Thron in Flammen - Brian Staveley - E-Book

Thron in Flammen E-Book

Brian Staveley

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Beschreibung

Seit sie herausgefunden hat, wer ihren Vater ermordet hat, ist Adare – die Tochter des annurischen Kaisers Sanlitun – auf der Flucht, der Unbehauene Thron ist ihren Feinden in die Hände gefallen. Gleichzeitig verfolgen Adares Brüder, Valyn und Kaden, ihre eigenen Pläne: Valyn geht ein Bündnis mit den verfeindeten Barbarenhorden aus dem Norden ein, und Kaden wandelt auf uralten magischen Pfaden, um das Geheimnis zu ergründen, das Annur seit Jahrhunderten vor dem Bösen beschützt. Ein Geheimnis, von dem das Schicksal der gesamten Menschheit abhängt ...

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Seitenzahl: 1274

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Das Buch

Der Unbehauene Thron, das Zentrum der Macht des annurischen Kaiserreiches, ist verwaist: Kaiser Sanlitun wurde heimtückisch ermordet, und seine Kinder, Adare, Kaden und Valyn, sind auf der Flucht vor den Verschwörern. Als Adare ihren Geliebten Il Tornja als den Mörder ihres Vaters entlarvt, verschwindet sie heimlich aus dem Kaiserpalast und schließt sich einer Pilgerschar an – doch hinter der Maske der frommen Wanderer lauert eine tödliche Gefahr, die Adare zu spät erkennt. Währenddessen wird Valyn mit seinem Trupp Elite-Soldaten von den Urghul, einem wilden und brandgefährlichen Barbarenstamm gefangen genommen. Und Kaden, der Thronfolger, muss sich auf finstere Pfade begeben – Pfade, die vor ihm kein Mensch je betreten hat –, wenn er sein Erbe antreten und Kaiser von Annur werden will. Jeder der drei Geschwister verfolgt eigene Pläne, jeder von ihnen trifft auf überraschende Verbündete und neue Feinde – und inmitten von Intrigen, Machtgier und Magie ist nur eines klar: Im Kampf um die Herrschaft über Annur kannst du niemandem vertrauen …

Spannung, Magie und Abenteuer pur – nach Der verlorene Thron setzt Brian Stavely mit Thron in Flammen sein großes Fantasy-Epos fort.

Der Autor

Brian Staveley studierte kreatives Schreiben an der University of Boston und unterrichtete Literatur, Geschichte und Religion – Themengebiete, die sein eigenes Schreiben nachhaltig beeinflussen. Mittlerweile arbeitet er als Lektor und Autor. Brian Staveley lebt mit seiner Familie in Vermont.

Mehr über Autor und Werk erfahren Sie auf: www.bstaveley.wordpress.com

www.twitter.com/HeyneFantasySF@HeyneFantasySF

Brian Staveley

Thron in Flammen

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Michael Siefener

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Titel der amerikanischen OriginalausgabeTHE PROVIDENCE OF FIRE –

CHRONICLE OF THE UNHEWN THRONE BOOK 2

Deutsche Erstausgabe 12/2015

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2014 by Brian Staveley

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe und

der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-16873-5V003

www.heyne.de

Für meine Frau

Als Sioan die Turmspitze erreicht hatte und von der letzten Stufe in die bittere Kälte der Nacht trat, brannte die Luft in ihrer Lunge genauso heftig wie das Feuer, das unten durch die Straßen tobte. Das Klettern hatte viele Stunden in Anspruch genommen – genau genommen sogar die halbe Nacht. Die Wächter, die an ihr vorbeigelaufen waren, hatten keine Anzeichen von Erschöpfung gezeigt, doch schließlich war es die aedolianische Garde gewohnt, einmal im Mond in voller Rüstung die Stufen von Intarras Speer hinaufzulaufen. So bereitete es ihnen keine Mühe, einer Kaiserin in mittlerem Alter und drei kleinen Kindern zu folgen. Doch Sioan fühlte sich, als müsste sie gleich zu Boden sinken. Jeder Treppenabsatz lud sie ein, sich auszuruhen und sich gegen die Holzbalken zu lehnen, von denen die Treppe getragen wurde, dann die Augen zu schließen und einfach einzuschlafen.

Ich bin zu weich geworden, sagte sie sich immer wieder. Der Selbsttadel war das Einzige, was ihre zitternden Beine in Gang hielt. Ich bin zu einer weichen Frau geworden, die inmitten von weichen Dingen lebt.

Doch in Wahrheit machte sie sich größere Sorgen um ihre Kinder als um sich selbst. Sie alle hatten den Speer schon oft erklettern müssen, aber noch nie mit solcher Eile und Dringlichkeit. Ein gewöhnlicher Aufstieg dauerte etwa zwei Tage, wenn man auf dem Weg Pausen einlegte und Erfrischungen zu sich nahm. Tabletts mit Speisen sowie Matratzen waren zuvor stets von einem Voraustrupp aus Köchen und Sklaven bereitgestellt worden. Diese Aufstiege waren angenehm und glichen einer Feier; doch für einen so wilden und raschen Lauf wie heute waren die Kinder zu klein. Aber Sioans Gemahl hatte darauf bestanden, und niemand widersetzte sich dem Kaiser von Annur.

Das ist ihre Stadt, hatte Sanlitun zu ihr gesagt. Sie ist das Herz des Reiches. Sie ist etwas, das sie sehen müssen. Der Aufstieg wird die geringste der Schwierigkeiten sein, denen sie sich später einmal zu stellen haben.

Er musste diesen kentverdammten Turm schließlich nicht besteigen. Ein Kettral-Geschwader – fünf Männer und Frauen mit hartem Blick und schwarzer Kleidung – hatten den Kaiser auf den Krallen ihres massigen, erschreckenden Falken auf die Spitze des Speers getragen. Sioan begriff die Dringlichkeit. Die Flammen tobten durch die Straßen, und ihr Gemahl benötigte einen hoch gelegenen Punkt, um seine Befehle zu geben. Annur konnte es sich also nicht leisten zu warten, bis er Zehntausende Stufen ganz hinaufgeklettert war.

Die Kettral hatten sich erboten, auch Sioan und die Kinder nach oben zu tragen, aber sie hatte abgelehnt. Sanlitun behauptete, die Vögel seien zahm, aber »zahm« war dasselbe wie »domestiziert«, und sie hatte keineswegs die Absicht, ihre Kinder den Krallen einer Kreatur zu überlassen, die mit einer einzigen Bewegung einen Ochsen in Fetzen reißen konnte.

So quälte sich Sioan die Stufen hoch, während der Kaiser bereits auf dem Dach stand und die Kommandos gab, die zum Löschen der Brände in der Stadt führen sollten. Still verfluchte sie ihren Gemahl, weil er darauf bestanden hatte, dass sie ihn begleiteten. Und sie verfluchte sich selbst, weil sie alt wurde. Die Aedolianer stiegen still und stetig nach oben, aber die Kinder wurden trotz ihres anfänglichen Eifers immer müder. Adare war das älteste und stärkste, aber auch sie war nicht mehr als zehn Jahre alt, und sie befanden sich erst ein wenig oberhalb der spitzen Dächer der anderen, viel niedrigeren Türme, als sie zu keuchen begann. Bei Kaden und Valyn war es noch schlimmer. Die Stufen – eine Konstruktion von Menschenhand, eingelassen in die durchsichtige Eisenglasschale dieses uralten, unendlich erstaunlichen Bauwerks – waren etwas zu hoch für ihre kurzen Beine. Und beide Jungen stolperten immer wieder und stießen mit den Schienbeinen und Ellbogen gegen die Holzträger.

Die hölzernen Stufen wanden sich dreißig Etagen hoch, vorbei an Verwaltungsräumen und Reihen von luxuriösen Gemächern. Die menschlichen Erbauer dieser Räume und Gemächer hatten beim dreißigsten Stockwerk aufgehört. Obwohl das Gehäuse des Turms weiter nach ober reichte und sich in unendlichen Höhen zu verlieren schien, strebte in ihm doch nur noch die Treppe hinauf und wand sich durch das Innere der gewaltigen Leere; sie schwebte gleichsam in der Mitte der unmöglichen Glassäule. Hunderte Schritte weiter oben durchdrang die Treppe den Boden der einsamen Gefängniszelle – ein Boden aus solidem Stahl – und führte höher und höher. Bei Tage war es, als würde man durch eine Säule aus purem Licht aufsteigen. Nachts jedoch machte die umgebende Leere orientierungslos und war sogar beängstigend. Dann gab es nur die Wendeltreppe, die sie einhüllende Finsternis und, hinter den Wänden des Speers, das wütende Lodern des brennenden Annur.

Auch wenn ihr Gemahl darauf bestanden hatte, dass sie sich beeilten, die Stadt würde abbrennen, ob sie und die Kinder nun dabei zusahen oder nicht. Deswegen drängte Sioan sie bei jedem Absatz anzuhalten und sich kurz auszuruhen. Doch Adare würde eher tot zu Boden fallen, als ihren Vater zu enttäuschen, und obwohl Valyn und Kaden offenbar elend zumute war, mühten sie sich weiter hinauf und warfen einander dabei kurze Blicke zu; offensichtlich hoffte jeder, der andere möge aufgeben, nur dass keiner von beiden als Erster dazu bereit war.

