Maschsee-Mord - Marion Griffiths-Karger - E-Book

Maschsee-Mord E-Book

Marion Griffiths-Karger

4,8

Beschreibung

Am Maschsee im Herzen von Hannover wird gefeiert. Doch inmitten des Trubels spielt sich eine Tragödie ab. Eine junge Frau findet ganz in der Nähe der beliebten Löwenbastion einen grausamen Tod. Rüdiger Bergheim und Charlotte Wiegand, die beiden erprobten Kripobeamten aus Hannover, ermitteln unter Hochdruck – und enthüllen ein bizarres Doppelleben der Toten. Angesichts dessen muss die Frage nach Täter und Opfer noch einmal gänzlich neu gestellt werden ...

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Seitenzahl: 368

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Marion Griffiths-Karger verbrachte ihre Kindheit auf einem ostwestfälischen Bauernhof. Nach Kaufmannslehre und Studium der Literatur- und Sprachwissenschaft wurde sie Werbetexterin in München, später Autorin und Teilzeitlehrerin. Die Deutsch-Britin ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und lebt mit ihrem Mann bei Hannover.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Torsten Andreas Hoffmann/Lookphotos

Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-220-5

Niedersachsen Krimi

Originalausgabe

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EINS

Der Maschsee lag still inmitten des Trubels. Einige wenige Segelboote trotzten der Flaute und schipperten träge über die glatte Wasserfläche. Die Sonne schien immer noch heiß aus einem mattblauen Himmel auf die Köpfe der feiernden Menge hinab.

Charlotte Wiegand und das Team der Kriminalfachinspektion 1 der Kripo Hannover hatten sich auf Betreiben der Chefin Gesine Meyer-Bast an der Temple Bar am Maschsee eingefunden. Sie hatten einen Tisch direkt am Wasser ergattert, vielmehr hatte Martin Hohstedt ihn ergattert und sich dafür mindestens eine halbe Stunde lang selbst auf die Schulter geklopft.

Charlotte nahm einen Schluck von ihrem Kilkenny, schloss für einen Moment die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Die Stimmen der zahlreichen Besucher an der Temple Bar verschmolzen zu einem monotonen Brummen. Auf der Bühne schlug eine irische Band die ersten Klänge von Amy Macdonalds »This Is The Life« an.

»Oh Mann, nicht schon wieder, ich kann’s nicht mehr hören«, beschwerte sich Thorsten Bremer, der neben Charlotte saß und an seiner Portion Fish and Chips arbeitete. Charlotte klaute sich noch eine von seinen Fritten.

»Ich find’s geil.«

Bremer verfolgte missmutig, wie die Fritte in Charlottes Mund verschwand. »Jetzt ist aber genug, hol dir doch selbst welche«, knurrte er.

»Viel zu voll, da verhungere ich ja, während ich anstehe«, antwortete Charlotte kauend.

Bremer drehte sich zur Seite und hielt seine Hand schützend über seine Mahlzeit. Genau wie ein kleiner Streber, der seine Mitschüler nicht abschreiben lassen will.

Auch gut, dachte Charlotte und sah auf die Uhr. Sie war müde, hatte den Tag bei ihren Eltern in Bielefeld verbracht. Ihr Vater hatte sich nach seinem Oberschenkelbruch zu einem wahren Tyrannen entwickelt. Charlotte hatte Mühe gehabt, ihre Mutter daran zu hindern, ihre Koffer zu packen und irgendwohin zu verschwinden. Was sollte dann aus Vater Wiegand werden? Charlotte konnte sich nicht um ihn kümmern. Als Erste Hauptkommissarin im Zentralen Kriminaldienst war sie mehr als ausgelastet.

Bis vor zwei Wochen war noch alles in Ordnung gewesen, mehr oder weniger. Aber dann war ihr Vater aus der Klinik zurückgekehrt und verfluchte seither alle Welt dafür, dass er nur noch ein Krüppel war. Das war natürlich völlig übertrieben, er konnte zwar nur an Krücken gehen, aber daran konnte man arbeiten. Das hatte der Arzt gesagt. Leider gehörte Werner Wiegand nicht zu den geduldigsten Menschen. Wie auch immer, ihr Vater würde in der nächsten Woche seine Reha in Hannover beginnen. Ihre Mutter war froh, ihren Mann eine Weile loszuwerden. Und Charlotte graute davor, sich und ihren Vater in derselben Stadt zu wissen.

Sie warf Rüdiger Bergheim, ihrem Partner und Kollegen, einen Blick zu. Er beobachtete mit Hohstedt die Segelboote, die still auf dem See lagen.

»Packt mal die Paddel aus!«, rief Hohstedt einer Bootsbesatzung zu, deren Jolle langsam am Ufer der Temple Bar vorbeidümpelte.

Bergheim fand das lustig, doch Charlotte ärgerte sich. Rüdiger verbrachte seit Längerem mehr Zeit mit dem blöden Hohstedt auf ihrem noch blöderen Boot als mit ihr, seiner Lebensgefährtin. Immer wenn es sich einrichten ließ, machte er sich auf und schipperte mit Hohstedt auf dem Maschsee oder dem Steinhuder Meer herum. Im Frühjahr hatten sie sogar einen Segeltörn auf der Ostsee gemacht. Was fanden Männer bloß daran, auf einem engen Boot zu sitzen und darauf zu warten, dass einen der Wind irgendwohin trieb? Sonst passierte doch beim Segeln nichts.

Okay, ab und zu wurden die Segler aktiv, immer dann, wenn eine Wende anstand. Dann gab es wirklich etwas zu tun. Einer musste das Ruder herumreißen und ein anderer das Focksegel von der einen Seite auf die andere legen. Charlotte argwöhnte, dass Segler so oft wendeten, damit sie überhaupt etwas zu tun hatten. Ständig nur auf das Wasser zu starren und sich zu fragen, woher der Wind wehte, war auf die Dauer ja auch nicht abendfüllend.

