Tintoretto
und seine Freunde
von
Dirk Rossmann
Mit Illustrationen von Jutta Bücker
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Tintoretto und
das Tiefsee-Känguru
Es war ein wunderbar sonniger Sonntagmorgen,
als Tintoretto zum ersten Mal in die wunderschöne
Bucht geschwommen kam. Die Bucht war durch einen
dichten Wald aus Wasser-
pflanzen und Felsen gegen die
Blicke neugieriger Haie geschützt.
Tintoretto spazierte über den Meeresgrund,
steckte einen seiner acht Arme übermütig
in eine leere Muschelschale und suchte nach einem
Versteck für ein gemütliches Vormittagsschläfchen.
Da hörte Tintoretto über sich eine Qualle.
Die Qualle sang ein Lied:
»Das Beuteltier, das Beuteltier,
ist manchmal da und heute hier.
Am Fuß trägt es den Muschelschuh.
Na klar, das ist ein Känguru!«
Tintoretto war sich nicht ganz sicher, ob er die Worte
richtig verstanden hatte, denn die Qualle sang nicht
nur falsch, sondern hatte auch eine ziemlich glibberige
Aussprache.
»Hallihallo, wer bist denn du?«, fragte die Krabbe.
»Mein Name ist Tintoretto«, sagte der Tintenfisch
Tintoretto freundlich wie immer. »Ich wandere durch
die Weltmeere und bin ein …«
»Nein, warte, sag es nicht!«, unterbrach ihn die
Krabbe. »Ich wäre nicht Crabby Krabbel, wenn ich
das nicht erraten könnte!«
Sie betrachtete Tintoretto. »Lass mal über-
legen … Ich weiß, ich weiß! Völlig klar:
Du bist ein …«
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Die kleine Krabbe reckte beide Scheren in die Höhe
und jubelte: »Du bist ein Känguru!«
Sie sah Tintoretto erwartungsvoll an. »Stimmts?«
Tintoretto schüttelte den Kopf. »Leider falsch, ich
bin ein …«
»Falsch? Was heißt da falsch? Kurt Qualle hat doch
gerade noch gesungen, dass du ein Känguru bist!«
Crabby stemmte ihre zwei Scheren in die Seiten. »Du
hast einen Beutel, du hüpfst hier über den Meeres-
boden und an einem Fuß hast du einen Muschelschuh.
Klarer Fall: Du bist ein Känguru!«
Tintoretto streifte seufzend die leere Muschelschale
vom Arm. »Ich kann leider kein Känguru sein.«
»Und warum nicht?«, fragte Crabby Krabbel.
»Weil Kängurus an Land leben. Und ich lebe im
Meer, im Ozean«, sagte Tintoretto.
Crabby kniff die Augen zusammen und betrachtete
Tintoretto kritisch.
»Hm, ja, das stimmt schon, das ändert natürlich
alles. Also wenn du kein Känguru bist, dann bist du …
na klar … du bist ein … völlig logisch! Ich weiß! Du bist
kein Känguru, du bist ein …«
Sie riss die Scheren wieder in die Höhe und jubelte:
»… ein Tiefsee-Känguru!«
Und noch ehe Tintoretto etwas dagegen sagen
konnte, fügte Crabby hinzu: »Und du bist jetzt mein
Freund.«
»Echt wahr?«, fragte Tintoretto. So schnell hatte er
noch nie neue Freunde gefunden.
»Na klar! Ich war noch nie mit einem Tiefsee-
Känguru befreundet. Das muss ich ausnutzen«, sagte
Crabby Krabbel.
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»Willst du nicht reinkommen?«, fragte Crabby
Krabbel. »Ich mach gerade ein gemütliches Vormit-
tagsschläfchen. In meiner Höhle ist man gut geschützt
vor Haien und anderen Ungeheuern, die einen stören
oder fressen wollen.«
Tintoretto war begeistert. »Crabby, ich glaube, du
bist die beste Freundin, die ich je hatte!«
Crabby fragte ihn: »Hast du viele Freunde?«
Tintoretto überlegte. Er war zwar immer zu allen
sehr freundlich, aber so richtige Freunde hatte er
bisher eigentlich noch keine. »Also, äh, eigentlich nur
eine. Sie heißt Crabby Krabbel und ist eine Krabbe.«
Die Krabbe lachte, kuschelte sich an Tintoretto und
schloss die Augen. Die beiden wären sicherlich einge-
schlafen, wenn nicht Qualle Kurt draußen vor der
Höhle mit glibberiger Stimme gesungen hätte:
»Ein Känguru, wie du es nie gesehen hast,
ist für seine Mittagsruh in Crabby Krabbels Höhle Gast.«
So ein richtig großer Dichter war diese Qualle nicht.
Aber ihr Gesang lockte Mala an, den knallbunten
Mandarinfisch.
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»Ist das wahr, was Kurt Qualle da trällert?«, rief
Mala. »Crabby, komm raus und zeig mir unseren
neuen Freund, das Känguru!«
Crabby und Tintoretto krabbelten zum Eingang der
Höhle.
»Ich bin kein …«, wollte Tintoretto gleich erwidern.
Aber Crabby schnitt ihm das Wort ab. »Tintoretto ist
kein Känguru, er ist ein Tiefsee-Känguru!«
Mala schwamm neugierig um Tintoretto herum.
»Bist du ganz sicher, dass das ein echtes Tiefsee-
Känguru ist?«, fragte Mala Mandarinfisch.
»Warum denn nicht?«, fragte Crabby.
»Na ja … ein gewöhnliches Känguru hat zwei Arme
und zwei Beine und einen kräftigen Schwanz. Aber
dein Freund Tintoretto hat acht Arme, null Beine und
keinen Schwanz.«
Crabby kniff die Augen zusammen und betrachtete
Tintoretto abermals kritisch.
»Hm, ja stimmt schon, das ändert natürlich alles.
Also wenn Tintoretto kein gewöhnliches Tiefsee-
Känguru ist, dann ist er … na klar … er ist ein … völlig
logisch! Ich weiß! Tintoretto ist kein gewöhnliches
Tiefsee-Känguru, er ist ein …«