Times like Midnight Blue - Alina Bachmann - E-Book

Times like Midnight Blue E-Book

Alina Bachmann

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Beschreibung

Seit der Nacht in der Villa hat sich einiges verändert. Ramons Visionen sind wieder zurück und dieses Mal noch unkontrollierbarer als jemals zuvor. Er ist also wieder ganz am Anfang angekommen und leidet psychisch stark unter dem plötzlichen Kontrollverlust.  Während er und Tim alles dafür tun, um Luna vor dem sicheren Tod zu bewahren, muss sich diese mit ganz anderen Problemen herumschlagen. In ihrem Jahrgang ist ein neuer Schüler aufgetaucht, doch dieser ist kein Unbekannter. Und dann waren da noch die letzten Worte der Magier, die androhten, dass diese wiederkommen würden und erst dann aufgeben, wenn sie das bekommen haben, was sie wollen.

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Für Maren, die Erstellerin des (für mich) schönsten Buchcovers der Welt

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Kapitel 1

Es dämmerte bereits, als ich aufwachte. Normalerweise schlief ich um diese Uhrzeit noch tief und fest, aber irgendetwas – und ich meinte nicht den ruhig vor sich hin schnarchenden Körper neben mir – hielt mich vom Schlafen ab.

Ich konnte mir selber nicht erklären, was los war, aber eine mir unbekannte Unruhe verhinderte, dass ich wieder einschlafen konnte.

Ich war nicht nervös.

Wirklich nicht.

Zwar war heute der erste Schultag nach den Sommerferien und somit der Beginn des neuen Schuljahres, aber es war ja nicht mein erster Schultag überhaupt. Und schon gar nicht der erste Schultag an einer neuen Schule. Ich hatte mich hier bestens eingelebt und einen gefestigten Freundeskreis gefunden, kannte die Lehrer und wusste, was mich erwarten würde. Dennoch fühlte ich mich unwohl und das bereits Stunden, bevor die Schule überhaupt erst anfangen würde. Was war nur los mit mir?

Ich blickte neben mich. Ramon schlief immer noch tief und fest. Wir hatten noch etwas Zeit, bis unser Wecker klingeln würde und wir tatsächlich aufstehen müssten, er hatte also keinen Grund, schon wach zu sein.

Vielleicht war ich es auch einfach nicht gewohnt, neben einer anderen Person einzuschlafen. Der ganze Körperkontakt war mir einfach fremd. Noch nie zuvor war ich in so einer merkwürdigen Situation gewesen wie jetzt. Noch nie zuvor war ich einem anderen Menschen so nah gekommen wie jetzt. Vielleicht brauchte mein Körper einfach nur etwas Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass ich nicht mehr so viel Platz im Bett hatte wie vorher.

Unruhig drehte ich mich. Schloss meine Augen. Öffnete sie wieder. Seufzte. Ich konnte einfach keine Ruhe mehr finden. Es war bereits zu früh morgens, mein Körper war schon auf den kommenden Tag vorbereitet.

Ich bemerkte, wie auch Ramon langsam wacher wurde. Er hatte seine Augen noch geschlossen, aber das Grinsen auf seinem Gesicht sprach Bände. Automatisch musste ich auch lächeln. War es merkwürdig, ihn zu beobachten? Vielleicht ein wenig, aber irgendwie auch nicht.

Ich merkte, wie er sich mehr und mehr regte, bis er schließlich die Augen öffnete und sein Grinsen noch breiter wurde.

„Na, auch schon wach?“, fragte er schläfrig.

Ich nickte und streckte mich.

„Ist bestimmt die Aufregung“, antwortete ich ironisch und warf einen Blick aus dem Fenster.

Der Morgen wirkte trist und grau. Kein toller Start ins Schuljahr. Sollte es nicht eigentlich Sommer sein?

Seit unseres Umzugs kam es mir so vor, als wäre die Sonne verschwunden und von dichten Regenwolken, die mal mehr, mal weniger vor sich hin nieselten, ersetzt worden. Alles war grau und schwül.

„Dachte ich mir bei dir schon“, nuschelte Ramon und ich konnte nicht sagen, ob er die Ironie dahinter verstanden hatte oder ob er dazu noch zu tief im Halbschlaf war.

Mittlerweile lohnte es sich aufzustehen, also tat ich das. Ich ging in die Küche und deckte den Tisch ein, damit wir wenigstens die Zeit für ein gemeinsames Frühstück nutzen konnten, bevor der Ernst des Lebens wieder anfangen würde. Genug Zeit hatten wir ja dank meiner Unruhe.

Ramon schaffte es auch aufzustehen und half mir beim Tischdecken.

„Was machst du am Wochenende?“, fragte er beiläufig, als er sich sein Brot schmierte.

„Meine Mama schleppt mich mit auf einen weiteren Happy-Family-Camping-Trip“, murrte ich.

Ich hatte keine Lust auf noch einen Camping-Trip mit meiner Mama, ihrem neuen Freund und, was noch viel schlimmer war, seinem Sohn. Auch wenn der letzte Camping-Trip schon einige Monate zurücklag – genaugenommen war er sogar noch vor der Zeit in der Villa gewesen – hatte ich keine Lust, das zu wiederholen. Es gab einfach Sachen, die brauchte ich nicht im Leben und Camping gehörte einfach dazu.

Allerdings hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dass meine Mama endlich bemerken würde, dass ich Camping hasste. Das Einzige, was noch schlimmer als die ganzen Insekten und Spinnen war, war, dass sie von mir verlangte, so zu tun, als wären wir alle eine glückliche Familie. Und ich hatte es satt, sie und vor allem mich selbst andauernd zu belügen. Ich war nun einmal unzufrieden mit allem.

„So, so“, lachte er. „Und wo geht es hin?“

„Wenn ich das so genau wüsste… Ich glaube, irgendwo in die Berge, aber nicht so was Cooles wie die Alpen, das wäre ja zu weit weg für meine Mama. Wird wohl hier in der Nähe sein. Aber immerhin mal was anderes“, antwortete ich ihm und bemerkte, wie sich sein Blick für eine Sekunde veränderte. Dies passierte allerdings so schnell, dass ich nicht genau sagen konnte, ob er nur verwundert, enttäuscht oder doch schockiert war.

Es war ein wenig merkwürdig. Allerdings war alles, was mit Ramon zu tun hatte, ein wenig merkwürdig und somit hatte ich mich daran gewöhnt, dass es Situationen gab, die ich einfach nicht verstehen würde.

„In die Berge?“, fragte er noch einmal, als hätte er mich nicht verstanden.

„Ja, genau, du weißt schon. Hohe, spitze Dinger, die so in der Landschaft rumstehen“, versuchte ich es für Leute zu erklären, die besonders schwer von Begriff waren.

„Ah, das meinst du, sag das doch gleich“, sagte er gespielt überrascht und trank einen Schluck seines Orangensaftes.

Lachend schüttelte ich nur den Kopf und biss von meinem Brötchen ab.

Eine Weile lang sagte niemand etwas, weil jeder zu beschäftigt mit Essen war, bis Ramon die Stille durchbrach: „Ich finde, du solltest nicht mitgehen.“

Ich hob verwirrt meinen Kopf und sah ihn durchdringend an.

„Warum das denn nicht? Ich denke nicht, dass ich eine andere Wahl habe, mal davon abgesehen.“

„Naja, man hat immer eine Wahl, du könntest dich krank stellen oder so“, gegen Ende wurde er immer leiser, als wüsste er selber, wie dämlich seine Aussage war.

„Glaub mir, meine Mama lässt mir keine Wahl. Selbst mit Fieber würde sie mich höchstpersönlich den Berg hochtragen“, lachte ich.

