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In wessen Händen liegt unsere Zukunft?
Das Jahr 2029, die Klimakatastrophe ist da, und die Menschheit kämpft ums Überleben. Die Klima-Allianz, ein Bündnis der großen Machtblöcke, will Chaos und Hungerkriege verhindern. Ihr wichtigstes Instrument: ein Supercomputer.
Doch dann fällt dieser Quantencomputer in die Hände eines ebenso brillanten wie besessenen Verbrechers. Und plötzlich sind da nur noch zwei Menschen, die das Allerschlimmste verhindern müssen - Thomas Pierpaoli, ein kleiner Beamter, und Ariadna, eine temperamentvolle Millionärin. Gejagt und in Gefahr - und mit nur einem Ziel vor Augen: die Welt zu retten.
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Seitenzahl: 691
In wessen Händen liegt unsere Zukunft?
Das Jahr 2029, die Klimakatastrophe ist da, und die Menschheit kämpft ums Überleben. Die Klima-Allianz, ein Bündnis der großen Machtblöcke, will Chaos und Hungerkriege verhindern. Ihr wichtigstes Instrument: ein Supercomputer.
Doch dann fällt dieser Quantencomputer in die Hände eines ebenso brillanten wie besessenen Verbrechers. Und plötzlich sind da nur noch zwei Menschen, die das Allerschlimmste verhindern müssen – Thomas Pierpaoli, ein kleiner Beamter, und Ariadna, eine temperamentvolle Millionärin. Gejagt und in Gefahr – und mit nur einem Ziel vor Augen: die Welt zu retten.
Dirk Rossmann, geboren 1946, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Er ist erfolgreicher Unternehmer und Schriftsteller, unter anderem Mitgründer der »Deutschen Stiftung Weltbevölkerung«. Bisherige Veröffentlichungen: »… dann bin ich auf den Baum geklettert!« (2018) und »Der neunte Arm des Oktopus« (2020). Seine Autobiografie wie auch der Thriller erreichten Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Dirk Rossmann setzt sich intensiv für den Klimaschutz ein.
Ralf Hoppe, geboren 1959 in Teheran, Iran, verbrachte seine Kindheit im Orient. Er studierte Kunst und Wirtschaft, wurde Journalist und arbeitete fast drei Jahrzehnte für die ZEIT und den SPIEGEL. Seine Reportagen, die ihn in zahlreiche Krisengebiete führten, wurden vielfach preisgekrönt (u. a. Henri-Nannen-Preis, Theodor-Wolff-Preis). Zwischendurch war er Drehbuchautor und schrieb an mehreren SPIEGEL-Büchern mit. Der Autor lebt im Osten von Hamburg.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Vollständige, mit einem neuen Vorwort versehene Taschenbuchausgabeder bei Bastei Lübbe erschienenen Hardcoverausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Der Abdruck der Textpassagen aus dem Buch »Hottentottenstottertrottel – Mein langes, wunderliches Leben« von Wolf Schneider erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags, Hamburg (© 2015 by Rowohlt Verlag, Hamburg)
Der Abdruck der Textpassagen aus dem Buch »Bäume« von Hermann Hesse, herausgegeben und mit einem Nachwort von Volker Michels, erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags, Berlin (© 2014 by Insel Verlag, Berlin)
Das Zitat von Ernst Ulrich von Weizsäcker wurde dem Vorwort des Buchs »2084: Eine Zeitreise durch den Klimawandel« von James Lawrence Powell entnommen (© 2020 by Quadriga Verlag / Bastei Lübbe AG)
Titelillustration: © shutterstock.com / sko1970; shutterstock.com / AdityaSinha
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-1503-4
luebbe.de
lesejury.de
Für Alice und Claudia – und für alle Menschen,die noch Hoffnung haben
– In der Reihenfolge ihres Auftretens –
Fiktive Personen:
Phil Goldman – Kamala Harris’ PR-Berater
Chang Mai – Kamala Harris’ PR-Beraterin
Martin Iwersen – Farmer in Iowa, USA
Prof. Dr. Dr. Maxim Blaschek – ehemals bei der NASA beschäftigt, Chefentwickler von »Cloud Unlimited«
Amitav Rama Shah – spiritueller Führer, »Guru-ji«, »Guru der Millionen«, indischer Herkunft
Thomas Pierpaoli – mittlerer Beamter im Hochkommissariat der Klima-Allianz in Kapstadt, ehemaliger Vorgesetzter Mamarenkos
Ariadna Ferrer Bayonne – Musikerin und Millionärin, arbeitet bei einer NGO, kolumbianischer Herkunft
Inara – achtjähriges Mädchen des Volkes der Pehuenche, Tochter des Häuptlings, lebt mit Sayen und Amuway bei der Zauberin des Volkes
Amuway – weiteres Mädchen, das bei der Zauberin der Pehuenche lebt
Sayen – weiteres Mädchen, das bei der Zauberin der Pehuenche lebt
Seine Heiligkeit Franziskus Oscar I. – Papst
Pater Philipp – Mönch, deutscher Herkunft, wohnt in Castel di Casio, Bologna, Italien
Ottavio Goretti – Erzbischof und Kardinal von Bologna und Florenz, Mitglied der Glaubenskongregation am Heiligen Stuhl zu Rom
Alexander »Sascha« Tschenajew – Hauptabteilungsleiter der Kommission der Klima-Allianz in Kapstadt, zuständig für das auf Island gelegene Meta-Ministerium, ehemaliger Geheimdienstmann, russischer und ukrainischer Herkunft
Nikita Nikolajew Mamarenko – Beobachter und Berichterstatter im Auftrag der Klima-Allianz, stationiert in Island
Professorin Dr. Dr. Liu Lian – chinesische Physikerin, Nobelpreis-Anwärterin, Leiterin des Projekts »Qube 17«
Professor Dr. Dr. Norman S. Catchside – amerikanischer Physiker, Nobelpreis-Anwärter, zweiter Leiter des »Qube 17«-Projekts
Eleanor Minklater – die »Eiskönigin«, Amerikanerin, arbeitet in der Kommission der Klima-Allianz in Kapstadt
Pablo M. Telés – Präsident Brasiliens
Ricardo da Silva – brasilianischer Koch
Reza – Taxifahrer
Horace M. Nkunke – Erster Sicherheitschef des Meta-Ministeriums, stationiert in Island
Linda Park (Park Lin-ja) – koreanischer Herkunft, Leiterin des Fluglotsen-Teams am Kontrollturm des Heliports des Meta-Ministeriums, Island
Esmeralda Bayonne Arboleda – Ariadnas Mutter
Dr. Kang Chao – Minister der Klima-Allianz
Amar Difraudi – libanesischer und ägyptischer Herkunft, stellvertretender Leiter des Sicherheitsdienstes im Meta-Ministerium, ehemaliger Leiter des jordanischen Geheimdienstes
Professor Bao Wenliang – Wissenschaftler, Vorsitzender des chinesischen Wissenschaftler- und Ingenieursverbandes, Berater Xi Jinpings, Patenonkel von Thomas Pierpaoli
Umesh Varinder – Anführer der »Rashtriya Sangh«, einer radikalnationalistischen Hindu-Partei
Paritosh Patel – Ministerpräsident Indiens
Arthur Redmondis – Deutscher, ehemaliger Kollege Pierpaolis in Kapstadt
Mardi Gras – Musiker, Freund Ariadnas, Jamaikaner, wohnt in den isländischen Slums
Gudrun »Gudi« Sigrunsdóttir – Freundin Mardis, Besitzerin eines fahrenden Hotdog-Stands
Gil Quispel – holländischer Herkunft, Techniker, Spezialist für Feinsensorik, Teil des Teams um Professorin Liu und Professor Catchside
Arnold Palindromski – auch »Das Ohr« genannt, ehemaliger Aktivist, beteiligt am Zertifikathandel
Hildur Edmundsson – Kapitän der »Edda«
Steinbjörn Edmundsson – Hildur Edmundssons Bruder
Madame Tamara – Besitzerin des Let-India-be-a-dream-Hotels, Mumbai, Indien
Pegonia C. – Madame Tamaras Tochter
Enji Sharmaji – Taxifahrer in Mumbai, Indien
Schuschka – Bergführer, Schmuggler
Reale Personen:
Kamala Harris – Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika
Xi Jinping – Staatspräsident der Volksrepublik China
Angela Merkel – Generalsekretärin der Vereinten Nationen und ehemalige Bundeskanzlerin Deutschlands
Ursula von der Leyen – EU-Sonderbeauftragte
Greta Thunberg – Umweltaktivistin, Stockholm, Schweden / New York, USA
Xi Mingze – Tochter des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, arbeitet bei der UNO
Diesem Buch ging ein Traum voraus, eine Idee: Was wäre, wenn die Menschheit im letzten Moment zur Einsicht gelangen würde – könnten wir dann nicht die drohende Klimakatastrophe aufhalten, mit vereinten Kräften?
Was wäre also, wenn die drei Supermächte, China, Russland, die USA, verantwortlich für die Hälfte der weltweiten CO₂-Emissionen, sich endlich zusammenraufen würden, sich einigten, zusammenarbeiten würden? Das wäre eine Zeitenwende. Und höchste Zeit wäre es außerdem.
Doch was könnte diesen Machtpolitikern ein Beweggrund sein? Vielleicht: Einsicht. Vielleicht: die Faktenlage. Und vielleicht dieser einfache Gedanke: Für ein globales Problem müssen wir global zusammenarbeiten. Über Grenzen und Ideologien hinweg. Sonst zerstören wir diesen wunderbaren Planeten, der doch unsere Heimat ist, und zu dem es keinen Planeten B gibt.