Als sie schließlich durch die Falltür hinaustraten, schienen alle drei einer Ohnmacht nahe, und obwohl die Spitze von Intarras Speer von einer niedrigen Mauer umgeben war, streckte Sioan schützend die Arme aus, als der Wind auffrischte. Doch sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Die Aedolianer – Fulton und Birk, Yian und Trell – umringten die Kinder unverzüglich und schützten sie sogar hier vor einer möglicherweise unsichtbaren Bedrohung. Sie wandte sich ihrem Gemahl zu; Flüche lagen ihr bereits auf der Zunge, doch sie schwieg, als sie die Feuersbrunst in der Stadt unter sich toben sah.

Natürlich hatten sie die Katastrophe schon vom Innern des Speers aus bemerkt – wütendes Rot war durch die Glaswände gedrungen. Doch von der unfassbaren Höhe der Turmspitze aus erschienen die Straßen und Kanäle der Stadt kaum mehr als Striche auf einer Landkarte. Wenn Sioan die Hand ausstreckte, konnte sie ganze Stadtviertel verdecken – die Gräber oder Niedermarkt, Westhütte oder die Docks. Das Feuer hingegen vermochte sie auf diese Weise nicht auszulöschen. Als sie mit dem Anstieg begonnen hatte, waren die Flammen den Berichten zufolge auf den westlichen Rand der Stadt begrenzt gewesen; eine heftige Feuersbrunst hatte sich über ein halbes Dutzend Häuserblocks erstreckt. Während des endlosen Aufstiegs hatte sie sich dann aber schrecklich schnell ausgebreitet und alles westlich der Geisterstraße verschlungen; danach war das Feuer, angefacht durch einen starken Wind vom westlichen Meer, nach Osten auf das andere Ende des Gottesweges übergesprungen. Sioan versuchte zu berechnen, wie viele Häuser brannten und wie viele Menschen bereits gestorben waren. Es gelang ihr nicht.

Als sie hinter sich hörte, wie die Falltür klappernd zufiel, drehte sie sich um. Selbst nach den vielen Ehejahren erstarrte sie noch immer bei seinem Anblick. Obwohl auch Adare und Kaden die brennende Iris ihres Vaters hatten, war das Feuer in den Augen der Kinder warm, beinahe freundlich, so wie das Licht eines Kamins im Winter oder wie der Glanz der Sonne. Sanlituns Augen hingegen brannten mit einer frostigen, stetigen Flamme; sie verströmten ein Licht ohne Wärme oder Rauch. Keine Gefühlsregung zeigte sich auf seinem Gesicht. Er kämpfte gegen ein Feuer, das seine Stadt zu verzehren drohte, doch wirkte er jetzt eher so, als hätte er die halbe Nacht damit verbracht, den Sternen auf ihrem Weg durch die Finsternis zuzusehen oder das Zittern des Mondlichts auf den Wellen zu beobachten.

Sanlitun sah seine Kinder an, und Sioan spürte, wie sich Adare an ihrer Seite aufrichtete. Das Mädchen würde später in der Abgeschiedenheit ihres Gemachs zusammenbrechen, aber jetzt, in Gegenwart ihres Vaters, weigerte sie sich sogar, bei ihrer Mutter Halt zu suchen, obwohl ihr die Beine von den Anstrengungen des Aufstiegs zitterten. Kadens Augen waren so groß wie Teller, als er auf die Stadt unter ihnen starrte. Er verhielt sich so, als stünde er allein auf dem Dach – ein Kind von sieben Jahren, das einsam auf das Lodern hinuntersah. Nur Valyn ergriff ihre Hand und packte sie mit seinen kleinen Fingern, als er von den Flammen hoch zu seinem Vater und wieder nach unten schaute.

»Ihr seid gerade noch rechtzeitig angekommen«, sagte der Kaiser und deutete auf die dunklen Häuserblocks der Stadt.

»Rechtzeitig wofür?«, wollte Sioan wissen. Vor Wut versagte ihr beinahe die Stimme. »Um zehntausend Menschen brennen zu sehen?«

Ihr Gemahl betrachtete sie kurz, dann nickte er. »Unter anderem, ja«, antwortete er gelassen und wandte sich dem Schreiber an seiner Seite zu.

»Sie sollen ein weiteres Feuer entfachen«, sagte er. »Entlang des Anlatunswegs, von der südlichen Stadtgrenze bis zur nördlichen.«

Der Schreiber bückte sich angespannt und malte die Worte auf das Pergamentblatt. Dann hielt er es kurz in die Luft, damit die Tinte trocknete, rollte es rasch zusammen, steckte es in eine Bambusröhre und warf diese auf eine Rutsche, die in der Mitte des Speers nach unten führte. Sioan hatte die halbe Nacht benötigt, den schaelverdammten Turm zu erklettern; der Befehl des Kaisers dagegen würde den Palast dort unten in wenigen Augenblicken erreichen. Nachdem Sanlitun seinen Befehl erteilt hatte, wandte er sich abermals seinen Kindern zu. »Versteht ihr es?«, fragte er.

Adare biss sich auf die Lippe. Kaden sagte nichts. Nur Valyn trat vor und blinzelte in den Wind und das Feuer. Er ging zu einem der langen Fernrohre, die in Halterungen an der niedrigen Mauer befestigt waren, hob es an und drückte das Auge dagegen. »Der Anlatunsweg brennt nicht«, sagte er nach einer Weile. »Das Feuer brennt noch etliche Blocks weiter westlich.«

Sein Vater nickte.

»Warum dann …« Er verstummte; die Antwort lag in seinen dunklen Augen.

»Du entfachst ein weiteres Feuer«, sagte Adare, »um das erste aufzuhalten.«

Sanlitun nickte. »Die Waffe ist der Schild. Der Feind ist der Freund. Was schon verbrannt ist, kann nicht noch einmal verbrennen.«

Lange stand die Familie schweigend da und sah zu, wie sich die Flammen einen Weg nach Osten fraßen. Nur Sioan weigerte sich, durch eines der Fernrohre zu blicken. Das, was sie sehen wollte, sah sie deutlich genug. Langsam und unerbittlich drang das Feuer weiter vor, rot und golden und schrecklich, bis am westlichen Ende der Stadt in einer geraden Linie neue Feuer ausbrachen. Zuerst waren sie kaum mehr als einzelne, schwache Punkte, doch dann vereinigten sie sich, bis eine helle Flammenstraße den Westrand des Anlatunswegs säumte.

»Es gelingt«, sagte Adare. »Das neue Feuer breitet sich nach Westen aus.«

»Also gut«, sagte Sioan plötzlich, als sie verstanden hatte, was ihr Gemahl den Kindern hatte zeigen wollen. Nun wollte sie ihren Kindern sowohl den Anblick als auch das neue Wissen ersparen. »Sie haben genug gesehen.«

Sie streckte die Hand aus, um Adare das Fernrohr wegzunehmen, aber das Mädchen entriss es ihr wieder und richtete es abermals auf die beiden Feuer.

Sanlitun hielt ihrem Blick stand und nahm ihre Hand. »Nein«, sagte er leise, »das haben sie nicht.«

Es war Kaden, der es schließlich begriff.

»Die Menschen«, sagte er und deutete nach unten. »Vorhin sind sie in östlicher Richtung davongelaufen, aber jetzt haben sie angehalten.«

»Sie sitzen in der Falle«, sagte Adare, senkte das Fernrohr und drehte sich zu ihrem Vater um. »Sie sitzen in der Falle. Du musst etwas unternehmen!«

»Das hat er schon getan«, sagte Valyn und sah den Kaiser an. Kindliche Hoffnung lag als schrecklicher Ausdruck in seinem Blick. »Das hast du schon getan, nicht wahr? Einen Befehl gegeben. Bevor wir hier oben angekommen sind. Du hast sie irgendwie gewarnt …«

Der Junge verstummte, als er die Antwort in den kalten, lodernden Augen las.

»Was für einen Befehl hätte ich denn geben sollen?«, fragte Sanlitun mit einer Stimme, die so leise und unerbittlich klang wie der Wind. »Tausende Menschen leben zwischen diesen beiden Feuern, Valyn. Zehntausende. Viele werden geflohen sein, aber wie soll ich all jene erreichen, die dort geblieben sind?«

»Werden sie denn jetzt verbrennen?«, flüsterte Kaden.

Er nickte langsam. »Sie brennen bereits.«

»Warum?«, wollte Sioan wissen. Sie wusste nicht recht, ob die Tränen in ihren Augen den Einwohnern galten, die so tief unten unhörbar in den Häusern schrien, oder ihren Kindern, die entsetzt auf die fernen Flammen starrten. »Warum mussten sie das sehen?«

»Eines Tages wird das Reich ihnen gehören.«

»Sie sollen es beherrschen und beschützen, aber doch nicht vernichten!«

Er hielt weiter ihre Hand, wandte seinen Blick aber nicht von den Kindern ab. »Sie werden erst dann in der Lage sein, darüber zu herrschen«, sagte er, während sein Blick so unbeweglich blieb wie die Sterne, »wenn sie auch bereit sind, es brennen zu sehen.«

Kaden hui’Malkeenian tat sein Bestes, weder den kalten Granit unter sich noch die heiße Sonne zu beachten, die ihm auf den Rücken brannte, während er vorwärtsglitt und versuchte, einen besseren Blick auf die verstreuten Gebäude dort unten zu erlangen. Ein frischer Wind, der von der Kälte des letzten Schnees durchtränkt war, schabte über seine Haut. Er holte tief Luft, zog die Wärme seines Innersten in die Glieder und unterdrückte das Zittern, bevor es einsetzen konnte. Wenigstens dafür war seine jahrelange Ausbildung bei den Mönchen gut. Dafür – sonst aber für lächerlich wenig.