Ich kannte sie nun mal und gerade bei Familienaktivitäten würde sie nicht lockerlassen.

„So oft hast du dich schon über den einen Camping-Trip beschwert, willst du das echt nochmal durchmachen?“, fragte er.

Ich wusste nicht, was er vorhatte, aber es nervte mich. Es nervte mich, dass er meinte, über mich urteilen zu müssen, ohne die genaue Situation zu kennen. Er wusste nicht, wie stur meine Mama sein konnte; sie war schlimmer als ich.

Ja, er hatte recht, der letzte Camping-Trip war der Horror gewesen und ich würde alles dafür geben, nie wieder mit irgendwem campen gehen zu müssen, aber am Ende ging es nicht um mich und das, was ich wollte, sondern vielmehr um den Frieden in der Familie.

„Ja, es begeistert mich auch nicht, aber da kann ich halt nichts machen“, antwortete ich genervt.

Er hatte gut reden. Er wohnte alleine und war unabhängig von seiner Familie. Ich hingegen musste tagtäglich mit meiner auskommen. Egal, ob ich hierbleiben wollte oder nicht: ich hätte es sowieso nicht gedurft.

„Du könntest deiner Mutter endlich mal deine Meinung sagen, du bist schließlich 17 und wirst nächstes Jahr 18, spätestens dann kann sie dir gar nichts mehr verbieten“, versuchte er es weiter.

„Aber bis dahin muss ich halt auf sie hören“, ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme etwas härter klang, als ich wollte.

„Ich will doch nur das Beste für dich, und das wäre halt, wenn du hierbleiben würdest“, gab er kleinlaut zurück.

„Und warum wäre das das Beste?“, fragte ich verblüfft.

Ramons Verhalten musste einen Grund haben, aber ich konnte nicht im Geringsten erahnen, was für einen.

„Du bist sonst wieder genervt und unglücklich.“

„Jetzt gerade bin ich auch genervt“, rutschte es mir heraus.

„Sorry, so war das nicht gemeint, aber ernsthaft, Ramon, ich glaube dir nicht, dass das der einzige Grund ist. Was ist der wahre Grund?“, entschuldigte ich mich direkt.

Ich hatte keine Lust auf Streit.

„Es gibt keinen anderen Grund“, sagte er nur wenig überzeugend. Es klang fast schon so, als würde er sich selbst nicht ganz glauben.

„Ich will halt einfach nur, dass es dir gut geht.“

Ich rollte mit den Augen.

Was war das denn für eine schwammige Begründung?

„Dann solltest du akzeptieren, dass ich mit meiner Familie campen gehen werde“, je mehr er versuchte mich davon abzubringen, umso mehr Lust hatte ich plötzlich auf den Camping-Trip. Ich konnte nicht einmal sagen, warum.

„Bitte“, sagte er fast schon flehend.

Ich schüttelte den Kopf und stand auf.

Langsam müsste ich mich fertigmachen, wenn ich pünktlich in der Schule sein wollte und das wollte ich dank dieser merkwürdigen Diskussion auf einmal.

„Vertraust du mir?“, fragte er, nachdem ich mich fertig gemacht hatte.

„Ja, ich vertraue dir, aber was das angeht, würde ich gerne einen Grund wissen“, versuchte ich, sachlich zu bleiben.

„Ich hab dir doch schon gesagt, dass es keinen besonderen Grund gibt. Vertrau mir einfach, es wäre besser für dich, wenn du hierbleiben würdest.“

„Hattest du eine Vision? Ist alles okay bei dir?“, fragte ich plötzlich, denn anders konnte ich mir sein Verhalten nicht erklären.

Er hatte doch schon seit unserer zweiten Begegnung keine unkontrollierten Visionen mehr gehabt. Eigentlich konnte es gar nicht sein.

Wobei…

Auch wenn er es versuchte zu unterdrücken, er hatte sich noch nicht von den Ereignissen in der Villa erholt. Er war fertig, erschöpft und immer noch ein wenig geschwächt. Zwar sagte er immer, dass dies nur davon kam, dass er seine Kräfte so oft wie noch nie zuvor genutzt hatte, doch auch das konnte ich ihm nicht so richtig glauben.

Es fühlte sich an, als wäre da mehr dran. Und gerade deshalb war es auch nicht komplett abwegig, dass seine Kräfte vielleicht ein wenig außer Kontrolle waren, so wenig Kontrolle wie er über seinen Körper zu haben schien.

„Nein, natürlich nicht, das habe ich alles bestens im Griff“, antwortete er schnell.

„Was ist es dann?“, fragte ich und zog mir meine Schuhe an. Ich konnte es kaum erwarten, in die Schule zu gehen.

Er wirkte so, als würde er überlegen, öffnete seinen Mund und schloss ihn direkt wieder.

„Ich wusste es…“, seufzte ich. „Aber wenn du mir nicht sagen kannst, was los ist, dann musst du wohl damit leben, dass ich campen gehen werde“, und mit diesen Worten verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg in die Schule.

Es tat mir gut, den altbekannten Schulweg laufen zu können, noch hatte ich mich nicht daran gewöhnt am anderen Ende der Stadt zu wohnen. Immerhin wohnte ich jetzt näher bei Jane und Finn, dafür aber weiter weg von Ramon. Alles hatte seine Vor- und Nachteile. Heute jedenfalls war es schön, trotz des merkwürdigen Morgens, ein wenig Normalität zu spüren. Auch wenn es nur auf dem Weg zur Schule war.

Überpünktlich schaffte ich es in die Eingangshalle, wo ich direkt auf meine Freunde traf. Wie immer saßen sie an einem der Tische in der hintersten Ecke der runden Eingangshalle.

„Seit wann bist du pünktlich?“, begrüßte mich Finn lachend.

„Dir auch einen guten Morgen“, sagte ich grinsend und umarmte ihn zur Begrüßung.

„Q2 Baby“, schrie Julius durch die halbe Eingangshalle und gesellte sich zu uns.

„Und hallo Julius, hab dich fast nicht gehört“, begrüßte Finn ihn.

Ich ging währenddessen weiter zu Jane und ihren Freundinnen. Wir unterhielten uns noch kurz, dann ging es auch schon in die Aula und wir bekamen unseren Stundenplan für das neue Schuljahr ausgehändigt.

„Und was habt ihr jetzt?“, fragte Jane in die Runde.

Ich warf einen Blick auf meinen Stundenplan und musste feststellen, dass ich jetzt Biologie haben würde. Zwar machte mir dieses Fach relativ viel Spaß, allerdings hatte ich niemanden von meinen Freunden in meinem Kurs.

Finn und Julius hatten Physik, die Glücklichen. Zwar würde ich echt ungerne Physik haben, aber ich hätte gerne einen Kurs mit meinen Freunden zusammen gehabt, so als Start ins neue Schuljahr.

„Ich hab jetzt Bio“, seufzte ich.

Finn klopfte mir mitleidig auf die Schulter.

Noch mitleidiger wurde er allerdings, als Jane verkündete, dass sie jetzt Sport haben würde.

Sport am ersten Schultag war so ziemlich das Nervigste, was es gab. Niemand, wirklich niemand, hatte die notwendigen Sportklamotten dabei, weil niemand wissen konnte, dass man zu den Unglücklichen gehören würde, die sich direkt an ihrem ersten Schultag bewegen durften.

Trotzdem ließ sich kein Sportlehrer die wertvolle Unterrichtszeit nehmen, was so viel hieß wie Sportunterricht in normalen Klamotten, was nicht nur unglaublich unbequem war, sondern auch bedeutete, dass man den Rest des Tages in seinen verschwitzten Klamotten rumlaufen musste.