So ging also diesem Buch, oder besser: diesen Büchern, dem »Zorn des Oktopus« und dem »Neunten Arm des Oktopus«, seinem Vorläufer, eine kühne Idee voraus – eine Utopie. Es war eine politische Utopie, Misstrauen durch Vertrauen zu ersetzen, gebettet in eine Geschichte, in einen Thriller.
Eine Utopie ist immer auch der Ausdruck einer Hoffnung. Eine Skizze, ein Denkanstoß. Die Hoffnung, die dahintersteht: Die Wirklichkeit, die wirklichen Machthaber in der wirklichen Welt, könnten sich inspirieren lassen. Utopie – das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie »Nicht-Ort«. Will sagen: Zwischen Utopie und Realität ist noch viel Luft. Und die wirklichen Machthaber in der wirklichen Welt sind immer noch für eine böse Überraschung gut.
In der Realität wurde ein Krieg entfesselt, im Februar 2022, ein Krieg, der Europa und unser Denken auf den Kopf stellt, der die Zivilisation zerstört, die Natur verpestet, ein Geschehen, erschütternd und empörend. Doch sind damit alle Utopien, alle Denkanstöße null und nichtig? Sind somit die Zyniker im Recht, die alle Hoffnung von vornherein als naiv abstempeln, für Unfug erklären? Sollen wir also die Hände in den Schoß legen und den Dingen ihren Lauf lassen?
Die Autoren dieses Buches glauben das nicht. Wir halten daran fest, dass allen Taten eine Idee, ein Traum vorausgeht. Eine bessere Welt muss zuerst einmal gedacht und ausgemalt werden, man muss eine Utopie formulieren, in die Welt setzen. Und das betrifft uns alle. Wenn nicht wir alle – jetzt! – eine Hoffnung formulieren, eine Umkehr fordern, wer sollte es denn tun?
Wir glauben, es wäre ein Fehler, wenn wir den Mund hielten, wenn wir aufhören würden, uns Lösungen auszudenken, ja, wenn wir aufhörten zu träumen.
Wir haben gleichwohl in dieser Taschenbuch-Ausgabe einige kleine Anpassungen vorgenommen; doch die wesentliche Botschaft ist unverändert, manchmal klar auf den Punkt gebracht, oft zwischen den Zeilen.
Und vielleicht sind, wenn die Wirklichkeit ihre erschreckenden Wege geht, Utopien und Träume wichtiger denn je.
Dirk Rossmann / Ralf Hoppe
Wie sich ein schmächtiger, listiger Affe zum Herrn der Erde aufschwang; wie er die anderen Erdenbewohner erst überwand, dann unterwarf und dann anfing, sie auszurotten; wie er Wüsten bewässerte, Wälder niederbrannte, Sinfonien komponierte, Wolkenkratzer baute, Ozeane vergiftete und sich eine Welt einrichtete, in der man Schoßhündchen am Bruch operieren und in Waldmichelbach frische Nelken aus Kolumbien kaufen konnte – das war ein Triumphzug ohnegleichen, das ist die Tragödie des Planeten, das ist ein Krimi, wie es keinen zweiten gibt.
Wolf Schneider
Folgen der Klimakatastrophe
Washington / Des Moines
Nach den verheerenden Stürmen der Vergangenheit, durch die etwa die Hälfte der Farmer in Iowa, Kansas und Idaho in Insolvenz und Elend geraten sind, droht den Landwirten neue Gefahr: Heuschrecken ziehen in gigantischen Schwärmen durch den einst fruchtbaren Mittelwesten der USA. Alle Versuche, der Plage Herr zu werden, schlugen fehl. Der Verband der Mais- und Soja-Farmer appellierte an die US-Regierung und an die Klima-Allianz, »endlich Hilfe zu leisten, sonst ist es für viele Menschen zu spät«. Umweltschützer verwiesen darauf, dass sie schon seit Jahrzehnten vor solchen Katastrophen gewarnt hatten.
Aus: Agricultural Review, 6. Mai 2026
Kamala D. Harris, siebenundvierzigste Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika, saß im Fond ihrer Regierungslimousine. Sie waren seit zwei Stunden unterwegs, im tiefsten Farmland, die Kolonne fuhr durch den Bundesstaat Iowa. Auf der lederbezogenen Sitzbank hinter ihr saßen zwei ihrer PR-Berater, Phil Goldman und Chang Mai.
Die Präsidentin hatte die Augen geschlossen, aber sie schlief nicht. Sie ging in Gedanken den Ablauf durch, über den sie eben noch gesprochen hatten, dabei konnte sie nicht umhin, den Witz mitzuhören, den Goldman jetzt seiner Kollegin erzählte, flüsternd zwar, aber immer noch laut genug.
»Hör zu, Chang, der ist gut. Also, kommt so ’n Iowa-Farmer, so ein richtiger Hinterwäldler, zu seinem Nachbarn. Klopft an die Tür vom Farmhaus. Ein kleiner Junge macht die Tür auf.
›Hey, sind deine Eltern zu Hause?‹, fragt der Farmer.
›Nö‹, sagt der kleine Junge, ›sind in der Stadt.‹
›Damn. Und dein Bruder Billy?‹
›Ist auch in der Stadt.‹
›Damn. Ich muss mit jemandem reden. Weil Billy meine Tochter Rosie geschwängert hat.‹
›Hm, geschwängert‹, erwidert der kleine Junge. ›Also, bei unserem Zuchtstier nimmt Dad fünfhundert Dollar. Beim Schweinedecken fünfundsiebzig Dollar pro Sau. Aber wie viel er für Billy berechnet, das weiß ich leider nicht.‹«
So also Phils Witz, ein Iowa-Witz – das Pendant zu Ostfriesenwitzen oder ähnlichen Scherzen, die man sich in Turin oder Mailand über die angebliche Dummheit der Süditaliener erzählte.
Idiotisch und herablassend, dachte Kamala Harris. Aber sie unterdrückte den Impuls, etwas zu sagen. Kamala Harris mochte die andere PR-Assistentin, Chang Mai; Phil hingegen war ihr unsympathisch. Umso mehr fühlte sie sich verpflichtet, gerecht zu sein.
Kamala Harris nahm sich vor, später ein Wörtchen mit Goldman zu reden. Wenn sie es nicht vergaß.
Chang Mai und Phil Goldman waren gute Leute, wie alle in ihrem Team, sehr jung, sehr smart, sie hatten Marketing, Jura und Sprachen und dies und jenes in Yale und Harvard studiert. Chang sprach außerdem Chinesisch, was heutzutage wirklich nützlich war, und Phil las Tolstoi und Lermontow im Original. Sie stammten aus Elite-Familien, hatten eine Elite-Ausbildung und waren typische Großstädter – ein Mais-Farmer auf einem Traktor war Lichtjahre von ihrem Leben entfernt.
Phil Goldman war hochgewachsen, schlaksig, käsige Haut, rote Haare, er trug eine Uhr, die flach war wie eine Münze und deren Wert Kamala Harris auf etwa das Zwei-Jahres-Gehalt eines Arbeiters schätzte. Trotzdem saßen seine sehr teuren Anzüge schlabbrig an seinem knochigen Körper. Wenn er – selten – lachte, dann klang es, als hätte er sich verschluckt.
Chang Mai hingegen war klein, exakt und feingliedrig, und sie beherrschte das Kunststück, weniger Platz zu beanspruchen, als sie eigentlich beanspruchte. Wenn Phil und Chang ein Stück weit in der Präsidenten-Limousine mitfuhren, weil sie noch etwas zu besprechen hatten, schaffte es Chang Mai, physikalische Gesetze zu umgehen und sich auf dem Rücksitz so schmal zu machen, dass es wirkte, als wäre im Wagen mit ihr drin mehr Platz als ohne sie.
Nicht, dass Platz ein Problem war. Die Präsidentinnen-Limousine hatte Abmessungen fast wie ein Tanzsaal.
»The Beast«, so hieß das Fahrzeug intern, war mehr als elf Tonnen schwer, neun Meter lang, hatte eine dreizehn Zentimeter dicke Panzerung aus Stahl, Aramid, Kevlar, 1200 PS oder 800 kW, auf speziellen Wunsch von Kamala Harris war es auf eine Hybridtechnologie umgerüstet worden, die es auf kürzeren Strecken rein elektrisch fahren ließ. Es gab eine eigene Sauerstoffversorgung an Bord für den Fall eines chemischen Angriffs, schusssichere Run-Flat-Reifen. Kosten für »The Beast«, laut US-Rechnungshof: 2 554 795,37 Dollar.
Hinter dem abgeteilten Fahrer-Cockpit, also in der eigentlichen Fahrgastkabine, gab es nicht eine, sondern gleich drei komfortable, mit schwarzem Kalbsleder bezogene Rückbänke, die Präsidentin saß – aus Sicherheitsgründen – auf der ersten Rückbank.
Sie waren mit der Air Force One nach Des Moines geflogen, dann umgestiegen in die Autokolonne. Von der Interstate 35 waren sie nach Westen abgebogen, an Story City vorbei, und jetzt waren sie kurz vor Eagle Grove. Und bald am Ziel.
Die Kolonne bestand aus acht Fahrzeugen. Vorweg ein wuchtiger SUV des Secret Service, dann die Präsidentinnen-Limousine, dann weitere zwei Security-SUVs. Mit etwas Abstand gefolgt von vier Übertragungswagen, vier ausgewählte Fernsehsender, die die heutige Vorführung in die ganze Welt verbreiten würden.
