichtung und jedem Gift trotzten, ihr Unwesen trieben. Für eine Bewässerung kam er nicht infrage. Die Strahlung verseuchte Luft und Erde sehr unterschiedlich. Die Supermarktruine und ihr Parkplatz am Fuß des Burgbergs waren relativ sauber, aber insgesamt war der Boden rund um die Ruine immer noch gefährlich stark kontaminiert. Deshalb hatten die Gladiatores Thor ein Tauschgeschäft in Aussicht gestellt: Zwei Zwanzigtonner mit sauberer Erde gegen zwei Tanklastzüge voller Diesel oder Normalbenzin, nach wie vor die wichtigsten Flüssigkeiten neben trinkbarem Wasser, wobei trinkbar in diesen Zeiten alles war, woran man nicht umgehend verstarb.
Obwohl keiner wissen konnte, ob dieses lebensgefährliche Unternehmen gut für sie ausgehen würde, hatten die vier im Augenblick blendende Laune. Das lag an den Bikes, die trotz der kümmerlichen Sonne vor ihren Augen glänzten. Keine verdreckten Crosser, die sie auf ihren Raubzügen benutzten und an denen alles krumm und verbogen war. Diese edlen Konstruktionen aus Stahl und Titan, die ihr Vater und ihr ältester Bruder Tommi in jahrelanger Arbeit aus den Trümmern ehemaliger Rennmaschinen gebaut hatten, ließen sie in tiefe Bewunderung versinken.
Jeder hatte seinen Liebling: Cees Augen wanderten den aus dem Vollen gefrästen Rahmen seiner divenhaften Rakete entlang, Ratz bewunderte einen blutroten Tank, Wolf und Hipp reservierten ihre erotischen Gefühle für robuste PS-Hämmer allererster Güte.
Sie kannten jeden Winkel, jede Metallvertiefung, jede Schraube dieser Bikes. Ihr Vater hatte sie in die Wartung eingewiesen, bis sie die Maschinen im Schlaf zerlegen und wieder zusammenbauen konnten. Beide, Tommi vor über zwanzig, ihr Vater erst vor zwei Jahren, waren gestorben, trotz Schutzanzug zerfressen von den radioaktiven Substanzen, denen sie sich immer wieder aussetzen mussten, um ihren Bunker gegen Eindringlinge zu verteidigen und Lebensmittel zu besorgen. Aber diese Bikes waren geblieben und funkelten in der Sonne.
Heute war ein besonderer Tag.
»Schöne, frische Luft«, flüsterte Cee. Seine Stimme klang heiser, wie das Zischen einer der Schlangen, die sie manchmal auf den staubtrockenen Pisten überfuhren. Keiner wusste, ob seine Heiserkeit der Beginn einer gefährlichen Krankheit war. Man wusste nicht viel, außer ob man lebte oder starb. Medikamente und Fieberthermometer gab es nur noch für die Schwerkranken und an den Geschmack der Jodtabletten, die sie als Kinder bekommen hatten, konnten sie sich kaum noch erinnern. Das beste Medikament gegen die Radioaktivität war der selbstgebrannte Wodka der Gladiatores, der mit echtem Vorkriegswodka, den sie sich nur noch in den seltensten Fällen organisieren konnten, nicht mehr viel zu tun hatte. Er brannte wie die Hölle, ein Vorgeschmack auf das Jenseits. Cee hustete, grinste. Die Lippen der anderen folgten. Sie alle konnten über die Krankheit, den Tod lachen. Das war die beste Möglichkeit zu überleben. Nicht von Angst zerfressen im Bunker zu vegetieren wie der Erzeuger von Wolf, Ratz und Hipp, dem am Schluss wahrscheinlich nicht einmal die Radioaktivität, sondern die Panik vor der großen, endgültigen Dunkelheit zum Verhängnis geworden war.
Jeden Tag bereit sein zu sterben! Wolf, Ratz und Hipp versuchten, nach diesem Motto zu leben, aber verinnerlicht hatte es nur Cee. Das wussten die drei Brüder und deswegen bewunderten sie Cee wie einen Freund und fürchteten ihn insgeheim wie einen Feind.
»Wer zuerst bremst, stirbt als Zweiter!« Cee schwang sich auf sein Bike, seine Hände umfassten kurz die nagelneuen Gummigriffe des Lenkers. Er drehte den Zündschlüssel und startete den Motor mit einigen kurzen Gasstößen, die wie dumpfe Glockenschläge aus einem Lichtjahre entfernten Bikeruniversum klangen. Der bereits kahle Wolf, dessen knochige Gesichtszüge einen eher unentschlossenen Geist verbargen und der lieber in Büchern las, als Befehle zu erteilen, rollte seine Maschine mit giftigem Fauchen neben Cee. Ratz, in dessen hübschem Gesicht alles etwas zu groß geraten war, folgte mit seiner dunkel grollenden Zweizylinder-Schönheit und Hipp, der Jüngste, der sich bis vor drei Jahren ausschließlich von Babynahrung ernährt hatte und der ein unnachahmliches Talent besaß, immer die richtigen Dinge zum falschen Zeitpunkt zu sagen, fuhr seinen PS-Hammer, der, wie seine gesamte Kleidung, zwei Nummern zu groß für ihn geraten war, neben sie.
Die ganze Woche hatten sie ihren Rundkurs ausbaldowert, gereinigt, gepflegt. Die Schikane zwischen zwei ausgefransten Granattrichtern war der erste riskante Punkt, gefolgt von einer Kehre mit glattem, schlechtem Asphalt, aus der man direkt auf den nächsten Tümpel zuraste, bevor man scharf rechts in eine tückische Bodenwelle abwinkeln musste. Der gesamte Kurs über den Parkplatz maß nicht mehr als 800 Meter, aber er hatte es in sich, wie sie bei einigen Proberunden festgestellt hatten.
Das war etwas Anderes als die Crossbikes, mit denen man zwar mühelos einen Zwanzig-Meter-Satz hinlegen konnte, aber nicht mit 170 PS auf dem Hinterrad aus einer Erster-Gang-Kehre rausbeschleunigen. Sie stülpten die Helme über, rollten nebeneinander an den Start, der durch einen Erdwall neben dem schmalen Asphaltband markiert war. Warfen sich verstohlen letzte Blicke zu, die den Grad an Mut und Angst in den Augen des anderen abschätzten. Eigentlich waren die Bikes viel zu schade, um sie auf so einem Micky-Maus-Kurs zu verheizen, Juwele, die einen Platz im Museum verdienten, andererseits waren sie lange genug sinnlos herumgestanden. Jetzt ging es darum, die Kraft der Motoren, die Elastizität des Fahrwerks durch die traumatisierten, schmerzgepeinigten, erkalteten Zellen ihrer Fahrer zu jagen, bis alles wieder voller Leben und Wildheit glühte.
