Tod am Aegi - Marion Griffiths-Karger - E-Book

Tod am Aegi E-Book

Marion Griffiths-Karger

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Beschreibung

Ein komplexer Kriminalroman mit authentischen Figuren – Fesselnde Unterhaltung mit Humor. Hauptkommissarin Charlotte Wiegand hat alle Hände voll zu tun: Ein bizarrer Todesfall in Hannovers berühmtem Theater am Aegi fordert ihre Aufmerksamkeit. Die Geschehnisse sind rätselhaft und scheinen mit einem vermissten Mädchen in Verbindung zu stehen. Gleichzeitig hängen ihre Gedanken noch am einzigen Cold Case ihrer Karriere, denn sie kennt den Mörder, kann ihm jedoch nichts nachweisen. Um weitere Verbrechen zu verhindern, muss Charlotte an ihre Grenzen gehen – und weit darüber hinaus.

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Marion Griffiths-Karger verbrachte ihre Kindheit auf einem ostwestfälischen Bauernhof. Nach Kaufmannslehre und Studium der Literatur- und Sprachwissenschaft wurde sie Werbetexterin in München, später Autorin und Teilzeitlehrerin. Die Deutsch-Britin ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und lebt mit ihrem Mann bei Hannover.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Igor Marx

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-168-3

Niedersachsen Krimi

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Es ist Arznei, nicht Gift, was ich dir reiche.

Gotthold Ephraim Lessing,

EINS

Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Wenn es ganz schlimm kam, würde sie sich hier übergeben. Mitten in der Vorstellung. Und das würde der Komiker, der sich da auf der Bühne derart penetrant über seine eigenen Witze amüsierte, bestimmt nicht lustig finden. Sie wusste ja nicht mal, wie der hieß, hatte sich von Anne überreden lassen, mitzukommen. Anne hatte die beiden Karten von ihren Kolleginnen zum Geburtstag geschenkt bekommen. Oh Mann, wenn die wüssten, wie scharf Anne darauf war, mit ihrem Mann ins Theater zu gehen. Ganz davon abgesehen, dass er nicht mal mitgehen würde. Er hing lieber in Kneipen oder bei seinen Kumpels herum, und was er da machte, außer sich zu betrinken, das wollte Anne gar nicht wissen. War bestimmt auch besser so, dachte Ella, Hauptsache, er ließ ihre Freundin in Ruhe. Also war Ella in den Genuss dieser Vorstellung gekommen. Obwohl sie viel lieber mit ihrer Kollegin Tanja auf eine Singleparty gegangen wäre. Aber das konnte sie Anne nicht antun, nicht zu ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag.

»Nun stell dich nicht so an«, hatte Anne gesagt, »das wird uns guttun. Wir haben seit ewigen Zeiten nichts mehr zusammen unternommen.«

Kein Wunder, dachte Ella, die genau wusste, warum Anne aus dem Haus wollte. Um ein bisschen Abstand zwischen sich und ihren tyrannischen Gatten zu bringen. Wenn auch nur für ein paar Stunden. Ella fragte sich sowieso, wie ihre Freundin es mit diesem Mann aushielt. Sie hatte mehrfach versucht, Anne dazu zu bringen, den Kerl vor die Tür zu setzen. Er nahm sie doch nur aus. Aber wahrscheinlich hatte sie noch immer nicht die Kraft dazu, sich zu trennen, obwohl sich Anne recht gut erholt hatte, von ihrer Katastrophe, wie sie selbst es nannte.

Noch vor einem halben Jahr hatte das anders ausgesehen. Da hatte Ella sich Sorgen gemacht und sich gefragt, ob Anne jemals wieder die alte, lebenslustige Freundin sein würde, die sie vor diesem bösen Geschehnis gewesen war. Und es war ja noch nicht vorbei, schwebte über ihr wie ein Damoklesschwert. Aber Anne schien sich damit arrangiert zu haben, was blieb ihr auch übrig? Ella hatte schon immer Annes Fähigkeit bewundert, Dinge, die schwer zu ertragen waren, einfach zu verdrängen. So zu tun, als wären sie nie passiert. Nur im Hier und Jetzt zu leben. Obwohl ihr in den letzten drei Jahren diese Fähigkeit abhandenzukommen drohte.

Ella verzog den Mund und faltete ihre Hände über dem Bauch. Vielleicht half ja ein bisschen Wärme gegen die Übelkeit. Sie hatte Anne jedenfalls unterstützt, so gut sie konnte, obwohl sie auch nicht besonders glücklich war. Zwar musste sie sich nicht mehr mit ihrem eifersüchtigen Ex rumschlagen, aber das Alleinsein war auf die Dauer ebenso schwer zu ertragen. Sie hatte sich auf einer Dating-App angemeldet, wie sollte man sonst in solchen Zeiten jemanden kennenlernen? Keine Kneipe, kein Club, keine Bar war geöffnet gewesen. Sie hatte ja nicht gewusst, wie sehr ihr das fehlen würde. Immerhin, im Park zum Spaziergang konnte man sich damals verabreden. Aber auf einer kalten Parkbank flirtete es sich nicht so angenehm.

Okay, das alles gehörte Gott sei Dank der Vergangenheit an, aber dieses bescheuerte Virus hatte ihr fast zwei Jahre ihres bis dahin feuchtfröhlichen Lebens geklaut. In der Dating-App war sie immer noch aktiv, obwohl das Kneipendasein wieder zu ihrem Alltag gehörte. Leider war ihr letztes Date fürchterlich in die Hose gegangen. Der Kerl hatte sich nach fünf Minuten verabschiedet. Begründung: »Mit uns wird das nichts.« Hatte sich einfach umgedreht und war gegangen. Dabei hatte sie ihn sofort anziehend gefunden. Gepflegt, teuer angezogen und gut aussehend. Sie war danach heimgegangen, in ihre kleine Wohnung in der Nordstadt, hatte sich mit einer Flasche Rotwein ins Bett gelegt und sich gefragt, welchen Eindruck sie zum Teufel eigentlich auf die Männer machte. Sie war doch ganz hübsch, fand sie. Blond und schlank, okay, nicht besonders groß, aber mit ihren ein Meter zweiundsechzig doch noch annehmbar. Anne fand sie jedenfalls auch hübsch. Na gut, Anne war ihre Freundin und würde bestimmt auch lügen, um ihr nicht wehzutun. Wie auch immer, sie hatte mehr als die halbe Flasche Wein getrunken. Im Fernsehen lief »Frühstück bei Tiffany«.

Das Publikum lachte und applaudierte. Musste ein guter Witz gewesen sein, leider bekam Ella rein gar nichts mit und fragte sich mittlerweile, was sie hier eigentlich tat. Meine Güte, wieso war ihr bloß so übel? Sie war doch nicht schwanger. Ha, das war mal lustig. Ella versuchte, gleichmäßig und tief zu atmen. Half alles nichts. Sie beugte sich zu Anne hinüber.

»Lass mich mal vorbei, ich muss hier raus, mir ist schlecht.«

Anne sah sie beunruhigt an. »Echt? Muss das jetzt sein?«, wisperte sie. Aber Ella drängte sich bereits an ihr vorbei, stolperte über mehrere Füße, was ihr einige Verwünschungen eintrug, und verließ fluchtartig die Loge. Eine junge Frau im dunklen Kostüm kam ihr draußen entgegen.

»Geht es Ihnen nicht gut? Sie sind so blass. Kann ich helfen?«

»Toilette«, war das Einzige, was Ella hervorwürgen konnte.