Was hoffentlich für Aufregung sorgen würde. Und für Hoffnung.
Denn dies war kein gewöhnlicher Pressetermin. Dieser Tag, die geplante Präsentation, sollte der Anfang von etwas Großartigem sein.
Kamala Harris hatte eine Sensation in petto.
Sie drückte den Knopf zur Fahrer-Sprechanlage. »Wie weit noch zur Farm, Peter?«
»Knapp zehn Minuten, Ms President, Ma’am.«
Sie lehnte sich zurück und blickte aus dem Fenster. Verdorrte Felder, tote Maisstauden, auf denen fingerdick der Staub lag, hier und da ein »Zu verkaufen«-Schild, an der Zufahrt einer Farm.
Früher war Iowa, gelegen im Mittleren Westen, der »Brotkorb Amerikas« gewesen, ein Staat von Mais- und Soja-Farmern, meist vierte oder fünfte Generation der Einwanderer aus Skandinavien und vor allem Deutschland. Fruchtbare Erde, gutes Wetter für Saat und Ernte – ursprünglich.
Aber dann, in den 1930er Jahren, mitten in der bislang härtesten Wirtschaftskrise, als Staubstürme im angrenzenden Kansas und Oklahoma weite Teile des Farmlandes in Wüste verwandelten, da hatte es auch Iowa getroffen. Und schon damals war es eine menschengemachte Katastrophe gewesen: Man hatte die Prärieböden zu Ackerland verwandelt, indem man den Grasboden pflügte, doch ohne die tiefen Graswurzeln war die fruchtbare Krume bei der ersten Dürre einfach weggeweht. Die Folge: ein Exodus von dreieinhalb Millionen verarmter Menschen.
Trotzdem hatte man nichts daraus gelernt. Bis dann, beginnend im Jahr 2022, das Klima auch hier kippte. Heftige Sandstürme, unkontrollierbare Brände, Überschwemmungen waren die Folge, und als man gerade dachte, das Schlimmste wäre überstanden, fielen wie aus dem Nichts Heuschreckenschwärme über die noch verschont gebliebenen Landstriche her.
Kamala Harris blätterte in ihrem Reader, den die Presse-Abteilung für sie zusammengestellt hatte. Drei Viertel der Farmer hatten aufgegeben, hatten ihre Felder und Höfe verlassen, hausten in Wohnwagenparks.
Die Familie, zu der sie jetzt fuhren, hieß Iwersen. Die PR-Leute hatten die Iwersens ausgesucht, weil sie noch nicht aufgegeben hatten – sie kämpften zäh ums Überleben. Marie und Martin Iwersen, fünf Kinder,Urgroßeltern aus Germany eingewandert, Farm und Land in Familienbesitz, las die Präsidentin.
»Ms President, Ma’am?« Das war die sympathische Bass-Stimme von Peter, dem Fahrer. »Wir sind da, dort ist die Farm.«
Die Wagenkolonne bog auf die Zufahrt ein. Das eigentliche Anwesen lag etwas erhöht, auf einem breiten Hügel. Links stand ein mächtiges Haus mit steinernem Unterbau und Holzfassade, mit Schindeldach, offenbar das Wohnhaus. Zwei Scheunen, eine rot, eine gelb. Vor der Scheune ein großer Brunnen, ein Wasserbassin. Auf dem einen Scheunendach ein riesiger Wassertank, von dem ein Schlauch hing. Hühnerstall, Zwinger mit Hunden, in der Mitte stand eine Ulme, die Krone leuchtete in frischem Grün.
Die Gebäude bildeten ein nach einer Seite offenes Viereck. Die freie Seite öffnete den Blick auf weite Felder – die jetzt allerdings verdorrt und verwüstet waren. Vor dem Wohnhaus, säuberlich aufgereiht, stand die Familie Iwersen. Der Farmer: groß, ernst; die Frau: irgendwie erschöpft; fünf Kinder, der Größe nach sortiert, und alle von demselben Blond. Sie wirkten aufgeregt. Ich wäre auch aufgeregt, wenn hier plötzlich eine Invasion einfällt,dachte die Präsidentin.
Die Kinder waren perfekt.
Die Eltern waren perfekt.
Der ganze Ort war perfekt.
Jetzt musste nur noch die Technik funktionieren: Denn die Präsidentin präsentierte eine revolutionäre Technologie, erforscht und zur Anwendungsreife gebracht von den besten Köpfen der besten Forschungslabore in den USA. Eine Technologie, die helfen würde, die Schäden des Klimawandels zu begrenzen. Eine Technologie, die die Menschheit retten könnte.
Es gibt Hoffnung: Das würde die politische Botschaft der Fernsehbilder sein.
Die Chefprogrammierer, Ingenieure, Wissenschaftler, sie alle hatten hoch und heilig geschworen, dass nichts schiefgehen würde und könnte, überhaupt nichts, alles hundertmal durchgerechnet, tausendmal ausprobiert.
Die Wolke sei so safe, als hätte Gott persönlich die Tests überwacht. Die Wolke sei serienreif. Na, dann verlasse ich mich auf Sie, meine Herren, hatte die Präsidentin gesagt. Und auf die Wolke.
Denn das war die Technologie, die heute und hier auf dem Farmgelände der wackeren Familie Iwersen vorgestellt werden sollte: eine Wolke.
Es war der Prototyp einer künstlichen Partikelwolke, bestehend aus Mikro-Drohnen, Millionen von ihnen, und jede von ihnen war etwa so groß wie eine Stubenfliege, jedoch etwa tausendmal so schwer. Eine Stubenfliege wog ungefähr drei Milligramm, 0,003 Gramm. Eine Drohne wog 3,1492 Gramm. Damit waren die »Dragon Flies«, so ihr Vermarktungsname, immer noch kein Schwergewicht – es bedurfte 317 Exemplaren, um auf ein Kilo zu kommen.
Die Erfindung war geboren worden in einem kalifornischen Start-up. »Cloud Unlimited« war ein Unternehmen von vier talentierten Ingenieuren, die sich im »Jet Propulsion Lab« in La Cañada Flintridge kennengelernt hatten, als sie Raumsonden für die NASA entwarfen. Dort hatten sie, abends bei sehr viel Bier und Bourbon, die Idee zu einer Mikro-Drohnen-Wolke mit bionischem Antrieb gehabt, abgekupfert im Tierreich. Jeder der vier war ein Genie auf seinem Gebiet und sozial völlig inkompatibel. Einer von ihnen hatte als kleiner Junge, aus Gründen, die nur er kannte, Motten und Libellen gezüchtet – und das gab den Ausschlag.
Libellen sind, was Flugkünste angeht, die Stars unter den Insekten, die schönsten Killer, die Akrobaten im Insektenreich. Jedes ihrer beiden Flügelpaare wird mit zwei Muskeln in Gang gesetzt, die Paare arbeiten jedoch nicht synchron, sondern unabhängig. Libellen erreichen Geschwindigkeiten bis zu fünfzig Stundenkilometern, fangen ihre Beute-Insekten im Flug, können auf der Stelle verharren und in nahezu alle Richtungen starten.
Es waren wunderbare Insekten. Und deshalb auch so schwer nachzubauen.
»Cloud Unlimited« löste das Problem mit künstlichen Muskeln aus Elastomeren, die aus verdrillten Nanofasern bestanden, und mit Elektroden, die durch einen elektromagnetischen Impuls aktiviert wurden – diese winzigen Kunst-Muskeln waren enorm leistungsfähig und konnten das ungefähr Tausendfache ihres Eigengewichts heben. Ihre Energie bezogen die Drohnen aus winzigen Solarzellen, integriert in Flügel und Körper. Sechs photoaktive Schichten, ergänzt durch Mikro-Linsen, konnten das Lichtspektrum der Sonne optimal ausbeuten. Jede Schicht wandelte einen anderen Wellenlängenbereich in Strom um. Insgesamt erreichten alle sechs Schichten einen Wirkungsgrad von achtundachtzig Prozent.
Und der ersten Mikro-Libelle folgten viele Exemplare nach. Inzwischen war die US-Regierung interessiert, auch die diversen Technik-Scouts der G3-Supermächte, die überall auf der Welt nach neuen Ideen und Erfindungen fahndeten. Ganz speziell aber die gerade von Kapstadt neu geschaffene, weltweit agierende Food Security Patrol, eine Art Spezialpolizei für die Nahrungssicherheit, die von jetzt an allen Gefahren zuvorkommen sollte, die den großen Agrargebieten drohten.
Plötzlich war Geld für »Cloud Unlimited« kein Problem mehr. Plötzlich ergoss sich eine Flut von Dollars auf die kleine Firma. In der Wüste von Nevada wurden Produktionshallen aufgezogen, mit CE-Miniaturfräsen, 3D-Druckern, Massenproduktion. Die Libellen wurden in den Labors immer weiter verbessert und in ungeheuren Stückzahlen produziert – millionenfach.
Denn echte Libellen sind Einzelgänger, keine Schwarm-Insekten. Aber ihre künstlichen Schwestern sollten es sein. Sie sollten eine Wolke bilden.
Die Mikro-Drohnen sollten einerseits Landstriche und Felder verschatten, die sonst unter der Sonne verbrennen würden, und sie sollten andererseits die Heuschrecken-Attacken eindämmen, indem sie die gefräßigen Tiere imitierten und so ihr Schwarmverhalten beeinflussten. In Versuchsreihen war nachgewiesen worden, dass die Drohnen von den Heuschrecken als ihresgleichen wahrgenommen wurden. So konnten sie ganze Schwärme umlenken und die komplizierten Verhaltensabläufe umdrehen, welche aus der harmlosen, einzelnen Heuschrecke die bisher fast unkontrollierbaren, gefräßigen Riesenschwärme werden ließen.