Der rhythmisch zunehmende Applaus ihres Publikums spornte sie zusätzlich an. Alle, bis auf die paar Psychos und Intelligenzbestien, die sich nicht aus dem Bunker trauten, waren gekommen. Eine Meute aus zahnlosen Zwanzigjährigen, deren Gesichter von jahrzehntelangen Entbehrungen gefaltet waren und vor deren ausgemergelten Körpern dürre, schmutzige Kinder ihren Helden triumphierend die Fäuste entgegenreckten. Denn Wolf, Ratz und Hipp waren nicht nur drei junge Typen, die gleich auf coolen Bikes durchstarten würden, sie waren auch die Söhne ihres Vaters, dem »Million-Dollar-Herbie«, dessen Baumaschinenimperium sich über fast alle Länder erstreckt hatte, die unter Nukleareinschlägen begraben worden waren. Auch wenn sein Ende im Bunker, bei dem sein jüngster Sohn Hipp ihm versichern musste, dass er garantiert in den Himmel komme, ziemlich jämmerlich verlaufen war, hatten seine Bau- und Zugmaschinen, vor allem die kettengetriebenen, Thor eine Vormachtstellung über das gesamte Gebiet gesichert. Sie konnten auch größere Container und Tanks relativ rasch durch unwegsames Gelände und sogar durch mittelgroße Flussläufe schleppen, wobei sie bedeutend weniger Sprit verbrauchten als Panzer, die rasch als unwirtschaftlich und wenig effektiv im asymmetrischen Partisanenkrieg, der seit dem letzten Nukleareinschlag vor zwanzig Jahren tobte, aussortiert worden waren.
Hipp war seinem Charakter auch in den letzten Stunden seines Vaters treu geblieben. Nachdem er dem Alten die übliche Mixtur aus Walhalla und Rauschebartparadies aufgetischt hatte, die der gerne hören wollte, ohne allerdings echte Freude auf das Jenseits zu entwickeln, hatte Hipp sich mit einem Stoßseufzer zu dem Satz verstiegen: »S’ Beste wär doch, du siehst und spürst nie mehr was.«
Sein Alter hatte ihn daraufhin zu allen germanischen und christlichen Teufeln gewünscht und nach seiner Tochter Eve verlangt, doch die hatte er längst zum Studium der Medizin ins 600 Kilometer entfernte Roka geschickt, und selbst wenn sie mittlerweile die beste Ärztin der Welt geworden wäre, hätte sie ihm nicht mehr helfen können. So starb der »Million-Dollar-Herbie« ziemlich einsam und fasste sein Ende mit einem wahren Wort zusammen: »Scheiße!«
Er hinterließ ein Imperium, das sich in den ersten Jahren, nachdem eine der großen Bomben seinen Firmensitz samt umgebender Kreisstadt dem Erdboden gleichgemacht hatte, unter dem massiven Druck seiner drei Söhne vom biederen Familienunternehmen zur kriegerischen Gang »Thor« geformt hatte und den erfinderischen »Herbie« zum legendären »Duke« mutieren ließ. Den Rockerclub Thor hatte es bereits vor dem Krieg gegeben, aber da war er nur eine Ansammlung von wilden Bikern, Rausgeworfenen und nie Eingestellten vom »Herbie« gewesen, wie ihn die Rocker von Thor, denen man ihre Vorliebe für Speed in der Nase und auf dem Asphalt nicht austreiben konnte, damals abschätzig nannten.
Seine Söhne hatten im Bunker rasch die Anerkennung der überlebenden Thor-Biker gesucht, denn das waren die, die im Ernstfall den Kopf hinhielten und ohne Rücksicht auf ihre Gesundheit ein Revier verteidigten, das mit Geld und Gesetzen nicht mehr zu sichern war.
Der Duke hatte feststellen müssen, dass eine Rockergang, ergänzt durch versprengte Soldaten und marodierendes Gesocks, deren kriminelles Potenzial wie Schimmelpilz in den Bunkeranlagen wucherte, weitaus schwieriger zu beherrschen war als ein Firmenimperium in friedlichen Zeiten. Gesetze wurden nur akzeptiert, wenn sie basisdemokratisch und mehrheitlich beschlossen worden waren, dann allerdings mussten sie mit eiserner Konsequenz durchgesetzt werden, sonst verlor man jeglichen Respekt. Deswegen hatte man das »Thing« ins Leben gerufen, an dem alle Frauen und Männer ab sechzehn gleichberechtigt teilnahmen. Das hatte der damals gerade mal achtzehnjährige Cee vorgeschlagen und der alte Duke war clever genug gewesen, seinem Rat zu folgen. Im Gegenzug hatten seine drei Söhne allerdings darauf bestanden, dass keine Frau und vor allem nicht ihre Schwester Eve Zugang zum »Duketalk« erhielt, in dem der alte Herbie und seine drei überlebenden Söhne bestimmten, welche Gesetzesvorschläge und Pläne wie umgesetzt wurden. Da ergaben sich immer wieder interessante Spielräume, wenn man klug genug war, sie der Gemeinschaft als Mehrheitswillen zu verkaufen. Darin hatte es der alte Duke rasch zu höchster Meisterschaft gebracht. Er war immer wandlungsfähig gewesen, das war der Hauptgrund für seinen Erfolg. Nachdem er vor nahezu dreißig Jahren mit den traurigen Resten der Bevölkerung im Bunker gelandet war, hatte er rasch seine biederen Geschäftsanzüge durch eine von ihm entworfene Thor-Kutte und enganliegende Lederhosen ersetzt, die in goldenen Crosserstiefeln steckten, welche er jeden Monat mit neuem Glanz überzog. Der Duke wusste aufzutreten, das musste man ihm lassen. Sein Haarschnitt reduzierte sich auf ein rotes Büschel, das in der Mitte seines Schädels wie Unkraut in die Höhe schoss. Die Reste ehemaliger NATO-Soldaten und Rocker hatte er zu Kriegern ernannt.
»Soldat ist ein Beruf«, hatte er den vernarbten, von Granaten zerhauenen und vom Krebs zerfressenen Gesichtern zugerufen, »Krieger ist eine Berufung, von der Wiege bis zur Bahre!« Gemeinsam hatten sie auf das Emblem der frisch zugeschnittenen Thor-Kutten gepisst: Einen Totenschädel, der von einem Schmiedehammer zertrümmert wurde.
Wenn der Duke gut gelaunt war, gab er zu, dass er viel von Cee gelernt hatte, der trotz seiner Jugend mit seiner ruhigen, besonnenen Art weniger durch Worte als durch Taten bereits höchstes Ansehen innerhalb der Gemeinschaft genoss. Der Duke hatte nie jemandem erzählt, woher der Säugling damals gekommen war.
Cees schwarze Augen hatten die Welt von Anfang an mit undurchdringlicher Ruhe gemustert, als könnte sein Blick zu ihren tiefsten Geheimnissen vordringen.
»Du und dein Röntgenblick«, hatte Eve ihn bereits als Fünfjährige geneckt.