»Gleich da drüben um die Ecke.«

Die Frau wies in die besagte Richtung und wartete, bis Ella hinter der Tür verschwunden war.

***

Es wurde schlimmer mit ihm. Monika saß auf der Gartenbank unter dem Sonnenschirm, in den Händen einen Becher Kaffee. Hubert lag auf den Knien und zupfte Grashalme aus dem Schotter, der den Weg zwischen den üppigen Lavendelreihen bedeckte. Monika liebte Lavendel, deswegen waren sie früher so oft in die Provence gereist. Wegen der Lavendelfelder und der Sonne und der guten Küche. Aber das war vorbei. So wie eigentlich alles, was Freude machte, für sie beide vorbei war. Nur dass sie selbst besser mit dem Status quo zurechtkam als er.

Nun ja, viel besser wohl auch nicht, aber immerhin hatte sie das Denken nicht aufgegeben. Natürlich war Hubert einige Jahre älter als sie, aber das war in ihrer Ehe nie ein Thema gewesen. Und nun wurde es zu einem, denn Hubert wurde zunehmend vergesslich. Ohne Frage hatte der Schock etwas damit zu tun, er hatte sich davon nicht erholt, wie sollte er auch. Sie selbst befand sich in einer Art Schwebezustand, der sich nach der Verzweiflung eingestellt hatte. Eine Dumpfheit, die den Schmerz betäubte. Sie funktionierte immer noch, bewältigte das, was der Alltag erforderte, wenn auch oft widerwillig, aber doch routiniert. Nur das Lachen war ihr abhandengekommen. Auch das ein Grund, warum sie ihren Beruf als Köchin aufgegeben hatte. Mit dem Appetit hatte sie auch die Lust am Kochen verloren, und eine Lähmung hatte sie erfasst, die nur noch Platz und Kraft ließ für die Trauer und die Angst in ihrem Herzen. Mittlerweile arbeitete sie wieder, hin und wieder, wenn im Restaurant Not am Mann war. Sagte man das eigentlich noch heutzutage? Not am Mann? Oder hieß es Not am Menschen oder Not an der Frau, je nachdem? Monika seufzte. Wenn das nur alle Probleme wären, die sie hatte.

Hubert stand mühsam auf, schob mit dem Fuß das Styroporkissen einen halben Meter weiter und ließ sich wieder auf die Knie nieder. Monika fragte sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte, es war doch eigentlich vollkommen gleichgültig, dass Gras auf dem Schotterweg wuchs oder Wildkräuter die Rosen überwucherten. Der Zustand des Gartens sollte ruhig den in ihrem Innern widerspiegeln. Aber Hubert entfernte akribisch jedes Gewächs, das er nicht selbst gepflanzt hatte, jeden Grashalm, jeden Löwenzahn und vor allem den Giersch, dem er mit Verve zu Leibe ging. Wenn schon in seinem Leben keine Ordnung herrschte, dann wenigstens in seinem Garten. Das war wohl seine Art, mit dem Schmerz umzugehen. Wenigstens war er beschäftigt, obwohl er sich besser wieder seinem Buchprojekt widmen sollte, das er vor fünf Jahren begonnen hatte und seit dem Schock nicht mehr weiterverfolgte. Dabei kam er wenigstens auf andere Gedanken. Gartenarbeit ließ zu viel Raum zum Grübeln.

Wenn sie doch nur endlich abschließen könnten. Abschied nehmen könnten von Verena. Immer noch hatte Monika Alpträume, durchlebte wieder und wieder den Tag, an dem Verena verschwunden war, überlegte, ob und wie sie die Katastrophe hätte verhindern können. Verena hatte Musik gehört, oben in ihrem Zimmer, zu laut, wie immer. Monika hatte noch an ihre Zimmertür geklopft und sie aufgefordert, die Musik leiser zu stellen. »Jaja!«, hatte sie zurückgerufen, ohne die Tür zu öffnen, aber die Musik keinen Deut leiser gestellt. Monika hatte resigniert. Verena war fast sechzehn und ließ sich ungern Vorschriften machen, glaubte, die Welt besser zu kennen als ihre Großmutter.

Sie war dann mit diesem Alex auf seinem Motorrad abgefahren. Bekleidet mit Shorts, rotem Top und schwarzer Lederjacke, die dunklen Haare offen, die Augen großzügig mit Kajal geschminkt. Hubert hatte den Kopf geschüttelt, noch versucht, sie umzustimmen, sie würde sich die Nieren verkühlen, aber sie hatte nur gelacht, den Helm aufgesetzt, und beide waren losgebraust. Das war das Letzte, was sie von ihr gesehen hatten.

Von diesem Tag an war sie verschwunden und blieb es bis heute. Nicht nur die Polizei hatte Alex mehrmals befragt, auch Hubert hatte sich an seine Fersen geheftet, wollte nicht glauben, was er sagte, dass Verena von der Grillparty bei Freunden einfach verschwunden war. Niemand wusste, wohin. Hubert hatte keine Ruhe gegeben, Alex verfolgt und beschimpft, bis zu der einstweiligen Verfügung, die ihm sein Stalking, wie die Richterin es nannte, untersagte. Laut Vernehmungsprotokoll hatte Alex mit Verenas Verschwinden nichts zu tun. Es gab genügend Zeugen, die bestätigten, dass er zusammen mit Verena gekommen war und den ganzen Abend, bis ihr Verschwinden aufgefallen war, mit Freunden Tischfußball in der Garage gespielt hatte. Er hatte sich sogar ein bisschen schuldig gefühlt, weil er sich nicht um seine Freundin gekümmert hatte, aber sie hatte mit ihren Freundinnen rumgehangen, und außerdem war er ja wohl nicht ihr Aufpasser. Und dann war sie plötzlich weg. Bis zum Ende der Party, gegen Mitternacht, war es keinem aufgefallen.

Anfangs hatten sie gehofft, sie würde wiederauftauchen. Die Polizei hatte sie beruhigt und war zunächst überzeugt, dass Verena einfach abgehauen war. Das war ja in dem Alter nicht ungewöhnlich. Ob ihnen vor ihrem Verschwinden irgendeine Veränderung an ihr aufgefallen sei, ob sie vielleicht einen anderen Freund erwähnte hatte, außer Alex, ob sie Drogen genommen hätte. Monika und Hubert hatten alles verneint, natürlich, und zweifelnde Blicke der Beamten geerntet, die sagten: Jaja, das sagen alle Eltern, aber die wissen erfahrungsgemäß wenig über ihre pubertierenden Kinder. Und Großeltern erst recht nicht.

Die Polizei hatte versucht, ihr Handy zu orten, aber es war ausgeschaltet, was darauf schließen ließ, dass sie wohl nicht gefunden werden wollte, hatte der Kommissar gesagt. Auf Monikas Einwand, dass sie vielleicht nicht gefunden werden sollte, hatte er nur mit den Schultern gezuckt. Sie hatten ein Bewegungsprofil erstellt, das nichts hergab, ihr Zimmer durchsucht und ihren Computer mitgenommen. Ergebnisse: keine. Sie hatten mit Spürhunden und Helikoptern die Gegend abgesucht, ebenso die Gewässer, alle Nachbarn, Freunde und Bekannten befragt und in den Krankenhäusern, sogar im Ausland, nachgeforscht. Sie blieb verschwunden.