Jane hatte es also eindeutig am schlimmsten getroffen und eigentlich durfte ich mich auch gar nicht über meinen Biokurs beschweren, nur weil ich niemanden besonders gut kannte. Es gab immerhin noch genug andere Menschen, mit denen ich reden könnte, wenn ich es wollte.

Überpünktlich machte ich mich also auf den Weg zu meinem Bio-Raum, schließlich wollte ich einen guten Platz für den Rest meiner Schulzeit haben. Und wer früher dran war, der hatte eine größere Auswahl.

Zu meinem Glück hatte ich freie Platzwahl, da sich die meisten meiner Mitschüler extra viel Zeit gelassen hatten, um von der Eingangshalle in den Bio-Raum zu schlendern. Wahrscheinlich war es den meisten Leuten total egal, wo sie saßen. Ich war da ein bisschen komplizierter.

So richtig wohl fühlte ich mich nur an der Seite eines Raumes, dort, wo ich nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit war und wo es nicht auffallen würde, ob ich mitschrieb oder doch heimlich in meinem Block herumkritzelte.

Der Unterricht begann zu meiner Verwunderung mit der Ankündigung eines neuen Schülers. Wie konnte das sein? Ich dachte, man müsste bei einem Schulwechsel die Q1 wiederholen. Schließlich war das mit einer der Gründe, weshalb ich darauf bestanden hatte, auch nach dem Umzug auf dieser Schule bleiben zu dürfen; ich wollte keine Klasse wiederholen, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Der andere Grund war natürlich mein Freundeskreis. Schule machte deutlich mehr Spaß, seitdem ich meine Freunde hatte und ich wollte auch nirgendwo mehr die Neue sein.

Sofort drehte sich jeder um, nur um festzustellen, dass sich noch kein neuer Schüler im Raum befand. Die meisten schienen froh darüber zu sein, dass der Unterricht noch nicht direkt beginnen würde.

Plötzlich öffnete sich die Tür und der Neue trat ein. Ich musterte ihn. Er war komplett in Schwarz gekleidet, und während ich so an ihm hochblickte, merkte ich, dass ich diese Person, die dort in der Tür stand, kannte.

Ich konnte spüren, wie mein Herz schneller schlug, anfing zu rasen. Ich versuchte meine Atmung zu verlangsamen. Ich würde jetzt keine Panikattacke bekommen. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht vor ihm.

Am liebsten wäre ich direkt aus dem Raum gerannt und hätte mich für den Rest des Tages auf der Toilette eingesperrt, aber meine Vernunft konnte sich durchsetzen – oder war ich wieder einmal paralysiert vor Angst?

„Schön, dass Sie da sind. Möchten Sie sich kurz vorstellen?“, begrüßte unser Biolehrer den Neuen freundlich.

„Ich bin Matt und ich bin jetzt hier in eurem Kurs“, antwortete Matt freundlich.

Was zur Hölle machte er hier?

Ich dachte, nach der Begegnung in der Villa wäre er abgehauen und ich müsste ihn nie wiedersehen. Weit weg und endgültig.

So viele Gedanken schossen mir durch den Kopf.

War das ein Zufall?

War das alles geplant?

War dies ein weiterer Versuch von den Magiern, uns unter Druck zu setzen, oder macht er das einfach so, weil er Spaß daran hatte, Leute zu terrorisieren?

Was auch immer es war, ich wollte es nicht herausfinden. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben.

Matt setzte sich auf einen freien Platz, glücklicherweise nicht neben mich, und packte entspannt seinen Block aus. Währenddessen beachtete er mich überhaupt nicht. Vielleicht hatte er mich auch nicht gesehen. Vielleicht war das alles einfach nur ein verdammt komischer Zufall und er wusste gar nicht, dass ich hier war. Aber warum sollte eine übernatürliche Gestalt wie er plötzlich Interesse daran haben, Abi zu machen?

Der Unterricht zog sich. Unendlich lang. Und wirklich aufpassen konnte ich auch nicht. Ich war einfach zu abgelenkt von Matt. Seine Anwesenheit machte mich unruhig und mein Puls raste immer noch. Obwohl es nicht ganz für eine Panikattacke reichte, so fühlte es sich an, als wäre mein Körper bereit, jede Sekunde wegzurennen. Ich war in Alarmbereitschaft.

Gut, dass die ersten Stunden nicht besonders anspruchsvoll oder wichtig waren, so würde ich immerhin nichts Wichtiges an Lernstoff durch meine Unkonzentriertheit verpassen.

Als die Stunde endlich endete, beschloss ich, meinem Instinkt zu folgen. Ich hatte es satt, mich seit der Nacht in der Villa so schwach zu fühlen. Nicht umsonst hatte ich mich kurz nach meiner Geburtstagsparty in einem Boxverein angemeldet. Ich war zwar nicht sonderlich gut, aber das regelmäßige Training gab mir ein wenig das Gefühl von Kraft, und was viel wichtiger war, es gab mir das Gefühl von Kontrolle.

Also beschloss ich, dieses neu gewonnene Selbstbewusstsein nun an den Tag zu legen. Ich ließ Matt nicht aus den Augen. Nicht, als er seine Sachen gemütlich zusammenpackte und auch nicht, als er den Raum verlies. Bis mir auffiel, dass ich meine eigenen Sachen noch nicht zusammengepackt hatte. Schnell warf ich meinen Block und mein Buch in meine Tasche und rauschte aus dem Raum, um Matt irgendwie einholen zu können.

Ich blickte mich auf dem Gang um und konnte gerade noch sehen, wie er auf der Treppe ins Obergeschoss verschwand. Schnell kämpfte ich mich durch den Ansturm an Schülern, die alle in Richtung Eingangshalle strömten – es war schließlich Pause – und erreichte die Treppe.

Warum wollte er überhaupt nach oben gehen? In den Pausen war es normal, sich in der Eingangshalle oder auf dem Schulhof aufzuhalten.

Mir gingen viele Gedanken durch den Kopf, als ich die Treppen hinaufging, doch kein Einziger konnte mir beantworten, warum ich ihm hinterherlief. Vermutlich war es eine ziemlich idiotische Idee von mir gewesen, ihm ganz allein zu folgen, ohne dass irgendjemand wusste, was für ein Verhältnis ich zu ihm hatte.

Ich wusste bereits, dass er stark war. Schließlich war er einer der Gründe, weshalb Ramon momentan so geschwächt war. Und ich konnte mir vermutlich nicht einmal im Geringsten ausmalen, wozu er alles fähig war. Dennoch war das hier eine Schule und wenn er mich wirklich umbringen wollte, so hätte er das in der Villa schon getan, nicht wahr?

Außer Atem erreichte ich den obersten Stock, Matt lehnte schon erwartungsvoll an den Schließfächern an der Wand. Spätestens jetzt wurde mir bewusst, dass es tatsächlich kein Zufall war, dass er sich ausgerechnet diese Schule ausgesucht hatte. Er wusste genau, was er tat, und er wusste auch, dass ich ihm folgen würde. Er hatte mich gelesen wie ein Buch.

„Du solltest nicht hier sein“, presste ich hervor, als ich langsam auf ihn zuging.

Der Gang war komplett leer, sollte er mir etwas antun wollen, so könnte er dies hier ohne Zeugen tun.

„Du aber auch nicht“, antwortete er schulterzuckend.