»Hey!« Ihre Kollegin Maren Vogt, die bisher tapfer die Unterhaltung mit der Chefin Gesine Meyer-Bast bestritten hatte, legte die Hand auf Charlottes Schulter. »Willst du noch was trinken?«

»Äh, nein«, antwortete Charlotte. »Ich geh gleich, meine Mutter wollte noch anrufen.« Das war zwar gelogen, aber Charlotte hatte keine Lust, auch noch ihren Samstagabend mit ihren Kollegen und ihrer Chefin zu verbringen. Die durfte sie ja während der Woche schon genug genießen. Sie fixierte Bergheim, der sich blendend mit Hohstedt zu unterhalten schien. Er sah sie an und prostete ihr mit seinem Bierglas zu. Na, der fühlt sich ja hier offensichtlich pudelwohl, dachte Charlotte und stand auf. »Ich geh dann mal. Hab leider noch Verpflichtungen.«

Sie quetschte sich an einem übergewichtigen Mittfünfziger und seiner übergewichtigen Begleitung vorbei aus der Bank heraus und winkte den anderen zum Abschied. Die schienen sie aber schon vergessen zu haben, nur Bergheim sah ihr verblüfft nach. Na gut, dachte Charlotte, ihr kommt ja wohl alle ohne mich klar. Sie wandte sich ab und bahnte sich einen Weg durch die gut gelaunte Menge. Ein Spaziergang am See war genau das, was sie jetzt brauchte.

Sie ging Richtung Löwenbastion. Oder besser, sie manövrierte sich durch die Massen hindurch. Am Wochenende war das Maschseefest natürlich besonders gut besucht.

Die Sonne senkte sich langsam über den Wipfeln der Bäume am gegenüberliegenden Westufer und warf ein breites rotes Band auf den See. Auch vom Westufer schallte Musik herüber, wohl von der Maschseequelle. Nach wenigen hundert Metern erreichte sie die Löwenbastion, auf deren großer Bühne eine sechsköpfige Band rockte. »Heaven Is in the Back Seat of My Cadillac«.

Das war vielversprechend, fand Charlotte. Sie beschloss, der Band noch eine Weile zuzuhören, und ging die wenigen Stufen hinauf, die zur Tanzfläche führten, um einen genaueren Blick auf die Bühne zu werfen. Die Löwenbastion, die ihren Namen zwei bronzenen Löwenskulpturen verdankte, war ein idyllischer Aussichtspunkt am See und während des Maschseefestes ein beliebter Treffpunkt. Unter den ausladenden Zweigen der mächtigen Kastanien wurden dann Tische und Bänke aufgestellt, von denen aus man einen herrlichen Blick auf den See genießen konnte. Vorausgesetzt, man hatte einen der begehrten Plätze nahe am Ufer ergattert.

Charlotte wühlte sich durch die Menge. Wie ein schützendes Dach spannten die Kastanien unter einem wolkenlosen violettblauen Himmel ihre Zweige aus, Lichterketten schufen eine fröhliche Atmosphäre. Die Bretter unter Charlottes Füßen bebten, und ihr Brustkorb vibrierte vom Wummern der Bässe. Sie schob tanzende Körper beiseite, zwängte sich durch die Menschenmassen hindurch und versuchte, etwas vom Geschehen auf der Bühne zu erhaschen, aber das war Utopie. Nein, der Weg über die Löwenbastion war keine gute Idee gewesen. Hier war einfach kein Durchkommen. Sie wurde angerempelt, stieß gegen den Nächststehenden, der daraufhin den Inhalt seines Bierglases auf dem T-Shirt seines Nachbarn verteilte. Der folgende Wortwechsel war kein Beispiel für ein höfliches Gespräch.

»Kacke, Mann, bist du bescheuert?«, rief der Bekleckerte.

»Nee, das war die Trulla hinter mir«, antwortete der Beschimpfte und warf Charlotte einen bösen Blick zu.

»’tschuldigung, aber das war die Dumpfbacke auf der Tanzfläche«, sagte Charlotte und wies mit dem Daumen auf den männlichen Teil eines angetrunkenen Pärchens, das sich ebenso unsicher wie ausladend inmitten der Menge an einem Discofox zu den Klängen von Queens »Radio Gaga« versuchte. Charlotte wollte sich schon abwenden, als der Kleckerer sie erneut ansprach.

»Wir kennen uns doch.«

Sie sah etwas genauer hin und schluckte. Auch das noch. Dr. Flentek. Sie sprach mit dem Arzt der Rehaklinik, die demnächst das Vergnügen haben würde, ihren Vater für drei Wochen zu beherbergen.

»Äh, ja, ich war vor ein paar Tagen mit meinem Vater in Ihrer Sprechstunde.«

Der Mann nickte. »Jaaa, ich erinnere mich.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Charlotte und wandte sich an den Bekleckerten, dessen Begleiterin ihn liebevoll trocken tupfte. »Tut mir leid.« Sie hob entschuldigend die Hand und wandte sich ab.

»Sie schulden mir ein Bier«, hörte sie Dr. Flentek sagen.

Charlotte wandte sich um. »Wenden Sie sich an die Dumpfbacke.« Sie deutete mit dem Kinn auf das Pärchen, das von der Diskussion offensichtlich nichts mitbekommen hatte und ohne Rücksicht auf den Protest der Umstehenden weiter herumrempelte.

Dr. Flentek grinste. »Die Dumpfbacke ist aber nicht so hübsch wie Sie.«

Hui, was war das denn? Der Mann flirtete mit ihr. Das war ihr schon lange nicht mehr passiert.

»Darf ich Ihr Schweigen als Einladung interpretieren?«

»Äh.« Charlotte zuckte mit den Schultern. »Okay.« Meine Güte, das konnte ich auch schon mal besser, dachte sie und starrte in das lachende, attraktive Gesicht des Mannes.

»Dann los«, sagte Dr. Flentek, und die beiden kämpften sich zur Theke vor, wo Charlotte zwei Bier bestellte. Was sprach dagegen, mal mit einem gut aussehenden Arzt ein Bier zu trinken, überlegte sie. Rüdiger würde nichts dagegen haben, außerdem war der ja mit seinem Busenfreund Hohstedt glücklich.

Wenig später zwängten sie sich, jeder ein Glas Härke Bräu in der Hand, an einen der Stehtische und prosteten sich zu.

»Ich heiße Burkhard.«

»Charlotte.«

Sie tranken, und er leckte sich über die Lippen. »Ihr Vater ist … na, sagen wir ein Charakterkopf.«

»Wenn Sie meinen«, murmelte Charlotte und stellte ihr Bierglas hin.