Als Eve sechzehn war, hatte der mittlerweile dreiundzwanzigjährige Cee dem Duke vorgeschlagen, Eve in den Duketalk aufzunehmen, als Balance zu Wolfs Jähzorn, Ratz’ ungezügelter Vorliebe fürs andere Geschlecht und Hipps Neigung zu Rauschmitteln aller Art.
Der Duke hatte den hageren, ernsten Thor-Krieger mit dem unergründlichen Blick lange gemustert. Natürlich war ihm schon lange klar, dass Cee Eve mochte, mehr als ihre drei Brüder.
»Eine Frau unter drei Männern, das gibt nur Streit.« Er lächelte kurz. »Du wirst der vierte Mann sein. Eve wird uns auf andere Art helfen.«
So war Cee unfreiwillig für Eves Abschied verantwortlich gewesen. Der Duke und zehn ausgewählte Krieger hatten Eve nach Roka gebracht, der neuen Hauptstadt der Gladiatores am Ostufer des Veleno, nachdem die Gang der Falkuns sie aus der heiligen Stadt auf der anderen Seite des großen Kavallagebirges vertrieben hatte. Eve sollte an der Università Medicina, die die Herrin der Gladiatores, Donna Giulia, gegründet hatte, zur Ärztin ausgebildet werden. Thor brauchte dringend eine Ärztin, um die Operationssäle im Bunker sinnvoll nutzen zu können. Die Reise war nicht gut verlaufen. Der Duke und seine Leute waren auf dem Rückweg von einer Patrouille der Falkuns angegriffen worden, die bereits damals auf der Suche nach Beute immer wieder über den Veleno setzten. Fünf seiner Leute wurden vor seinen Augen von Kugeln zerfetzt, der Duke selbst konnte zwar mit den restlichen Männern verwundet entkommen, aber sein Schutzanzug war so schwer beschädigt, dass sich die Strahlung in mehrere lebenswichtige Organe fressen konnte. Der Duke hatte bis zuletzt gehofft, durchzuhalten, bis Eve zurückkehrte. Er hatte Blut gespuckt und darüber phantasiert, wie sie ihn mit einem Wundermittel heilen würde, aber dieser Traum war nicht in Erfüllung gegangen.
Cees Abschied von Eve war jetzt vier Jahre her.
Ihren Rat, nicht an sie zu denken, hatte Cee nicht befolgen können. Er musterte seine Hand, die durch minimales Drehen des Gasgriffs den Motor sanft nach oben streichelte. Vier weitere Narben waren seitdem hinzugekommen, ein Tentakel aus vergangenen Schmerzen starrte ihn an. Und der Rest seines Körpers … Cee lächelte unmerklich, während Taio neben die Bikes trat und unter dem Jubel der Zuschauer den Arm hob.
Taio war einer von fünf »Falkuns«, die Cee schwerverletzt vom Schlachtfeld getragen hatte und die seitdem in einer 24-köpfigen Truppe dienten, die Cee befehligte und die für besonders riskante Raubzüge eingesetzt wurde. Die Falkuns waren vor dem Krieg die Parias im damaligen Europa gewesen, mittlerweile beherrschten sie Teile von Nordafrika und das, was vom südlichen Europa noch übrig war, bis an das Ostufer des Veleno. Die Krieger von Thor fürchteten die Falkuns als Feind mindestens ebenso sehr, wie sie den Gladiatores als Freund misstrauten. Doch hatte man sie im Kampf besiegt, konnten einige von ihnen wertvolle Verbündete werden.
Wenige Sekunden hatten Cee genügt, um zu wissen, dass Taio ihm für immer treu ergeben sein würde. Es war eine Intuition, die aus Bewegung, Berührung, aus Augenblicken entstand, ein Blick in Taios Augen, nachdem er seinen mit dunklen Schlangentätowierungen bedeckten Körper, deren aufgerissene Giftmäuler unter der Anspannung der Muskeln lebendig wurden, in einem besonders harten Kampf niedergerungen hatte. Es war genau dieser Blick, den Eve als Erste an Cee bemerkt hatte, der in Sekundenschnelle Charaktere bis in die tiefsten Abgründe ausleuchten konnte und der Cee mehr Erfolge bescherte als seine Muskelkraft.
Cee und Taio grinsten sich zu, die Maschinen heulten auf. Während Cee den Drang zu pinkeln ausblendete, hörte er undeutlich eine weibliche Stimme. Es war Lilo, eine von mehreren jungen Frauen, denen Ratz etwas voreilig das Exklusivrecht an seinem Körper versprochen hatte.
»Hast du ne Lücke im Kopf? Für so einen Scheiß den letzten guten Sprit vergeuden …!«
Es gab Situationen, in denen Ratz Lilos Temperament schätzte. Die hier gehörte nicht dazu. Ratz wusste, sie hatte nicht die geringsten Skrupel, ihn vor allen zu blamieren und vom Bike zu werfen. Wütend blickte er Taio an.
»Die Frau is härter im Ohr als 10 000 Umdrehungen. Mach zu!«
Taio senkte den Arm und die vier Maschinen zeichneten schwarze Striche auf den Asphalt, während die Vorderräder für einen Moment leicht wurden. Wolfs Maschine war ein paar Zentimeter vorne, die anderen mussten Gas wegnehmen, als er sich vor ihnen durch die Schikane quetschte. Cee war innen, musste Ratz aushalten, der sich in seiner ganzen Schönheit kurz auf ihn legte. »Kuscheln« nannten sie das. Die Strecke wurde wieder weiter, zweiter Gang, dritter, bremsen, die Gabeln von Wolf und Hipp gingen auf Block. Ratz zwängte sich vor Cee in die Kehre, beim Rausbeschleunigen drifteten die Hinterräder weg. Aufrichten, Gas, das Geschlängel um die ersten Trichter erlaubte wieder den dritten Gang, die Tachos sprangen auf 160, Cee hatte sich als Bremspunkt vor der abfallenden Kurve den geschmolzenen Rest einer Parkuhr gemerkt, in deren Schlitz, wie eine heraushängende Zunge, eine letzte Münze steckte. Bremsen vorne, hinten, gleichzeitig Zwischengas, zwei Gänge runter, der Motor seiner Diva heulte auf, abwinkeln, Cees Knieschleifer, schlecht auf die uralte schwarze Kombi getaped, flog weg, Ratz zog außen vorbei. Zu schnell! blitzte es durch Cees Kopf, Ratz musste die nächste Kurve weit nehmen, auf einem Buckel versetzte sein Vorderrad, Cee drückte sich innen durch, ihre Beine touchierten kurz, dann hob sich Ratz’ Motorrad vor Wolf und Hipp wie in Zeitlupe in den Himmel und beschrieb einen Halbkreis in den nächsten mit der üblichen Giftbrühe gefüllten Trichter. Cee nahm die letzten Kurven und flog durchs Ziel. Das Rennen war vorbei. Man interessierte sich allerdings weniger für den Sieger als für Ratz, der zum Trichterrand ruderte und brüllend ein Seil für sein Bike verlangte. Schließlich waren Mann und Maschine geborgen und Lilo musterte ihren tropfenden Freund.