Er hatte recht, eigentlich sollte ich jetzt in der Eingangshalle bei meinen Freunden sitzen und mit ihnen die Pause verbringen, stattdessen war ich einem Fremden gefolgt, der mich jederzeit umbringen könnte, wenn er es nur wollen würde. Also war eigentlich alles genau wie damals, als ich Ramon kennengelernt hatte.

„Was willst du?“, fragte ich ihn bestimmt.

„Ich brauche Ramons Hilfe“, antwortete er normal.

Ich war ein wenig überrascht, ich hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass er normal antworten würde.

So kannte ich ihn nicht.

Seine Stimme klang sonst immer höhnisch, abwertend, sarkastisch – eigentlich alles, außer normal.

Ich war so perplex, dass ich gar nicht wusste, was ich ihm überhaupt antworten sollte.

„Ähm“, stammelte ich. „Wie wär’s mit kannst du vergessen?“, fügte ich nach einigen Sekunden hinzu.

„Ich hatte schon damit gerechnet, dass du so reagieren würdest, aber lass ihn das doch selber entscheiden. Du musst mich nur zu ihm bringen“, versuchte er es weiter.

„Ich werde dich ganz sicher nicht zu ihm bringen. Wenn ich mich recht erinnere, hast du ihn bei eurer letzten Begegnung angegriffen und verletzt, woher soll ich wissen, dass das kein fieser Trick von dir ist?“

„Auch das habe ich mir schon gedacht. Also, dass du ihn beschützen würdest“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu mir.

„Damit musst du dich wohl abfinden, du kannst dir die Mühe sparen. Ich werde dich nicht zu ihm bringen“, und mit diesen Worten drehte ich ihm den Rücken zu und machte mich auf den Weg in die Eingangshalle.

Ich war ein bisschen stolz auf mich, dass ich ihn so sprachlos habe stehen lassen. Ein grandioser und würdevoller Abgang.

Schnell vergingen auch die nächsten zwei Stunden Kunst, die ich zum Glück mit Julius und nicht mit Matt verbringen durfte. Ich hatte schon ein wenig Angst, dass ich noch weitere Kurse mit ihm haben würde, was sich zumindest für den heutigen Tag glücklicherweise nicht bestätigte.

Julius und ich saßen gerade mit Finn zusammen in der Eingangshalle und warteten auf Jane. Wir wollten nach der Schule zusammen etwas essen gehen und somit den Start in unser letztes Schuljahr gebührend feiern.

„Wie lange braucht sie denn noch“, stöhnte Finn neben mir.

„Hungrig?“, fragte ich nur lachend.

Finn war einer der geduldigsten Menschen, die ich kannte, aber sobald es um Essen ging, konnte er extrem ungeduldig werden.

Er nickte nur betrübt.

Zu seinem Glück dauerte es nicht mehr lang, bis Jane auftauchte. Aber sie war nicht alleine.

„Darf ich euch jemanden vorstellen?“, fragte sie aufgeregt.

Ich sah sie nur entsetzt an.

„Das hier ist Matt, er ist neu hier, ist das nicht unglaublich?“, redete sie weiter drauflos.

Matt neben ihr winkte nur einmal kurz lässig in die Runde.

Wie konnte er es wagen, sich meinen Freunden zu nähern? Sie hatten nichts mit Ramon und der ganzen Situation zu tun.

Wie konnte er es wagen, sich Finn zu nähern, nach allem, was er ihm angetan hatte?

Trotzdem durfte ich mir nicht anmerken lassen, dass mich seine Anwesenheit störte. Sonst würden sie nachfragen. Und darauf würde ich keine Antworten haben.

Auch wenn ich Finn versprochen hatte, ihm eines Tages alles zu erzählen, so fühlte ich mich einfach noch nicht bereit dazu, was er zum Glück verstehen konnte. Seit der Nacht in der Villa hatte sich vieles in mir verändert und ich wusste selbst nicht, wie ich mit allem klarkommen sollte.

Es war ja nicht nur so, dass Ramon nun geschwächt war und wir nicht wussten, inwiefern die Magier damit zu tun hatten, sondern auch die Tatsache, dass ich selbst nicht genau wusste, wer ich war oder was ich im Leben überhaupt wollte. Schließlich war ich in jener Nacht davon überzeugt gewesen, dass mein Leben vorbei sein würde.

Nun, da Matt in meinem Leben aufgetaucht war, würde sich noch mehr verändern. Vielleicht müsste ich meine Prinzipien überdenken und reinen Tisch machen. Was wäre, wenn er es meinen Freunden zuerst erzählen würde? Was wäre, wenn er ihnen etwas antun würde? Ich müsste sie warnen. Ich musste ihn loswerden.

„Hey, cool dich kennenzulernen“, begrüßte Finn Matt.

Wenn er wüsste... So cool war es gar nicht, dass sie sich kennenlernten. Und so zufällig war das alles auch nicht.

„Ich dachte, er könnte vielleicht mit uns essen gehen. Er hat noch keinen Anschluss und vielleicht können wir ihm dabei ein bisschen helfen“, stammelte Jane.

Wehe, er würde ihr etwas antun. Ich würde es ihm doppelt zurückzahlen, wie auch immer ich das hinbekommen sollte, aber ich würde schon irgendwie kreativ werden.

Finn und Julius schienen begeistert von der Idee zu sein, also konnte ich nichts dagegen sagen. Alles andere wäre zu auffällig gewesen.

„Super Idee“, antwortete ich und musste mich beherrschen, glaubwürdig zu klingen.

Wir machten uns also auf den Weg in die Stadt. Nach Langem hin und her entschieden wir uns letztendlich für ein kleines asiatisches Restaurant mitten in der Innenstadt. Matt wurde viel zu gut von den anderen in die Gruppe aufgenommen. Wieso mussten meine Freunde nur so unglaublich nett und offen sein?

„Wie kommt es eigentlich, dass du neu in unsere Stufe gekommen bist?“, fragte ich Matt, nachdem wir unser Essen bestellt hatten.

Wenn es niemandem komisch vorkam, dann konnte ich wenigstens das Gespräch darauf lenken, sodass die anderen vielleicht auch merken würden, dass irgendwas mit ihm nicht stimmte.

„Ich bin plötzlich umgezogen und eure Schule war die Einzige in der Umgebung, die einen guten Ruf hatte“, antwortete er sachlich.

Man könnte echt denken, wir wären uns noch nie begegnet.

„Aber wieso ausgerechnet in unsere Stufe?“, hakte ich nach. „Ich dacht immer, dass, wenn man die Schule in der Qualifikationsphase wechselt, man die Q1 wiederholen muss.“

Sein gelassener Blick veränderte sich. Man könnte meinen, dass er sich ein wenig eingeengt fühlte.

„In Einzelfällen ist es möglich, nicht wiederholen zu müssen, und ich habe zum Glück die richtigen Noten und die richtigen Kontakte“, sein Blick wurde wieder entspannter.

Er hatte sich gut retten können.

Verdammt.

„Und warum musstest du so unbedingt umziehen?“, ich ließ nicht locker. Dass ich dabei einen verwirrten Blick von Finn erntete, war mir egal.

„Luna, lass ihn doch erstmal in unserer Gruppe ankommen“, mahnte mich Jane freundlich.

„Ist schon gut, ich habe nichts zu verheimlichen“, lachte Matt und fixierte mich mit seinem Blick.

„Wenn du es genau wissen willst, es gab gewisse Komplikationen innerhalb meiner Familie.“

„Eine tragische Hintergrundgeschichte?“, rutschte es Jane heraus.

Matt schüttelte lächelnd den Kopf.

Er könnte echt sympathisch wirken und wenn ich ihn nicht kennen würde, wäre ich vermutlich auch auf ihn hereingefallen. Aber hinter seiner netten Art verbarg sich ein eiskalter Mörder.