Valyn regte sich an seiner Seite, schaute auf den Weg zurück, den sie hierher genommen hatten, und sah dann wieder nach vorn.

»Ist das der Weg, den ihr bei eurer Flucht gewählt habt?«, fragte er.

Kaden schüttelte den Kopf. »Wir sind dort hinten entlanggelaufen«, antwortete er und zeigte nach Norden auf einen hohen Steinturm, der sich vor dem Himmel abhob. »Unter der Kralle entlang, dann nach Osten, an Buris Sprung und den Schwarzen und Goldenen Messern vorbei. Es war Nacht, und diese Pfade sind sehr steil. Wir hatten gehofft, dass Soldaten in voller Rüstung nicht in der Lage seien, uns einzuholen.«

»Ich bin überrascht, dass es ihnen doch gelungen ist.«

»Das war ich auch«, sagte Kaden.

Er stützte sich auf den Ellbogen ab und wollte über den Hügelgrat spähen, aber Valyn hielt ihn zurück.

»Halt den Kopf gesenkt, Glanzheit«, knurrte er.

Glanzheit. Dieser Titel klang noch immer falsch in seinen Ohren, wankend und trügerisch, wie Frühlingseis auf einem Bergtümpel, dessen Oberfläche zwar glitzerte, aber gleichzeitig auch knackte und bereit war, unter dem ersten unvorsichtigen Fuß zu brechen. Es war schon schwer genug für ihn, wenn andere diesen Titel benutzten, aber aus Valyns Mund waren diese Worte fast unerträglich. Obwohl die beiden Brüder ihr halbes Leben getrennt voneinander verbracht hatten und sie nun beide erwachsene Männer waren, Fremde beinahe mit ihren ganz eigenen Geheimnissen und Wunden, so war Valyn doch noch immer sein eigen Fleisch und Blut, und seine ganze jahrelange Ausbildung vermochte nicht das Bild jenes kühnen Jungen zu tilgen, an den sich Kaden aus seiner Kindheit erinnerte – an den Partner, mit dem er Schwerter und Banditen gespielt hatte und durch die Korridore und Pavillons des Palastes der Dämmerung gerannt war. Wenn Valyn den offiziellen Titel aussprach, war das für Kaden ganz so, als würde seine eigene Vergangenheit damit ausgelöscht, seine Kindheit zerstört und durch die grausame Wirklichkeit der Gegenwart ersetzt werden.

Die Mönche hätten dies natürlich befürwortet. Die Vergangenheit ist ein Traum, pflegten sie zu sagen. Die Zukunft ist ein Traum. Es gibt nur das Jetzt. Doch die Mönche, die ihn ausgebildet und erzogen hatten, gab es nicht mehr. Sie waren nur noch verwesendes Fleisch – Leichen, die auf den Felssimsen unter ihm verstreut lagen.

Mit dem Daumen deutete Valyn über die Felsen, die ihnen Schutz boten, und riss Kaden damit aus seinen Gedanken. »Wir sind zwar noch ein gutes Stück entfernt, aber einige der Bastarde, die deine Freunde getötet haben, besitzen vielleicht Fernrohre.«

Kaden runzelte die Stirn und richtete seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart. Er hatte nicht einmal an die Möglichkeit von Fernrohren gedacht – das war wieder eine Erinnerung daran, wie schlecht ihn sein Klosterleben in Aschk’lan auf diesen plötzlichen Sprung in die trügerischen Strömungen der Welt vorbereitet hatte. Als hätte er eine Erinnerung daran gebraucht! Er konnte zeichnen, meditierend dasitzen oder tagelang einen steinigen Pfad entlang laufen, aber Zeichnen, Meditieren und Laufen waren unbedeutende Fähigkeiten, wenn es um die Machenschaften der Personen ging, die seinen Vater ermordet und die Schin-Mönche abgeschlachtet hatten – und auch ihn selbst beinahe umgebracht hätten. Nicht zum ersten Mal beneidete er Valyn um dessen Ausbildung.

Acht Jahre lang hatte er versucht, seine eigenen Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Sorgen zu ersticken; er hatte einen schier endlosen Kampf gegen sich selbst geführt. Immer wieder hatten die Schin ihr Mantra angestimmt: Die Klinge der Hoffnung ist schärfer als Stahl. Etwas zu wollen ist ein Zeichen des Mangels. Etwas zu lieben heißt sterben. Eine gewisse Wahrheit lag in diesen Worten – eine viel größere Wahrheit, als Kaden es sich damals bei seiner Ankunft im Gebirge hatte vorstellen können. Aber wenn er in den vergangenen Tagen voller Blut, Tod und Verwirrung etwas gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass diese Wahrheit ihre Grenzen hatte. Auch eine Stahlklinge war sehr scharf. Sie mochte einen verletzen und sogar töten, wenn man sich zu sehr an sich selbst klammerte, aber das Messer eines anderen, das dieser einem ins Herz rammte, tötete schneller.

Im Zeitraum weniger Tage hatten sich Kadens Feinde vervielfacht, und diese neuen Feinde trugen polierte Rüstungen, schwangen Schwerter und schmiedeten Tausende von Lügen. Wenn er überleben und den Platz seines Vaters auf dem Unbehauenen Thron einnehmen wollte, musste er alles über Fernrohre und Schwerter, über Politik und Menschen und über all die anderen Dinge wissen, die die Schin in ihren einseitigen Bemühungen, ihn die leere Trance der Vaniate zu lehren, vernachlässigt hatten. Es würde Jahre dauern, die Lücken zu füllen, aber so viel Zeit hatte er nicht. Sein Vater war tot – schon seit Monaten. Und das bedeutete, dass Kaden hui’Malkeenian der Kaiser von Annur war, ob er nun darauf vorbereitet war oder nicht.

Bis mich jemand tötet, fügte er stumm hinzu.

Angesichts der Ereignisse der letzten Tage erschien ihm diese Möglichkeit als sehr wahrscheinlich. Die bewaffneten Männer, die mit dem Befehl hergekommen waren, ihn zu ermorden und das Kloster zu vernichten, waren schon schlimm genug, aber der Umstand, dass sie aus seiner eigenen aedolianischen Garde stammten – einem Orden, der geschworen hatte, ihn zu beschützen und zu verteidigen – und dass sie von hochrangigen Annuriern befehligt wurden, die ganz oben auf der Leiter der kaiserlichen Politik standen, war fast unglaublich. In gewisser Hinsicht erschien ihm die Rückkehr in die Hauptstadt und die Einnahme des Unbehauenen Throns der sicherste Weg zu sein, seinen Feinden bei ihrer Arbeit zu helfen.

Wenn ich in Annur ermordet werde, dachte er grimmig, bedeutet das natürlich, dass ich den Weg bis dorthin geschafft habe, und bereits das wäre ein Erfolg.

Valyn deutete auf die niedrige Felswand, die ihnen Schutz bot. »Wenn du einen Blick darüber werfen willst, Glanzheit, dann sieh lange hin«, sagte er. »Das Auge wird von Bewegung angezogen.«

Dies zumindest wusste Kaden. Er hatte genug Zeit damit verbracht, Felsenkatzen und verirrte Ziegen aufzuspüren, und wusste, wie man in Deckung blieb. Er verlagerte sein Gewicht auf die Ellbogen und richtete sich auf, bis seine Augen über den Rand des schützenden Felsens hinwegsehen konnten. In westlicher Richtung, vielleicht eine Viertelmeile entfernt auf einem schmalen Sims zwischen den schartigen Schluchten unten und den gewaltigen, hoch aufragenden Gipfeln dort oben, lag das Kloster Aschk’lan – das einzige Kloster der Schin. Es war Kadens Zuhause.

Oder zumindest das, was von ihm übrig geblieben war.

Das Aschk’lan aus Kadens Erinnerung war ein kalter, aber heller Ort, blitzblank, ein streng komponiertes Bild aus bleichem Stein und weiten Strichen aus Schnee, aus atemberaubenden Flüssen, gleich glitzernden Bändern, und aus Eis, das die nach Norden weisenden Felsen glättete – und all dies unter einer harten, blauen Himmelsplatte. Die Aedolianer hatten alles zerstört. Breite Rußstreifen beschmierten die Simse und Felsbrocken, und das Feuer hatte den Wacholder zu schwarzen Stümpfen versengt. Das Refektorium, die Meditationshalle und das Dormitorium waren nur noch Ruinen. Während der kalte Stein der Mauern nicht gebrannt hatte, waren die Holzbalken, die Dachziegel und die Fensterrahmen in Flammen aufgegangen und hatten bei ihrem Einsturz Teile der Wände mit sich gerissen. Sogar der Himmel war jetzt dunkel; er war von einem öligen Rauch verschmiert, der noch immer aus der Vernichtung aufstieg.

»Da«, sagte Valyn und deutete auf eine Bewegung am nördlichen Rand des Klosters. »Die Aedolianer. Sie haben ein Lager aufgeschlagen; vermutlich warten sie auf Micijah Ut.«

»Da können sie lange warten«, sagte Laith und kroch neben sie. Der Flieger grinste.