»Du hast keine Lücke im Kopf, sondern totalen Leerstand!«
»Deswegen rockt’s zwischen uns so gut.«
Sie wich einem Kussversuch aus und befahl ihm, die giftigen Klamotten auszuziehen. Ratz befolgte grinsend ihren Befehl.
»Wenn’s n Ausschlag gibt, s’war nicht die Konkurrenz!«
Ihr Tritt in seinen Arsch lag schon wieder im Grenzbereich einer Liebeserklärung. Cee wusste, die beiden würden sich ein Leben lang fetzen und genau deswegen waren sie füreinander gemacht. Er rollte den Schlauch aus, mit dem Lilo Ratz gründlich abspritzte. Das Wasser, das aus ihrem Bunker hochgepumpt wurde, war zwar auch nicht sauber, aber bedeutend ungefährlicher als die Brühe aus dem Trichter. Taio trat neben Wolf und Cee: »Dannie und Rotz haben einen Transporter der Falkuns ausgemacht. Sie beliefern die »Turks« mit neuem Sprit.«
Wolf und Cee tauschten einen Blick. Das war ihre Chance, saubere Erde bei den Gladiatores zu kaufen. Erde, die sie dringend brauchten, wenn ihre Kinder älter als zwanzig werden sollten.
Cee ließ seine Augen über die 18 Männer und 6 Frauen wandern, die ihn begleiten würden. Allen war klar, wie gut die Falkuns ihre Sprittransporte absicherten. Es warteten mindestens dreißig Kämpfer auf sie, die so stark wie Taio waren.
Cee wusste, es war ein Himmelfahrtskommando, aber das war jeder Tag in diesen Zeiten. Die Belohnung war, er würde Eve wiedersehen.
Im dämmerigen Licht des Nachmittags fuhren sie auf ihren Crossbikes über einen steinigen Pfad hinunter in die flache Ebene, die sich, gespickt mit Wrackteilen vergangener Schlachten, zu den Ufern des Veleno erstreckte, dessen giftgraues Wasser sich längst ein neues Bett zwischen den von Menschen gemachten Kratern gegraben hatte, deren Ränder immer noch von den tintenblauen Krusten des Cäsiums bedeckt waren.
Nachdem Cee und Taio an einigen Stellen Messungen vorgenommen hatten, schlüpften alle wieder in ihre abgetragenen Schutzanzüge, viele so durchlöchert, dass sie bestenfalls noch als Talisman dienten. Einige schnallten sich Bleiplatten zwischen die Beine, zum Schutz der Genitalien. Der Glaube an die Unverwundbarkeit war das Wichtigste. Es waren nur noch 150 Millirem, der Grenzwert hatte vor dem Krieg allerdings mal bei 30 gelegen, aber daran konnte sich kaum noch jemand erinnern. Cee bestand darauf, dass jeder seinen Anzug anlegte, die Truppe war zu wertvoll, um sie unnötigen Risiken auszusetzen. Er brauchte sie, jeden einzelnen, und er war stolz auf sie, besonders auf die Frauen. Lilo und Pinka hätten vor dem Krieg wie ihre Mütter in einem Supermarkt oder in einer Joghurtbecherfabrik gejobbt, vielleicht hinter der Kasse eines Baumarkts gestanden oder in Pflegeheimen die Böden geschrubbt; dieses Leben kannten die beiden nur aus Erzählungen. Der Krieg dauerte bereits so lange, zwanzig, dreißig, vierzig Jahre, so genau wusste das keiner mehr, nicht einmal, ob jetzt Frieden war, ob Raubüberfälle ohne Atombomben, Luftangriffe und Panzerschlachten Frieden bedeuteten. Die Mütter von Lilo und Pinka waren schon lange tot, ebenso wie das alte Leben. Ihre Töchter waren jetzt Kriegerinnen von Thor, und es war diesen Kriegerinnen sehr wohl bewusst, dass es eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes benötigt hatte, um sie von der Tretmühle des Schichtbetriebs, demütigend schlechter Bezahlung und Zeitarbeitsverträgen zu befreien. Auch wenn diese Freiheit häufig sehr hart und sehr kurz war, Cee wusste, dass Lilo und Pinka, im Gegensatz zu vielen anderen, die dem angenehmen, friedvollen Leben vor dem Krieg hinterhertrauerten und es in der Nebelwand des Vergessens idealisierten, niemals mit dem Leben ihrer Mütter getauscht hätten. Das war Wahnsinn, aber sobald er sie kämpfen sah, bewunderte er sie. Auch wenn sie manchmal wie kleine Mädchen über Lappalien wie das Fehlen von Lakritzstangen oder Schokosnacks klagen konnten, entzündeten sie lieber einen Kienspan, als den Lichtschalter zu betätigen, webten lieber ihre Klamotten, als sich im Schlussverkauf übers Ohr hauen zu lassen, und sobald es ernst wurde, waren sie gefürchtete Kämpferinnen, geschickte Räuberinnen, Teil einer Truppe, die in der ganzen Gegend geachtet und gefürchtet war. Sie waren kein bedeutungsloses Rädchen im Getriebe, das irgendwann ersetzt und entsorgt werden würde. Solange sie leben und kämpfen konnten, waren sie wichtig und hatten Macht. Die Stimmen der blondgelockten, scharfzüngigen Lilo, die, aufgewachsen im Kraftraum des Bunkers, mühelos einen Siebzig-Kilo-Mann in die Luft stemmen konnte, und der etwas grazileren rothaarigen Pinka, deren exakt geworfene Dolche auf einen besonders gehassten Gegner, der beim Dartwettbewerb die Scheibe ersetzte, jedem Respekt einflößten, waren im Thing laut und deutlich zu vernehmen.
Mindestens genauso wichtig war, wie sie vorher mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, und die waren beträchtlich, die Männer in ihrem Sinne beeinflussten. Cee wusste, der einzige Schwachpunkt bei Thor war, dass diese basisdemokratische Struktur in den Flaschenhals einer autoritären Führung mündete, dem Duketalk, in dem drei Schwächlinge saßen, die dieses Recht nicht verdient, sondern geerbt hatten. Der Talk funktionierte nur, weil die drei meistens auf Cees Ratschläge hörten, die Cee klugerweise vorher im Thing zur Abstimmung gebracht hatte. Cee wusste, dass es trotzdem eine Fehlkonstruktion war, die irgendwann behoben werden musste, aber dafür brauchte es Veränderungen, große Veränderungen. Vielleicht wenn Eve in einigen Jahren zurückkehrte.