Er betrachtete sie lächelnd. »Sie sind bei der Kripo?«

»Stimmt.«

»Das ist ja spannend.« Dr. Flentek sah sich um. »Und? Gerade auf Mörderjagd?« Er blickte auf ihr Bier. »Wohl nicht, wenn Sie Alkohol trinken.«

»Genau.« Charlotte hatte nicht die geringste Lust, über ihre Arbeit zu sprechen.

»Sagen Sie, ist das wirklich so wie im Fernsehen? Ich sehe ja selten Krimis, aber den ›Tatort‹ kenn ich.«

»Und bei Ihnen? Ist das auch so wie im Fernsehen? Ich kenne nur ›Emergency Room‹ …«

»Dachte ich mir«, er hob grinsend sein Glas, »wegen George Clooney, was?«

»Natürlich.« Charlotte musterte ihn, und was sie sah, gefiel ihr ausnehmend gut. Er war nicht mehr ganz jung, sie schätzte ihn auf Mitte vierzig. Bestimmt war er verheiratet, so wie er aussah. Oder zumindest in einer festen Beziehung. Genau wie sie. Auch wenn sie sich manchmal wie ein Single fühlte.

Er berührte ihre Hand. »Sie sind nicht verheiratet, jedenfalls tragen Sie keinen Ring.«

Der geht ja ganz schön ran, dachte Charlotte. Was tat sie hier eigentlich? Wo sollte das hinführen? Sie sollte sich verabschieden und heimgehen, anstatt hier mit dem Feuer zu spielen. Aber die Neugier siegte.

»Und Sie?«

»Geschieden.«

»Aha.« Und jetzt?, fragte sie sich. Der Mann war gut aussehend, geschieden und wollte sie abschleppen. Das war zwar schmeichelhaft, aber sie war nicht interessiert. Oder? Die Band spielte »I Was Made for Lovin’ You«. Dr. Flentek hielt immer noch ihre Hand und sah sie erwartungsvoll an. Das wurde ihr jetzt aber langsam unheimlich.

Sie entzog ihm ihre Hand und trank ihr Bier aus. »Ich muss jetzt gehen.«

»Wirklich?«

Sie nickte. »Wir sehen uns im Henriettenstift.«

»Immer wieder gern«, sagte er strahlend.

Charlotte machte sich aus dem Staub.

Es war kurz nach sieben Uhr, als sie am nächsten Morgen von Bergheims Schnarchen geweckt wurde. Sie war erst am frühen Morgen eingeschlafen, hatte auf Bergheim gewartet, aber sie hatte ihn nicht heimkommen hören. Er musste noch lange unterwegs gewesen sein, konnte sich offensichtlich sehr gut ohne sie amüsieren.

Die Sonne war schon längst aufgegangen und warf ihr weißes Licht durch die Ritzen der Jalousien. Das Wetter in den letzten Tagen hatte sich mit beständiger Trockenheit und Temperaturen über fünfundzwanzig Grad an die günstigen Vorhersagen gehalten. Vielleicht war es das milde Klima, das ihnen in der KFI 1 die wenigen ruhigen Tage der letzten Woche beschert hatte. Und dafür war Charlotte mehr als dankbar, denn ihre Mutter hatte unmissverständlich erklärt, ihren Vater zu erwürgen, wenn Charlotte ihn nicht zur Vernunft bringen würde. Und das war nicht die einfachste Aufgabe. Andrea, Charlottes Schwester, hatte sich für die nächsten drei Wochen nach Dänemark verabschiedet und damit einmal mehr ein Beispiel für ihr perfektes Timing geliefert. Aber vielleicht hatte sie auch einfach nur Glück.

Charlotte warf die Bettdecke zurück und schlüpfte in ihre Flipflops. Sie hatte seit ihrer Jugend keine mehr getragen, bis sie in ihrem letzten Urlaub in Italien festgestellt hatte, wie gut man in diesen Dingern laufen konnte. Sie ging über die knarzenden Dielen ins Bad, duschte und zog ihre Schlabberhosen und ein T-Shirt an. Dann machte sie Kaffee und setzte sich auf den kleinen Balkon, auf dem gerade ein Bistrotisch und zwei Korbstühle Platz hatten.

Es war noch recht frisch, und die meisten der Mitbewohner, deren Balkone in den Innenhof gingen, lagen wohl noch in ihren warmen Betten. Jedenfalls war sie allein. Sie nahm einen Schluck Kaffee und widmete sich der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom Samstag. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, sie zu lesen. Kaum zwei Minuten später klingelte das Telefon. Festnetz. Charlotte warf die Zeitung auf den Tisch, sprang auf und stapfte wütend ins Wohnzimmer zur Basisstation.

Leer. Wo war das verdammte Telefon?

»Charlotte, Telefon«, kam es dumpf aus den Kissen vom Schlafzimmer her.

»Ach nee«, brummte Charlotte und warf die Kissen vom Sofa. Nichts. Das Telefon verstummte, der Anrufbeantworter sprang an. Ihre Mutter antwortete.

»Charlotte, wir machen uns auf den Weg nach Hannover. Vater fühlt sich nicht wohl.«

»Wie? Jetzt?«, entfuhr es Charlotte, obwohl sie immer noch nach dem Hörer suchte. Unter einer halb vollen Tüte Chips fand sie ihn endlich.

»Mama!«, rief sie in die Leitung, aber ihre Mutter hatte schon aufgelegt. Hastig suchte sie im Menü nach der Rückruftaste, vertippte sich aber und musste von vorn anfangen. Als sie endlich eine Verbindung zum Anschluss ihrer Eltern hatte, meldete sich niemand mehr. Klar, ihre Mutter hatte sich schnellstmöglich aus dem Staub gemacht. Charlotte hatte keine Chance zum Widerspruch.

»Was ist eigentlich los?« Bergheim stand blinzelnd im Türrahmen und raufte sich die Haare. »Kann man nicht ein Mal am Sonntag ausschlafen?«

Charlotte sah ihn missmutig an, überlegte, ob sie ihm noch eine Gnadenfrist gewähren sollte, entschied sich aber dagegen. »Meine Eltern sind im Anmarsch.«

Bergheim riss die Augen auf. »Wie? Im Anmarsch? Jetzt?«

»So ungefähr. Zwei Stunden hast du noch. Kannst dich in Ruhe anziehen und frühstücken.«

Bergheim blickte zu Boden und kratzte sich am Kopf. »Eigentlich müsste ich noch mal in den ZK.«

Na klar. »Ich dachte, du wolltest ein Mal ausschlafen«, äffte sie ihn nach.