Vor dem Eintreffen von Valyns Geschwader hatte Kadens Wissen über die Kettral, die mysteriösesten und gefährlichsten Soldaten Annurs, nur aus den Geschichten bestanden, die er als Kind aufgeschnappt hatte. Diese Geschichten hatten in ihm das Bild grimmiger, hohläugiger Mörder erschaffen, die ausschließlich durch Blut und Zerstörung wateten. Zum Teil hatten diese Geschichten durchaus der Wahrheit entsprochen. Valyns schwarze Augen waren so kalt wie die Kohlen des vergangenen Jahres, und Laith, der Flieger des Geschwaders, schien wegen des Gemetzels, das sie hinterlassen hatten, oder wegen der Vernichtung da unter ihnen keineswegs besorgt zu sein. Sie waren eindeutig Soldaten, diszipliniert und gut ausgebildet, aber sie schienen Kaden allesamt zu jung zu sein. Laiths beiläufiges Lächeln, sein offensichtliches Vergnügen daran, Gwenna zu ärgern und Annick zu reizen, und die Art, wie er mit den Fingern auf seinem Knie trommelte, sobald er gelangweilt war, was oft vorkam – all das hätten die Schin noch vor seinem zweiten Klosterjahr aus ihm herausgeprügelt. Es war deutlich geworden, dass Valyns Geschwader fliegen und töten konnte, aber Kaden fragte sich besorgt, ob sie auf den schwierigen Weg, der vor ihnen lag, tatsächlich vorbereitet waren. Er war es selbst nicht, aber es wäre schön gewesen, glauben zu können, dass irgendjemand die Lage unter Kontrolle hatte.

Wenigstens war Micijah Ut ein Feind, den Kaden nicht länger fürchten musste. Dass der massige Aedolianer in seiner vollen Rüstung von einer Frau mittleren Alters mit zwei Messern getötet worden war, hätte Kaden niemals glauben können, hätte er den Leichnam nicht mit eigenen Augen gesehen. Dieser Anblick hatte ihm ein gewisses Maß an Zufriedenheit geschenkt – als ob das Gewicht von Stahl und totem Fleisch zumindest einen Teil des Gemetzels wiedergutmachen könnte.

»Hat jemand Lust, sich mit Uts Leiche in ihr Lager zu schleichen?«, fragte Laith. »Wir könnten ihn irgendwo so aufstellen, dass es aussieht, als trinke er Bier oder pinkle. Es wäre spannend herauszufinden, wie lange es dauert, bis sie bemerken, dass der Mistkerl nicht mehr atmet.« Er sah von Valyn zu Kaden und hob die Brauen. »Nein? Sind wir etwa nicht deswegen hergekommen?«

Sie waren am Morgen nach Aschk’lan zurückgekehrt und von ihrem mageren Lager im Herzen der Knochenberge hierher geflogen. In diesem Lager hatten sie gegen die Männer gekämpft, die ihnen nachgejagt waren – Aedolianer und verräterische Kettral –, und sie hatten gesiegt. Die Reise hatte zu einer erhitzten Debatte geführt. Es hatte Einigkeit darüber bestanden, dass jemand hierher zurückkommen musste, um nach Überlebenden zu suchen und Informationen von den annurischen Soldaten zu erlangen, die zurückgeblieben waren, während Kaden von Ut und Tarik Adiv ins Gebirge gejagt worden war. Uneinigkeit hatte lediglich über die Frage geherrscht, wer diese Reise unternehmen sollte.

Valyn hatte es nicht riskieren wollen, jemanden mitzunehmen, der nicht zu seinem eigenen Geschwader gehörte, aber Kaden hatte betont, dass sie einen Mönch brauchten, der mit dem Land vertraut war, wenn sie sich das Netz der Ziegenpfade um das Kloster herum zunutze machen wollten. Rampuri Tan war natürlich die offensichtlichste Wahl, denn er kannte Aschk’lan besser als Kaden, und im Gegensatz zu Kaden konnte er auch wirklich kämpfen. Trotz Valyns Zweifeln schien der ältere Mönch seine Teilnahme als beschlossen zu betrachten. Pyrre hingegen war der Meinung gewesen, es sei dumm, überhaupt zurückzugehen.

»Die Mönche sind tot«, hatte sie gesagt, »möge Ananschael ihre keuschen Seelen entweben. Ihr könnt ihnen nicht mehr helfen, indem ihr in den Leichen herumstochert.«

Kaden fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, ein Attentäter zu sein, den Herrn des Grabes zu verehren und in so großer Nähe des Todes zu leben, dass er keinen Schrecken und auch keine Verwunderung mehr auslöste. Doch die Leichen waren gar nicht der Grund, warum er zurückgehen wollte. Es bestand die geringe Möglichkeit, dass die Soldaten einige Mönche gefangen genommen hatten, statt sie gleich zu töten. Kaden wusste zwar nicht, was er in diesem Fall unternehmen sollte, aber mit den Kettral im Rücken sollte es möglich sein, einen oder zwei zu retten. Zumindest konnte er es versuchen.

Tan hatte diesen Gedanken als sentimentale Narrheit abgetan. Der einzig vernünftige Grund für eine Rückkehr sei die Beobachtung der verbliebenen Aedolianer und der Versuch, ihre Absichten herauszufinden. Kadens Schuldgefühle seien nur ein weiterer Beweis für seine Unfähigkeit, sich wahrhaft von allem freizumachen. Vielleicht hatte der Mönch recht. Ein wahrer Schin hätte die erdrückende Schlinge um sein Herz herausgerissen und die Stacheln des Gefühls abgeschnitten. Doch mit Ausnahme von Tan und Kaden waren die Schin allesamt tot. Wegen ihm waren zweihundert Mönche in einer einzigen Nacht gestorben – Männer und Jungen, deren einziges Ziel es gewesen war, die leere Ruhe der Vaniate zu erlangen. Sie waren im Schlaf abgeschlachtet und verbrannt worden, nur um einen annurischen Staatsstreich zu verdecken. Was immer in Aschk’lan warten mochte, es war wegen Kaden geschehen. Er musste dorthin zurückkehren.

Der Rest war einfach. Valyn kommandierte das Geschwader, Valyn gehorchte dem Kaiser, und so hatte Valyn trotz Tans und Pyrres Einwänden und seiner eigenen Bedenken den Kopf gesenkt, gehorcht und Kaden zusammen mit dem Rest des Geschwaders zurückgeflogen, damit sie herausfinden konnten, was von seiner Bergheimat noch übrig war. Sie waren mit dem Vogel ein wenig östlich von Aschk’lan außer Sichtweite des Klosters gelandet und hatten die letzten Meilen zu Fuß zurückgelegt. Der Weg war leicht und führte fast ausschließlich nach unten, aber die Spannung in Kadens Brust wurde umso größer, je näher sie kamen.

Die Aedolianer hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihr Gemetzel zu verbergen. Das war auch nicht nötig gewesen. Aschk’lan lag weit jenseits der Grenzen des Reiches, für die Urghul zu hoch in den Bergen, und zu weit südlich für die Edisch, außerdem zu weit entfernt von allen Kaufmannsrouten. Und so lagen die Leichen in den braunen Roben noch immer im Innenhof; einige waren verbrannt, andere bei der Flucht niedergemetzelt worden.

»Eine Menge Mönche«, meinte Laith und deutete mit dem Kopf auf das Kloster. »Und alle ziemlich tot.«

»Was ist mit denen da?«, fragte Valyn und zeigte auf eine Reihe von Gestalten, die zusammengesackt und mit überkreuzten Beinen auf der anderen Seite des Felsvorsprungs saßen und auf die Steppe hinausschauten. »Leben sie noch?«

Laith hob sein Fernglas. »Nein. Sie sind erstochen worden. In den Rücken.« Er schüttelte den Kopf. »Bin mir nicht sicher, warum sie da sitzen. Keiner von ihnen ist gefesselt.«

Eine Weile betrachtete Kaden die verkrümmten Männer, dann schloss er die Augen und stellte sich die Szene vor.

»Sie sind nicht weggelaufen«, sagte er. »Sie haben Zuflucht in der Vaniate gesucht.«

»Ja …«, bemerkte der Flieger voller Zweifel. »Es sieht aber nicht so aus, als ob sie das gefunden hätten, was sie gesucht haben.«

Kaden sah die Leichen an und erinnerte sich an die ungeheure Gefühlsleere während der Trance – an die Abwesenheit von Angst, Wut oder Sorgen. Er versuchte sich vorzustellen, was die Mönche gefühlt hatten, als sie dort gesessen und auf die weite grüne Steppe hinausgeschaut hatten, während ihr Zuhause nur wenige Schritte hinter ihnen niederbrannte und sie in Erwartung des Messers die kalten Sterne beobachteten. »Die Vaniate würde dich überraschen«, sagte er leise.

»Nun, allmählich bin ich es leid, andauernd überrascht zu werden«, knurrte Valyn. Er rollte sich auf die Seite und sah Kaden an. Wieder einmal stellte Kaden fest, dass er versuchte, hinter den Narben und Verletzungen und den so unnatürlich schwarzen Augen seinen Bruder zu erkennen – den Bruder, der Valyn einmal gewesen war. Als Kind hatte Valyn viel gelächelt und gelacht, aber der Soldat Valyn wirkte jetzt gehetzt, heimgesucht und gejagt, als ob er sogar dem Himmel über sich und seiner eigenen verletzten Hand sowie dem blanken Schwert, das sie hielt, misstraute.