Und der Prototyp der Wolke sollte heute und hier präsentiert werden, auf der Farm der braven Familie Iwersen, vorgestellt von der Präsidentin, weltweite Übertragung inklusive.
Eine Botschaft.
Die Türen der Staatskarosse »The Beast« waren so schwer, dass die Präsidentin sie nicht von innen öffnen konnte; zwei Secret-Service-Leute eilten herbei und halfen Kamala Harris aus dem Wagen.
Sie lächelte beiden zu – sie war, auch mit einundsechzig Jahren, eine attraktive, gepflegte Erscheinung. Dann ging sie als Erstes zu der Familie Iwersen, schüttelte bis zum kleinsten Kind der Orgelpfeifenreihe die Hand, sagte einige Freundlichkeiten und ließ sich zu der kleinen, provisorisch errichteten Tribüne geleiten, wo die Ehrengäste saßen, Vertreter von Landwirtschaftsverbänden, die vier Ingenieure von »Cloud Unlimited« mit ihren Familien, UNO-Abgeordnete.
Neben der Tribüne stand das klimatisierte und doppelwandige Zelt, vollgestopft mit Monitoren und Rechnern, die Überwachungszentrale für die Drohnen-Wolke. Der Chefentwickler, Professor Dr. Dr. Maxim Blaschek, ein ehemaliger NASA-Mann, nun technischer Direktor der Food Security Patrol, ging zwischen seinen Leuten, die an den Monitoren hockten, auf und ab und strahlte. Alle zwei Minuten nahm er seine Brille ab, zerrte ein Tuch aus seiner linken Brusttasche und putzte die Gläser.
Die Fernsehleute hatten schon am Vortag ihre Kameras installiert, gleich gegenüber der Tribüne, mit freiem Schwenk-Blick auf die Felder, wo die Wolke aufsteigen würde. Sie gingen in Position.
Kamala Harris stieg die schmale Treppe zur Tribüne empor, die Höhe war ihr etwas unangenehm, aber sie verbarg es. Sie lächelte nach links und rechts und ging zum Rednerpult. Phil und Chang standen bei den Fernsehleuten, Phil tippte mit übertriebener Gestik gegen seine Angeber-Uhr.
Ich weiß selbst, dass wir anfangen sollten, dachte Kamala Harris. Sie tippte gegen das Mikrofon auf dem Rednerpult, es war eingeschaltet.
»Liebe Gäste, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Familie Iwersen! Dieser Ort, diese Farm, ist ein so wunderschöner Ort. Leider ist der Anlass, der uns zusammengeführt hat, weniger erfreulich – aber sehr wichtig. Es ist heute ein historischer Tag …«
Ein Moment Pause, die Zuschauer schwiegen.
»Ich bin stolz, die heutige Vorführung eröffnen zu können, doch ich werde das Wort gleich weitergeben an den Chef des Ganzen, an Professor Blaschek, der mit seinem Team diese neue Technologie entwickelt hat. Zuvor nur eine persönliche Bemerkung: Ich bin froh und stolz. Jawohl, stolz auf diesen Tag, diesen Moment, ich blicke mit Bewunderung auf die Leistung der Ingenieure und Programmierer, die diese revolutionäre Technik erdacht und erbaut haben – vor allem aber bin ich froh, dass unsere neu gegründete Klima-Allianz, hervorgegangen aus den G3, allmählich Erfolge verzeichnet. Wir zeigen heute, dass wir gelernt haben. Wir werden die Folgen der Klimakatastrophe, die die Menschheit verursacht hat, weiterhin bekämpfen, mit Intelligenz und Lernfähigkeit, mit Tatkraft und Tapferkeit. So wie die Farmerfamilie Iwersen, deren Gäste wir heute sein dürfen. Und damit gebe ich das Wort weiter an Professor Blaschek.«
Stille. Blaschek stand jetzt vor dem Zelt. Er hatte ein Funkmikro in der Hand, sprach etwas blechern, aber er hielt sich nicht lange mit Vorreden auf. Die TV-Kameras schwenkten auf ihn.
»Danke, Ms President. Verehrte Gäste, bitte blicken Sie jetzt nach Westen, auf die Felder, etwa fünfhundert Meter entfernt, dort sehen Sie jetzt – etwa in Richtung meines Armes – eine Wolke aufsteigen, eine Wolke, die wir dort platziert haben. Es ist keine echte Wolke, sondern sie besteht aus Mikro-Drohnen …«
Tatsächlich sah man einen silbrigen Schleier, der wie Bodennebel über dem Feld schwebte – sich aber weiter erhob.
»Die Drohnen sind bionisch, der Natur nachempfunden, in diesem Fall Insekten, und jede einzelne ist nicht größer als eine Fliege.« Er nahm die Brille ab, putzte sie umständlich, steckte das Tuch in seine linke Brusttasche. »Die Wolke hatte beim Start Abmessungen von etwa hundert mal hundert Metern. Jetzt gleich wird die Wolke rotieren, damit alle Drohnen sich aufladen können. Es wird aussehen wie eine wabernde Wand am Himmel – ich gebe zu, das könnte etwas bedrohlich wirken, aber es ist ganz und gar ungefährlich. Wir haben umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen …«
Man sah jetzt über den Feldern eine silbrig schimmernde Wand, die in der Luft hing wie ein gigantischer Kastendrachen. Ein Kastendrachen, der rasch größer wurde. Die Kameraleute waren hingerissen.
»Die Drohnen-Wolken«, fuhr Blaschek fort, »wenn wir sie in Serie produzieren, können Wolken zum Abregnen initiieren, sie können tage- oder wochenlang am Himmel stehen und Schatten spenden, sie sind energieautark – und sie können Insektenschwärme abwehren. Mit anderen Worten: Heuschreckenabwehr. Was Sie hier und heute also sehen werden, ist das Ende einer langen Serie von Plagen, die die Menschheit seit biblischen Zeiten überziehen. Und jetzt, wo die allgemeine Situation angespannt ist, müssen diese Plagen unbedingt kontrolliert werden. Was Sie hier sehen werden, ist vergleichbar mit der Entdeckung der Antibiotika! Gut. Jetzt eine Erklärung zur Programmierung. Die Programmierung ist so einfach wie möglich, wir haben sie auf emergentes Verhalten programmiert. Was heißt das? Ich will es erklären. Viele Schwärme in der Natur funktionieren emergent. Das bedeutet, das Individuum weiß nicht, dass es einen Schwarm in der und der Form bilden soll. Es ist ihm gar nicht bewusst. Es hat nur eine Minimalanforderung zu erfüllen: Halte den und den Abstand zu deinem benachbarten Individuum in der und der Höhe. Das Schwarmbild entsteht als Resultat dieser vielen, relativ einfachen Einzelentscheidungen – wenn man von ›Entscheidungen‹ reden will. Und emergente Systeme sind daher sehr stabil.«
Er machte eine Pause, nahm die Brille ab, putzte sie, setzte sie auf. Die Wand zog sich jetzt wieder etwas zusammen und bewegte sich über das Feld hinweg auf die Zuschauer zu.
»Die Wolke wird sich uns auf zweihundert Meter nähern, aber nicht mehr. Unfälle mit Flugzeugen, Hubschraubern, über Highways sind unmöglich. Falls unser Leitsignal, das alle dreißig Sekunden gegeben wird, einmal ausbleibt, sinkt der Schwarm sofort zu Boden. Sollte jemand versuchen, unser Programm zu manipulieren, wird er feststellen, dass die emergente Programmierung es ihm unmöglich macht. Er müsste sich nämlich in etwa sechs Millionen Drohnen gleichzeitig hacken, und die schnellsten Computer würden dafür zwei Jahre brauchen …«
Tuch rausholen, Brille putzen.
»Diese Programmierung ist unangreifbar. Dies war uns deshalb so wichtig, weil wir den Menschen das Gefühl geben wollten …«
Um welches Gefühl es ging, das blieb ungesagt, oder es blieb jedenfalls ungehört. Denn in diesem Moment brach Professor Blascheks Stimme ab, der tiefe Summton, den die schallgedämpften Generatoren verursacht hatten, verstummte, und im Kontrollzelt erloschen die Monitore.
Als hätte man für einen Moment den Lauf der Welt angehalten.
Aus dem Kontrollzelt kamen aufgeregte Stimmen. Einer der Techniker kam herausgerannt und lief hektisch die Kabelstränge entlang.
Plötzlich schien die Temperatur anzusteigen. Die Wolke, die über dem Feld stand, formte sich zu einer riesigen, schimmernden Kugel. Und dann schien sie zu wachsen. Sie kam näher.
Und alle, Professor Blaschek, die geladenen Vertreter der Landwirtschaftskammer, die Journalisten von den vier Fernsehsendern, die Kameraleute, die Iwersens, Eltern und Kinder, die Präsidentin Kamala Harris – sie alle starrten auf das Feld, auf die Wolke.
Die sich jetzt noch dichter zusammenzog.
Die zusehends dunkler wurde.
Und jetzt sehr schnell näher kam.
Seit genau 475 Tagen war Kamala Harris nun die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika, erste Frau in diesem Amt, gleichzeitig die erste Präsidentin, die einen radikalen Neubeginn gewagt hatte.
Denn Harris hatte Ernst gemacht mit ihren Ankündigungen, die sie in ihrer Inaugurations-Rede vor eineinhalb Jahren auf dem Capitol Hill gehalten hatte. Die USA waren jetzt Teil der Klima-Allianz, zusammen mit Russland und China.