»Ja, aber wenn ich schon mal wach bin …« Er drehte sich um und ging ins Bad. Seine karierten Boxershorts hingen ihm in den Kniekehlen.

Ihre Mutter musste mit Bleifuß von Bielefeld nach Hannover gefahren sein, denn es dauerte nur etwa eineinhalb Stunden, bis es klingelte. Das hatte bisher nicht mal Charlotte geschafft, nicht mal, wenn sie es eilig hatte. Sie drückte auf den Türöffner und fragte sich, wie ihre Mutter in so kurzer Zeit einen Parkplatz hier in der Oststadt gefunden hatte. Wahrscheinlich parkte sie in zweiter Reihe. Die Tür unten im Treppenhaus wurde geöffnet, und Charlotte hörte ein Rumoren und dann eine männliche Stimme.

»Himmelherrgott, nun halt doch die Tür auf, oder willst du, dass sie mich zerquetscht? Den blöden Koffer kannst du auch hinterher noch raufbringen.«

Offensichtlich kämpfte ihre Mutter an drei Fronten: mit der Fahrstuhltür, ihrem Mann und einem Koffer. Letzteres beunruhigte Charlotte. Was wollten die beiden mit dem Koffer? Ihre Mutter hatte hoffentlich nicht vor, ihren Vater hier unterzubringen, bis man im Henriettenstift bereit für ihn war.

Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, und Charlotte wartete mit einem Stein im Magen an der Wohnungstür. Der Fahrstuhl stoppte, die Tür öffnete sich, und das Erste, was Charlotte sah, war das Ende einer Krücke, die suchend aus der Tür fuhr und wieder verschwand. Dann kam ihr Vater zum Vorschein.

»Charlotte, steh da nicht so rum, hilf deiner Mutter mit dem Koffer.«

»Hallo, Papa, schön, dich zu sehen«, log Charlotte, nahm ihren Wohnungsschlüssel von der Kommode und ging ihren Eltern entgegen. Ihr Vater sah noch genauso aus wie gestern, als sie die beiden in Bielefeld zurückgelassen hatte. Die Krücken waren das Einzige, was auf seine angeschlagene Gesundheit hinwies. Sein Pony fiel ihm über die wachen grauen Augen. Auf den vollen Wangen sprießten graue Bartstoppeln, die Mundwinkel hingen herab.

Über das Aussehen ihrer Mutter erschrak sie. Die letzte Nacht musste besonders schlimm gewesen sein. Unter einem wirren Haarschopf blitzten sie zwei Augen aus einem grauen Gesicht wütend an.

»Der bringt mich um«, flüsterte sie mit zusammengepressten Lippen.

Charlotte war versucht, ihr zu glauben. Wenn ihr Vater so weitermachte, würde er nicht mehr lange brauchen, um seine Frau loszuwerden.

»Kommt erst mal rein.«

Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und nahm ihr den Koffer ab, während ihr Vater mit seinen Krücken kämpfte und wüste Flüche ausstieß. Charlotte sah ihre Mutter an.

»Morgen«, raunte die, »morgen bin ich ihn los!« Ein Lächeln flog über ihr Gesicht.

»Ich dachte, erst am Mittwoch.«

»Nein, ich habe angerufen und gedroht, mich umzubringen, wenn sie ihn nicht morgen schon nehmen. Hat geklappt.«

»Na bestens«, raunte Charlotte erleichtert. Bis morgen würde sie noch durchhalten.

»Wo kann man sich denn hier mal hinsetzen?«, meckerte ihr Vater und stampfte mit der Krücke auf den Fußboden.

»Im Wohnzimmer, du kennst dich doch aus.«

»Und wie komm ich dahin? Die Tür ist zu.«

Charlotte verdrehte die Augen, ging voraus und öffnete ihrem Vater die Tür. Der stapfte schwerfällig hinter ihr her und ließ sich dann erschöpft aufs Sofa fallen.

»Wo ist Rüdiger?«, fragte er und sah sich um.

»Musste noch mal ins Büro«, log Charlotte wieder.

»Natürlich, hat sich aus dem Staub gemacht. Wer will schon was mit einem Krüppel zu tun haben, wenn man selbst jung und gesund ist.«

»Er kann nichts dafür, dass er jung und gesund ist«, wies Charlotte ihren Vater zurecht. »Na ja, jedenfalls jünger und gesünder als du.« Sie zwinkerte ihrer Mutter zu, die den Kopf schüttelte.

»Sag doch so was nicht«, raunte sie, »das macht ihn nur wild.«

»Kann man hier mal was zu trinken haben, oder ist das zu viel verlangt?«

Charlotte warf ihrem Vater einen finsteren Blick zu und ging in die Küche, um ein Glas Apfelschorle zu holen. Bis vor Kurzem mochte ihr Vater Apfelschorle, aber in seinem derzeitigen Zustand konnte sie ihm wahrscheinlich anbieten, was sie wollte. Er würde sie auf jeden Fall zur Schnecke machen. Sie streichelte ihrer Mutter, die sich erschöpft an den Küchentisch setzte, über die Wange.

»Du hast es ja bald geschafft«, sagte sie liebevoll.

»Du kannst mir glauben«, stöhnte die. »Es gibt Zeiten, da fängt man an zu verstehen, warum es Frauen gibt, die ihre Männer ins Jenseits befördern. Sie haben bestimmt immer einen guten Grund.«

»Mörder haben immer einen guten Grund«, sagte Charlotte. »Zumindest glauben sie das.«

***

Rüdiger Bergheim musterte die junge Frau, die vor seinem Schreibtisch saß. Eigentlich hatte er gar keinen Dienst, aber wahrscheinlich war das die Strafe dafür, dass er Charlotte mit ihrem quengeligen Vater allein gelassen hatte. Der Mann war wirklich nur noch schwer zu ertragen. Früher hatten er und Vater Wiegand sich bestens verstanden, aber seit seinem Treppensturz vor sechs Wochen hatte sein Schwiegervater sich zu einer Heimsuchung entwickelt.