Er kannte den Pfad so gut, dass sein Vorderrad wie von selbst den engen Windungen bergab folgte, und so hätte er sich den einen oder anderen Gedanken an Eve gönnen können, eine Erinnerung an ihre von denkbar wenig Sonneneinstrahlung getrübte milchweiße Haut, ihren intensiven Blick, der ihn durch die aus verbrannter Erde wieder hochgewachsenen dichten Baumreihen zu mustern schien, als ihn Gelächter aus seinen Träumen riss. Pinka hatte sich, wie alle anderen auch, mit weißer Kalkfarbe ein Skelett auf ihren schwarz gefärbten Schutzanzug gemalt, die übliche Kluft einer ihrer Konkurrenzgangs, der »Savager«, wobei die sich, in Ermangelung von Kutten, die weiße Farbe häufig direkt auf die mit Ruß eingeschwärzten Oberkörper pinselten. Die Savager wollten mit dieser Aufmachung Furcht einflößen, Cee kopierte sie aus einem anderen Grund. Ratz hatte einen Witz über die weiblichen Formen gemacht, die Pinkas Skelett im Brustbereich prägten, und Lilo hatte ihm daraufhin empfohlen, sein Skelett im Schambereich entsprechend auszugestalten. Cee schüttelte unwillig den Kopf. Ratz war nur mitgekommen, weil er es auf Pinka abgesehen hatte, und das würde über kurz oder lang zum Streit mit Lilo führen. Es war dumm, solche Konflikte in ein riskantes Unternehmen hineinzutragen, aber Ratz war einer der Dukes – den Titel hatten er und seine Brüder im Gegensatz zum Verstand von ihrem Alten übernommen – Cee konnte ihm nichts vorschreiben.
Er stoppte das Bike am Fuß des Berges, der hier in die Ebene überging. Vor ihnen lag ein altes Schlachtfeld. Ausgebrannte Panzerwracks mit hängenden Rohren und zerfetzten Ketten. Dazwischen die Knochen einer Infanterieeinheit. Es war einer der ersten Kämpfe auf der Ostseite des Veleno gewesen. Zum ersten Mal hatten Milizen aus dem Wüstenkontinent versucht, über den Fluss zu setzen. Verzweifelte, deren Heimat von Atomwaffen zerstört worden war, nachdem ein kleines, aber sehr heiliges Land von fünf atomaren Explosionen vernichtet worden war: das Auge des Feuers, mit dem alles begonnen hatte, wie die Alten, die Krepierenden, die Verstrahlten flüsterten. Wie lange war das her? Dreißig Jahre, noch länger? Keiner wusste es mehr so genau, die Zeit war gespalten wie Atomkerne, in etwas sehr Nebulöses davor und etwas gnadenlos Konkretes jetzt. Genauso wie Cees Gehirn. Ein Teil seiner Gedanken checkte jedes Detail seiner Umgebung, immer auf der Suche nach Gefahr, etwas Unerwartetem, Tödlichem, während ein anderer Teil sich innerlich auf den bevorstehenden Überfall vorbereitete. Während Ratz und Pinka Witze darüber rissen, welcher Totenschädel am besten auf ihren Kopf passte – sie hatten reichlich Auswahl – inhalierte Cee einmal mehr die Geschichte, die ihm die alte Hilde, Dukes Frau, kurz nach Eves Geburt und schwer vom Krebs gezeichnet, auf dem Sterbebett erzählt hatte.
Lange hatte man auf der Ostseite des Veleno geglaubt, sich aus dem Krieg heraushalten zu können, indem man die anderen finanzierte und alle Seiten mit Waffen versorgte. Das Leben nahm seinen Lauf wie auf einer Insel, die sich im umtobten Sturm allzu sicher fühlte. Die Super- und Baumärkte hatten geöffnet und je unerbittlicher die Katastrophe näher rückte, umso hemmungsloser hatte sich die Bevölkerung in Kaufräusche geflüchtet, Konsumgüteraktien haussierten. Dann revoltierten die Menschen aus dem mittlerweile unbewohnbaren Wüstenkontinent, die illegal in den Städten vegetierten und aus denen später die Falkuns wurden. Ihr Name resultierte aus den schwarzen, labyrinthischen Tätowierungen, mit denen sie sich von den Haarwurzeln bis zu den Zehennägeln bedeckten und auf denen Raubvögel und Drachen zentrale Motive darstellten, infolge fehlender Schutzanzüge eine Art mythischer zweiter Schutzhaut, mit deren Bildern und Inschriften Unverwundbarkeit beschworen wurde. Gleichzeitig sprang der Krieg vom Wüstenkontinent übers Meer und wälzte sich über das Kavallagebirge bis ans Westufer des Veleno. Man hatte geglaubt, ihn mit konventionellen Waffen führen zu können, aber irgendwann war die Zuversicht verloren gegangen, ein ungeduldiger Spieler hatte sein Blatt zerrissen und durch nuklearen Wahnsinn ersetzt. Weitsichtige Männer wie der alte Duke hatten das vorausgesehen und die Politiker mit den üblichen Mitteln überredet, in Bunkeranlagen zu investieren, die sein Firmenkonglomerat für teures Geld baute. Die Bunkeranlage, in der er und seine Familie Schutz suchten, hatte er klugerweise nicht direkt unter das ebenfalls von ihm erbaute Militärkrankenhaus setzen lassen, sondern etwa fünfzig Kilometer versetzt, durch lange Gänge verbunden, die breit genug für Kleinfahrzeuge waren. So hatten er und die anderen Bunkerinsassen überlebt, nachdem das Krankenhaus mit betonbrechenden Präzisionsbomben ausgelöscht worden war.
Als eine atomare Bombe auf die Kreisstadt niedergegangen war, hatte Hildes ältester Sohn Tommi geholfen, Kinder in die Bunkeranlage zu evakuieren. Sein Schutzanzug war offensichtlich undicht gewesen. Als sein Gesicht sich stark rötete, maß man 1600 Röntgen auf seinem Körper, der Grenzwert lag bei 400.
Hildes Hand hatte immer wieder über Cees Gesicht gewischt, während sie erzählte. Als könnte sie Cees gesunde Haut wegwischen und dahinter die kranke ihres Sohnes spüren. Bald schon, sagte sie, durfte sie Tommi nicht mehr berühren, seine Haut löste sich vom Fleisch. Sie konnte ihn nur noch mit dünnen Laken zudecken, ohne Naht. Jede Naht tat ihm weh.
Cee hörte Hildes Stimme, ihre Worte, wie ein furchtbares Gebet vor der Schlacht:
»Tommis Körper versuchte, sich zu reinigen, dreißigmal Stuhlgang an einem Tag, blutiger Schleim. Einmal stellte jemand eine offene Konserve mit Ananas neben sein Bett. Tommi nahm sie in die Hand, wollte, dass ich sie esse, aber sie war so verstrahlt von seinen Fingern, ich durfte sie nicht anfassen. Er wollte unbedingt, dass ich diese damals schon seltene Frucht bekomme, aber ich sagte, iss du, ich hab keinen Hunger. Ich konnte ihm nicht sagen, du hast das Essen vergiftet, du bist giftig. Sie hatten mir verboten, ihn zu berühren, aber ich konnte nicht anders. Immer wenn ich ihn umarmte, wurde das Laken rot. Meine roten Fingerabdrücke auf dem weißen Laken werde ich nie vergessen.