„Nichts wirklich Schlimmes, nur ein paar Meinungsverschiedenheiten, die sich letztendlich durch den Umzug klären konnten“, versicherte er Jane, die schon ziemlich mitleidig guckte.

Meinungsverschiedenheiten? Konnte er damit die Zauberer meinen oder meinte er Ramon damit?

Ich beschloss, erstmal nicht weiter nachzuhaken. Alles, was ich tat, schien ihn sowieso nur in ein besseres Licht zu rücken.

Der Rest des Nachmittags verlief okay. Ich versuchte, mich zusammenzureißen und niemand merkte etwas. Also war es ein erfolgreicher Nachmittag für mich.

Aber auch für Matt war es ein erfolgreicher Nachmittag, denn am Ende des Tages wurde er in unsere WhatsApp-Gruppe hinzugefügt. Er hatte mich also genau dort, wo er mich haben wollte.

Kapitel 2

Ich war absolut nicht zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs von heute Morgen, aber was hätte ich anderes machen sollen? Ich konnte es einfach nicht übers Herz bringen, ihr von meiner Vision zu erzählen.

Ich konnte ihr doch nicht erzählen, dass ihr Leben auf dem Spiel stand, und das alles nur wegen mir, einer Person, der sie vertraute. Wie sollte ich ihr erklären, dass es mir seit dem Abend in der Villa nicht gut ging und ich das Gefühl hatte, dass das gerade erst der Anfang war?

Zwar hatte sie selber bereits bemerkt, dass ich nicht so ganz der Alte war, aber gleichzeitig wusste sie nicht, wie extrem beschissen es wirklich um mich stand. Ich fühlte mich immer noch schwach. Ich fühlte mich merkwürdig. Ich fühlte mich so, als wäre ich wieder kurz davor, die Kontrolle zu verlieren, und ich wusste nicht genau, warum.

Eigentlich hatte ich doch gelernt, mit meinen Voraussagen umzugehen. Ich konnte doch nicht wieder von vorne anfangen, dafür fühlte ich mich zu schwach.

Es war eine aussichtslose Situation und ich konnte oder wollte mit niemandem darüber reden. Es war alles so wie damals, bevor ich wusste, was genau mit mir los war. Nur schlimmer. Unberechenbarer.

Und besonders nach all den Fortschritten, die ich bereits gemacht hatte, fühlte sich dieser Rückschlag nur noch härter an. Ich hatte einfach nicht genug Kraft, um wieder von vorne anzufangen. Ich konnte einfach nicht mehr.

Doch je näher das Wochenende kam, an dem Luna mit ihrer Familie campen fahren wollte, umso schlafloser wurden meine Nächte und umso sicherer wurde ich mir, dass ich etwas tun musste. Ich konnte sie nicht einfach so fahren lassen, und wenn ich sie nicht davon abbringen konnte, mitzufahren, so würde ich wenigstens alles dafür tun, ihren Tod zu verhindern. So gerne ich auch die Gemeinsamkeiten zwischen ihr und Luana suchte, so wusste ich, dass ihr Tod ein Ereignis wäre, das viel schwerwiegender wäre, als es Luanas Tod jemals sein könnte.

Ich beschloss also, Tim in meine Vision einzuweihen. Ich würde ihm nicht alles verraten, nur das Nötigste. Er musste nicht wissen, wie schlecht es mir wirklich ging. Aber ich brauchte einfach seinen kühlen Kopf, der immer einen Plan hatte. Fest entschlossen machte ich mich also auf den Weg zu Tim nach Hause. Dadurch würde er keinen Verdacht schöpfen. Er würde nicht darauf kommen, was wirklich in mir vorging. Denn wenn es mir wirklich schlecht gehen würde, würde ich ihn niemals besuchen gehen, oder doch?

„Also, worüber wolltest du reden?“, begrüßte er mich freundlich, als er die Tür öffnete.

Ich seufzte kurz.

Er konnte sich nicht vorstellen, wie ernst dieses Gespräch werden würde. Schnell bemerkte er, dass mir nicht nach Lachen oder Ähnlichem zumute war.

„Verstehe“, murmelte er nur, während ich an ihm vorbeiging und mich hinsetzte.

„Was ist passiert?“, jetzt konnte man eindeutig die Sorgen in seiner Stimme heraushören. Genau das, was ich eigentlich vermeiden wollte.

Ich atmete tief ein.

„Ich hatte eine Vision“, begann ich und beobachtete genau, wie sich seine Augen und sein Mund in leichtem Schock öffneten.

„Scheiße“, flüsterte er.

Ich nickte und musste schlucken, bevor ich weiterreden konnte.

„Ich hatte eine Vision, in der Luna stirbt“, ich konnte nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen schossen, während ich redete.

„Hast du es ihr schon gesagt? Vielleicht kann man etwas verhindern. Vielleicht können wir irgendwie die Zukunft beeinflussen oder denkst du, dass du es schaffen könntest, eine Art positive Vision zu bekommen? Eine Vision, in der sie nicht stirbt, sondern überlebt?“, plapperte er nur so drauf los.

Man konnte genau erkennen, wie sehr ihn das mitnahm. Er hatte das alles bereits einmal mit mir durchgemacht, und wenn ich schon keine Kraft mehr dafür hatte, woher konnte ich wissen, dass es ihm nicht genau so ging?

Wir waren bereits an diesem Punkt gewesen. Es konnte sich doch nicht ewig im Kreis drehen. Es durfte sich nicht wieder im Kreis drehen.

„Ich habe ihr nichts von all dem gesagt“, begann ich.

Noch bevor er fragen konnte, warum ich das nicht getan hatte, antwortete ich: „Ich möchte nicht, dass sie etwas Falsches von mir denkt. Ich möchte nicht, dass sie denkt, ich würde sie tot sehen wollen und ich möchte nicht, dass sie merkt, dass ich langsam wieder die Kontrolle verliere. Ich möchte nicht, dass sie sich von mir abwendet und ich möchte sie nicht unnötig verunsichern.“

„Also sagst du, dass du sie lieber tot sehen würdest, als dass sie sich von dir abwendet?“, versuchte Tim die Situation treffend zusammenzufassen.

So hatte ich noch nicht darüber nachgedacht, aber wenn er es so formulierte, hatte er leider recht. Das ganze Thema war allerdings viel zu komplex, als dass man es so einfach hätte zusammenfassen können.

„Natürlich möchte ich sie nicht tot sehen, aber… Ich hatte gehofft, ich könnte sie, ohne ihr zu viel zu verraten, davon abhalten, mit ihrer Familie campen zu gehen“, erklärte ich ihm meinen ursprünglichen Plan.

„Also wird sie beim Campen sterben?“, hakte Tim nach.

Ich nickte.

„Und hat es funktioniert? Konntest du sie abhalten?“ Ich schüttelte nur den Kopf.

Ich wusste nicht, was ich sonst noch dazu sagen sollte.

„Sonst wäre ich nicht hier“, seufzte ich. „Ich hatte gehofft, du könntest mir helfen.“

Tim überlegte und nickte kurz.

„Natürlich helfe ich dir. Erstmal sollten wir es ihr sagen. Ich denke nicht, dass sie sich zurückziehen würde, wenn du ihr die Situation erklärst. Ich kenne dich und ich kenne deine Kräfte und das, was gerade mit dir passiert, scheint nicht normal zu sein. Das bist nicht du. Sie hat sich damals entschieden, dir zu helfen, obwohl du sie jederzeit hättest umbringen können. Sie wird sich noch einmal dafür entscheiden. Warum sollte sie es nicht mehr tun? Nicht nach all dem, was wir in der Villa durchgemacht haben“, er sprang motiviert auf und sah mich fragend an: „Also, worauf warten wir?“

Es blieb einen kurzen Moment lang still. Ich wusste nicht genau, was ich darauf sagen sollte.