Bergheim seufzte und beschloss, das Beste aus diesem verkaterten Tag zu machen. Hätte er bloß gestern nicht so viel getrunken. Er vertrug das einfach nicht mehr. Und Charlotte wurde auch immer seltsamer. Was konnte er dafür, dass sie Martin Hohstedt nicht leiden konnte? Er kam eigentlich wunderbar mit ihm aus.

Okay, Hohstedt war nicht gerade besonders ehrgeizig, und besonders fleißig war er auch nicht, aber zum Segeln ganz gut zu gebrauchen. Er überließ Bergheim immer das Ruder und tat, was man ihm sagte. Wahrscheinlich war er einfach nur froh, den Tag nicht bei seiner schwangeren Frau und seinem Kleinkind verbringen zu müssen. Aber es war nicht Bergheims Sache, das Privatleben seiner Kollegen zu beurteilen. Charlotte sah das anders.

Natürlich solidarisierte sie sich mit Christine, Martins Frau. Obwohl sie sich immer wieder lauthals darüber wunderte, wie eine kluge Frau wie Christine einen Deppen wie Martin Hohstedt hatte heiraten können. Manchmal fand Bergheim Charlotte ungerecht. Sie ließ sich zu sehr von persönlichen Sympathien leiten.

Wie auch immer, die junge Frau, die ihm gegenübersaß, hieß Katja Schauer und vermisste offensichtlich ihre Arbeitskollegin. So jedenfalls hatte sie sich ausgedrückt, von Freundin hatte sie nichts gesagt. Katja Schauer war durchaus hübsch. Nicht gerade so, dass einem bei ihrem Anblick der Atem wegblieb, aber annehmbar. Natürlich war er auch verwöhnt.

Charlotte, mit ihren vollen dunklen Haaren, den stahlblauen Augen und der schlanken Figur, war immer noch ein echter Hingucker, obwohl sie die vierzig bereits überschritten hatte. Vielleicht sollte er sich mehr um sie kümmern, damit sie ihm nicht abhandenkam.

Als er sie neulich vom Henriettenstift abgeholt hatte, wo sie ein Gespräch wegen der Aufnahme ihres Vaters geführt hatte, war da dieser Arzt gewesen. Der hatte Charlotte angesehen wie ein hungriges Frettchen. Seine Charlotte. Aber sie hatte es nicht bemerkt, da war er ziemlich sicher. Er nahm sich vor, ihr mal wieder Blumen zu kaufen, bevor sie es merkte.

»Schildern Sie doch noch mal genau, worum es geht«, bat Bergheim sein Gegenüber lustlos.

Katja Schauer sah auf die Uhr und räusperte sich. »Das hab ich Ihren Kollegen doch schon erzählt. Gibt’s denn da bei Ihnen keine Akte drüber? Ich bin eigentlich nur vorbeigekommen, um zu erfahren, ob es was Neues gibt.«

Natürlich gab es einen Bericht, wenn es einen Einsatz gegeben hatte, aber Bergheim zog es vor, sich die Vorkommnisse aus erster Hand schildern zu lassen.

»Vielleicht erklären Sie mir, worüber genau wir eine Akte haben sollten.«

»Also«, die junge Frau tat so, als müsse sie ihm eine wissenschaftliche Arbeit über die Produktivität von Regenwürmern im Radieschenbeet erklären. »Es war vorgestern Abend, da waren wir alle auf dem Maschseefest.«

»Sie und Ihre Kollegen vom Fitness-Studio?«, warf Bergheim dazwischen.

»Genau, wir haben an der Löwenbastion gesessen und gefeiert. Lukas, das ist unser Chef, hatte uns alle eingeladen, weil im Studio nichts los war. Klar, wenn Maschseefest ist und dann auch noch so gutes Wetter, dann hat keiner Bock, Gewichte zu stemmen. Jedenfalls hatten wir eine Menge Spaß. Dann ist Verena irgendwann zur Toilette gegangen und nicht wiedergekommen.«

»Wann war das ungefähr?

»Weiß ich nicht mehr so genau, ich guck ja nicht immer auf die Uhr, wenn eine Kollegin mal muss. Außerdem hatten wir alle schon ziemlich viel getrunken.«

»Ist sie allein gegangen?«

»Ja, ich bin jedenfalls nicht mitgegangen und von unserer Gruppe auch keiner. Ob sie unterwegs jemanden getroffen hat, weiß ich nicht. Jedenfalls hätte sie gestern Mittag wieder im Studio sein müssen. Sie ist aber nicht aufgetaucht. Und das passt irgendwie nicht zu Verena. Sie ist zwar nicht besonders fleißig, aber bisher immer aufgekreuzt. Ich hab versucht, sie telefonisch zu erreichen, sie ist aber nicht an ihr Handy gegangen. Und Lukas, unser Chef, hat auch keine Ahnung, wo sie ist. Er ist gestern Morgen nach Oldenburg gefahren, zur Taufe seines Neffen.«

Katja Schauer verzog ein wenig den Mund, und Bergheim fragte sich, was es wohl mit diesem Lukas auf sich hatte. Aber das würde er später herausfinden, falls es überhaupt nötig war.

»Gestern Abend hab ich dann die Polizei angerufen«, fuhr Katja Schauer fort, »weil sie sich den ganzen Tag nicht gemeldet hat und von den Kollegen auch keiner wusste, wo sie war. Da hab ich gedacht, könnte ja sein, dass sie hilflos zu Hause liegt und krank ist oder verunglückt ist oder was weiß ich. Na ja, die Bu… also Ihre Kollegen haben dann einen Streifenwagen zu ihrer Wohnung geschickt und sich vom Vermieter den Schlüssel geholt. Sie war aber nicht da, und ihr Bett war unberührt.«

»Und weiter?«

Schauer zuckte mit den Schultern. »Nichts weiter, Ihre Leute sind abgezogen und haben mich dann angerufen und gesagt, sie werden erst mal ihre Verwandten ausfindig machen.«

Bergheim musterte die junge Frau. Sie wirkte nicht übermäßig besorgt, schien sich eher in der Rolle der Besorgten zu gefallen. Er überlegte, ob sie ihre Kollegin überhaupt mochte.