Wenn Monika an die ersten Wochen danach zurückdachte, begann ihr Herz wild zu pochen. Deshalb versagte sie sich das mittlerweile. Lange hatten sie die Hoffnung nicht aufgegeben. Daran geglaubt, dass vielleicht irgendein Irrtum vorlag, sie irgendwas übersehen hatten. Aber was sollte das sein? Sie klammerten sich einfach daran, dass es irgendwie wieder gut werden würde. Sie hofften einfach, dass sie noch lebte, und versuchten, nicht darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen sie leben mochte, wenn sie nicht freiwillig fortblieb.

Und dann kam die Sorge um ihre Tochter dazu. Verenas Mutter. Sie war selbst erst siebzehn gewesen, als Verena zur Welt kam. Monika und Hubert hatten sich ihrer angenommen und das kleine Mädchen aufgezogen. Anne hatte ihr Studium beenden können und danach eine Stelle als Sonderpädagogin in Hannover angenommen. Anfangs hatte sie ihre Tochter bei ihren Großeltern in Celle oft besucht, aber mit den Jahren hatten sich die beiden entfremdet, und Anne war immer seltener aufgetaucht.

Verena hatte bei den Großeltern ihr Zuhause gefunden, und allen schien dieses Arrangement zu nutzen. Und dann war Ben aufgetaucht, Anne hatte sich rettungslos verliebt, und die beiden hatten geheiratet. Verenas Vater war schon lange vor Verenas Geburt beruflich ins Ausland gegangen. Er wusste nichts von seiner Tochter, und nach dem Willen der Großeltern sollte das auch so bleiben.

Ben war kein einfacher Schwiegersohn. Monika hatte ihn von Anfang an nicht gemocht, Hubert genauso wenig. Aber seinen Schwiegersohn musste man nicht mögen, man musste ihn nur akzeptieren, und Anne schien glücklich mit ihm. Allerdings kühlte ihr Verhältnis zu Verena durch diese Ehe vollends ab. Ben wollte von einem Stiefkind nichts wissen, und Anne fügte sich. Für Monika und Hubert war wenigstens das ein Vorteil dieser Beziehung.

Monika goss den Rest ihres Kaffees in die Hortensien, stand auf und ging zu Hubert.

»Komm, es ist spät, es wird kühl, und du kriegst wieder Probleme mit deiner Prostata.«

Hubert hielt mit seiner Arbeit inne und blickte seine Frau feindselig an. »Ich mag es nicht, wenn du so mit mir redest, ich bin kein Invalide.«

Bist du doch, dachte Monika, auch wenn du’s nicht wahrhaben willst.

»Nein, natürlich nicht«, sagte sie laut. »Also ich gehe jetzt rein und decke den Tisch.«

Du kannst ja noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag weiter auf den Knien rumrutschen und sinnlose Arbeiten verrichten, fügte sie im Stillen hinzu und wandte sich ab.

Wenn er wenigstens nicht so starrköpfig wäre, dachte sie, aber das gehörte wohl zu einer beginnenden Demenz dazu. Es fing früh an, mit seiner Verwirrtheit. Er war noch keine siebzig. Auch das eine Folge ihrer Tragödie. Ein Jahr nach Verenas Verschwinden hatte Hubert einen Schlaganfall erlitten und war seitdem oft unsicher und verwirrt. Glücklicherweise hatte seine Mobilität kaum Schaden davongetragen, aber Monika fragte sich manchmal, ob das nicht besser gewesen wäre. Womit ließ sich leichter leben, mit einem körperlich oder einem mental eingeschränkten Menschen? Wahrscheinlich war beides eine Herausforderung.

Monika warf einen letzten Blick auf ihren Mann, der unverdrossen und ärgerlich weiterrupfte. Vielleicht sollte ich ihn daran hindern, meine Verbenen zu massakrieren, überlegte sie, aber im Grunde waren die Verbenen auch total egal.

ZWEI

Charlotte Wiegand, Erste Hauptkommissarin der Kripo Hannover, schlug übel gelaunt die Tür ihres Golfs zu und betrat das alte Fachwerkhaus durch eine marode Haustür. Die bräuchte es eigentlich gar nicht, dachte sie. So morsch und verlottert, wie sie aussieht, reicht ein beherzter Tritt, und sie fällt aus den Angeln.

»Hängt sowieso total schief«, murmelte sie vor sich hin und versuchte, die Tür wieder ins Schloss zu drücken, was einige Zeit in Anspruch nahm. Dann tastete sie sich den dunklen Flur entlang und stieß mit dem Knie an die alte Kommode, die ihrer Meinung nach auf den Müll gehörte. Fluchend humpelte sie weiter, nahm den Weg durch die Küche, Richtung Garten, wo sie erfahrungsgemäß ihren Lebensgefährten antreffen würde.

Zugegeben, der Garten war ein echtes Paradies, hinter einem Wall aus Lavendel und Rosenbüschen erhob sich ein Wald aus Rhododendren und Hortensien. Die Rhododendren blühten jetzt Ende Mai noch üppig in Weiß und Purpur, und dazwischen funkelten rote Mohnblüten. Bei sonnigem Wetter war der Garten eine Wellness-Oase, vorausgesetzt, man nahm es mit der Pflege nicht so genau, die dann in Arbeit ausartete. Und genau das schien Rüdiger Bergheim für sich entdeckt zu haben: Gartenarbeit gepaart mit Renovierung und Instandsetzung eines baufälligen alten Fachwerkhauses.

»Rüdiger!« Charlotte beschirmte mit der Hand die Augen und blinzelte gegen die Sonne.

»Ja?« Rhododendronzweige wurden beiseitegeschoben, und ein blonder Schopf lugte hervor.

»Meine Güte, du hast es vergessen.«

»Was? Nein, hab ich nicht.«

»Hast du doch, ich sehe doch, wie angestrengt du darüber nachdenkst, was du nicht vergessen hast. Ich kenne den Blick.«

»Stimmt nicht, wir wollten essen gehen«, kam es triumphierend zurück.

»Pah, geraten.«

»Stimmt aber, oder?« Bergheim stieg über die Lavendelbüsche, ging zu Charlotte und küsste sie.

»Ich habe heute angefangen, die Wand zwischen Küche und Wohnzimmer einzureißen. Der Raum wird richtig groß.«

»Oh Mann, keine Baupläne jetzt, bitte«, Charlotte verdrehte die Augen.

Rüdiger nervte sie seit Wochen mit seinem Umbauprojekt. Ein verstorbener Onkel, der bedauerlicherweise keine eigene Familie gehabt hatte, hatte ihm sein altes Haus in Amelinghausen in der Südheide, nicht weit von Lüneburg, vererbt. Für Charlotte war es eher eine Ruine, aber Rüdiger war dermaßen hingerissen von dem alten Fachwerkgemäuer, dass er sich ein Sabbatical genommen hatte, um sein Erbstück wieder instand zu setzen.

Charlotte und ihr Team in der Polizeidirektion Hannover waren von dieser Idee nicht begeistert, aber Bergheim ließ sich nicht umstimmen. Seit drei Monaten pendelte er jetzt zwischen Hannover und Amelinghausen. Mittlerweile war das Haus zumindest insoweit bewohnbar, als es über einen Stromanschluss, über fließendes Warm- und Kaltwasser und eine – wenn auch momentan noch etwas unzuverlässige – Heizung verfügte. Aber die Heizung war jetzt im Frühling Gott sei Dank kein Problem. Mittlerweile hatte sich Bergheim in seinem Heim eingerichtet, was hieß: Er schlief auf einer Gartenliege, kochte auf einem Campingkocher beziehungsweise erhitzte Konserven auf einem Campingkocher und nannte einen funktionierenden, gut gefüllten Kühlschrank sein Eigen.