„Ich dachte eigentlich, dass du aus ihr herausbekommen könntest, wohin sie Campen fährt. Dann könnten wir ihr heimlich nachreisen“, erklärte ich ihm meinen Plan.

Er sah mich verwirrt an.

„Wieso machst du das nicht selber?“, fragte er verwundert.

Und dann erklärte ich ihm noch einmal detaillierter, wie ich bereits versucht hatte, sie von dem Trip abzuhalten und wie entrüstet sie reagiert hatte.

Ich musste mir eingestehen, dass ich durch meine ganze Zeit als Einzelgänger ein wenig sozial inkompetent geworden war, aber sogar ich wusste, dass es das Beste für unsere Beziehung war, wenn ich das Thema nicht mehr ansprechen würde.

„Hm“, machte Tim nur. „Findest du deine Idee nicht ein wenig, wie soll ich das sagen, ach ja, creepy?“

„Es ist vielleicht nicht mein bester Plan, aber bitte lass es uns auf meine Weise machen“, flehte ich ihn an.

Tim überlegte kurz, dann willigte er ein, mir zu helfen, aber nur unter der Bedingung, dass ich es ihr, sobald wir sie gerettet haben würden, selbst erzählen würde.

Gespannt saß ich neben Tim, während er in einem beiläufigen WhatsApp-Gespräch versuchte herauszufinden, wohin Lunas Reise gehen würde.

Es war bereits Freitagnachmittag und unsere Zeit wurde knapper und knapper. Ich wusste nicht, wann sie losfahren würden. Ich wusste noch nicht, wohin sie fahren würden. Und ich wusste nicht genau, wann meine Vision eintreffen würde. Es könnte theoretisch jetzt schon zu spät sein.

Zum Glück schien Luna keinen Verdacht zu schöpfen, als Tim sie fragte, wo sie überhaupt hinfahren würde.

Ich sah Tim an.

Er sah mich an.

„Los geht’s“, sagte ich und sprang auf.

„Wir haben eine Mission“, rief Tim und folgte mir, so schnell es ging.

Wir sprangen in mein Auto und fuhren los. Auf der Fahrt erklärte ich Tim, wie genau meine Vision abgelaufen war, damit auch er vorbereitet sein konnte. Wir mussten beide die Augen offen halten für mögliche Gefahren.

Wir mussten sie einfach finden, bevor meine Vision zuschlagen konnte. Ich war doch schon ein psychisches Wrack. Wie viel musste ich noch ertragen, bis ich endlich zerbrechen würde?

Glücklicherweise mussten wir nicht lange fahren, bis wir die Berge sehen konnten. Luna hatte wohl recht behalten, ihre Mutter schien wirklich nicht weit wegfahren zu wollen. Wir mussten nur noch Luna oder ihre Familie finden – also genau der Part, der vermutlich am schwierigsten war.

„Wie wollen wir uns eigentlich auf dem Berg verstecken und wo schlafen wir eigentlich?“, rutschte es Tim raus.

Verdammt.

Darüber hatte ich mir auch noch absolut keine Gedanken gemacht. In meinem Kopf klang alles so viel einfacher. Aber Tim hatte recht: es war wichtig, dass man solche Sachen vorher plante.

Wir konnten schließlich nicht einfach normal rumlaufen. Wenn Luna uns sehen würde, dann wäre alles vorbei. Und ans Schlafengehen hatte ich erst recht nicht gedacht. Ich war gar nicht davon ausgegangen, dass diese Mission länger als einen Nachmittag andauern könnte. Vermutlich machte Tim genau aus diesem Grund sonst immer die Pläne.

„Wir können in meinem Auto schlafen“, schlug ich vor.

„Cool, ich wollte schon immer in einem Auto übernachten“, freute sich Tim wie ein kleines Kind. Mit so einer Antwort hatte ich nicht gerechnet.

Wir fuhren den Berg hoch, hielten aber bereits auf einem Parkplatz an, noch bevor wir überhaupt die Spitze erreicht hatten. Es war bereits dunkel und die Chancen waren zu hoch, dass wir sonst bemerkt werden würden. Die Scheinwerfer meines Autos würden in der Dunkelheit auffallen wie Leute mit weißen T-Shirts auf einem Metall-Konzert.

Heute, da war ich mir sicher, würde ihr nichts mehr passieren. Durch Tim, der weiterhin fleißig mit ihr schrieb, wussten wir, dass sie noch am Leben war und meine Vision hatte mir verraten, dass es tagsüber passieren würde.

Mehr oder weniger erleichtert, streckte ich mich und stellte den Fahrersitz so weit weg vom Lenkrad ein, wie es nur möglich war, um meinen Beinen extra viel Freiraum zu geben.

„Wir haben nicht einmal etwas zu Essen eingepackt“, beschwerte sich Tim irgendwann.

Vermutlich hätte man auch nicht unvorbereiteter handeln können, als wir es an diesem Tag getan hatten, aber es ging nun mal um Leben und Tod. Wir hatten einfach keine Zeit, um uns Gedanken über so etwas Banales wie Essen zu machen, dafür hatte ich Tim zu spät in meine Vision eingeweiht.

Daraufhin beschlossen wir, den Berg abzusuchen; erstens nach einem Ort, wo wir etwas essen könnten, und zweitens nach dem Wanderweg, den ich in meiner Vision gesehen hatte.

Ersteres ließ sich leicht finden und nachdem wir etwas gegessen hatten, war Tim auch williger, mit mir alle möglichen Wanderwege abzusuchen.

Es dauerte Stunden, bis wir den richtigen Pfad finden konnten. Ich vermutete, dass es am Adrenalin lag, aber meine eigene Schwäche rutschte in den Hintergrund. Ich konnte selbst kaum glauben, wie aktiv ich werden konnte, wenn es um das Leben eines Menschen ging, der mir so viel bedeutete, wie Luna es tat.

Obwohl wir den richtigen Wanderweg gefunden hatten, verliefen wir uns (trotz Google Maps) noch ein paar Mal im Wald, bevor wir endlich wieder an meinem Auto ankamen. Erschöpft legten wir uns letztendlich schlafen.

„Ramon, es ist 12 Uhr“, hörte ich Tims Stimme.

Sie war dumpf und klang weit von mir entfernt.

Ich konnte meine Augen nicht öffnen.

Mir ging es gar nicht gut und ich fühlte mich nicht in der Lage, etwas ändern zu können. Ich fühlte mich nicht einmal in der Lage, meine Augen zu öffnen.

Ich zitterte. Aber mir war nicht kalt. Es war nicht kalt. Heute war einer der wenigen Tage, an denen die Sonne scheinen sollte. Einer der wenigen warmen Tage in den letzten paar Wochen.

Erst als Tim mich schüttelte, wurde ich wacher. Mein Geist war nun komplett munter, nur mein Körper war noch nicht in der Lage, aufzustehen. Ich musste mich zusammenreißen. Nur dieses eine Mal. Für Luna. Danach konnte ich Tage lang nur schlafen, aber heute musste ich funktionieren.

Und mit diesem Gedanken schaffte ich es endlich, meine Augen zu öffnen.

„Verdammt, war wohl eine zu lange Nacht für mich“, nuschelte ich verschlafen und versuchte die Situation herunterzuspielen.

Ich konnte nicht genau sagen, ob Tim Verdacht schöpfte, aber wenn er es tat, dann sagte er nichts dazu.