Die drei Supermächte hatten die Rettung der Welt zu ihrem höchsten Ziel erklärt. Die Klimakatastrophe sollte aufgehalten werden, mit aller Macht. Das Wettrüsten der Völker sollte beendet, die in einigen Ländern explodierende Geburtenziffer kontrolliert werden.
Es war eine gigantische Aufgabe, die die drei Supermächte sich gestellt hatten – mit vielen Unklarheiten. Für Kamala Harris war es, eigentlich fast mehr noch als die Präsidentschaft, das Projekt ihres Lebens. Und an diesem Tag sollte eine technologische Revolution präsentiert werden – das erste Ergebnis der neuen Wissenschaftsabteilung der Klima-Allianz.
Und darum hatte sie sich eigentlich auf diesen Tag, auf diesen Termin gefreut. Mal etwas ganz anderes, hatte sie gedacht.
Und hierin sollte sie mehr recht behalten, als ihr lieb war.
*
Die Wolke war eine Waffe geworden.
Und niemand war darauf vorbereitet, nicht die Techniker der neu gegründeten Food Security Patrol, aber auch nicht die Männer vom Secret Service, trotz ihres Trainings, trotz ihrer taktischen Ausbildung, trotz der Erfahrung, auf die dieser Dienst zurückblickte.
Auch der United States Secret Service hat einmal klein angefangen. Ins Leben gerufen wurde er an einem Mittwoch im Juli des Jahres 1865, ursprünglich nur mit dem Ziel, zwei sizilianischen Geldfälschern, die vorwiegend in New York tätig waren, das Handwerk zu legen. Allerdings handelte es sich bei den Herren Ignazio Saietta, bekannt auch als »Der Wolf« und Begründer der »Black Hand Gang«, und Vito Cascio Ferro tatsächlich um zwei Zeitgenossen mit sehr unerquicklichen Angewohnheiten – Kidnapping, Mord, Erpressung, Brandstiftung, Zerstückelung ihrer Opfer.
Der Secret Service war anfangs eine Unterabteilung des Finanzministeriums, bald aber kam eine neue Aufgabe hinzu, die Zerschlagung des Ku-Klux-Klan. Und schließlich übertrug man dem Secret Service den Schutz der wichtigsten Personen im Land, den Schutz des Präsidenten und Vizepräsidenten und deren Familien. Oder, wie jetzt: der Präsidentin.
Sechzehn Secret-Service-Leute waren in der Kolonne mitgefahren, vierzig weitere Beamte befanden sich bereits seit zwei Tagen auf dem Farmgelände. Sie hatten das Gelände beobachtet, jeden Winkel überprüft, sie hatten drei Überwachungs-Ringe um das Farmhaus gelegt, eigentlich waren sie auf alles vorbereitet.
Nur nicht auf das, was jetzt geschah.
Die Wolke, eine Ballung von kleinen, surrenden Flugkörpern, groß wie ein zweistöckiges Haus, changierend zwischen Schwarz und Dunkelblau, kam über das Feld – kam direkt auf sie zugeschossen.
Neben dem Zelt standen, völlig verwirrt, völlig aufgelöst, die Ingenieure, Techniker, Wissenschaftler der Food Security Patrol. Man sah, wie sie gestikulierten, sie schienen sich anzuschreien, eine Pantomime des Entsetzens, denn das Surren übertönte jetzt alles. Drinnen im Zelt saßen immer noch einige vor den schwarzen Monitoren und hackten auf ihren Tastaturen herum.
Der schwarze Ball, der zu pulsieren schien, bewegte sich Richtung Tribüne auf die zwei Dutzend Ehrengäste zu, einige waren aufgesprungen, die meisten saßen versteinert auf ihren Holzklappstühlen, mit aufgerissenen Augen. Und der pulsierende Ball hielt direkt zu auf die 47. Präsidentin, auf Ms Kamala Harris.
»Achtung, Topspin – Grand Slam evakuieren! Sofort!« Der Chef der Secret-Service-Leute brüllte den Befehl, drei, vier Beamte polterten die schmale Metalltreppe hinauf zur Ehrentribüne.
Wie ein Hornissenschwarm, der sich auf einem Baumwipfel oder Dachvorsprung niederlässt, so legte der pulsierende Ball sich jetzt von vorne auf die Tribüne, Mikro-Drohnen mit einem Gesamtgewicht von 17 958 Kilogramm, es sah aus wie ein Erdrutsch, als würde sich eine dunkle Decke über das Gerüst legen.
Bolzen sprangen aus ihren Verankerungen. Streben verbogen sich, lösten sich, und mit einem unhörbaren – vom Surren übertönten – Poltern kippte die Tribüne einfach weg, scheppernd, krachend fiel sie nach hinten, und der artifizielle Schwarm begrub millionenfach das zerstörte Gerüst und die Gäste und auch die Präsidentin unter sich.
Verwirrung, Geschrei, Panik. Etliche Secret-Service-Leute hatten ihre Waffen gezogen, aber worauf sollten sie schießen? Einige warfen sich in den schwarzen Schwarm, versuchten, sich schlagend und rudernd einen Weg zu bahnen durch das schwirrende, fauchende Gewimmel, in der Hoffnung, unter verbogenen Metallteilen und Mikro-Drohnen irgendwo einen der Gäste hervorzuziehen, einen Arm oder ein Bein zu ergreifen.
Aber das war aussichtslos.
Phil Goldman war davongelaufen, als der Schwarm sich näherte. Er kauerte wimmernd an einer Hauswand, Chang Mai stand genau dort, wo sie gestanden hatte, genau so, wie sie zuvor gestanden hatte – nur jetzt war sie kreidebleich.
Auch Martin Iwersen, der Farmer, hatte sich kaum gerührt. Aber im Unterschied zu allen anderen dachte er nach, und zwar dachte er schnell und praktisch. Und als er eine Lösung gefunden hatte, rief er seinem ältesten Sohn und der großen Tochter etwas zu, rannte in die Scheune und kam wenig später mit einem Schlauch in der Hand zurück. Es war kein Gartenschlauch, sondern ein Schlauch für einen Farmbetrieb, mit einem Innendurchmesser von achtundvierzig Millimetern, einem Berstdruck von vierundzwanzig Bar, ein Schlauch, um einen Scheunenbrand zu löschen.
Und dann spritzte er los, mit einem mächtigen Wasserschwall, direkt in den Schwarm. Und die Kameras nahmen alles auf.
Jetzt würden andere Bilder um die Welt gehen.
Eine schmale Seitenstraße im Stadtteil Colaba, Mumbai, ehemals Bombay, abgehend von der Shahid Bhagat Singh Road. Es ist kurz vor Mitternacht, die Gasse ist dunkel, hier gibt es keine Straßenlaternen, jedenfalls keine funktionierenden.
Die Luft ist sehr warm und klebrig vom Salz des Meeres, das Fährterminal Sassoon Dock ist nur zehn Gehminuten entfernt. Es riecht nach verbranntem Papier, Müll, Kochdünsten, nach Zwiebeln und Kurkuma – manche Restaurants haben ihre Ablüfter noch nicht ausgeschaltet.
Colaba liegt an der Südspitze jener Halbinsel, auf die einst der legendäre König Raja seine Festung in die Lagune pflanzte – aus der später ein Moloch namens Mumbai werden sollte. Colaba ist immer noch eines der besseren und jedenfalls teuersten Viertel der Stadt, die mittlerweile auf fast vierzig Millionen Einwohner angeschwollen ist – fast alle Bewohner verzweifelt, denn die meisten Jobs und Möglichkeiten sind in den vergangenen Jahren weggebrochen, erst kamen ungewöhnliche Monsunfluten, die Pandemie, dann die Rezession.
Von der Shahid Bhagat Singh Road ist es nicht weit zur State Bank of India, und am berühmten Gateway of India, einem der Wahrzeichen des Landes, ist man in rund dreißig Minuten. In Colaba können sich auch Chinesen, Amerikaner, Europäer auf den Straßen einigermaßen unbehelligt bewegen; die Polizei hat das Viertel praktisch abgeriegelt, die halbverhungerten Straßenkinder und Bettler werden mit Stockhieben zurückgetrieben. Colaba ist reserviert: für die, die noch Geld haben.
Das Wohnhaus ist schmal, modern, fünf Stockwerke hoch, umgeben von einer verputzten Mauer. Vor dem Gebäude steht eine weiße Stretchlimousine, in der Tiefgarage parken zwei weitere.
Das schmale Wohnhaus steht zwischen älteren, schäbigen Gebäuden, deren Türen verschlossen sind, die Metallrollläden sind heruntergelassen. Rechts ein Schild mit »Mirages Textile Inc.«, links der »Narial pani Smoothi Shop«. In dem schmalen Wohnhaus ist lediglich das Erdgeschoss, eine Art Marmorfoyer, hell erleuchtet.
Dort sitzt an einem Tisch ein einziger Wachmann, ein Alter in einer roten Phantasieuniform mit einem prachtvollen Schnurrbart, einem Schnauzer mit aufgezwirbelten Enden. Der Schnurrbart ist der ganze Stolz des Mannes, den er mit Cremes, behutsamem Stutzen, mit Kamm, diversen Bürstchen und gläubiger Hingabe pflegt. Vor ihm auf dem Tisch, auf einem grünen Tuch, liegt eine langläufige Remington, eine Repetierbüchse mit fünf Patronen.
Aber Mauer und der martialische Wachmann sind nur Dekoration – kein Unbefugter der Welt könnte dieses Haus betreten. Auch, dass in den unteren Wohnungen gelegentlich Licht an- und ausgeschaltet wird, ist ferngesteuert. Nur die oberste Wohnung, ausgestattet mit einer Dachterrasse, ist überhaupt bewohnt, von einem einzigen Mann mit seinem Diener.