Am Schluss lösten sich seine Organe auf. Er würgte Teile seiner Leber hoch. Er drohte zu ersticken. Ich zog einen Handschuh an und holte die Stücke aus seinem Hals. Danach musste ich auf die Toilette und mich übergeben. Ich dachte, ich kotze seine Leber aus mir raus. Als ich zurückkam, war er tot. Man sagte mir, er hat nach dir gerufen, aber du warst nicht da. Ich höre heute seine Stimme, die ich damals nicht hörte: Geh nicht! Geh nicht!!«
Cee hatte Hildes mittlerweile ebenfalls von tödlichen schwarzen Punkten gezeichnete Hand gespürt, die seinen gerade mal siebenjährigen Arm umkrampfte. Er war nicht weggegangen, keine Sekunde.
Er ging jetzt, nachdem er den Mut gehabt hatte, sich an jedes Detail zu erinnern, durch das Tor der Angst, um bereit zu sein für alles: Jeden Schmerz, jedes Leid, jeden Kampf. Er bückte sich, griff sich einen passenden Totenschädel, stülpte ihn über das poröse Gummi seines Kopfteils, ersetzte seinen zerschrammten, schwarzen Helm. Die Knochen der Toten waren ihm so vertraut wie seine eigenen. Er blickte sich um. Seine Leute hatten sich in einen Trupp Savager verwandelt und er war ihr Anführer.
Die ehemalige Bundesstraße, vor vielen Jahrzehnten parallel zum Veleno gebaut, war mittlerweile ein von vielen Hügeln und Senken, von aufgerissenen und frisch gefüllten Löchern sowie abenteuerlichen Umfahrungen größerer Granateinschläge geschundenes Band, eine Rollbahn des permanenten Kleinkrieges, der wie ein hartnäckiges Buschfeuer immer wieder in den letzten lukrativen Ecken der Kraterlandschaft aufflackerte. Diese Verbindung, die die diversen Reste der Zivilisation mühevoll zusammenhielt, führte steil nach oben auf einen Hügel, der durch den Einschlag einer der zwei Wasserstoffbomben, die am Oberlauf des Veleno niedergegangen waren, aus der Erde geschleudert worden war und auf dem zerrissene, seit langem entwurzelte Bäume wie ein schwarzes Mikadospiel vor dem rot glühenden Horizont eines verwesenden Tages in den Himmel ragten, durch den das kalte Auge der Sonne sich wieder einmal vergeblich zu bohren versucht hatte.
Cee legte sich mit seinen Leuten links und rechts der Kuppe auf die Lauer. Auch wenn man durch die Anzüge einigermaßen geschützt war, es blieb ein seltsames Gefühl, auf der kontaminierten Erde zu liegen, fast so, als wollte man sich mit etwas vereinigen, das einen zerstörte. Jede Faser seines Bewusstseins durchleuchtete die Umgebung, der kleinste Fehler konnte ihn in jedem Augenblick vernichten. Wenn er durch das Tor der Angst gegangen war, faszinierten ihn diese alles durchdringenden Beobachtungen, die sich in seinen Muskeln auflösten und ihn in einen Zustand intuitiver Konzentration versetzten. In diesem Zustand war er eins mit Lilo und Pinka, die auf der anderen Seite der Kuppe lauerten. Sie waren ein gefährliches Tier, das stundenlang auf seine Beute wartete, bis sich seine Pranken zum Angriff zusammenzogen.
Die zwei Trucks der Falkuns kamen in der Dunkelheit. Die Augen ihrer Fahrer waren offensichtlich durch jahrzehntelangen Aufenthalt im Bunker ebenso geschult wie die der Thorleute, sie brauchten zum Fahren kein Licht. Die Motoren keuchten den Anstieg nach oben. Jetzt!
Cee und Taio von rechts, Lilo und Pinka von links ließen die Seitenfenster splittern, rammten Fahrer und Beifahrer ihre Messer in den Hals, wobei sie mit einer zweiten, schnellen Bewegung die Schlagader durchtrennten. Türen auf, die zuckenden Körper der Falkuns flogen auf die Straße, Cee und Taio enterten den ersten Truck, Lilo und Pinka den zweiten. Die Zugmaschinen hatten kaum an Fahrt verloren, ehe sie das Gaspedal durchtraten, schwarzen Dieselqualm durch die Auspuffschächte jagten und die Tanklastzüge auf eine vorbereitete Piste lenkten, die notdürftig präpariert worden war und weg von der Rollbahn, steil bergab in undurchdringliches Gestrüpp führte.
Cee kuppelte aus und ließ die zwanzig Tonnen nach unten schießen. Der kleinste Fehler am Lenkrad und sie würden in einem Feuerball enden. Tanz der Endorphine! Die Zugmaschine sprang über eine Welle, drohte beim Aufsetzen auszubrechen, Cee gelang es, sie in der Spur zu halten. Taio sah im Rückspiegel die Crosser der Falkuns, die ihnen auf den Fersen waren, jedoch nicht auf den Tank mit dem Sprit schossen, da die Fracht zu wertvoll war, um sie bereits jetzt aufzugeben. Sie waren schnell, zu schnell für die Trucks. Die ersten beiden Jockeys tauchten bereits neben ihren Seitenfenstern auf, Taio jagte ihnen aus seinem ausgeleierten Revolver mehrere Schüsse entgegen, die Trommel blockierte, er drehte sie von Hand weiter, hatte Glück, als die nächsten Patronen zündeten und ihre Gegner von den Bikes rissen, ein gehetzter Blick zu Cee, das Weiße in seinen Augen erteilte nur einen Befehl: Schneller! Hinter ihnen schien sich der Boden plötzlich unter ihren restlichen Verfolgern zu bewegen, gleichzeitig brach ein braunes Unwetter aus Sand und Gestein über sie herein, das sie wie Puppen von den Crossern wirbelte. Der Rest der Thorleute hatte auf dem Kamm des Hügels eine Lawine gesprengt, die jetzt über die Falkuns hinwegrollte, allerdings auch die Trucks zu verschlingen drohte. Eine braune Geröllflut umspielte die Reifen bereits auf Kniehöhe, Cee erreichte die Ebene, kuppelte ein, Vollgas, die Zugmaschine jumpte, als wollte sie ein Wheelie vor dem Auflieger hinlegen, drohte kurz nach links auszubrechen, Cee mähte Dornensträucher und einige Baumkrüppel nieder, als er in einem weiten Bogen auf die Piste zurückfand und die Fuhre neben einem öligen Seitenarm des Veleno stoppte. Pinka hielt hinter ihm.