Kaden kannte in groben Umrissen die Geschichte, derzufolge auch Valyn von denjenigen, welche die malkeenische Linie vernichten wollten, gejagt worden war. In gewisser Weise war es für Valyn sogar noch schlimmer als für Kaden gewesen. Während die Aedolianer im Herzen Aschk’lans plötzlich und brutal zugeschlagen hatten, waren die Soldaten doch Fremde für Kaden gewesen, und das Gefühl von Verrat und Ungerechtigkeit war für ihn abstrakt geblieben. Valyn hingegen hatte zusehen müssen, wie sein engster Freund von seinen Mitsoldaten ermordet wurde. Er hatte beobachtet, wie der Militärorden, dem er sein Leben gewidmet hatte, ihn hintergangen und im Stich gelassen hatte. Kaden fragte sich noch immer, ob es möglich war, dass die Kommandozentrale der Kettral, der Horst, in diese Verschwörung verwickelt war. Valyn hatte gute Gründe, müde und argwöhnisch zu sein, und doch lag da noch etwas anderes in seinem Blick – etwas, das Kaden Sorgen machte. Es war eine Finsternis, die tiefer als die des Leids oder der Trauer war.

»Wir warten hier außer Sichtweite«, fuhr Valyn fort, »bis Annick, Talal und Gwenna zurückkommen. Wenn sie keine lebenden Mönche finden, fliegen wir auf dem kentverdammten Vogel in unser Lager zurück.«

Kaden nickte. Die Spannung, die er auf dem Weg hierher empfunden hatte, steckte noch immer tief in seinem Magen; sie war wie ein fester Knoten aus Verlust, Trauer und Wut. Er machte sich daran, diesen Knoten zu lösen. Er hatte darauf bestanden, nach Überlebenden zu suchen, aber es hatte den Anschein, dass es keine gab. Seine Gefühle halfen ihm nicht; sie behinderten nur seine Urteilsfähigkeit. Doch als er versuchte, sich ganz auf seine Atmung zu konzentrieren, trieben die Bilder von Akiils, Paters und Scial Nins Gesichtern in seinen Kopf; ihre bedrängende Gegenwärtigkeit und Schärfe waren erschreckend. Irgendwo dort unten lag zwischen den Ruinen jeder, den er einmal gekannt hatte und ebenso jeder, der ihn gekannt hatte – abgesehen von Rampuri Tan.

Jemand anders – jemand ohne Schin-Ausbildung – mochte Trost in dem Wissen finden, dass jene Gesichter mit der Zeit verblassten und die Erinnerungen verschwammen. Doch die Mönche hatten ihn gelehrt, nicht zu vergessen. Die Erinnerung an seine abgeschlachteten Freunde würde stets lebhaft und unmittelbar für ihn bleiben; die Umrisse der auf dem Boden liegenden Leichen würden in allen Einzelheiten in ihm aufbewahrt bleiben. Das ist der Grund, warum du die Gefühle von den Tatsachen trennen musst, dachte er grimmig. Auch diese Fähigkeit – ein Gegengewicht zu der anderen – hatten ihm die Schin beigebracht.

Hinter ihm hörte er das leise Rascheln von Stoff über Stein. Er drehte sich um und stellte fest, dass sich Annick und Talal, die Schützin und der Auszehrer des Geschwaders, näherten. Sie glitten auf ihren Bäuchen über die Felsen, als wären dies vollkommen natürliche Bewegungen für sie. Dicht hinter Valyn hielten sie an. Die Schützin legte sofort einen Pfeil in ihren Bogen; Talal schüttelte nur den Kopf.

»Es ist schlimm«, sagte er leise. »Keine Gefangenen.«

Kaden betrachtete den Auszehrer schweigend. Es war eine Überraschung für ihn gewesen, dass Männer und Frauen, die überall sonst in Annur wegen ihrer unnatürlichen Fähigkeiten verbrannt oder gesteinigt worden wären, bei den Kettral offen dienen durften. Sein ganzes Leben hindurch hatte Kaden gehört, die Auszehrer seien gefährlich und wankelmütig, ihr Verstand sei durch ihre seltsamen Kräfte verwirrt. Wie jeder andere war auch er mit den Geschichten über die Auszehrer aufgewachsen, in denen es hieß, sie tränken Blut, logen und betrogen, und es seien die Auszehrer-Herren der Atmani gewesen, die in ihrem Größenwahn das Reich, über das sie durch ihre Verschwörung hatten herrschen wollen, in den Untergang getrieben hatten.

Noch etwas, worüber ich zu wenig weiß, rief sich Kaden in Erinnerung.

In den kurzen, angespannten Tagen seit dem Gemetzel und der Rettung hatte er versucht, mit Talal zu sprechen und etwas über den Mann zu erfahren, aber der Kettral-Auszehrer war noch stiller und zurückhaltender als der Rest von Valyns Geschwader. Er erwies sich stets als höflich, aber Kadens Fragen bewirkten bei ihm nur wenig, und nach der zehnten oder zwölften ausweichenden Antwort gab Kaden das Reden auf und verlegte sich stattdessen aufs Beobachten. Bevor sie abflogen, hatte er gesehen, wie Talal zuerst die hellen Reifen in seinen Ohrläppchen und dann seine Armreifen und Ringe mit Kohle aus dem Feuer einrieb, bis das Metall fast so dunkel war wie seine Haut.

»Warum nimmst du sie nicht einfach ab?«, hatte Kaden gefragt.

»Man kann nie wissen«, hatte Talal geantwortet und den Kopf geschüttelt, »was man dort draußen brauchen wird.«

Das ist seine Quelle, erkannte Kaden. Jeder Auszehrer hatte eine solche, aus der er seine Kraft schöpfte. Die Geschichten berichteten von Männern, die Stärke aus dem Stein zogen, und von Frauen, die den festen Griff des Entsetzens zu ihren eigenen Zwecken beeinflussen konnten. Die Metallreifen wirkten zwar harmlos, aber Kaden starrte sie nun an, als wären sie giftige Spinnen. Es kostete ihn Mühe, dieses Gefühl beiseitezuschieben und den Mann als das zu betrachten, was er war und nicht als das, wozu ihn die Geschichten machten. Von allen Geschwadermitgliedern schien Talal der Nachdenklichste und Ruhigste zu sein. Seine Fähigkeiten waren zwar unheimlich, aber Valyn schien ihm zu vertrauen, und Kaden hatte nicht so viele Verbündete, dass er es sich leisten durfte, Vorurteile zu hegen.

»Wir könnten die ganze Woche damit verbringen, zwischen den Felsen herumzusuchen«, fuhr Talal fort und deutete auf die zerklüfteten Steine. »Vielleicht sind einige Mönche dem Belagerungsring entkommen. Sie kennen die Gegend schließlich gut, und es war Nacht …« Er schaute zu Kaden hinüber und verstummte. Etwas, das wie Mitleid wirkte, zeigte sich in seinen Augen.

»Der ganze südöstliche Quadrant ist sauber«, sagte Annick. Talal mochte sich um Kadens Gefühle sorgen, aber der Schützin schienen sie vollkommen gleichgültig zu sein. Sie redete in knappen Sätzen und wirkte fast gelangweilt, während sie mit ihren eisblauen Augen unablässig die Felsen in der Umgebung absuchte. »Keine Spuren, kein Blut. Die Angreifer waren gut. Für aedolianische Verhältnisse jedenfalls.«

Das war eine verräterische Bemerkung. Die Aedolianer gehörten zu den besten Soldaten Annurs; sie waren handverlesen und gründlich dazu ausgebildet worden, die kaiserliche Familie sowie besonders wichtige Besucher zu beschützen. Wie diese außerordentliche Gruppe zu ihrem Verrat angestachelt worden war, wusste Kaden nicht, aber Annicks offensichtliche Abneigung sprach Bände über ihre eigenen Fähigkeiten.

»Was machen sie da unten?«, fragte Valyn.

Talal zuckte mit den Schultern. »Essen. Schlafen. Waffen reinigen. Sie wissen noch nichts von Ut und Adiv. Sie haben keine Ahnung, dass wir eingetroffen sind und die Soldaten getötet haben, die dir nachgejagt sind.«

»Wie lange werden sie bleiben?«, fragte Kaden. Das Gemetzel war zwar fürchterlich gewesen, aber ein Teil von ihm wollte trotzdem dort hinuntergehen, die Trümmer durchstöbern und die Gesichter der Getöteten sehen.

»Das ist unmöglich vorherzusagen«, antwortete Talal. »Sie hatten bisher nicht die Möglichkeit, vom Tod der kleineren Gruppe zu erfahren, die euch verfolgt hat.«

»Sie müssen doch ein Protokoll haben«, sagte Annick. »Zwei oder drei Tage Wartezeit, bevor sie einen Suchtrupp losschicken oder sich zurückziehen.«

Laith rollte mit den Augen. »Es wird dich vielleicht entsetzen, Annick, aber manche Leute sind einem Protokoll nicht sklavisch ergeben. Vielleicht haben sie gar keinen Plan.«

»Das ist der Grund, warum wir sie töten werden, wenn es zum Kampf kommt«, gab die Schützin mit eiskalter Stimme zurück.

Valyn schüttelte den Kopf. »Es wird nicht zum Kampf kommen. Da unten sind bestimmt siebzig oder achtzig Soldaten …«

Ein leiser, aber heftiger Fluch, der hinter ihnen ausgestoßen wurde, schnitt Valyn das Wort ab.