Wir beschlossen, mit dem Auto noch ein wenig näher an den Wanderweg zu fahren. Auf der einen Seite, weil ich es nicht mehr geschafft hätte, weit zu laufen, auf der anderen Seite, damit wir schneller eingreifen könnten, sollte etwas passieren.

Da es jetzt mittags war, würde unser Auto auch nicht mehr so stark auffallen wie letzte Nacht, da am Wochenende viele Wägen diesen Berg hier hinauffuhren.

„Denkst du, es ist heute soweit?“, fragte Tim vorsichtig.

Ich nickte.

Es fühlte sich so an.

„Okay, dann lass uns keine Zeit verlieren“, sagte Tim und war schon ausgestiegen.

Ich atmete noch einmal tief durch und versuchte, meine übriggebliebene Kraft zu sammeln. Ich wusste nicht genau, wie ich sie retten sollte, aber eins stand fest, ich würde sie retten.

Auch, wenn sie mich danach für einen Stalker halten oder sich von mir abwenden würde. Sie war es wert. Ihr Leben war es mir wert. Ich würde alles für sie tun, auch wenn ich dafür mit meinem Leben bezahlen müsste. Und durch diese Gedanken schaffte ich es, das Auto endgültig zu verlassen.

Vorsichtig bewegten wir uns auf den Wanderweg zu. In meiner Vision war ihr Zeltlager sehr nah am Wanderweg gelegen, wir mussten also aufpassen, dass wir nicht frühzeitig erkannt werden würden.

Auch wenn ich nicht genau wusste, ob es sich bei dem Zeltlager aus meiner Vision tatsächlich um das von Luna und ihrer Familie handelte, so war es dennoch sehr wahrscheinlich. Selbst wenn es nicht das Ihrige wäre, so mussten wir immer damit rechnen, ihr oder ihrer Familie zu begegnen. Wir mussten aufmerksam und gleichzeitig unauffällig sein. Zwei Sachen, die weder Tim noch ich besonders gut beherrschten.

Es dauerte nicht lange, da fanden wir das Zeltlager aus meiner Vision, doch von Luna fehlte jede Spur.

Waren wir zu spät?

Mein Herz begann zu rasen, aber mein Kopf war noch zu rational, um Panik zu schieben. Solange es noch Hoffnung gab, dass es nicht zu spät war, würde ich hier warten. Egal, wie lange es dauern würde. Ich hatte Zeit. Solange ich es nicht besser wusste, war sie am Leben und es bestand die Chance, dass wir sie noch retten konnten.

Zum Glück sagte Tim nichts, das mich hätte verunsichern können. Für seine Verhältnisse blieb er ziemlich bedacht und ruhig. Zwar war er von Natur aus eine ruhige und gelassene Person, doch er liebte es, in verbale Fettnäpfchen zu treten. Doch heute schien selbst ihm die Ernsthaftigkeit dieser Situation bewusst gewesen zu sein, sonst hätte er schon längst versucht, mit witzigen Bemerkungen die Stimmung aufzulockern.

Wir setzten uns in den Schatten eines Baumes, um unbemerkt zu bleiben und warteten. So viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Waren wir wirklich an der richtigen Stelle? Es musste einfach hier sein. Ich war mir sicher. Sehr sicher.

Ich hatte genau diesen Weg in meiner Vision gesehen. Die anderen Wege sahen anders aus. Wir mussten hier einfach richtig sein.

Also warteten wir weiter.

Stille.

Die einzigen Laute um uns herum, waren die Geräusche der Vögel in den Bäumen, die fröhlich vor sich hin zwitscherten.

„Und du bist dir wirklich sicher, dass wir hier richtig...–“, fragte Tim skeptisch.

„Pscht“, machte ich nur und legte meinen Finger auf die Lippen.

Wir durften nicht riskieren gesehen zu werden, falls meine Vision nicht eintreffen würde. Wir mussten unauffällig bleiben und dazu gehörte leider auch, dass wir nicht viel miteinander reden durften, für den unwahrscheinlichen Fall, dass Luna uns an unseren Stimmen erkennen würde.

„Aber ja“, flüsterte ich. „Ich bin mir sehr sicher.“

Auch Tim sah angespannt aus.

Er musste verrückt sein, dass er mir bei diesem Plan half. Aber andererseits, er musste auch verrückt sein, dass er es mein Leben lang mit mir ausgehalten hatte. Und gerade deshalb war es vielleicht auch gar nicht mehr so verrückt, dass wir hier zusammen lauerten und darauf warteten, dass etwas passierte. Vielleicht hätten wir das schon viel früher machen sollen, bei anderen Voraussagen, um zu gucken, ob sie tatsächlich immer tödlich endeten.

Vorsichtig streckte ich meinen Kopf an dem Baumstamm, an dem ich bis eben noch gelehnt hatte, vorbei.

„Siehst du etwas?“, fragte Tim leise, doch ich konnte nicht antworten, so fixiert war ich auf das, was ich beobachtete.

Ich sah Luna und hinter ihr eine fremde Person, wobei, so fremd war sie mir nicht mehr, ich hatte sie schon einmal gesehen; in meiner Vision.

Ich schluckte.

Es war soweit.

Ich konnte es spüren.

Ich musste etwas machen. Ich musste aufspringen und sie von dem Hang wegzerren, es würde sonst zu spät für sie sein. Das, was ich vor mir sah, war genau das, was ich am Anfang meiner letzten Voraussage gesehen hatte. Meine Vision würde eintreffen und sie würde, wie immer, tödlich enden.

Alles schien sich in Zeitlupe zu bewegen, dennoch konnte ich mich nicht bewegen. Ich war wie gelähmt. War es Schwäche oder war es Angst?

Luna lief am Wanderweg vorbei. Zu nah am Rand des Abgrunds, meiner Meinung nach. Hinter ihr der bekannte Fremde aus meiner Vision. Er war nah an ihr. Zu nah. Er stolperte. Über seine eigenen Füße. Und hielt sich an Luna fest, die daraufhin ins Schwanken geriet. Sie verlor ihr Gleichgewicht und stürzte.

Ich sprang auf und vergrub beide Hände in meinen Haaren. Wie konnte ich nur so unfähig sein? Ich konnte sie nicht sterben lassen. Ich konnte sie nicht verlieren. Nicht so. Nicht durch eine Vision. Nicht durch etwas, was ich hätte jederzeit verhindern können, hätte ich ihr nur von Anfang an die Wahrheit gesagt.

Doch bevor ich aus meinem Versteck zum Abhang stürmen konnte, sah ich eine dunkle Gestalt hinterherstürzen. Das Ganze ging so schnell, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es nicht vielleicht doch nur geträumt hatte.

Der Fremde rannte weg in Richtung des Restaurants, in dem Tim und ich gestern Abend noch gesessen hatten. Sollte er wirklich dorthin rennen, hatte ich genug Zeit, selbst nach Luna zu sehen, ohne der Gefahr zu unterlaufen, entdeckt zu werden.

Ich sprintete los, dicht gefolgt von Tim. Mein Herz raste, noch schlimmer als die Stunden zuvor und ich konnte die Panik in mir drinnen nicht mehr leugnen. Dennoch musste ich sie einfach sehen. Ich musste einfach gucken, ob es ihr gut ging.

Vielleicht konnte ich noch irgendetwas für sie tun. Sie irgendwie doch retten. Es konnte doch nicht sein, dass ich so unfähig war. Ich war doch nur hier, um sie zu retten und letztendlich hatte ich nichts für sie tun können.