»Gib das nächste Mal mehr Stoff! Wär dir fast in Arsch gefahren!«
Sie machte eine Mundbewegung, als würde sie einen der Kaugummis platzen lassen, die es zu ihrem Leidwesen nur noch streng rationiert gab. Cees linker Mundwinkel zuckte.
»Dachte, ich muss auf dich warten.«
»Nur beim Vorspiel.«
Pinka spuckte Sand aus, Lilo grinste. Cee packte Taio an der Schulter. Das genügte, um dessen Augen aus der Starre zu reißen. Cee wusste, Taio konnte niemals durch das Tor der Angst gehen. Er kämpfte mit der Furcht im Nacken, sie war sein ständiger Begleiter. Das war sein Weg, und er ging ihn gut. Es gab verschiedene Wege, ein guter Krieger zu sein, und es war wichtig, jeden seinen eigenen Weg gehen zu lassen.
Die Falkuns hatten sich trotz der Gerölllawine erbittert gewehrt. Drei tote Thorleute, zwei Schwerverletzte mit Bauchschüssen, das war ein hoher Preis, selbst für zwei Tanklastzüge voller Sprit. Cee entsorgte seinen Knochenhelm, erteilte rasche Befehle. Ein Pick-up wurde über Walkie verständigt. Handys kannten Cee und seine Generation nur noch aus vergilbten Katalogen. Der Trümmerring rund um die Erde war so dicht, dass längst alle Satelliten pulverisiert worden waren. Die Insassen des Pick-ups sollten die Batterie für den Kahn bringen und die Schwerverletzten abholen. Die Tanks mit dem Sprit mussten möglichst schnell auf den über dreißig Meter langen Lastkahn gebracht werden, der sie unter einigen krummgewachsenen Weiden für die Weiterfahrt erwartete. Laderampen wurden mit Hammerschlägen am Schiffsrumpf befestigt und vor den Zugmaschinen ausgelegt. Taio blickte sich bei jedem Geräusch unwillkürlich um. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein neuer Trupp Falkuns ihre Verfolgung aufnehmen würde. Niemand war so naiv zu glauben, dass dieser Begleitschutz bereits die ganze Bescherung gewesen war. Die Falkuns durften sie auf keinen Fall erwischen, sonst flog ihre Tarnung auf. Dann wäre klar, nicht die Savager, sondern Thor hatte die Falkuns überfallen, und das würde üble Folgen nach sich ziehen. Die Falkuns und die Gladiatores waren die Großmächte, zwischen denen Thor geschickt agieren musste.
Lilo und Pinka fuhren die beiden Lastzüge auf den Kahn. Cee betrat das leicht schwankende Deck und musterte die beiden Tanks. Er stoppte Ratz mit einer Handbewegung, der einen armdicken Schlauch an den ersten anschließen wollte, um den Motor des Schiffs mit Sprit zu versorgen. Es war zu einfach gewesen. Die Falkuns sicherten solche Transporte besser. Mit einem schweren Schraubenschlüssel klopfte Cee das Metall des ersten Tanks ab. Er nickte Taio zu. Der kletterte nach oben, schraubte den Verschluss ab, voll! Ratz ließ Sprit in den Schiffstank laufen. Cee ging auf den nächsten über fünfzehn Meter langen grauen Zylinder zu, der an die zweite Zugmaschine gekoppelt war. Sein Schraubenschlüssel schlug erneut gegen das glatte Metall. Der Gedanke, mit dem nächsten Schlag 25 000 Liter Diesel explodieren zu lassen, blitzte in ihm auf. Solche Gedanken begleiteten ihn ständig und hielten ihn nicht von der Arbeit ab. Doch nach dem nächsten Schlag blieb er abrupt stehen. Das Klopfgeräusch war eindeutig heller. Wie ein Xylophonspieler auf zwei Tonstäben spielte er seine kurze Melodie auf der Metallhaut der beiden Tanks. Es bestand kein Zweifel.
Mit knappen Handbewegungen beorderte er seine Truppe in sichere Winkel, packte Ratz’ Füllstutzen, ließ einen Kanister zur Hälfte volllaufen, tränkte etwas Putzwolle mit Sprit, stopfte sie in den Kanister, kletterte auf den zweiten Tank, entzündete die Putzwolle, öffnete die Luke, ließ den qualmenden Kanister ins Innere fallen und sprang ab, ehe ihn die erste Salve treffen konnte. Der Tank schien zu explodieren. Blei prallte auf Metall, Kugeln rissen gezackte Öffnungen in die Eisenhaut, jaulten in die Dunkelheit des Waldes, während Rauch aus der Luke in den nachtschwarzen Himmel stieg, sodass der Tank wie ein urweltlicher Drache wirkte, der im Todeskampf seinen letzten Feueratem aus den Lungen presste. Die Thorkrieger schossen mit allem, was sie hatten, zurück. Die wenigen Falkuns, die halberstickt aus der Luke kletterten, wurden getroffen und glitten wie abgestürzte Kletterer von den Tankwänden. Einer landete schwerverletzt neben Cee auf den verrosteten Stahlplatten des Decks. Cee spürte Taios Blick und gleichzeitig die Gewissheit, dass er dem Mann am Boden nicht trauen durfte.
»Mich hast du damals verschont.«
»Du warst anders.«
Cee blickte in das blutende Gesicht des Mannes. Er wusste, dieses Gesicht, die Verzweiflung, dann die Resignation, als er den Lauf seiner Waffe hob, all das würde ihn später verfolgen, in den Nächten immer wieder auftauchen. Es war ein weiterer Kampf, den er immer wieder bestehen musste, vielleicht bis zum Wahnsinn, bis zum Untergang. Seine Augen durchdrangen ein letztes Mal das Gesicht des Mannes. Er konnte ihm nicht vertrauen. Er schoss. Eine große innere Leere breitete sich wie schwarzer Nebel in ihm aus. Eine Leere, die sich langsam zusammenziehen und erst später in mörderischen Traumbildern explodieren würde.
Mit reglosem Gesicht beauftragte er Lilo und Pinka, die Zugmaschine mit dem zerstörten Tank vom Schiff zu fahren und sie an einer der Straßensperren der Savager einigermaßen gut getarnt abzustellen. So gut, dass die Falkuns endgültig davon überzeugt wurden, dass die Savager und nicht Thor ihren Sprit gestohlen hatten.
Ratz begriff erst jetzt, warum Cee vor einigen Wochen den Falkuns drei relativ wertlose Pick-ups ohne Waffen geklaut hatte, die er ebenfalls im Gebiet der Savager versteckt hatte. Der einzige Wermutstropfen war, dass Lilo und Pinka zur Weiterfahrt mit dem Truck abkommandiert waren und er sich jemand Anderen suchen musste, um sich die kalten Nächte auf dem Schiff zu vertreiben. Seine flinken Augen wanderten über Susan, Peggi, Cancan und Dragon. Auch wenn sie zur Zeit in unförmige ABC-Anzüge gehüllt waren, Ratz’ rege Phantasie konnte sich lebhaft vorstellen, was sich darunter verbarg. Er würde schon etwas Passendes finden. Lilo presste kurz ihre gepiercte Zunge zwischen seine Lippen.