Der Mann ist ungefähr Anfang vierzig, er sitzt hinter seinem Oxford-Schreibtisch an einem Laptop und scrollt durch verschiedene Seiten. Er trägt ein weites weißes Hemd, das zu seinem vollen, fast weißen Haar passt, und er hat saubere braune Haut und ein gut geschnittenes Gesicht, fast schon ein edles Profil.
An der Wand hängen Baupläne, Ausdrucke von Architekturzeichnungen. Man erkennt eine riesige Anlage mit Wegen und Versorgungsleitungen, zwei Dutzend Gebäuden, es ist der Shah-Shaanti-Ashram, den der Mann bauen lässt, ein gigantisches Projekt.
Jetzt greift der Mann zum Telefon. Ein Wintec-Scrambler ist an das Telefon angeschlossen. Die Nummer, die der Mann anruft, ist programmiert.
»Wie geht es Ihnen? Sehr gut … Ja, das habe auch ich so empfunden, es war schön … Ja, schön, wie ein Lila aus dem Brahmasutra, ein göttliches Spiel. Die Stimmung ist einhellig: Panik erzeugt mehr Panik, es könnte sich nicht besser entwickeln … Ja, das sehe ich auch so … Das ist die allgemeine Interpretation – es ist den Amerikanern entglitten, sie können ihre eigene Technik nicht beherrschen. Ich hege große Bewunderung für Ihre Arbeit, Professor. Und wir wissen jetzt, was in der Quantentheorie für unglaubliche Möglichkeiten stecken, es war ein kleiner Testlauf, und er war mehr als überzeugend. Sobald wir Informationen über die Ermittlungen haben, können wir das weitere Vorgehen besprechen. Wie? Sehr gut. Ja. Ich werde morgen anrufen.«
Der Mann legt auf. Sein Name ist Amitav Rama Shah, der »Guru der Millionen«. Er ist reich, erfolgreich, seine weltweiten Geschäfte expandieren. Und er hat noch viele Pläne.
Er tritt auf die Dachterrasse, blickt über die dunklen Nachbarhäuser hinweg. Das Haus steht so, dass man bei guter Sicht Richtung Nordosten bis Gharapuri blicken kann, über das Arabische Meer. Aber jetzt ist da draußen nichts als Schwärze.
Breaking News
Drohnen-Präsentation wird zur Horror-Show/Technologie zur Klimarettung greift Menschen an/Filmaufnahmen gehen um die Welt – so viele Klicks wie nie/»Technischer Unfall« oder Anschlag auf US-Präsidentin Harris?
Weltweite Erschütterung haben live gesendete Filmaufnahmen ausgelöst, die heute auf einer abgelegenen Farm in Iowa entstanden. Die Aufnahmen zeigen einen »äußerst bedauerlichen, technischen Unfall«, so die Erklärung aus dem Weißen Haus, sie dokumentieren ein Geschehen, bei dem eine neuentwickelte Art von Mikro-Drohnen eine Gruppe von Menschen gleichsam »attackiert« und unter sich begräbt. Unter diesen betroffenen Personen befand sich auch die US-Präsidentin.
Präsidentin Harris wurde verletzt, mit ihr weitere elf Personen. Die Verletzten wurden in das »Broadlawns Medical Center« in Des Moines gebracht, die Präsidentin von dort aus, nach Erstversorgung, nach Washington geflogen.
Die angebliche »technische Panne« – Skeptiker sprechen von einem »Attentatsversuch« – ereignete sich während einer Vorführung, bei der eigentlich die Klimarettungsmöglichkeiten einer neuartigen Drohnen-Wolke vorgeführt und getestet werden sollten. Vorführung wie auch Test endeten jedoch in einem Desaster.
Die Drohnen-Wolke brachte zunächst eine Tribüne zum Einsturz und begrub sodann die angegriffene Menschengruppe unter ihrer Masse. Es war, dies zeigen die Filmaufnahmen, nur dem mutigen Eingreifen eines Farmers vor Ort zu verdanken, dass die zwölf Menschen rasch von dem Drohnen-Teppich, der sich über sie gelegt hatte und sie zu ersticken drohte, gerettet werden konnten. Der Farmer benutzte, auch dies zeigen die Filmbilder, einen Feuerwehrschlauch mit extrem hohem Wasserdruck. Er spritzte damit die Drohnen beiseite.
Zahlreiche Staatschefs haben den Vorfall kommentiert, fast einhellig mit Entsetzen und tiefstem Bedauern. »Wir haben in Kamala Harris eine international respektierte Politikerin«, so stand es in einer Erklärung, die viele Staatschefs unterzeichnet hatten und die die allgemeine Sympathie ausdrückte, die Harris entgegenschlug. »Wir wünschen ihr, im Namen vieler Menschen in unseren Ländern, baldige Genesung.«
In einer eigenen Stellungnahme bot der Staatschef Chinas, Mr Xi Jinping, die Hilfe Chinas an, um »das Geschehen unverzüglich und lückenlos aufzuklären«. Auch die Generalsekretärin der Vereinten Nationen, Ms Angela Merkel, sprach von einem »entsetzlichen Unfall, dessen Ursachen ans Licht kommen werden«.
Prof. Dr. Dr. Maxim Blaschek, dessen Team die Technologie entwickelte und programmierte, gilt als einer der weltweit angesehensten Wissenschaftler im Bereich Künstliche Intelligenz, Kinetik, Mathematik und Informatik.
Freigabe durch
NUR FÜR INTERNEN GEBRAUCH
Vernommene Person: Prof. Dr. Dr. Maxim Blaschek / Food Security Patrol
Vernehmender Agent:
Zeit: 2026-05-08, 10:45 p. m.
Ort: Langley, VA
– AUSZUG –
Professor Blaschek: »Ich weiß nicht, was geschehen ist. Ich weiß es einfach nicht. Kein Rechner, kein Netzwerk der Welt – keines, von dem ich weiß, keine Technologie, die ich kenne – kann diese Menge an Rechenoperationen durchziehen … Es war, als ob plötzlich die Gesetze der Physik aufgehoben werden. Als ob Sie einen Apfel zu Boden fallen lassen und er fliegt nach oben. Ein Widerspruch zu Erfahrung, Intuition, zu Gravitation und zu millionenfach bestätigten, berechneten Naturgesetzen. Und diesen Widerspruch muss ich aufklären. Das ist jetzt meine Aufgabe. Ja, und Ihre auch, natürlich. Wir ziehen doch alle am selben Strang!«
Thomas Pierpaoli saß, als er von dem Attentat erfuhr, an einem Ecktisch in der Cafeteria 17 im pyramidenförmigen Kommissariatsgebäude der Klima-Allianz in Kapstadt. Es roch überall ein wenig nach frischer Farbe. Die Büros waren bereits bezogen. In den weniger wichtigen Räumen des hochmodernen Komplexes arbeiteten noch die Handwerker.
Pierpaoli hatte sich gerade ein leichtes Abendessen bestellt, einen Käse-Walnuss-Vollkorntoast, dazu ein Glas Tee. Er musste heute länger arbeiten, aber es störte ihn nicht. Er freute sich auf sein Abendessen.
Die Zeitverschiebung zwischen dem amerikanischen Mittelwesten und Südafrika beträgt sieben Stunden, in Kapstadt war es jetzt kurz vor sieben Uhr abends. Der Anschlag in Iowa lag also gerade eine halbe Stunde zurück, als schon die ersten Bilder über die Welt verbreitet wurden.
Zu diesem Zeitpunkt konnte Thomas Pierpaoli nicht ahnen, dass irgendwelche mysteriösen Ereignisse auf einer Farm irgendwo im Hinterland der USA ihn aus seinem wohlgeordneten und behaglichen Dasein reißen würden; und hätte ihm an diesem Abend jemand gesagt, dass hier ein großes Komplott seinen Anfang nahm, dass bald schon das Schicksal der Welt auf seinen Schultern lasten würde – über eine derart absurde Idee hätte er nur freundlich gelacht.
Thomas Pierpaoli glaubte an die kleinen Freuden. Er glaubte an einen aufgeräumten Keller, an gute Manieren, an ein Glas Rotwein am Abend, und er glaubte auch an die große Liebe – das allerdings aus sicherem Abstand.
In seinem geschmackvoll eingerichteten Apartment stand ein kleiner Yamaha-Flügel, ein Geschenk Pierpaolis an die, wie er gedacht hatte, Frau seines Lebens, eine gewisse Ariadna Ferrer Bayonne. Es war ein Geschenk an sie, als sie bei ihm einzog – vor einem knappen Jahr aber war Ariadna ausgezogen und aus Pierpaolis Leben verschwunden. Seitdem blieb das große schwarze Instrument still.
Thomas Pierpaoli war, als diese Geschichte begann, zweiundvierzig Jahre alt, Beamter im »Hochkommissariat für die Neuordnung der Welt«, wie der offizielle und etwas sperrige Name lautete, Agrarressort/Unterabteilung Prüfberichte, Konfliktlösungen. Er war studierter Biologe, mittelgroß, mittelmäßig sportlich, gut geschnittenes, freundliches Gesicht, warme Augen. Zu seiner Wohnung gehörte ein kleiner Dachgarten, neuerdings züchtete er dort erfolgreich Tomaten, und zwar sowohl Stab- wie auch Buschtomaten. Er zog mehrere Sorten: Kumato, Kalimba, Green Zebra, Laternchen. Denn Tomaten, fand Pierpaoli, waren großartige, vielfältige Pflanzen, noch nicht kaputtgezüchtet wie Bananen: Es gab weltweit 3100 registrierte Tomatensorten, nochmals so viele Züchtersorten. Pierpaoli arbeitete daran, Tengeru und Tanya zu kreuzen. Die Klimabedingungen in Südafrika waren zunehmend härter geworden. Pierpaoli hatte deshalb auf der Dachterrasse ein kleines Gewächshaus aufstellen lassen.