»Dieser kentverdammte, hullverfluchte Bastard«, spuckte Gwenna aus, rollte sich mit geschmeidigen Bewegungen über einen Felsgrat und kauerte sich kampfbereit dahinter. »Dieser Hurensohn, dieser vermaledeite Mistkerl!«

Valyn kroch zu ihr. »Sei still.«

Die rothaarige Frau machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie sind eine Viertelmeile entfernt, Valyn, und der Wind bläst aus der falschen Richtung. Ich könnte aus vollem Hals die schaelverdammte Angriffshymne der Kettral singen, und sie würden es nicht bemerken.«

Diese Widerspenstigkeit erstaunte Kaden. Die Soldaten zu Hause im Palast der Dämmerung hatten stets bedingungslos gehorcht. Zwar schien Valyn das letzte Wort bei Entscheidungen zu haben, die sein Geschwader betrafen, aber keiner von den anderen fügte sich ihm klaglos. Insbesondere Gwenna schien finster entschlossen zu sein, immer wieder hart an der Grenze zur Befehlsverweigerung entlangzuschrammen. Kaden erkannte die Verärgerung im Blick seines Bruders und die Spannung in seinen Kiefermuskeln.

»Über welchen Bastard reden wir denn jetzt?«, fragte Laith. »Im Augenblick gibt es ziemlich viele.«

»Dieser eitle Geck von Adiv«, sagte Gwenna und deutete mit dem Kopf nach Nordwesten. »Der mit der Augenbinde und dem gezierten Gehabe.«

»Der mizranische Ratgeber«, warf Kaden leise ein. Das war nicht nur ein militärischer Rang, sondern eine der höchsten Stellungen im ganzen Reich. Schon vor dem Verrat war Kaden überrascht gewesen, als dieser Mann mit dem Kontingent der Aedolianer eingetroffen war. Dies war ein weiterer Beweis dafür – wenn es eines solchen Beweises überhaupt noch bedurft hätte –, dass die Verschwörung inzwischen bis in die höchsten Etagen des Palastes der Dämmerung reichte.

»Was immer seine Aufgabe ist«, erwiderte Gwenna, »er ist zu Fuß da draußen und sucht sich einen Weg durch das Gebirge. Unseren Vogel hat er sicherlich nur um wenige Hundert Schritte verfehlt.«

Valyn zog die Luft zwischen den Zähnen ein. »Nun, wir wussten, dass Tarik Adiv überlebt hat, als wir seine Leiche nicht gefunden haben. Und jetzt wissen wir, wo er ist. Gibt es irgendwelche Anzeichen von Balendin?«

Gwenna schüttelte den Kopf.

»Das ist doch zumindest etwas«, erwiderte Valyn.

»Ist es das?«, fragte Laith. »Zweifellos ist Balendin der gefährlichere der beiden.«

»Warum sagst du das?«, fragte Kaden.

Laith starrte ihn an. »Er ist ein Kettral«, antwortete er schließlich, als würde das alles erklären. »Er ist zusammen mit uns ausgebildet worden. Und er ist ein Auszehrer.«

»Auch Adiv ist ein Auszehrer«, betonte Talal. »Das ist der Grund, warum sie Kaden durch das Gebirge folgen und ihn aufspüren konnten.«

»Ich war der Meinung, sie haben diese schaelverdammten Spinnenwesen dafür benutzt«, sagte Laith.

Talal nickte. »Aber jemand muss sie anleiten und kontrollieren.«

»Das alles spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte Valyn. »Balendin ist verschwunden, und Adiv hält sich hier in der Gegend auf. Wir müssen mit dem arbeiten, was uns zur Verfügung steht.«

»Ich behalte ihn im Blick«, sagte Annick.

Während sie redeten, hatte sich Annick leise zu einer geschützten Stelle zwischen zwei Felsblöcken begeben und ihre Bogensehne halb gespannt.

Kaden wagte einen Blick über den Grat. Zuerst sah er nichts, dann bemerkte er, wie eine Gestalt in einer Entfernung von etwa dreihundert Schritten ein trockenes Flussbett entlang humpelte. Er konnte das Gesicht des Ratgebers zwar nicht erkennen, aber der rote Umhang ließ keinen Zweifel zu. Das Gold an den Manschetten und dem Kragen war stark abgeschabt, doch es glitzerte noch immer im mittäglichen Licht.

»Er ist gut vorwärtsgekommen«, bemerkte Talal.

»Er hatte eine Nacht, einen Tag, eine weitere Nacht und einen ganzen Morgen Zeit«, sagte Gwenna verächtlich. »Von hier bis zu der Stelle, wo wir ihn aus den Augen verloren haben, sind es nicht mehr als siebzig Meilen.«

»Wie ich schon sagte«, meinte Talal, »er ist gut vorwärts gekommen.«

»Glaubst du, er hat seine Kräfte dazu eingesetzt?«, fragte Laith.

»Er ist schließlich ein Auszehrer«, sagte Talal.

»Also … ja«, schloss der Flieger und grinste.

»Erinnere mich daran, meine eigenen Kräfte nicht einzusetzen, wenn du in die nächste Klemme gerätst«, erwiderte Talal und bedachte den Flieger mit festem Blick.

»Soll ich ihn abschießen?«, fragte Annick. Die Bogensehne befand sich jetzt neben ihrem Ohr, und obwohl sie äußerst gespannt war, blieb Annick so unbeweglich wie ein Stein.

Kaden spähte wieder über den Grat. Aus dieser Entfernung erkannte er kaum die Binde vor Adivs Augen.

»Ist er dafür nicht zu weit entfernt?«

»Nein.«

»Schnapp ihn dir, sobald du ein freies Schussfeld hast, Annick«, sagte Valyn und wandte sich wieder Kaden zu. »Sie wird es schaffen. Frag mich aber nicht, wie sie es macht.«

»Es geht jetzt nicht«, sagte die Schützin nach einiger Zeit. »Er verschwindet gerade hinter einem Felsen.«

Kaden blickte von Annick zu Valyn und dann zu der kleinen Schlucht, in der Adiv verschwunden war. Nachdem sie stundenlang auf dem Bauch gelegen, gewartet und beobachtet hatten, geschah plötzlich alles viel zu schnell. Er hatte angenommen, dass das lange Warten von Gesprächen, Erwägungen, der Begutachtung der Tatsachen und dem Austausch von Ideen gefolgt wurde. Doch plötzlich sollte ohne jede vorherige Diskussion ein Mensch sterben, zwar war es ein Verräter und Mörder, aber dennoch ein Mensch.

Den Kettral schien das nichts auszumachen. Gwenna und Valyn starrten über den Fels hinweg; die Zerstörungsmeisterin wirkte ungeduldig, Valyn hingegen war still und konzentriert. Laith versuchte eine Wette mit Talal abzuschließen.

»Ich wette um einen Silbermond, dass sie ihn mit ihrem ersten Schuss tötet.«

»Ich wette nicht gegen Annick«, erwiderte der Auszehrer.

Der Flieger fluchte. »Welche Quote gibst du mir, wenn ich mich auf die andere Seite schlage? Zehn zu eins, wenn sie daneben schießt?«

»Fünfzig zu eins«, sagte Talal, lehnte den kahlen Kopf gegen den Fels und betrachtete den Himmel.

»Zwanzig.«

»Nein«, sagte Kaden.

»Also gut, fünfundzwanzig.«

»Ich meinte nicht die Wette«, sagte Kaden und legte Valyn die Hand auf die Schulter. »Bringt ihn nicht um.«

Valyn wandte den Blick von dem Tal ab und sah Kaden an. »Wie bitte?«

»Bei der süßen Liebe Schaels«, knurrte Gwenna. »Wer führt dieses Geschwader an?«

Valyn beachtete Gwenna nicht weiter. Der Blick seiner schwarzen Augen bohrte sich in Kaden und saugte jedes Licht auf. »Adiv steckt hinter alldem, Glanzheit«, sagte er. »Er und Ut. Sie sind diejenigen, die die Mönche getötet haben und auch dich umbringen wollten, wobei ich die Tatsache, dass sie überdies ohne jeden Zweifel in die Ermordung unseres Vaters verwickelt sind, erst gar nicht erwähnen will. Da Ut nicht mehr da ist, ist nun Adiv der ranghöchste Kommandant dort unten. Wenn wir ihn töten, schlagen wir der Bestie damit den Kopf ab.«

»Ich habe ihn wieder«, sagte Annick.

»Nicht schießen«, beharrte Kaden. Er schüttelte den Kopf und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Als er vor einigen Jahren versucht hatte, eine Ziege einzufangen, hatte er oberhalb des Weißen Flusses den Halt verloren und war die Felswand hinab und in den Fluss gefallen. Unter großen Mühen war es ihm gelungen, Luft zu holen, den Kopf über dem brodelnden Wasser zu halten und den scharfkantigen Felsen vor ihm zu entgehen. Die ganze Zeit über hatte er gewusst, dass er über die Distanz von weniger als einer Viertelmeile Zeit hatte, sich aus dem Wasser zu ziehen, bevor der Strom über eine Klippe stürzte. Die Unmittelbarkeit dieses Augenblicks, die Unmöglichkeit, innezuhalten und nachzudenken, und die absolute Notwendigkeit des Handelns hatten ihn damals entsetzt. Und als er sich endlich an einem herabgestürzten Baumstamm hatte festhalten können und daran ans Ufer geklettert war, hatte er dort gesessen und schrecklich gezittert. Die Schin hatten ihm vieles über Geduld, aber fast nichts über Eile beigebracht. Als nun die Blicke des gesamten Geschwaders auf ihm ruhten und die rußverschmierte Spitze von Annicks Pfeil auf Adiv gerichtet war, verspürte er wieder diesen furchtbaren Drang der Unvermeidbarkeit.