»Okay, keine Baupläne, was hältst du von Pizza? Ich hab Bier und Grauburgunder im Kühlschrank. Kannst auch einen Merlot haben, eine Flasche steht in der Rumpelkammer.«

»Dann lieber Grauburgunder aus dem Kühlschrank«, murmelte Charlotte und kramte ihr Handy hervor. »Ich bestelle, du deckst den Tisch.«

»Mach ich, wir können hier im Garten essen.«

Bergheim legte die Astschere beiseite und begab sich zum Gartenschuppen, um Klappstühle und einen alten Tisch zu holen.

Nach einigen Minuten kam Charlotte mit zwei Wassergläsern und der Flasche Grauburgunder in den Garten zurück. »Das ist seltsam, ich hab dir doch mal von dem Restaurantbesitzer erzählt, der seine Frau umgebracht hat.«

»Von dem du glaubst, dass er seine Frau umgebracht hat«, berichtigte Bergheim.

»Dass ich es ihm nicht beweisen kann, heißt nicht, dass er’s nicht getan hat«, blaffte Charlotte.

»Schon gut, was ist mit dem Typen?«

»Er hat hier in Amelinghausen eine Pizzeria eröffnet.«

»Ja, und?«

»Ich hab natürlich bei der Konkurrenz bestellt.«

»Natürlich.«

Charlotte öffnete die Weinflasche, füllte die beiden Gläser und nahm einen Schluck.

»Du weißt, dass das mein einziger Cold Case ist und dass ich die Akte immer in meinem Schreibtisch liegen habe.«

»Ja, weiß ich, du musst eben immer recht behalten.«

Bergheim grinste und prostete Charlotte augenzwinkernd zu. Eine Weile schwiegen beide, tranken ihren Wein und genossen die Stille, die nur vom leisen Rauschen der Lorbeerblätter und vom wütenden Gezwitscher einiger Spatzen unterbrochen wurde, die sich um das Vogelfutter zankten, das Bergheim vor dem alten Schuppen verstreut hatte.

Charlotte beobachtete versonnen eine Drossel, die ärgerlich an der Fußmatte zupfte, die vor dem Schuppen lag. Wollte wohl eine der Bastfasern zum Nestbau benutzen. Ja, rupf nur, nimm den blöden Fußabtreter auseinander, dachte Charlotte, die sich fragte, warum das verdreckte Ding, von dem man mehr Schmutz nach drinnen trug, als man draußen abtreten konnte, überhaupt da rumlag. Na, vielleicht erledigten die Drosseln und Meisen und Schwalben und sonstiges Gefieder, das den Garten bevölkerte, das Problem.

»Was ist los?«, fragte Bergheim. »Du machst ein Gesicht wie eine Katze, die vorm Mauseloch auf ihr Opfer wartet.«

»Seit wann weißt du, wie eine Katze guckt, die auf ihr Opfer wartet? Und was ist das für ein Klopfen?«

»Das war bildlich gesprochen.« Bergheim nahm einen Schluck Wein und stand auf. »Das ist mein Türklopfer. Die Pizza ist da.«

Türklopfer. Charlotte verdrehte die Augen.

»Na, mal sehen, wie lange die Tür das aushält«, murmelte sie und fragte sich im selben Moment, warum sie so schlecht gelaunt war.

»Hier, du musst was essen, du bist schlecht gelaunt.« Bergheim legte zwei Pizzakartons auf den Tisch, klappte sein Taschenmesser auf und zerteilte die Pizzas fachgerecht.

Sie aßen schweigend, und es schmeckte sogar, obwohl Charlotte kein Fan von lauwarmer Pizza war.

Sie war zwar jetzt besserer Laune, konnte aber die Verärgerung über den Fall, der nun schon fast fünfzehn Jahre zurücklag, nicht ganz abschütteln. Charlotte war damals noch Oberkommissarin gewesen, und Regina – im sechsten Monat schwanger – war Erste Hauptkommissarin gewesen.

»Du kannst nicht loslassen«, sagte Bergheim. »Das ist nicht gesund.«

»Was du nicht sagst«, erwiderte Charlotte pikiert, »du warst damals noch nicht im Team und kannst also gar nicht mitreden.«

»Ich habe die Akte gelesen, und ich muss sagen, du steigerst dich da in etwas hinein. Die Frau hat einen Einbrecher überrascht, und der hat sie mit einer Weinflasche erschlagen, die auf dem Wohnzimmertisch stand. Er hatte die Mordwaffe nicht mal mitgebracht, also lag wohl keine Tötungsabsicht vor.«

»Ja, aber wieso stand diese Flasche da überhaupt? Die Frau hatte nichts getrunken, und ihre Fingerabdrücke waren nicht auf der Flasche. Komischerweise waren überhaupt keine Fingerabdrücke drauf.« Charlotte füllte erneut die Gläser. »Findest du das nicht irritierend?«

»Nein, wahrscheinlich hat sie sie aus dem Keller geholt und mit einem Geschirrtuch abgewischt.«

»Warum sollte sie?«

»Warum nicht? Wahrscheinlich war sie staubig oder was weiß ich. Was glaubst du denn, warum die Fingerabdrücke fehlten? Dass vom Einbrecher keine drauf waren, ist ja wohl nicht ungewöhnlich. Einbrecher sind zwar oft nicht besonders helle, aber Handschuhe tragen sie mittlerweile alle. Die gucken ja Krimis.« Bergheim leerte sein Glas und musste husten.

Inzwischen war es kühl geworden, die Sonne stand schon tief und lieferte einen Sonnenuntergang, der Rosamunde Pilcher alle Ehre gemacht hätte. Die Aussicht jenseits des Gartens, den die Reste eines morschen Jägerzauns einhegten, war eindrucksvoll. Die sanften beweideten Hügel, durchsetzt mit einzelnen Holunderbüschen, hatten etwas Beruhigendes. Hinter den Weiden konnte man kleine Heidekrautfelder vor einem Birkenwald erahnen. Im August, wenn die Heide blühte, bot dieser Anblick für Landschaftsmaler ein wunderbares Motiv.

»Was glaubst du denn, warum keine Fingerabdrücke auf der Flasche waren? Und wieso glaubst du überhaupt, dass das wichtig ist?« Bergheim räusperte sich, während Charlotte ihn vorwurfsvoll ansah.

»Ich glaube, dass diese ganze Einbrechergeschichte ein totaler Fake war. Ich glaube, der Ehemann hat das genau geplant. Er hat einen Tag ausgesucht, an dem das Restaurant geschlossen war, und hat sich in Bremen auf diesem Lehrgang ein bombensicheres Alibi verschafft. Aber ich bin mir sicher, er hat den Killer beauftragt und die Mordwaffe, in diesem Fall die Flasche, auf den Tisch gestellt und damit gleich mitgeliefert. Immerhin hat er das Restaurant seiner Frau geerbt. Vorher war er nur bei ihr angestellt, und er hat sich ziemlich was eingebildet auf seine Kochkünste, musste sich aber von seiner Frau rumkommandieren lassen. So hat das die Kellnerin ausgedrückt, die er eingestellt hatte, und ich wette, die beiden hatten was miteinander.«

»Du bist ja heute die reinste Menschenfreundin.« Bergheim stand auf. »Es macht doch keinen Sinn, über Schnee von gestern nachzugrübeln. Es gibt ein hilfreiches Wort für Menschen, die zum Grübeln neigen. Loslassen. Das hilft.«

»Seit wann betätigst du dich als Psychotherapeut?«

»Schon seit grauer Vorzeit, ich bin Kriminaler, weißt du?«

»Ja, mach dich nur lustig. Aber gut für dich, wenn du solche Sachen so abschütteln kannst. Oder loslassen, wie du es nennst. Alles nicht so einfach.«

»Wer hat gesagt, dass es einfach ist? Aber es ist der Weg. Kannst dich natürlich auch noch ’ne Weile quälen.«

Charlotte schwieg. Rüdiger hatte sich verändert. Als er vor ein paar Jahren in ihrem Team anfing, war er das Sensibelchen gewesen, der Grübler und Haderer, der mit der Schlechtigkeit der Welt nicht zurande kam. Jetzt erschien er irgendwie geläutert, gelassen. Wie hatte er das gemacht?