»Kennen Sie denn ihre Freunde und die Familie nicht?«

»Nein. Das ist es ja gerade, ich kenne weder ihre Familie noch ihre Freunde. Verena spricht nicht viel über sich.«

»Und Ihr Chef?«

»Ich glaube, der auch nicht.«

Das war in der Tat seltsam. »Aber Sie haben ihre Handynummer«, sagte er. »Damit können wir ja schon mal was anfangen.«

Bergheim verabschiedete Katja Schauer und machte sich auf, um das Foto, das sie ihm aufs Handy geschickt hatte, auszudrucken und sich das Einsatzprotokoll durchzulesen. Es stellte sich heraus, dass Kommissarin Marie Sellin von Polizeioberkommissar Elmar Ramersdorf den Auftrag erhalten hatte, die Unfallmeldungen seit Freitagabend zu überprüfen und die nächsten Verwandten von Verena Becker ausfindig zu machen. Letzteres hatte sich als unerwartet schwierig erwiesen. Das jedenfalls erklärte Kommissarin Sellin, die heute glücklicherweise Dienst hatte, Bergheim, als er mit ihr telefonierte. Sie habe aber dann die Pflegefamilie von Verena Becker in einem Dorf in der Nähe von Wilhelmshaven ausfindig gemacht. Die hatten aber seit mehr als zehn Jahren nichts mehr von Verena gehört und sich über ihr Verschwinden nicht sonderlich gewundert. Sie sei schon als Teenager öfter abgehauen, und als sie volljährig wurde, habe sie die Schule abgebrochen, ihre Koffer gepackt und sei gegangen. Ohne Dank, hatte die Pflegemutter betont. Seitdem hätten sie nichts mehr von ihr gehört. Kommissarin Sellin sei im Moment noch damit beschäftigt, einige Schulkolleginnen von Verena anzurufen, bisher aber ebenfalls ohne Erfolg. Niemand habe in den letzten zehn Jahren etwas von Verena Becker gehört oder wisse, wo sie sich aufhalte.

Bergheim bedankte sich bei der Kommissarin und gab die Ortung von Verena Beckers Handy in Auftrag. Die richterliche Erlaubnis würde er nachträglich besorgen. Die Ortung blieb jedoch ergebnislos. Dann rief er ihren Vermieter an. Sie würden sich in einer Stunde vor Verena Beckers Wohnung treffen. Vorher wollte sich Bergheim noch mit einem Kollegen austauschen.

Er ging in das kleine Büro, das Thorsten Bremer sich mit dem Kollegen Leo Kramer von der Spurensicherung teilte. Bremer, der, den Kopf schwer auf die Faust gestützt, halb auf seinem Schreibtisch lag, nahm den Blick von seinem Computerbildschirm und klickte hastig das Kartenspiel weg, das seine Aufmerksamkeit gefordert hatte.

»Was machst du denn hier? Ich denke, du hast frei und wolltest dich heute mal um unsere Teamleitung kümmern«, sagte Bremer säuerlich.

»Charlotte hat Besuch von ihren Eltern«, antwortete Bergheim.

»Ach daher.« Bremer grinste.

»Weiß nicht, was daran so witzig ist. Außerdem glaube ich, wir haben ein Problem.«

Bremer stöhnte. »Was soll das heißen? Doch wohl kein Mord, es war so schön ruhig in den letzten Tagen.«

»Von Mord wollen wir mal nicht gleich ausgehen, aber wir haben eine Vermisstenanzeige. Es geht um eine junge Frau. Sie ist am Freitagabend auf dem Maschseefest verschwunden.«

Bremer atmete erleichtert aus. »Na, das heißt ja nichts. Da versacken viele, die taucht schon wieder auf. Weiß die Familie nichts?«

»Nein, anscheinend hat sie keine Familie. Sie ist vor zehn Jahren von ihrer Pflegefamilie abgehauen und hat die Schule geschmissen, da war sie gerade achtzehn geworden.«

»Na siehst du. Es gibt eben solche Typen, die kommen und gehen, wie und wann sie wollen. Was ist mit Freunden und so weiter?«

»Keine Ahnung, die von früher wissen nichts, haben sie ebenfalls seit Jahren nicht gesehen, und ihren derzeitigen Freundeskreis müssen wir noch eruieren.«

»Warum ortest du ihr Handy nicht?«

»Das ist es ja gerade. Es lässt sich nicht orten.«

»Ach.«

»Eben. Und jetzt nenn du mir ein paar harmlose Gründe, wieso wir ihr Handy nicht orten können.«

»Hm.« Bremer klappte sein Notebook zu und lehnte sich zurück. »Sie könnte es verloren haben, vielleicht liegt es im See.«

»Ja, und vielleicht liegt sie auch im See. Ist doch merkwürdig, dass das Mädchen verschwunden ist und ihr Handy auch.«

»Vielleicht wollte sie einfach mal ihre Ruhe haben und hat den Akku rausgenommen.«

Bergheim verzog den Mund. »Zwei Tage lang? Das glaubst du doch selbst nicht. Und wenn sie ihre Ruhe haben wollte, würde es reichen, es einfach auszumachen. Dann könnten wir es aber immer noch orten. Außerdem, wieso meldet sie sich zwischendurch nicht? Wenigstens bei ihrem Arbeitgeber? Diese Katja, ihre Kollegin, sagt, dass sie bisher noch nie gefehlt hat.«

Bremer seufzte. »Was willst du machen? Taucher den See durchkämmen lassen? Und das während des Maschseefestes? Bloß weil eine junge Frau mal versackt ist? Meine Güte, die kann sonst wo sein. Wahrscheinlich hat sie jemand abgeschleppt, und die beiden haben ihre große Liebe zueinander entdeckt oder sich total zugekifft, und sie hat ihr Handy im Klo verloren. Die werden dich für bekloppt erklären.«

»Wahrscheinlich«, sagte Bergheim und rieb sich übers Kinn.