»Vergiss nie, Schatz, ich erfahr alles.«
Ratz verdrängte, wie sie ihn nach seinem letzten Seitensprung samt Schutzanzug an der Garderobe aufgehängt hatte, und versuchte vergeblich, nach ihrer Zunge zu schnappen.
»Du erfährst vor allem, was nicht passiert.«
»Alles, was ich höre, zählt.«
Cee war den beiden für ihr albernes Schauspiel beinahe dankbar, denn es brachte die Männer zum Lachen und lenkte sie von den Verlusten ab.
Der Pick-up tauchte zwischen einigen Baumresten auf, hielt mit laufendem Motor, die Batterie wurde auf das Schiff geschleppt, die Toten und Verwundeten auf die Ladefläche gelegt. Einer schrie so laut, dass Taio ihm mit einem Kolbenhieb die Schmerzen nahm. Zumindest vorübergehend.
Lilo sprang hinter das Steuer der Zugmaschine, Pinka koppelte den durchlöcherten Tank ab und enterte den Beifahrersitz. Die beiden entschwanden hinter dem Pick-up in die Dunkelheit.
Die kurze Stimmungsaufhellung war verflogen. Mit düsterem Schweigen sahen die Frauen und Männer der ungewissen Flussfahrt entgegen. Cee stellte sich vor sie: »Wir haben den Sprit teuer bezahlt, aber wir haben ihn! Wir werden ihn in saubere Erde verwandeln. So werden nicht nur wir, sondern auch unsere Kinder überleben!«
Es waren nicht die Worte, die sie überzeugten, es waren die unzähligen Kämpfe, durch die er sie bisher siegreich geführt hatte. Cee wusste, sie glaubten ihm, und das war ein gutes Gefühl.
Ratz startete den Motor des Kahns. Nach dem fünften Anlauf husteten fette Qualmwolken aus dem Schornstein. Cee löste die massiven Ketten von den Pollern, sie waren verrostet und schwergängig. Aber jeder Handgriff tat gut, je schwerer umso besser. Er schaltete die unruhigen Gedanken ab, sie verwandelten sich in unruhig kreisendes Blut. Handgriffe waren gut für Cee, schnell und präzise, genau so erteilte er auch seine Befehle. Im Kampf liebten seine Leute ihn dafür, deswegen liebte Cee den Kampf. Wenn nur das Danach nicht wäre, die Zeiten dazwischen, in denen aus dem Kampf gegen die Gegner der Kampf gegen die schwarzen Gedanken wurde. Er betrachtete den Rost der Ketten auf seinen Fingern. Es war über ein Jahr her, seitdem Thor den Kahn das letzte Mal zu den Gladiatores gefahren hatte, er war nicht dabei gewesen. Ein Raubzug gegen die Turks, der ihnen ein unterirdisches Depot mit Plastikwasserflaschen aus der Vorkriegszeit eingebracht hatte, war wichtiger gewesen. Trinkwasser war das Allerwichtigste, noch wichtiger als Sprit! Sogar wichtiger als ein Wiedersehen mit Eve. Er spürte ihr langes blondes Haar über sein Handgelenk streifen, als würde ein zarter Verband um eine schwere Wunde gewickelt, ein leises Geräusch schreckte ihn auf. Keine Zeit für Träume!
Es war ein Creep, der offensichtlich im Lagerraum gehaust hatte und jetzt versuchte, in den Fluss zu entkommen. Taio packte ihn am Nacken und hielt ihn in die Höhe, während er wie eine dürre Katze um sich trat. Creeps lebten nicht in Gruppen, sie besaßen kein festes Lager. Sie waren Einzelgänger, verwendeten primitives Werkzeug, einige trugen noch nicht einmal einen Lendenschurz. Der hier besaß eine rustikal genähte, viel zu weite Wildschweinlederhose, was einige Thorkrieger zu höhnischem Grunzen veranlasste. Cee zog mit einer schnellen Handbewegung ein Steinmesser aus der Tasche des Creeps. Es war kunstvoll gefertigt, der Stein war scharf wie guter Stahl. Taio wandte den Kopf, sodass der Speichel des Creeps nur seine Wange traf und antwortete mit einer kräftigen Ohrfeige. Der Kahn legte ab und glitt langsam an dunklen Weiden entlang, die wie die wilde Haartracht zu Gesträuch erstarrter Dämonen in die Nacht wucherten, der Bug teilte das nahezu reglose Wasser des Nebenarms, das sie zur Mündung führte. Ölreste glitzerten wie eine geheimnisvolle Schrift im Mondlicht.
»Soll ich ihm den Rest geben oder ihn ins Wasser werfen?«
»Lass ihn los.«
Taio blickte Cee an, der nickte kurz zur Bestätigung. Taio ließ den Creep aufs Deck fallen. Cee trat dicht vor ihn.
»Steh auf.«
Der Creep richtete sich langsam auf, ohne die Hände zu benutzen; selbst im Stehen schien er sich zu ducken. Er war ungefähr einen Kopf kleiner als Cee und schien nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen. Armlange Haarbüschel verstreut auf einem beinahe kahlen, mit Flecken bedeckten Schädel. Als sei eine der Weiden am Ufer zum Leben erwacht. Cee hielt ihm sein Messer vor die blassgrünen Augen, die stumpf und teilnahmslos vor sich hinzustarren schienen.
»Wie gut bist du damit?«
Ein Funke wie von einem Streichholz, das sofort wieder erlischt, glomm in den Augen des Creeps.
»Besser als dein bester Mann mit seiner Waffe.«
Ratz lachte betont laut auf.
»Das müssen wir sehen!«
Zustimmendes Gelächter.
»Du gegen ihn?«
Ratz verfolgte unbehaglich, wie Cee den Kopf leicht schief legte. Ein untrügliches Warnzeichen. Ratz atmete tief durch.
»Es geht ja nicht ums Abspritzen.« Er lachte erneut und seine zu großen Zähne schimmerten im Mondlicht. »Mit der Knarre ist der Dannie besser.«
Seine Hände landeten schwer auf dem Kopf eines untersetzten Thorkriegers mit Rundschädel und gleichmütig blickenden Augen. Wetten wurden abgeschlossen. Die meisten drehten sich um selbstgebrannten Wodka. Cee wusste, dass sie nie einen Creep akzeptieren würden, solange sie nicht gesehen hatten, dass er eindeutig besser war als sie. Also mussten die Dinge ihren Lauf nehmen. Es wäre allerdings dumm gewesen, zwei gesunde Kämpfer zu riskieren. Cees Augen wanderten und stoppten bei Ritch, der seit zwei Wochen jeden Morgen roten Schleim hustete.