Bergheim stand immer noch da und blickte sie prüfend an. »Willst du mir nicht helfen, die Jasminbüsche zu beschneiden, statt über versäumte oder nicht versäumte Gelegenheiten nachzugrübeln? Das entspannt irgendwie.«

Aha, das war also der Grund für die Läuterung: Gartenarbeit.

»Darfst du das überhaupt? Büsche beschneiden, jetzt im Mai? Ich denke, das darf man nur im Winter.«

»Pff, sieht mich doch keiner, und wenn doch, kann er mich ja verklagen.« Er schulterte seine Astschere und wartete.

»Ich wollte gleich zurück nach Hannover, muss mich um Mutter kümmern.«

Charlottes Mutter war vor einem Jahr Witwe geworden. Sein schwaches Herz hatte ihren Vater das Leben gekostet. Ihre Mutter hatte ihn leblos auf dem Küchenfußboden gefunden. Der Notarzt konnte ihm nicht mehr helfen. Charlotte hatte den Eindruck, dass ihre Mutter darunter am meisten gelitten hatte, dass sie sich nicht hatte verabschieden können. Mehr noch als unter dem Alleinsein, das seinem Tod folgte.

Zwei Monate danach hatte sie Bielefeld verlassen und sich in Hannover eine Wohnung gesucht, weil sie es in ihrem Haus, das sie so viele Jahre mit ihrem Mann bewohnt hatte, nicht mehr aushielt, wie sie sagte, und eine neue Umgebung brauchte. Mittlerweile hatte sie sich in Hannover sehr gut eingelebt, besuchte regelmäßig ihren Yogakurs und den »Witwenclub«, wie sie ihren Kreis verwaister Ehepartner nannte.

Ihre Mutter hatte sich wieder gefangen und war in diesem Frühjahr zum ersten Mal allein verreist. Nach Fuerteventura. Es hatte ihr so gut gefallen, dass sie im Herbst wieder hinwollte. Charlotte hatte den Verdacht, dass die Wärme dort nicht der einzige Grund für ihre plötzliche Vorliebe für die Insel war. Wie auch immer, man würde sehen.

»Wie, du willst zurück nach Hannover? Ich dachte, wir verbringen hier das Wochenende, hab extra ein großes Luftbett gekauft«, murrte Bergheim.

»Vielleicht nächstes Mal.« Charlotte stand auf, nahm sein Gesicht in beide Hände und gab ihm einen Kuss auf den Mund. »Du hast hier so viel zu tun, da störe ich nur.«

»Wie du meinst.«

»Jetzt sei nicht beleidigt, ich bin auch nicht beleidigt, obwohl du dich in letzter Zeit verdächtig oft in dein Waldhaus verziehst.«

Bergheim riss die Augen auf. »Was meinst du mit ›verdächtig‹?« Dann grinste er. »Bist du etwa eifersüchtig?«

»Quatsch.« Charlotte kramte nach ihrem Autoschlüssel.

»Schade.«

Es war kurz vor Mitternacht, als sie ihre Wohnung in der Gretchenstraße in Hannovers Oststadt betrat. Müde warf sie ihre Schlüssel auf die Kommode in der Diele und hängte ihre Lederjacke an die Garderobe. Auf dem Weg zum Bad fing sie an, sich zu entkleiden, und stellte sich unter die Dusche. Herrlich, wenn alles nach Wunsch funktionierte, das Licht anging, wenn man es anknipste, und warmes Wasser aus der Leitung kam, wenn man warmes Wasser erwartete. Nicht wie in den ersten Wochen in Rüdigers Waldhaus, wo sie anfangs Mineralwasser zum Waschen benutzten und abends bei Kerzenlicht auf zwei Gartenliegen zusammensaßen.

Na ja, hatte durchaus etwas Romantisches, aber Charlotte war dem Alter entwachsen, wo man Campingurlaube für das höchste der Gefühle hielt. Sie zog ein komfortables Badezimmer, eine eigene Toilette und vor allem ein bequemes Bett öffentlichen Sanitäranlagen und einer Luftmatratze in einem engen Zelt vor. Rüdiger war immer noch ein großer Junge, dachte sie, kaufte ein Luftbett. Charlotte lächelte in sich hinein, während sie sich trocken rubbelte.

Sie zog ihren Pyjama an, warf sich aufs Sofa und zappte eine Weile durch die Programme. Eigentlich sollte sie schlafen gehen, aber sie zögerte den Moment hinaus, weil am nächsten Tag eine unangenehme Aufgabe auf sie wartete. Ihre Mutter hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihr kleines Apartment in der Hildesheimer Straße aufzugeben und eine Wohnung in der Nähe ihrer Tochter zu kaufen. In der Nähe hieß, auf der gegenüberliegenden Seite von Charlottes Zuhause, das sie zusammen mit Bergheim bewohnte.

Morgen war die Besichtigung. Zwar hatte Charlotte zaghaft versucht, ihre Mutter davon zu überzeugen, doch zurück nach Bielefeld und dort zu Charlottes Schwester Andrea zu ziehen, aber sie wollte auf keinen Fall weg aus Hannover.

»Es ist doch so schön hier. Und jetzt kann man auch wieder in die Oper, ins Theater, und was soll ich ohne den Maschsee machen?«

Okay, den Maschsee gab es in Bielefeld nicht, aber doch bestimmt etwas Ähnliches, das ihre Mutter für ihre sportliche Ertüchtigung nutzen konnte.

»Das ist die perfekte Route«, war die Meinung ihrer Mutter, »sechs Kilometer, in etwa, überall Grün und Wasser, Segelboote, Ruderer. Man hat immer was zu gucken. Und in regelmäßigen Abständen Restaurants, wo man was trinken kann, und man ist nie allein.«

Genau, dachte Charlotte, die diesen Punkt eher auf der Minusseite verbuchen würde. Denn offensichtlich teilten neunzig Prozent der Hannoveraner die Meinung ihrer Mutter. Deswegen war der Weg um den See auch ständig bevölkert mit allem, was Beine und Räder hatte.

Sie zog die Eilenriede, den Stadtwald mitten in der City, vor. Der war so groß, dass einem nicht andauernd jemand auf die Füße trat. Na gut, Hunde und Radfahrer gab’s da auch, und nicht wenige. Aber dafür lebte man nun mal in einer Landeshauptstadt. Wem das zu viel wurde, der konnte ja gleich aufs Land ziehen. Oder in die Heide. Zu Rüdiger.

Charlotte verzog den Mund, machte den Fernseher aus und ging schlafen.