»Hast du ein Foto?«

»Oh ja.« Bergheim kramte sein Handy hervor. »Das ist das einzige Foto, das die Kollegin von ihr hat.« Er zeigte Bremer ein Bild, das offensichtlich an der Löwenbastion aufgenommen war. Unter dem dichten Dach der Kastanienzweige saßen an einem Tisch fünf Leute zusammen. Im Hintergrund glitzerte der Maschsee in der untergehenden Sonne. »Das hier ist Katja Schauer, die Kollegin, die die Vermisstenanzeige aufgegeben hat.« Bergheim zeigte auf eine vollbusige, kräftige junge Frau mit weizenblonden Haaren, die sie offen trug. »Das ist ihr Chef und neben ihm die Vermisste: Verena Becker.«

Bremer pfiff leise. »Donnerwetter«, flüsterte er, »das ist mal eine Wucht!«

»Kann man sagen«, bestätigte Bergheim und betrachtete Verena Beckers Gesicht mit den großen dunklen Augen und den vollen Lippen.

»Sieht aus wie eine indische Prinzessin.«

»Vielleicht hat sie ja indische Vorfahren. Über die Familie wusste die Kollegin nichts und seltsamerweise auch nichts über ihren Freundeskreis.«

»Vermisst sie denn außer dieser Kollegin niemand?«, fragte Bremer irritiert.

»Nein, bisher jedenfalls nicht.«

»Hm, wer sind die beiden anderen Typen?«

»Der eine ist Physiotherapeut und der andere auch so was Ähnliches. Der mit dem Tunnelohrring heißt Lukas Blischke. Er ist der Betreiber von diesem Fitnessclub.«

»Mit denen solltest du dich unterhalten, bevor du Taucher losschickst.« Bremer kicherte und klappte sein Notebook wieder auf.

»Danke für den Tipp«, murmelte Bergheim und versetzte Bremer einen Klaps auf den Hinterkopf. »Zuerst werde ich mich mal in ihrer Wohnung umsehen.«

Willi Pressler, der Vermieter, ein gut gekleideter älterer Herr mit vollem grauen Haar und neugierigen kleinen Augen, erwartete Bergheim bereits. Er stand auf dem Bürgersteig der Kriegerstraße und spielte mit seinem Schlüsselbund.

»Sagen Sie, was ist denn eigentlich los mit der Frau Becker? Wird sie vermisst, oder was?«

Bergheim antwortete mit einem knappen »Ja«.

Er wollte sich nicht vorstellen, was Pressler mit »oder was« meinte, und fragte auch nicht nach.

Verena Beckers Wohnung lag im zweiten Stock eines vierstöckigen grauen Gebäudes. Pressler öffnete, und Bergheim trat mit einem dumpfen Gefühl in der Magengegend ein. Er bat Pressler zu warten, was der als Einladung interpretierte, die Wohnung zu betreten, doch Bergheim forderte ihn auf, vor der Tür zu bleiben.

Das Apartment bestand aus einem etwa fünfundzwanzig Quadratmeter großen, weiß gestrichenen Raum mit einer weißen Küchenzeile. Der Fußboden war mit dunklem Laminat ausgelegt. Es gab keine Diele, und neben der Eingangstür führte eine weitere Tür in ein kleines, hellblau gekacheltes Bad, in dem sich eine Dusche, ein Waschbecken und das Toilettenbecken den Platz streitig machten. Es war so eng, dass Bergheim sich kaum umdrehen konnte. Wenn jemand auf der Toilette saß, war für ein zweites Paar Füße kein Platz mehr.

Es war das typische Bad einer jungen Frau. Auf der Spiegelablage stand eine Tasse mit zwei schon etwas abgenutzten Zahnbürsten, daneben drängten sich eine Nagelfeile, mehrere Probefläschchen Parfüm und ein Flakon Obsession, Mundwasser, diverse Haarspangen und -gummis, dunkelroter Nagellack und eine Packung Augen-Make-up-Entferner-Pads. In einem Hängekorb fanden Shampoo und etliche Haarpflegeprodukte Platz.

Bergheim schüttelte den Kopf und wunderte sich wie immer darüber, dass Frauen bei all den Pflegemitteln und Kosmetika nicht den Überblick verloren. Allerdings war es erstaunlich, dass eine junge Schönheit wie Verena Becker solchen Aufwand mit ihrem Aussehen trieb, Charlotte benötigte erheblich weniger Hilfsmittel und war bestimmt nicht unscheinbar.

Er verließ das Bad und sah sich in dem schmucklosen Wohn-Schlafraum um. Ein französisches Bett, ein Kleiderschrank mit Spiegeltüren, auf dem ein Koffer lag, ein runder Rattan-Esstisch mit vier dazu passenden Stühlen und eine Anrichte aus weißem Furnierholz, auf der ein Fernsehbildschirm stand. Das war die gesamte Einrichtung.

Bergheim hielt Ausschau nach einem Foto, fand aber keins. Er öffnete den Kleiderschrank, der aufgeräumt und erstaunlich gut gefüllt war. Auf dem Boden stapelten sich Bettwäsche, Bade- und Handtücher, daneben lag halb in einer Reisenthel-Reisetasche ein Schlafsack. In einer Schublade standen aufgereiht verschiedene Paar Schuhe, Pumps, Riemchensandalen, Chucks, Flipflops und Fellpantoffeln. Neben dem Schrank fanden Schneestiefel und ein Paar Lederstiefel mit Pfennigabsätzen Platz. Verena Beckers Garderobe war, soweit er das beurteilen konnte, alles andere als billig. Markenjeans, einige Seidenblusen und eine lammfellgefütterte Winterjacke aus rotem Leder.

Bergheim fragte sich unwillkürlich, wie viel man wohl in einem Fitness-Studio verdiente. Er schloss den Schrank und suchte nach einem Notebook. Einen Schreibtisch gab es nicht, also vielleicht in der Anrichte. Er öffnete nacheinander die drei Schubladen und fand Reizwäsche, einen alten Schuhkarton, der randvoll mit Papieren gefüllt war, ein Kästchen mit Modeschmuck, mehrere DVDs, ein paar Liebesromane und drei Harry-Potter-Bände. Kein Fotoalbum und kein Notebook. Aber vielleicht erledigte sie alles mit ihrem Handy, überlegte Bergheim. Er warf noch einen Blick in die Küchenschränke, entdeckte aber nichts, was ihn weiterbrachte. Er hatte auf jeden Fall nicht den Eindruck, dass die Bewohnerin verreist war.

Pressler, der die ganze Zeit in der Tür gestanden und Bergheim nicht aus den Augen gelassen hatte, sah ihn neugierig an.