Er hatte eine Schwäche für gute, klassische Anzüge; seine Hemden kaufte er gerne bei Turnbull & Asser in London. Seine Liebhabereien waren Tomatenzucht, Spazierengehen und Kochen.
Pierpaoli hatte eine Arbeit über asiatische Kuckucksarten publiziert, sich dann auf Agrarbiologie spezialisiert, und nach einiger Zeit bei der UNO und ein paar glücklichen Empfehlungen war er im Hochkommissariat der G3 gelandet, wie die Organisation anfangs noch hieß.
Hier, im »High Commission Building«, etwas südlich von Kapstadt, unweit von Vredehoek und Oranjezicht, befand sich das politische Gehirn des mächtigen neuen Staatenbunds – der »Klima-Allianz«, wie sie inzwischen genannt wurde.
Schon kurz nach Gründung der G3 hatten zwei Länder ihren Beitrittswunsch formuliert: Island und Südafrika. Für die G3-Supermächte kam das verfrüht, erst wollte man sich selbst organisieren. Andererseits wollte man die Partner in spe nicht vor den Kopf stoßen. Und so erhielten die beiden Länder vorläufig einen Kooperations-Status.
Die G3-Regierungen suchten gerade nach einem geeigneten Ort für einen Hauptsitz, neutral gelegen, außerhalb ihrer eigenen Territorien. Sie entschieden sich für eine Wüstengegend unweit von Kapstadt.
In einer kahlen Ebene errichteten sie hier in kürzester Zeit das Gebäude der G3-Kommission, in Form einer gewaltigen Pyramide.
Die Seiten maßen 230 Meter, die Höhe lag bei 149 Metern. Die südafrikanische Pyramide war leicht, lichtdurchflutet mittels verstellbarer Reflektoren, sie war auf ihrer Oberfläche mit genügend Kollektoren ausgestattet, um die eigene Energieversorgung mehr als sicherzustellen. Die Versorgungseinrichtungen, die Energiespeicher und Wasserreservoirs lagen im Inneren der Pyramide. Die Büros lagen außen. Und rundumher entstanden noch Nebengebäude, Wohnviertel, Restaurantviertel, Sportanlagen, weitläufige Parks.
Und in dieser Pyramide befand sich seit einem knappen Jahr Thomas Pierpaolis Arbeitsplatz.
Es war ein begehrter Job, auch wenn man ein eher kleines Rädchen war. Pierpaoli hatte einen prominenten Patenonkel, Bao Wenliang, einen Studienfreund seines verstorbenen Vaters. Wenliang, Berater des chinesischen Staatschefs, hatte Pierpaoli die Wege geebnet, und so hatte er den Job im Hochkommissariat bekommen.
Er saß in seinem schmalen Büro, tief im Bauch des Hochkommissariats, beugte sich mit Hingabe über Berichte und Verträge, umtost vom Auf und Ab der Weltläufe, von neuen Weichenstellungen, Zusammenschlüssen und Initiativen, die der Weltrettung dienen sollten, umbrandet von Kalkül und Krächen, politischen Kraftlinien, Gefahren und Schwierigkeiten – und er studierte die Details. Die Neuausrichtung der Weltpolitik aufs Klima hatte ihn von Anfang an überzeugt, und so arbeitete er mit Eifer. Manchmal entwickelte er eine originelle Idee, etwa über Düngereinsatz in Nordchina, in der Region Tchunan, oder über Mikro-Food-Anbau in Thailand, und er löste eine Kette von Ereignissen aus, die tatsächlich etwas veränderte, zum Guten. Zurzeit arbeitete er an einem Restrukturierungsprogramm für die europäische (vor allem französische) Käseproduktion. Thomas Pierpaoli hatte ein Händchen für Mathematik, er konnte sich gut Zahlen merken und glaubte an Details.
Zu seinem leichten Abendessen, Toast und Tee, hatte er sich in der Cafeteria 17 an einen Ecktisch gesetzt, wo er das Nachrichtengeflacker des Bildschirms nicht sehen konnte, deshalb fuhr er ärgerlich zusammen, als plötzlich der 75-Zoll-Flachbildfernseher über ihm losbrüllte, jemand hatte den Ton hochgedreht.
Und die wenigen Gäste in der Cafeteria sahen zum Fernseher, die meisten waren aufgesprungen, alle Gespräche waren verstummt. Die Stimme des CNN-Breaking-News-Sprechers schien sich fast zu überschlagen.
Es waren dieselben Bilder, die an diesem Tag über 220 Millionen Kanäle, Communitys, Messengerdienste, Medien und soziale Medien laufen sollten, auf YouTube, Instagram, Reddit, Twitter, 4chan, Tumblr, 8kun, Telegram. Die Aufnahmen würden nach einer Woche, mit nahezu zwanzig Milliarden Klicks, zum meistgesehenen Video avancieren – und das computeranimierte Musikvideo »Baby Shark Dance« der Gruppe »Pinkfong« mühelos überholen.
Pierpaoli war aufgestanden, er stand, wie alle anderen Besucher der Cafeteria 17, wie auch die Kellnerinnen und Köche, vor dem Bildschirm, manche stumm, andere stöhnend, alle fassungslos.
Der Sprecher beschrieb jetzt, wo die Präsidentin lag, wie sie sich aufrichtete, unter den Trümmern hervorkroch, durchaus schockiert – aber dann befahl sie den Secret-Service-Leuten, sich um die anderen zu kümmern. Die Live-Bilder erloschen, Schnitt auf ein Studio.
Was er gesehen hatte, dachte Pierpaoli, lieferte einige Erkenntnisse und gab eine große Frage auf.
Erste Erkenntnis: Die Präsidentin lebte. Gut.
Sie würde, zweitens, nach ihrem Auftritt hervorgehen als Heldin, die zweite Amtszeit war ihr sicher, der politische Rückenwind für die G3 beträchtlich.
Drittens war diese Mikro-Drohnen-Technologie immer noch die beste Technologie, um die Heuschreckenschwärme schnell zu bekämpfen. Dies war nicht Pierpaolis Gebiet, aber er hatte darüber gelesen. Es war eine Technologie, die fürs Überleben der Menschheit wichtig war – doch jetzt war sie diskreditiert, in ein schlechtes Licht gerückt. Das war die dritte Erkenntnis.
Die Frage, die sich stellte, lautete: Falls jemand diese Technologie diskreditieren wollte – warum?
Bäume sind Heiligtümer. Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit.
Hermann Hesse
Ein seltsames Geräusch im Dunkeln, ein Sirren, das anschwoll – davon war Inara aufgewacht. Sie schlug die Augen auf.
Es war noch dunkel in der Hütte, der Morgen war noch nicht angebrochen, die Vögel still. Vielleicht könnte sie einschlafen, dachte sie verschwommen, sie würde es versuchen. Inara schloss die Augen und spürte die Wärme des Bettes, da hörte sie ihre kleine Schwester weinen, maunzen. Lilen war erst ein Jahr alt. Inara hingegen war schon acht, in einigen Jahren würde sie kein Kind mehr sein, sondern eine junge Frau.
Sie lebten zu viert in der Holzhütte, die ein einfaches Strohdach hatte und einen gestampften Lehmboden: ihre Eltern, die neugeborene Lilen und sie, Inara. Als die große Tochter, hatte ihre Mutter ihr eingeschärft, müsse Inara ein Auge haben auf alles, auf die kleine Schwester aufpassen, der Familie helfen, dem Stamm helfen. Inara gab sich Mühe.
Man musste viel lernen, viele Dinge wissen, vieles können, wenn man ein Pehuenche war, ein Mensch des Waldes. Ihr Stamm lebte im Süden von Chile, seit unzähligen Generationen.
Inara war ein schmales Mädchen mit den indianischen Gesichtszügen der Pehuenche, mit hohen Wangenknochen, makellosen Zähnen und schwerem Haar, das sie meistens zu zwei blauschwarzen Zöpfen geflochten trug. Sie war sehnig und groß für ihr Alter, eine gute Schwimmerin, unerschrocken im wilden Wasser des Bergbachs und geschickt im Klettern, und sie hätte die Anführerin der Mädchen im Stamm sein können, wenn sie sich nicht immer etwas abseits gehalten hätte, doch so war sie: scheu, eigensinnig.
Sie hörte, wie ihre Mutter sich aufrichtete, hinübergriff, wo das Kind lag, wie sie Lilen an ihre Brust legte. Kurz darauf die glucksenden Sauggeräusche, die Kleine trank durstig.
Ihre Hütte, die Ruka in der Sprache der Pehuenche, maß ungefähr zehn mal fünf Meter, hatte außerdem einen türlosen Anbau für die Küche, mit einem in die Wand eingelassenen Kupferkessel, in dem gelegentlich Wasser über einem Feuer erhitzt wurde. Ein weiterer Anbau mit einem Wasch- und Badezuber. Gelebt, geschlafen, gegessen wurde im Hauptraum, dort bewahrten sie auch, an einer Wandseite säuberlich aufgeschichtet, ihr Hab und Gut sowie die Vorräte für den Winter auf: Mehl in Tonkrügen, Zapfen, Trockenfleisch, getrocknete Beeren und Früchte, Kräuterbündel, die kopfunter hingen, Säcke mit Federn, Metallkanister mit Petroleum, Werkzeug, eine Batterie, Töpfe, Seile, Nägel und Nadeln, Zündsteine, Messer, Schnüre, Gummimatten, Netze. Der Fluss hinter der Ansiedlung führte reines, kaltes Wasser.