Am Samstagmorgen um kurz nach sieben Uhr meldete sich ihr Handy. Schlaftrunken nahm sie das Gespräch an. Es war der Kriminaldauerdienst. Im Theater am Aegi war die Leiche einer Frau gefunden worden. Charlotte meinte zunächst, sich verhört zu haben.

»Wie, im Theater?« Auf der Bühne? Im Zuschauerraum zwischen den Stuhlreihen? Eine bizarre Vorstellung.

»Auf der Damentoilette«, kam eine etwas genervte Antwort von der diensthabenden Beamtin.

»Okay, ich bin in einer halben Stunde da. Benachrichtigen Sie Oberkommissar Bremer.«

»Schon passiert.«

Von ihrer Wohnung in der Gretchenstraße zum Aegidientorplatz brauchte sie um diese Zeit am Samstagmorgen keine zehn Minuten. Sie fuhr über die Bödekerstraße mit ihren schmucken Jugendstilhäusern, über die Hohenzollernstraße, vorbei am Platz Neues Haus zum Schiffgraben Richtung Aegidientorplatz, oder schlicht zum Aegi, wie die Hannoveraner ihn nannten. Das Theater am Aegi war ein großes Veranstaltungsgebäude mit Platz für über tausend Zuschauer.

Charlotte parkte ihren Golf an der Hildesheimer Straße und betrat das Theater, dessen gläserne Front mit Werbeplakaten von verschiedenen Veranstaltungen bestückt war. An diesem Wochenende gab ein bekannter Komiker zwei Vorstellungen. Wahrscheinlich waren beide ausverkauft, dachte Charlotte. Nach den Pandemiejahren hungerten die Menschen nach Unterhaltung, und die Künstler hatten endlich wieder die Möglichkeit, ihrem Beruf, der Bühnenkunst, nachzugehen und ihre lädierten Finanzen zu sanieren.

Der Uniformierte, der den Eingang bewachte, wies ihr den Weg zu den Toiletten, wo die Frau offensichtlich am Abend zuvor, während der Vorstellung, zusammengebrochen war. Vor den Toiletten standen zwei Frauen, eine ältere hatte den Arm mütterlich um eine junge, in Tränen aufgelöste Frau gelegt und sprach beruhigend auf sie ein. Die Spurensicherung war bereits vor Ort, ebenso natürlich Frau Dr. Schneider, die Rechtsmedizinerin, eine ebenso dürre wie mürrische Frau in den Fünfzigern, die Charlotte mit einem stummen Nicken begrüßte. Charlotte grüßte ebenso stumm zurück. Bei Rüdiger wäre die Begrüßung anders ausgefallen, dachte Charlotte, freundlich, sogar liebenswürdig. Frau Dr. Schneider hatte eine Schwäche für Rüdiger Bergheim, nicht aber für seine Lebensgefährtin. In der Kriminalfachinspektion eins, oder kurz KFI 1, kursierten darüber die wildesten Gerüchte. Die Kollegen amüsierten sich köstlich über das ungleiche Paar, das natürlich nur in ihrer Phantasie existierte. Charlotte ignorierte die Schenkelklopfer im Büro weitgehend.

Bergheim nutzte den »guten Draht«, wie er es nannte, zur Rechtsmedizinerin und wusste Einzelheiten über Obduktionen meist lange, bevor ein Bericht in der KFI 1 vorlag. Leider mussten Charlotte und ihre Kollegen bis auf Weiteres auf diesen Extraservice verzichten.

»Was haben wir hier?«, fragte Charlotte und räusperte sich. Sie ärgerte sich über ihre Nervosität. Wieso sollte sie nervös sein? Weil sie eine pampige Antwort erwartete, gab sie sich selbst die Antwort, wäre schließlich nicht das erste Mal. Aber Frau Dr. Schneider gab sich gnädig, wahrscheinlich wusste sie, dass sie für längere Zeit mit Charlotte oder einem ihrer Kollegen vorliebnehmen musste.

»Das kann ich noch nicht genau sagen.« Frau Dr. Schneider zog sich die Handschuhe aus und griff nach ihrem Koffer. »Der Tod ist gestern Abend eingetreten, wahrscheinlich zwischen zehn Uhr und Mitternacht.«

»Heißt das, sie hat seit gestern Abend die ganze Nacht hier gelegen, und niemand hat was bemerkt?«, fragte Charlotte ungläubig.

»Offensichtlich.«

Charlotte ging in die Knie, um sich die Tote genauer anzusehen. Sie war um die dreißig, hatte kurze, mittelblonde Haare und trug auffällige Goldcreolen. Charlotte schätzte den Durchmesser auf etwa sieben Zentimeter. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Toilettenbecken, hatte sich auf ihre schwarze Jeans übergeben und hielt ihren Leib umfangen. Offensichtlich war sie keinen leichten Tod gestorben.

»Und was heißt, das können Sie nicht sagen? Es könnte also auch ein natürlicher Tod gewesen sein?

»Schon möglich.«

Charlotte schnappte nach Luft. »Warum bin ich denn hier? Wenn sie womöglich einen Herzinfarkt oder sonst was hatte.«

»Deswegen.« Frau Dr. Schneider wies auf die deutlichen Fesselungsspuren an den Handgelenken der Frau.

»Okay.«

»Die Spuren sind zwar schon einige Tage alt, aber es ist gut möglich, dass die Frau vor einiger Zeit irgendwo festgehalten wurde.«

Charlotte betrachtete die roten, schmalen Striemen, die wahrscheinlich von Plastikschnüren verursacht worden waren.

»Sieht aus, als hätte sie versucht, daran zu zerren«, sagte Charlotte.

»Das ganz bestimmt.« Dr. Schneider gähnte und wandte sich zum Gehen.

»Wann kann ich mit dem Bericht rechnen?«

»So bald wie möglich.«

»Na, dann hoffen wir mal das Beste«, murmelte Charlotte vor sich hin und fragte sich, wo eigentlich Oberkommissar Bremer blieb. Sie verließ die Toilette und ging zu den beiden Frauen, die auf dem Gang warteten.

»Hauptkommissarin Wiegand, Kripo Hannover«, sagte sie und wies sich aus. »Können Sie mir kurz schildern, wie Sie die Tote gefunden haben?«

Die junge Frau schniefte. »Ich versteh das alles nicht, wieso denn dieser ganze Aufmarsch hier? Und Kripo und alles. Die Frau ist doch einfach gestorben. Herzinfarkt. Kommt doch vor so was. Oder nicht?«

»Das ist alles Routine«, versuchte Charlotte die Frau zu beruhigen. Auf Charlotte wirkte sie eher wie ein junges Mädchen.

»Wie heißen Sie?«

»Mona, Mona Vogedes.«

»Sie arbeiten hier als Reinigungskraft?«

»Ja, aber nur am Wochenende. Eigentlich bin ich Studentin.«

»Wann beginnt Ihr Dienst?«

»Um sechs Uhr. Ich fange immer mit den Toiletten an. Das ist am unangenehmsten, und dann hab ich die weg.« Sie warf der älteren Frau, die immer noch ihren Arm um sie gelegt hatte, einen kurzen Blick zu. »Und dann hab ich alle Türen aufgemacht, aber die eine war verschlossen … Ich hab dann unter der Tür durchgelinst und hab die Füße gesehen … und … wir haben dann den Hausmeister gerufen, der hat die Tür aufgemacht …« Mona Vogedes schluckte. »Und da lag sie da, halb auf dem Toilettenbecken …«

Sie fing an zu zittern. Charlotte wandte sich der älteren Frau zu, die der jüngeren beruhigend auf die Schulter klopfte.