Ich blickte den steilen Hang runter und sah sie. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Boden, genauso wie ich es in meiner Vision gesehen hatte. Es war zu spät. Sie war… Sie war… Tränen strömten mir in die Augen. Ich konnte das alles nicht fassen. Ich konnte nicht mehr hingucken. Wollte nicht mehr hingucken.

Was konnte ich eigentlich?

Ich wandte meinen Blick ab und sackte auf dem Boden zusammen.

Tim, der immer noch ohne sich zu regen den Abhang runterstarrte, legte eine Hand auf meine Schulter.

Ich stieß sie von mir weg.

Ich wollte nicht mehr angefasst werden. Von niemandem mehr. Denn das passierte nun mal, wenn man mir zu nah kam: man starb.

Ich versuchte nicht mal mehr, die Tränen zurückzuhalten, die sich in meinen Augen gebildet hatten. Es war mir egal, was die anderen Wanderer denken würden oder Lunas Familie, sollten sie nach ihr schauen wollen.

Es war mir egal, was mein Vater von mir denken würde, sollte er davon erfahren. Es war okay zu weinen und es war okay zu zerbrechen, wenn man so viel durchlebt hatte wie ich. Aber das Schlimmste am Weinen waren nicht die Tränen, es war das Gefühl, nichts zu fühlen. Nicht einmal Leere. Gar nichts.

Wie war es möglich, dass man Gefühle zeigen konnte, von denen man sich sicher war, dass man sie hatte, ohne auch nur das Geringste dabei zu fühlen?

Aber in dem Moment hatte mein Kopf einfach emotional dicht gemacht; mein Körper konnte den Schmerz eines weiteren Verlusts einfach nicht mehr ertragen.

„Ramon“, sagte Tim sanft.

Ich ignorierte ihn.

Alles, was er jetzt sagen könnte, würde diesen Verlust nicht einmal annähernd wiedergut machen können.

„Ramon“, versuchte es Tim weiter.

Wieso konnte er mich nicht in Ruhe lassen?

Wieso hatte er mich vor Jahren nicht einfach in Ruhe gelassen, denn dann wäre ich von Anfang an allein gewesen?

Ich hätte niemals davon geträumt, ein neues, normales Leben anzufangen.

Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, Luna von der Schule abzufangen.

Ich wäre nur auf mich allein gestellt gewesen.

Es wäre kein schönes Leben gewesen, aber dafür wäre Luna jetzt noch am Leben und das wäre es wert gewesen.

„Ramon, das solltest du dir ansehen“, Tim ließ nicht locker.

„Was?“, schrie ich ihn an. „Was soll ich mir angucken? Wie sie dort liegt? Das habe ich schon in meiner Vision gesehen.“

„Ich denke nicht, dass du das in deiner Vision gesehen hast“, er blieb ruhig.

Unter Tränen ließ ich zu, wie Tim meinen Kopf zur Seite drehte, sodass ich den steilen Hang runtergucken und sehen konnte, was er sah.

Luna, sie bewegte sich.

Es war unmöglich. Ein Sturz aus dieser Höhe musste tödlich gewesen sein. Aber sie lebte.

Kapitel 3

Es war mein erster Schultag seit über einer Woche. Meine Mama hatte mich extra krankschreiben lassen – obwohl die Ärzte bestätigt hatten, dass mir auf unerklärliche Weise nichts fehlte und ich nicht einmal eine leichte Gehirnerschütterung erlitten hatte – damit ich mich wieder erholen konnte. Es nervte mich, dass ich nichts machen konnte, obwohl es mir eigentlich super gut ging. Wieder einmal fühlte ich mich so schwach und ohne jegliche Kontrolle.

Jede Stunde kam meine Mama in mein Zimmer, um zu gucken, ob ich noch lebte oder doch schon an unerkannten inneren Blutungen gestorben war – sie guckte in ihrer Freizeit eindeutig zu viel Grey’s Anatomy. Und obwohl ich die ganze Zeit über beteuert hatte, dass es mir gut ging, ließ sie nicht locker. Sie konnte genauso stur sein wie ich, wenn nicht sogar schlimmer, aber das war schließlich nichts Neues. Deshalb war ich umso erleichterter, meine Freunde endlich wiedersehen zu können.

Natürlich hatten sie bereits von dem ‚Wunder in den Bergen‘ gehört – die Medien berichteten hier pausenlos darüber. Aber wer konnte es ihnen übelnehmen? Die Wochenzeitung berichtete hauptsächlich über entlaufene Hunde und Schacholympiaden; es passierte halt nie etwas Besonders in dieser Kleinstadt.

Mein überlebter Sturz aus einer solchen Höhe war eine Sensation, die so schnell nicht wieder passieren würde. Niemand konnte sich den Vorfall genau erklären, aber gerade deshalb war er wohl auch so spannend für die Medien. Es war endlich mal eine Story mit Happy End.

Ich konnte selbst noch gar nicht einordnen, wie es mir überhaupt damit ging. Vermutlich hatte ich so viel über den Vorfall gelesen, dass ich mich emotional davon distanziert hatte.

Es fühlte sich nicht mehr an, als wäre es mir passiert und bis auf kleine Schürfwunden und eine aufgerissene Hose hatte ich mir keine Verletzungen zugetragen, also gab es auch nichts, was mich daran erinnerte, dass es tatsächlich ich war, die den Berg heruntergestürzt war. Es war wohl tatsächlich ein Wunder.

Mein erster Schultag nach dem Unfall war der reinste Horror. Alle behandelten mich, als wäre ich total fragil und hätte gerade eine Nahtoderfahrung gemacht, obwohl es mir die ganze Zeit über blendend ging.

Ich wollte doch nur einen entspannten Tag mit meinen Freunden verbringen und mich ein wenig von all dem Trubel ablenken lassen, aber das hatte überhaupt nicht funktioniert. Die ganze Aufmerksamkeit missfiel mir sehr.

Das einzig Gute an dem Tag war, dass ich Matt nicht begegnet war. Er schien wohl krank gewesen zu sein, wobei ich mir nicht sicher war, ob er überhaupt krank werden konnte.

Ich hatte ihn in seiner vollen Kraft erlebt und so schnell wie seine Wunden verheilt waren – laut Ramon – deutete es für mich darauf hin, dass er eigentlich unverwundbar war.

Aber mir war es sehr recht ihn nicht zu sehen. Und wer wusste es schon, vielleicht gab es ja auch spezielle Krankheiten, die nur übernatürliche Wesen bekommen könnten. Sollte das der Fall sein, so wäre ich nicht traurig um ihn.

Auch, wenn meine Mutter nicht glücklich darüber war, machte ich mich nach der Schule auf den Weg zu Ramon. Es wäre ihr lieber gewesen, ich wäre direkt nach Hause gekommen, damit sie mich hätte weiter pflegen können. Außerdem hatte sich immer noch nichts an ihrer Einstellung gegenüber Ramon geändert.

Allerdings konnte ich nicht anders, als zu ihm zu gehen. Ich hatte Fragen. Viele Fragen. Und er war der Einzige, der mir diese beantworten konnte.

Ramon nahm mich zur Begrüßung in den Arm und sagte nichts.

Auch ich schwieg.

Aber die Tatsache, dass er mich so festdrückte, als wäre ich gestorben, bestätigte nur meine Vermutung, dass er vermutlich mehr mit dem Unfall zu tun hatte, als er zugeben wollte.

Alles passte zusammen.

Sein merkwürdiges Verhalten, als ich ihm von meinem Campingtrip erzählt hatte. Seine schlechter werdende Laune, die er versucht hatte, zu unterdrücken. Seine feste Umarmung, als würde er mich nie wieder loslassen wollen. Einfach alles.