Die Hütte gehörte zu den größeren in der Ansiedlung, denn Inaras Vater war ein Longko, ein Häuptling. Inara war insgeheim sehr stolz auf ihren Vater; auch der Vater ihres Vaters, hatte man ihr erzählt, war Häuptling gewesen, und wäre Inara ein Junge, würde man ein unbestimmtes Auge auf ihn und seine Talente als Anführer haben. Doch als Mädchen konnte sie kein Häuptling sein; und ohnehin gingen Inaras Fähigkeiten in eine andere Richtung.
Noch einmal glitt sie in den Schlaf hinüber.
Und sie träumt.
Sie träumt, dass sie über Berge steigt, aber diese Berge sind kahl und unvertraut. Sie gelangt an eine weite, freie Fläche, dort sieht sie Menschen, auf die sie zuläuft – sie will sie fragen, wo sie hier sind. Und sie ist erleichtert, als sie sieht, dass es Leute ihres Stammes sind – und da ist auch ihr Vater, der Häuptling. Aber alle wirken abwesend, als wären sie an einem Ort, den sie nicht kennen. Ein Kind sagt etwas zu einem anderen Kind: Ñuke Mapu, die Mutter Erde sei zornig. Inara erschrickt darüber. Und plötzlich hebt ein Rauschen an.
Und davon wachte sie auf. Das Rauschen war in ihrem Traum gewesen, aber es war auch in der Wirklichkeit, sie hörte es.
*
Der statistische Report der G3 aus dem Jahr 2026 listet für das gesamte Territorium Lateinamerikas insgesamt 416 indigene Gruppen auf. Die Pehuenche sind eine der größeren Ethnien, die noch der traditionellen Lebensweise folgen. Sie leben im Süden Chiles, zurückgezogen und in den Bergwäldern, sie leben in kleinen Verbänden, sogenannten Lofs. Die meisten Naturvölker waren vom Klimawandel am härtesten betroffen. Ihre Lebensweise war mit den Zyklen der Natur verzahnt: Waldbrände, Dürren, Überschwemmungen, für solche Katastrophen hatten sie keine Reserven.
Die Klima-Allianz hatte einige Anstrengungen unternommen, um Unterstützung zu leisten, hier und da Abhilfe zu schaffen. Man hatte auch Dutzende von Hilfsorganisationen, sogenannten NGOs, zur Mitarbeit requiriert, aber es war schwierig und scheiterte oft an Missverständnissen. Jedes Naturvolk hatte seine eigene Nische gefunden, seine eigene Kultur entwickelt. Die Pehuenche zum Beispiel gehörten zum großen Volk der Mapuché. Die Mapuché teilten sich in drei Stämme, es gab da die Leute des Meeres, die Leute der Flüsse, und schließlich gab es die Leute des Waldes, die Pehuenche. Der Wald versorgte sie mit allem, was sie brauchten, eine neue Lebensweise wollten und konnten sie nicht annehmen.
Inara horchte. Sie konnte, wie jedes Pehuenche-Kind, Hunderte von Geräuschen und Lauten mühelos unterscheiden, das Knacken, Fiepen, Schnauben, Knarren, Huschen im Wald. Und sie konnte Tiere, Pflanzen, Wasserstellen aus Hunderten von Metern am Geruch erkennen; aber dieses Rauschen kannte sie nicht, es klang groß und grau – wie eine Wolke.
Inara schlug die geblümten Decken zurück, sprang aus dem Bett. Sie hatte in T-Shirt und Unterhose geschlafen, stieg hastig in ihren Rock, griff ihre Jacke und eilte aus der Hütte.
Draußen standen auch schon die meisten Männer der Siedlung eng nebeneinander auf dem Aussichtsfelsen. Einige Kinder, jene, die bereits wach waren, hielten sich in respektvollem Abstand.
Alle schwiegen. Und blickten in den Himmel, wo eine dunkle Wolke stand, aber keine gewöhnliche Wolke. Es war eine lebendige Wolke, die rollte, als wäre sie eine riesige Walze, etwas, das Inara noch nie gesehen hatte, lang gezogen, sie schien den ganzen Himmel einzunehmen. Und diese Wolke kam unaufhaltsam näher und senkte sich in das Tal, auf die großen Pehuén-Bäume.
Der Naturforscher Alexander von Humboldt hatte auf seinen Reisen durch Südamerika die Araucaria araucana klassifiziert. Es ist eine wunderschöne Baumart, der Kiefer nicht unähnlich, aber deutlich größer, hochstämmiger, mit ausladender Krone, eine der ältesten Baumfamilien der Welt – manche Bäume werden bis zu neunzig Meter hoch und erreichen ein Alter von bis zu zweitausend Jahren.
Die weibliche Araucaria trägt Zapfen, große Zapfen – jeder dieser Zapfen, etwa von der Größe eines Handballs, ist besetzt mit einigen hundert fingerdicken Kernen. Und diese Kerne waren das Hauptnahrungsmittel der Pehuenche.
Die Männer und Frauen des Stammes sammelten die Zapfen, oder die Kinder holten sie mit Lassos aus den Ästen. Sie schälten die Kerne, man konnte sie in Tonkrügen lagern und kochen wie kleine Kartoffeln. Sie hielten einen ganzen Winter hindurch, und der Geschmack war sanft, nussig. Man konnte sie mahlen und verbacken. Das Kleinholz dieser Baumriesen nutzten die Pehuenche zum Heizen, das Harz als Baumaterial, Heilmittel und für ihre Zeremonien und Riten.
Und jetzt standen die Leute des Stammes auf dem Aussichtsfelsen und schauten hinab, wo sich die Wolke über das Tal legte. Ein paar Ableger der Wolke kamen in ihre Nähe. Landeten schnarrend und flatternd, die Pehuenche fingen einige von ihnen ein. Die Pehuenche kannten Heuschrecken, aber diese hier sahen völlig anders aus, größer, stärker, giftig-gelb. Und einen Schwarm, vor allem in dieser Größe – das hatte es hier noch nie gegeben.
Lange sprach niemand. Inara dachte an ihren Traum.
Wollte man die Lage der Weltpolitik im Jahr 2025 beschreiben, wäre ein passender Vergleich ein großes Mietshaus, in dem es überall tropft und bröckelt. Die Gasleitungen im Keller sind leck, die Decke im Erdgeschoss durchtränkt wegen eines Wasserschadens, die Treppe zu betreten ist lebensgefährlich.
Um den Verfall zu stoppen, haben einige der Mieter die Hausverwaltung übernommen – die drei Supermächte.
Das war die Geburtsstunde der Klima-Allianz, anfangs auch G3 genannt. Dies war Anfang 2025 geschehen. Russland, China und die USA hatten sich überraschend auf einen gemeinsamen Kurs geeinigt und ihre weltpolitischen Ziele und Maßnahmen koordiniert.
Grund für ihr Handeln war das Umschlagen des Weltklimas. Die menschengemachte Katastrophe hatte zu Waldbränden, Fluten, Missernten, Heuschreckenschwärmen geführt; die Ozeane waren überfischt und vergiftet, sie gaben nichts mehr her. Die Strömungssysteme der Meere waren durcheinandergeraten. Mit wiederum fatalen Auswirkungen auf das Klima.
Als Folge all dessen tauchte eine Menschheits-Geißel wieder auf, die man für nahezu besiegt gehalten hatte – der Hunger. Die Menschheit stand am Rand einer Hungerkatastrophe. Noch waren die Regale in den Supermärkten mehr oder weniger gefüllt, obwohl es zu einzelnen Engpässen kam. Die Staatschefs und Experten wussten, wie heikel die Situation war; doch die Regierungen behandelten das Thema diskret, sie befürchteten soziale Verwerfungen, Hamsterkäufe, Plünderungen, Hungerkriege.
Darum waren – wiederum diskret – weltweit Gebiete definiert worden, die für die Versorgung und Nahrungsmittelproduktion der Menschheit essentiell waren: die sogenannten Food-Spots. Diese Anbaugebiete wurden geschützt und bewacht. Nach den Ausfällen der vergangenen Jahre waren die Reserven so gering, dass ein einziger Ernteausfall in nur einer dieser Regionen das komplette Versorgungssystem der Menschheit zum Einsturz bringen konnte. Bedroht wurden die Plantagen vor allem durch die Heuschreckenschwärme, eine Plage, die man kaum in den Griff bekam. Die Abschottung der Plantagen durch die Drohnen war nach dem Anschlag auf die US-Präsidentin auf Eis gelegt worden, aus politischen Gründen, aus Image-Gründen. Jetzt wurden die Insekten wieder mit konventionellen Mitteln kontrolliert, mit Giften, Hormonen und Vorsorge: Die Plantagen wurden überwacht, die Entstehung eines Schwarms sollte im Keim, im »Erstangriff«, erstickt werden. Dieser »Erstangriff« war entscheidend; war der Schwarm zu groß, war die Menschheit machtlos.
Dies also war die Lage auf dem Planeten Erde, als eine neue Form der Weltpolitik entworfen wurde. Bei dieser neuen Politik ging es darum, für Probleme, die den ganzen Planeten betrafen, eine Instanz zu schaffen, die auch für den ganzen Planeten entscheiden konnte.