»Noch ein paar Sekunden«, sagte Annick, »und er ist im Lager. Dann wird es viel schwieriger sein, ihn zu erwischen.«

»Warum?«, wollte Valyn wissen und starrte Kaden an. »Warum willst du, dass er lebt?«

Kaden zwang seine treibenden Gedanken zusammen und kanalisierte sie, bis sie zu Worten wurden. Er würde keine weitere Gelegenheit mehr haben, das zu sagen, was er sagen wollte. Wenn der Pfeil einmal flog, konnte er nicht zurückgerufen werden.

»Wir kennen ihn«, sagte er langsam. »Wir brauchen ihn. Wenn er wieder in Annur ist, können wir beobachten, mit wem er spricht und wem er vertraut. Er wird uns helfen, die ganze Verschwörung aufzudecken.«

»Ja«, fuhr Gwenna ihn an, »und vielleicht wird er auf dem Weg dorthin auch noch ein paar Dutzend Menschen umbringen.«

»Ich verliere mein Ziel gleich wieder«, sagte Annick. »Entscheidet euch endlich.«

»Um Schaels willen«, brummte Laith. »Bring ihn endlich um. Um die Einzelheiten kümmern wir uns später.«

»Nein«, sagte Kaden leise. Er wollte, dass sein Bruder über die Gegenwart hinaussah und die Logik dahinter verstand. »Noch nicht.«

Valyn hielt Kadens Blick lange stand, reckte den Kiefer vor und kniff die Augen zusammen. Schließlich nickte er. »Nicht schießen, Annick. Wir haben unsere Befehle.«

»Vielleicht ist Plan ein zu erhabener Begriff«, sagte Pyrre, während sie sich gegen einen großen Felsbrocken lehnte und die Augen geschlossen hielt, »aber ich möchte wenigstens glauben, dass wir so etwas wie eine vage Ahnung haben.«

Sie hatten vom Kloster aus zum Rest der Gruppe gefunden, die in der versteckten Schlucht ihr Lager aufgeschlagen hatte. Die anderen Kettral überprüften ihre Waffen; die beiden Mönche saßen mit untergeschlagenen Beinen auf dem rauen Fels, während Triste die lange Narbe an ihrer Wange betastete und mit großen Augen vom einen zum anderen schaute, als wüsste sie nicht, wohin sie ihren Blick richten und wem sie vertrauen sollte.

Valyn beobachtete das Mädchen kurz und wunderte sich wieder einmal über den Gang der Ereignisse, die eine so zerbrechliche, bezaubernde junge Frau an diesen Ort und in die Gesellschaft von Soldaten und Mönchen geführt hatten. Kaden hatte gesagt, sie sei eine Konkubine. Adiv hatte sie Kaden als Geschenk angeboten, das den neuen Kaiser ablenken sollte, während sich die Aedolianer darauf vorbereiteten, ihn zu ermorden. Anscheinend gehörte Triste nicht zu der Verschwörung, aber sie wirkte trotzdem sehr beunruhigend. Valyn hatte das Gefühl, er könnte sie für immer und ewig anstarren, aber es war nicht sie, die er im Blick behalten sollte. Unter großer Mühe sah er Pyrre Lakatur an.

Valyn betrachtete die Frau und versuchte sie zu verstehen. Er hatte die Schädelschwörer stets als dunkles Abbild der Kettral betrachtet – Schwerter, schwarze Kleidung und eine barsche Leistungsfähigkeit. Zumindest hatte er erwartet, dass die Mörder-Priester und -Priesterinnen des Herrn des Grabes beeindruckend waren. Doch Pyrre wirkte eher wie die Gemahlin irgendeines dekadenten Atrepen. Die Frau machte einen eleganten, beinahe sogar protzigen Eindruck. Ringe glitzerten an ihren Fingern, ein Band aus hellem Stoff hielt ihre Haare zurück und verbarg die grauen Strähnen an ihren Schläfen, und ihr Hemd sowie ihre Hose waren zwar durch die Gewalttätigkeiten der letzten Woche zerfetzt, aber sie bestanden aus feinster Wolle und schmeichelten ihrer Gestalt sehr. Auf den ersten Blick sah sie ganz und gar nicht wie eine Attentäterin aus. Sah man aber genauer hin, erkannte man die Zeichen: die nachlässige Art, wie sie ihre Messer hielt und zwischen den einzelnen Kampfhaltungen hin und her wechselte, und ihre Angewohnheit, sich stets so hinzustellen, dass sie einen Felsen oder eine Wand im Rücken hatte, sowie die scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber dem Blutvergießen der letzten Tage.

Und dann war da ihr Geruch. Noch immer vermochte Valyn nicht alles zu beschreiben, was er seit seinem Austritt aus Hulls Loch wahrnehmen konnte. Das Slarn-Ei hatte ihn verändert; die Eier hatten sie alle verwandelt. Das war offenbar der Sinn der letzten Kettral-Probe und der Grund dafür gewesen, dass alle Kadetten blind und blutend in die endlosen Höhlen auf Irsk geschickt worden waren, wo sie die Finsternis nach den Eiern dieser Reptilienungeheuer hatten absuchen müssen. Die Eier hatten ein Gegengift enthalten, aber sie hatten noch viel mehr bewirkt. Wie der Rest der Kettral konnte nun jedes Mitglied von Valyns Geschwader in den Schatten sehen und auch die leisesten Geräusche hören. Sie waren alle stärker als zuvor und auch zäher, als wäre durch das Ausschlürfen der Eier etwas von der drahtigen Kraft der Slarn in ihr Fleisch und Blut übergegangen. Doch nur Valyn hatte das dunkle Ei gefunden, das vom König selbst bewacht worden war. Nur Valyn hatte den gallenartigen Teer getrunken, während sich sein Körper unter dem Einfluss des Giftes geschüttelt hatte.

Er versuchte noch immer zu verstehen, was es mit ihm gemacht hatte. Wie die anderen hatte sich sein Vermögen zu sehen und zu hören plötzlich und auf subtile Weise verbessert. Er erlauschte, wie kleine Kiesel in einer Entfernung von hundert Schritten den Hang hinunterfielen, und erkannte die Federn der Habichte, die über ihnen kreisten … aber da war noch mehr. Manchmal krampfte sich eine animalische Wut um sein Herz – ein wildes Verlangen, nicht nur zu kämpfen und zu töten und eine Mission zu erfüllen, sondern zu zerfetzen, zu zerhacken, zu verletzen. Zum hundertsten Mal erinnerte er sich daran, wie ihn der Slarn umkreist hatte und seine Krallen über den Fels geschabt waren. Wenn diese Wesen nun ein Teil seiner Augen und Ohren waren, waren sie dann auch zu einem Teil seines Verstandes geworden?

Er schob diese Frage beiseite und konzentrierte sich ganz auf die Attentäterin. Geruch war nicht ganz das richtige Wort. Natürlich roch er sie überdeutlich – den Schweiß, die Haare, und das aus einer Entfernung von zwei Schritten. Aber das undeutliche Gefühl am Rande seiner Wahrnehmung war etwas anderes. Es war mehr. Manchmal glaubte er, den Verstand zu verlieren und sich neue Sinne einzubilden – aber das Gefühl blieb. Er konnte nun Empfindungen riechen: Wut und Hunger und Angst in all ihren Ausprägungen. Er nahm den rauen Moschusduft des Schreckens und die beklemmende Andeutung schwacher Nerven wahr. Jeder in seiner erschöpften Gruppe teilte die Angst, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Jeder außer Rampuri Tan und der Schädelschwörerin.

Kaden zufolge war Pyrre nach Aschk’lan gekommen, weil sie für diese Reise bezahlt worden war. Sie hatte ihm das Leben retten sollen, und tatsächlich hatte sie dies sogar mehrfach getan. Trotz ihrer Neigung, hin und wieder Tan und die Kettral zu reizen, hatte sie sich als eine prächtige Verbündete erwiesen. Doch wie weit konnte man einer Frau trauen, deren ganze Ergebenheit ausschließlich dem Herrn des Grabes galt? Wie weit konnte man einer Frau trauen, deren Geruch und Haltung bewiesen, dass sie dem Tod vollkommen gleichgültig gegenüberstand?

»Ich habe einen Plan«, erwiderte Kaden, während er von Pyrre zu Tan und dann zu Valyn schaute.

Valyn unterdrückte ein Seufzen.

Nachdem Valyn in der vergangenen Nacht den Vogel angebunden und die Grenzen des Lagers dreimal abgeschritten war, wobei er zu Gwennas Verärgerung die Streifendochte und Maulwürfe, die sie zum Schutz an beiden Zugängen des Passes versteckt hatte, mehrfach überprüft hatte, war er auf einen großen Felsbrocken geklettert, der ein wenig entfernt vom Lager stand. Einerseits verlangte es ihn nach einem hohen Aussichtspunkt, von dem er einen ungehinderten Blick auf die Umgebung hatte, andererseits wollte er allein sein und über die Ereignisse der letzten Tage sowie seine eigene Rolle in den brutalen Kämpfen nachdenken. Kaden fand ihn dort, als der schwarze Fleck der Nacht gerade auf die östlichen Gipfel fiel.

»Bleib sitzen«, sagte Kaden, während er an der Seite des Felsens hochkletterte. »Wenn du dich vor mir verneigst, werfe ich dich von deinem Ausguck herunter.« Seine Stimme war leise und klang heiser.