»Wo waren Sie zu dem Zeitpunkt?«

»Unten, wollte mir gerade Kittel überziehen«, sagte die Frau mit osteuropäischem Akzent, »als Mona fing an zu schreien. Da, ich bin sofort hochgelaufen.«

»Sind Sie beide allein?«

»Nein, Kollegen warten unten.«

»Wo ist der Hausmeister?«

Die beiden Frauen sahen sich um. »Weiß nicht«, sagte die ältere. »War eben noch hier.«

In diesem Moment betrat Oberkommissar Thorsten Bremer den Schauplatz.

»Hallo, tut mir leid, ich konnte meine Autoschlüssel nicht finden«, entschuldigte er seine Verspätung.

Charlotte glaubte ihm kein Wort, ließ es aber durchgehen.

»Nimm bitte die Personalien auf und finde raus, welches Personal hier gestern Abend zuständig war und wo der Hausmeister sich rumtreibt. Und dann ruf Maren und Pablo an. Treffen in einer Stunde in der KFI 1. Wir müssen ein paar Leute befragen.«

Eine halbe Stunde später, Charlotte hatte sich unterwegs ein Croissant besorgt, betrat sie die KFI 1 in der Polizeidirektion Hannover, holte sich an der direktionseigenen Kaffeemaschine einen Latte macchiato und setzte sich an ihren Schreibtisch, der für Charlottes Verhältnisse ziemlich aufgeräumt war. Das lag nicht etwa daran, dass sie in einem Anfall von Ordnungsliebe ihre liegen gebliebene Arbeit erledigt hatte, sondern dass im Moment schlicht nicht viel zu tun war. Offensichtlich waren die Hannoveraner zahm geworden und begingen weniger schwere Straftaten wie Mord und Entführung, die in Charlottes Zuständigkeitsbereich fielen. Na ja, dachte sie und biss in ihr Croissant, konnte ihr nur recht sein.

Zwei Minuten später klopfte es, und Kommissarin Maren Vogt betrat, ohne ein »Herein« abzuwarten, Charlottes Büro. »Moin. Stimmt das? Thorsten meinte, im Theater am Aegi lag eine Tote auf der Toilette.«

»Allerdings«, antwortete Charlotte kauend und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee.

»Na, wie geht ’n so was? Da war doch gestern Vorstellung. Haben sie die vergessen, oder was?«

»Sieht so aus. Geh schon mal vor, in den Besprechungsraum, die anderen müssten auch gleich aufkreuzen.«

»Eigentlich hatte ich heute frei. Laura und ich wollten zum Steinhuder Meer. Kann ich ja jetzt wohl wieder vergessen.« Maren schloss murrend die Tür.

Charlotte stopfte sich den Rest ihres Croissants in den Mund, wischte mit dem Unterarm die Krümel von ihrer Arbeitsplatte, schnappte sich ihren Kaffeebecher und folgte Maren zum Besprechungsraum. Sie hatten kaum Platz genommen, als die Tür aufgerissen wurde und Pablo mit seiner obligatorisch guten Laune hereinplatzte.

»Moin, Mädels, Mensch, so geiles Wetter heute, da macht das Leben so richtig Spaß, was?«

Er setzte sich grinsend neben Maren und knuffte sie in die Seite. Die verdrehte die Augen.

»Lass mich bloß in Ruhe«, murrte sie.

»Auch gut«, sagte Pablo und wandte sich an Charlotte, »was sagst du dazu, Boss?«

»Na, was wohl«, Charlotte leerte ihren Kaffeebecher, »wir sitzen hier, und es gibt Arbeit. Und sag nicht immer Boss zu mir, wir sind nicht in Amerika.«

»Oha, schlechte Laune, Thorsten hat mich schon gewarnt.«

»Ja, wo bleibt der überhaupt?«

Charlotte konsultierte ihr Handy. Fast halb zehn. Ihre Mutter hatte zwei Mal angerufen. Klar, Charlotte hatte den Besichtigungstermin vergessen, aber sie hatte ja eine gute Entschuldigung. Sie schrieb ihrer Mutter eine kurze Nachricht, dass es ihr leidtue, was allerdings gelogen war.

»Also gut, wir fangen an.« Sie legte ihr Handy weg und gab den beiden Kollegen einen Überblick über die Fakten. »Wir haben eine Tote im Theater am Aegi. Eine der Reinigungskräfte hat sie heute Morgen auf der Toilette gefunden und den Notarzt gerufen, der aber nur den Tod feststellen konnte. Todesursache: unbekannt. Identität der Toten: unbekannt. Todeszeitpunkt: gestern Abend zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht.«

»Dann muss sie ja während oder nach der Vorstellung gestern Abend gestorben sein. Heißt das, sie hat die ganze Nacht da auf der Toilette gelegen?«, fragte Pablo ungläubig.

»Sieht ganz so aus. Es sei denn, sie ist woanders gestorben, und jemand hat sie nach der Vorstellung, als das Haus leer war, dort hingeschleppt. Das ist aber unwahrscheinlich, sie hatte sich auf ihre Hose erbrochen, und das wird sie ja wohl im lebenden Zustand gemacht haben.«

»Und sie hatte keine Handtasche, keine Geldbörse und kein Handy dabei?«, fragte Maren.

»Nein. Nur ein Schlüsselbund in ihrer Jackentasche, leider hat sie vergessen, einen Zettel mit ihrer Adresse dranzuhängen.«

»Sehr witzig«, murmelte Maren.

»Das ist merkwürdig, Frauen nehmen doch immer ihre Handtaschen mit aufs Klo, um sich ›die Nase zu pudern‹.« Pablo malte Anführungszeichen in die Luft.

»In welcher Zeit lebst du denn?«, fragte Maren leicht schockiert.

Pablo ignorierte ihren Einwand. »Vielleicht ein Raubmord?« Er schien zu frohlocken. Wenn schon ermitteln, dann doch bitte ein Kapitalverbrechen.

Maren seufzte.

Charlotte stützte ihr Kinn auf die gefalteten Hände und musterte Pablo interessiert. »Das ist morbide, deine Lust an menschlichen Abgründen.«

»Reine Neugierde. Das hat nichts mit Lust zu tun.« Er grinste Charlotte vielsagend an.

Pablo gehörte seit knapp drei Monaten zu Charlottes Team. Er war, wie sein Name vermuten ließ, gebürtiger Spanier, aber in Deutschland aufgewachsen. Als zweijähriger Knabe war er mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen. Sein Vater war Professor für Romanische Sprachen an der Uni Hannover, seine Mutter Zahnärztin. Pablo entsprach in allen Punkten dem Klischee des Südeuropäers: dunkles, volles Haar, ebenso dunkle Augen, ein feuriges Temperament. Ein erfrischender Kontrast zu den eher blassen, bedächtigen deutschen Kollegen. Er war eine Augenweide. Das hatte schon mehrfach zu Missstimmungen unter den weiblichen Mitgliedern der Polizeidirektion geführt, denn Pablo flirtete mit allen. Aber er war immerhin schlau genug, es beim Flirten zu belassen. Soweit Charlotte informiert war, war er Single, was die Sache nicht einfacher machte. Dass er sich offensichtlich nicht festlegen wollte, machte ihn geheimnisvoll und heizte den Ehrgeiz der jungen Kolleginnen an. Jede wollte ihn knacken. Maren allerdings gehörte nicht zu seinen Bewunderinnen, was bei Pablo anfangs für Verwirrung gesorgt hatte. Er war es nicht gewohnt, dass eine Frau sich nicht für ihn interessierte. Charlotte hatte sich dann erbarmt und ihm gesteckt, dass Maren seit einem Jahr mit ihrer Freundin Laura zusammenlebte. Das hatte ein Lächeln auf sein Gesicht gezaubert. Dann war ja alles klar.