Valyn schaute kurz zu ihm hinüber, zögerte, nickte schließlich und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem blanken Schwert zu, das auf seinen Knien lag. Sein Kampf mit Sami Yurl hatte eine kleine Kerbe in der Mitte der Rauchstahlklinge hinterlassen. Seit fast einer Stunde glättete er sie sorgfältig mit seinem Wetzstein.

»Setz dich«, sagte er und deutete mit dem Stein neben sich. »Glanz …«

»Auch das nicht«, ächzte Kaden, während er sich mit untergeschlagenen Beinen am Rand des Felsens niederließ. »Spar dir das für die Gelegenheiten auf, wenn uns jemand zuhört.«

»Aber du bist doch der Kaiser«, betonte Valyn.

Darauf erwiderte Kaden nichts. Nach einigen weiteren Strichen mit seinem Stein schaute Valyn hoch und stellte fest, dass sein Bruder den feurigen Blick auf das Tal unter ihnen gerichtet hatte. Die Tiefen der Schlucht waren bereits in den Schatten versunken, aber die untergehende Sonne tränkte den gegenüberliegenden Rand noch mit blutigem Licht.

»Das bin ich«, sagte Kaden nach sehr langer Zeit. »Intarra möge uns allen beistehen – ich bin der Kaiser.«

Valyn zögerte und wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Während des Kampfes vor zwei Tagen war Kaden so kalt wie Mittwintereis gewesen, ruhig und bereit wie jeder Kettral. Doch diese Sicherheit schien ihn inzwischen verlassen zu haben. Auf den Inseln hatte Valyn so etwas schon mehrfach beobachtet: Männer und Frauen sowie Veteranen mit zwanzig Dienstjahren, die nach der Rückkehr von einer erfolgreichen Mission in dem Augenblick zusammengebrochen waren, in dem sie wieder einen Fuß auf Qarsh gesetzt hatten. Es lag etwas darin, nach einer so langen Zeit der Todesnähe endgültig überlebt zu haben, das auch gute Soldaten, die Tage oder Wochen unter den schrecklichsten Umständen zusammengehalten hatten, dazu brachte, wie Verrückte zu tanzen, weinend zusammenzubrechen oder sich drüben auf Hook in die Besinnungslosigkeit zu saufen.

Es ist keine Schande, sagten die Kettral, in dein eigenes Bett zu heulen. Der Rest blieb wie immer ungesagt: Man konnte so ausgiebig in das eigene Bett weinen, wie man wollte, wenn man nur nach einem oder zwei Tagen wieder aufstand, hinausging und erneut der schlimmste, schnellste und brutalste Mistkerl auf allen vier Kontinenten war. Valyn hatte keine Ahnung, ob Kaden genauso belastbar und entschlossen war.

»Wie geht es dir?«, fragte Valyn. Es war eine dumme Frage, aber jedes Gespräch musste irgendwie beginnen, und Kaden sah aus, als wollte er die ganze Nacht dasitzen, ohne ein einziges Wort zu sagen. »Nach alldem, was wir da unten durchgemacht haben?«

Im Verlauf seiner Ausbildung hatte Valyn Dutzende Tote gesehen; er hatte gelernt, abgehackte Gliedmaßen und verkrustetes Blut zu betrachten, so wie ein anderer, nicht von den Kettral erzogener Mann einen Braten oder ein gerupftes Huhn ansah. Es lag sogar eine gewisse Befriedigung darin, die Nachwirkungen der Gewalt zu sehen und Antworten in der Vernichtung zu erkennen. Wie Hendran in seiner Taktik schrieb: Je toter ein Mensch wird, desto ehrlicher wird er auch. Die Lüge ist ein Laster der Lebenden. Das stimmte zwar, aber Kaden war nicht dazu ausgebildet worden, zwischen Leichen herumzustochern – insbesondere nicht zwischen den Leichen seiner Freunde und Mitmönche. Es musste schwer für ihn gewesen sein, ihre verbrannten und zerstückelten Überreste in Augenschein zu nehmen, wenn auch nur aus der Ferne.

Kaden atmete lange und tief durch, zitterte einen Augenblick lang, dann erstarrte er. »Es sind nicht die älteren Mönche, die mich so grämen«, sagte er schließlich. »Sie alle hatten die Vaniate erreicht und einen Weg gefunden, ihre Ängste zu ersticken.«

Valyn schüttelte den Kopf. »Niemand entkommt der Angst. Nicht ganz.«

»Diese Männer hätten dich überrascht«, sagte Kaden und sah ihn an. Er wirkte ernst und gefasst. »Aber die Kinder, insbesondere die Novizen …« Er verstummte.

Der Wind hatte aufgefrischt, als die Sonne unterging. Er umpeitschte die beiden nun, zupfte an Haaren und Kleidung und drohte Kaden vom Fels zu fegen. Kaden schien es nicht zu bemerken. Valyn suchte nach etwas, das er sagen konnte, nach irgendeinem Trost. Aber er fand nichts. Die Schin-Novizen waren tot, und wenn sie auch nur annähernd wie andere Menschen gewesen waren, dann waren sie in Schmerz und Schrecken gestorben – verwirrt, verblüfft und plötzlich vollkommen allein.

»Ich frage mich«, sagte Kaden leise, »ob ich ihnen nicht ihren Willen lassen sollte.«

Valyn brauchte einen Augenblick, bis er die Richtungsänderung des Gesprächs nachvollzogen hatte, doch dann schüttelte er heftig den Kopf.

»Der Unbehauene Thron gehört dir«, sagte er fest, »so wie er schon unserem Vater gehört hat. Du kannst ihn nicht wegen einer Handvoll getöteter Menschen aufgeben.«

»Es sind Hunderte«, erwiderte Kaden mit einer härteren Stimme, als Valyn erwartet hatte. »Die Aedolianer haben keine Handvoll, sondern Hunderte umgebracht. Und der Thron? Wenn ich unbedingt auf einem Stück Fels sitzen will, dann habe ich die freie Auswahl; davon gibt es eine Menge.« Er deutete in die Nacht. »Ich könnte einfach hierbleiben. Die Aussicht ist besser als zu Hause, und niemand würde mehr umgebracht werden.«

Valyn betrachtete sein Schwert, fuhr mit dem Finger an der Schneide entlang und tastete nach der Kerbe.

»Weißt du das mit Sicherheit?«

Kaden lachte hilflos. »Natürlich nicht, Valyn. Ich zähle dir gern all die Dinge auf, die ich mit Sicherheit weiß: der Abdruck eines gestreiften Bären, die Farbe von Quetschbeeren, das Gewicht eines Wasserkübels …«

»In Ordnung«, sagte Valyn. »Ich habe verstanden. Wir wissen nichts mit Sicherheit.«

Kaden starrte ihn an; das Feuer in seiner Iris brannte so hell, dass es ihn schmerzen musste. »Ich weiß dieses eine: Die Aedolianer sind wegen mir hergekommen. Die Mönche sind wegen mir gestorben.«

»Das ist die Wahrheit«, erwiderte Valyn, »aber noch nicht das Ende der Wahrheit.«

»Du klingst wie ein Mönch.«

»Das Morden richtet sich zwar im Augenblick auf dich, aber es wird nicht mit deinem Tod aufhören. Ich kann dir eines sagen, das ich mit Sicherheit weiß: Menschen sind Tiere. Sieh, wohin du willst: nach Anthera oder den Blutstädten, nach den Dschungelstämmen des Hüftlandes oder den verdammten Urghul, um Schaels willen. Die Menschen töten, um an die Macht zu gelangen; sie töten auch, um die Macht zu behalten, und sie töten ebenso, wenn sie glauben, dass sie die Macht verlieren – das heißt, sie töten andauernd. Selbst wenn wir – du und ich – uns aus diesem Spiel heraushalten, selbst wenn wir beide sterben, es wird diejenigen erwischen, die nach uns kommen. Sie werden die nächste Bedrohung, die nächste beunruhigende Stimme oder die nächste Person mit dem falschen Namen oder der falschen Hautfarbe aus dem Weg räumen. Vielleicht werden sie sich auf die Reichen stürzen, wegen deren Münzen, oder auf die Bauern, wegen deren Reis, oder auf die Baskaner, weil sie zu dunkle Haut haben, oder auf die Breataner, weil sie zu bleich sind – es spielt keine Rolle. Menschen, die Mönche ermorden, werden jeden ermorden. Ich war mit solchen Bastarden in der Ausbildung. Sie werden nicht haltmachen, nur weil du aufgibst. Sie werden es bloß noch schlimmer treiben. Hast du das verstanden?«

Valyn verstummte; die Worte versiegten genauso plötzlich, wie sie gekommen waren. Er bemerkte, dass er keuchte. Das Blut pochte in seinen Schläfen, und seine Finger hatten sich so fest zu Fäusten geballt, dass es wehtat. Kaden sah ihn an, wie man ein wildes Tier ansah: aufmerksam und im Zweifel über dessen Absichten.

»Wir werden ihn finden«, sagte Kaden schließlich.

»Wen?«

»Den Kettral-Auszehrer. Balendin. Denjenigen, der deinen Freund umgebracht hat. Wir werden ihn finden, und wir werden ihn töten.«

Valyn starrte ihn an. »Hier geht es nicht um mich«, wandte er ein.

»Ich weiß«, erwiderte Kaden. Die Unsicherheit schien von ihm abgefallen zu sein. In jenen brennenden Augen lag wieder eine große Ferne – als würde er Valyn aus einer Distanz von vielen Meilen ansehen. »Das weiß ich durchaus.«