Darüber hinaus war Pablo mit Leib und Seele Polizist. Er war auf dieser Welt, um das Böse zu bekämpfen. Manchmal betrieb er seine Passion, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, etwas zu eifrig, dann gewann sein Temperament die Oberhand. Charlotte erinnerte sich ungern an eine Festnahme in einem Fall von häuslicher Gewalt. Ein betrunkener Mann hatte seine Frau derart zusammengeschlagen, dass sie beinahe verblutet wäre. Als Pablo ihr zerschundenes Gesicht gesehen hatte, war er dem Kerl an die Kehle gesprungen. Charlotte konnte ihn nur bremsen, indem sie ihm einen heftigen Tritt in die Kniekehle verpasste.

Natürlich hatte er sich hinterher zerknirscht bei Charlotte entschuldigt, und sie hatte den Vorfall für sich behalten. »Das bleibt unser Geheimnis«, hatte sie gesagt. »Aber nur dieses eine Mal, damit das klar ist.«

»Ist klar, Boss.« Dabei hatte er sich eine Träne aus den Augenwinkeln gewischt und Charlottes Herz gewonnen.

Endlich betrat Thorsten Bremer den Besprechungsraum. In der Hand seinen PC. »Moin, zusammen.« Er setzte sich neben Maren und klappte seinen PC auf. »Ich habe rausgefunden, wer gestern Abend vor und während der Vorstellung dort Dienst an der Garderobe hatte und was da sonst noch so an Arbeit anfällt. Eintrittskarten kontrollieren, Plätze anweisen, in der Pause Bier und Wein ausschenken, Tische abräumen, spülen et cetera pp. Das waren insgesamt zwanzig Leute. Ich hab euch die Namen und Adressen gemailt.« Er blickte Charlotte fragend an. »Womit fangen wir an?«

»Na, das passt ja, wir sind zu viert, macht fünf für jeden. Maren, du nimmst die ersten fünf auf der Liste, Pablo die zweiten, dann Thorsten, ich nehm den Rest.«

Maren blickte ungläubig in die Runde. »Ja, Entschuldigung, hab ich da was nicht mitgekriegt? Vielleicht ist die Frau ja eines natürlichen Todes gestorben. Schlaganfall, Herzinfarkt, Aneurysma, was weiß ich.«

»Dazu wollte ich gerade kommen«, sagte Charlotte, »die Frau hatte Fesselungsspuren an den Handgelenken. Die waren zwar schon ein paar Tage alt, aber Dr. Schneider geht davon aus, dass sie irgendwo festgehalten wurde. Ganz davon abgesehen, dass die Umstände ihres Todes mehr als merkwürdig sind.«

»Genau.« Pablo, der bisher schweigend an seinem dunklen Dreitagebart gezupft hatte, trommelte jetzt energisch mit den Fingern auf den Tisch. »Die kontrollieren doch nach der Vorstellung, ob das Haus leer ist, auch die Toiletten. Wie kann das sein, dass die Frau übersehen wurde?«

»Eben«, stimmte Charlotte zu, »entweder hat jemand seinen Job nicht erledigt, oder sie wurde bewusst von einem der Diensthabenden dort liegen gelassen, was ich nicht glaube. Die Vorstellung war um dreiundzwanzig Uhr zu Ende. Es kann also sein, dass sie selbst sich dorthin zurückgezogen hat und gestorben ist, nachdem sich das Haus langsam leerte. Das werden wir herausfinden, wenn wir die Aufsicht dort befragt haben.«

»Aber wenn die Vorstellung erst um dreiundzwanzig Uhr beendet war und sie womöglich schon um zweiundzwanzig Uhr gestorben ist, wieso ist sie dann niemandem auf der Toilette aufgefallen?«, überlegte Maren. »Die Zuschauer stürmen doch nicht gleich nach der Vorstellung aus dem Gebäude. Da gehen doch viele noch mal zur Toilette, bevor sie sich auf eine womöglich längere Heimreise machen.«

»Stimmt, aber niemand kümmert sich um eine abgeschlossene Toilettentür. Ist doch das Normalste von der Welt«, sagte Bremer.

»Hast du übrigens mit dem Hausmeister gesprochen?«, fragte Charlotte.

»Nein, der war nicht aufzufinden, aber ich habe Namen und Adresse. Ist wohl nur eine Vertretung. Er heißt Dieter Rebloch, wohnt am Altenbekener Damm. Der eigentliche Hausmeister ist seit einer Woche im Krankenhaus, Schlaganfall.«

»Was ist mit dem Betreiber des Theaters? Hast du den erreicht?«

»Ja, der ist übers Wochenende bei seinen Schwiegereltern in München. Die feiern Goldene Hochzeit. War völlig geschockt von der Sache und ziemlich wütend auf den Rebloch. Aber weiterhelfen kann er uns auch nicht. Seinem Stellvertreter ging es genauso. Die Vorstellung für den Samstag ist auf jeden Fall abgesagt, am Sonntag ist keine.«

»Okay«, Charlotte schnappte sich ihren Autoschlüssel, »ich nehme mir zuerst diesen Hausmeister vor. Ist doch komisch, dass der nicht aufzufinden war. Und, Thorsten, sorg bitte dafür, dass eine Hotline eingerichtet wird. Vielleicht hat ja doch jemand am Abend was gesehen oder gehört und hat was Nützliches beizutragen.«

»Wer’s glaubt, wird selig«, brummte Thorsten Bremer. »Melden sich doch bloß wieder Wichtigtuer, und wir vergeuden wertvolle Zeit, indem wir Spuren nachgehen müssen, die uns nicht weiterbringen.«

»Vielleicht landen wir ja mal einen Treffer, ausnahmsweise«, sagte Charlotte, die schon in der Tür stand. »Sei nicht so negativ.«

***

Sie hatte schlecht geschlafen. Nicht nur, weil Ben erst weit nach Mitternacht nach Hause gekommen war und offensichtlich getrunken hatte, auch, weil Ella gestern Abend nicht mehr aufgetaucht war und auch nicht ans Handy ging. Anfangs war sie wütend gewesen. Sie hatte sich auf einen schönen Abend im Pier 51 gefreut. Es war so lange her, dass man gemeinsam am Maschsee hatte sitzen können, sich einen Aperol oder ein Glas Wein genehmigen. Und dann haute sie einfach ab, ohne was zu sagen.

Na gut, sie hatte ein bisschen krank ausgesehen, aber wenigstens hätte sie sich bei ihr abmelden können. Aber wie hätte sie das machen sollen? Schließlich war ja Vorstellung gewesen, und sie hatten beide ihre Handys ausgeschaltet. Trotzdem, irgendwann war die Vorstellung zu Ende, und sie hatte auch keine Nachricht hinterlassen.

Anne hatte ihr seither mindestens vier WhatsApp-Nachrichten geschrieben und zwei Mal angerufen. Musste sie sich Sorgen machen? Vielleicht ging es ihr ja richtig schlecht? Anne stand am Fenster ihrer Drei-Zimmer-Wohnung in Linden, die sie gemeinsam mit Ben bewohnte. Sie trank einen Schluck Kräutertee, stellte den Becher auf den Tisch und griff nach ihrem Handy. Immer noch nichts.