»Was ist denn nun?«, fragte er. »Hat Ihnen das jetzt weitergeholfen? Was suchen Sie denn überhaupt?«

»Gibt es jemanden im Haus, mit dem Frau Becker näher bekannt war?« Bergheim ignorierte Presslers Fragen.

»Nein, wirklich nicht, das hab ich ja gestern schon gesagt. Da müssen Sie bei den Bewohnern nachfragen.«

Allerdings, dachte Bergheim seufzend. Und er fing am besten gleich damit an.

Auf jedem Stockwerk gab es drei Apartments. Nachdem Pressler, der seine Neugier kaum verbergen konnte, sich widerwillig verabschiedet hatte, klingelte Bergheim bei Maja Kladic, Verena Beckers Nachbarin. Niemand öffnete, er versuchte es weiter, ohne Erfolg. Klar, dachte Bergheim, wer hält sich bei solch einem Wetter schon in seinen vier Wänden auf? Bestimmt waren alle unterwegs, suchten Pokémons oder machten ein Picknick im Georgengarten.

Im dritten Stock öffnete ein älterer Mann im Jogginganzug, der ihn musterte, als sei er ein Alien, und als Bergheim seinen Ausweis zeigte und das Wort »Kripo« fiel, warf er ihm die Tür vor der Nase zu. Nebenan öffnete eine junge Frau, die kein Wort Deutsch verstand und nur mit den Schultern zuckte, als Bergheim ihr das Foto von Verena Becker hinhielt. Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Brust, hielt drei Finger in die Höhe und zeigte dann mit dem Finger auf die Fußmatte.

»Ich neu – drei Wochen hier«, sagte sie mit einem schweren osteuropäischen Akzent.

Aha, das sollte wohl heißen, dass sie erst seit drei Wochen hier wohnte. Hier war für ihn nichts zu holen. Im vierten Stock wohnte eine sehr hilfsbereite ältere Frau, die ihm zwar nichts über Verena Becker sagen konnte, Bergheim aber sehr ausdauernd zu einer guten Tasse Kaffee überreden wollte. Er versuchte, sich loszueisen, ohne unhöflich zu werden. Aber die Dame, sie hieß von Dorleben, ließ sich nicht entmutigen und versuchte, ein Treffen für den Abend zu arrangieren, was Bergheim ebenfalls mit unehrlichem Bedauern, aber bestimmt ablehnte. Er ging wieder hinunter, würde es später noch einmal versuchen.

Er hatte gerade den zweiten Stock erreicht, als sich die Tür der Nachbarwohnung von Verena Becker öffnete und eine junge Frau mit einem Turban auf dem Kopf ihn ansprach.

»Haben Sie vorhin geklingelt? Ich war in der Dusche und konnte nicht öffnen.«

Das erklärte den Turban, dachte Bergheim und zückte seinen Ausweis.

»Bergheim, Kripo Hannover, es geht um Ihre Nachbarin, Verena Becker, sie wird vermisst. Wissen Sie vielleicht, wo sie sein könnte, oder haben Sie sie in den letzten vierundzwanzig Stunden gesehen oder mit ihr gesprochen?«

Maja Kladic zog die Stirn kraus.

»Verena? Vermisst? Aber wieso denn? Ich hab sie doch vorletzte Nacht noch gehört.«

»Wann war das genau?«

Maja Kladic griff sich an den Turban. »Na ja, die Uhrzeit weiß ich nicht mehr so genau, aber es war am Freitagabend oder eher Freitagnacht, vielleicht ein Uhr oder auch später. Ich war gerade heimgekommen, war mit einer Freundin im Capitol gewesen. Sie muss kurz nach mir gekommen sein, jedenfalls hab ich gehört, wie sie ihre Tür aufgeschlossen hat.« Kladic kicherte. »Oder besser, sie hat versucht, die Tür aufzuschließen, hatte damit Probleme. Ich glaube, sie hatte einen im Tee und konnte das Schlüsselloch nicht finden. Hab sie ’ne Weile rumoren gehört.«

»Und danach haben Sie sie nicht mehr gesehen und gehört? Ist sie vielleicht noch weggegangen, oder hat sie gesagt, dass sie wegwollte?«

Maja Kladic riss die Augen auf. »Verena?« Sie schüttelte vehement den Kopf. »So gut kenn ich sie noch nicht, bin ja erst vor einem Monat hier eingezogen. Hab in Hannover einen Studienplatz gekriegt. Und Verena sagt nicht viel. Jedenfalls nichts über sich selbst. Ich weiß nur, dass sie in einem Fitness-Studio arbeitet, das hat sie mir erzählt, als wir uns neulich zufällig in der Glocksee getroffen haben.«

»Hatte sie öfter Besuch? Vielleicht einen Freund? Wissen Sie darüber etwas?«

»Ich glaub schon, aber gesehen hab ich niemanden.«

Bergheim bedankte sich, gab der jungen Frau seine Karte und versuchte sein Glück im ersten Stock, wo ihm allerdings außer einem verschlafenen jungen Paar, das Verena Becker zwar erkannte, aber rein gar nichts von ihr wusste, niemand öffnete. Er würde wiederkommen. Jetzt machte er sich auf, um das Fitness-Studio am Lister Kirchweg aufzusuchen.

Knapp fünfzehn Minuten später bog er von der Wöhlerstraße in den Lister Kirchweg ein und steuerte die Podbielskistraße an, wo er – es geschahen noch Wunder – tatsächlich eine Parklücke fand. Es war früher Nachmittag, und Bergheim war der Meinung, dass er sich ein Mittagessen verdient hatte.

Eigentlich müsste er Charlotte anrufen, aber das eilte nicht, dachte er. Die war mit Sicherheit noch ausreichend mit ihren Eltern beschäftigt. Natürlich war er sich im Klaren darüber, dass er es bewusst vermied, sie anzurufen. Er hatte heute einfach keine Lust, den Tag en famille zu verbringen und sich zum x-ten Mal die Krankengeschichte ihres Vaters anzuhören.

Er betrat das Restaurant Finesse und bestellte sich eine Portion Spaghetti bolognese und eine Cola. Danach fühlte er sich gestärkt und ging die wenigen Schritte bis zur Ecke Franklinstraße zum »fit & power«, wie das Fitness-Center sich nannte. Hinter Glasscheiben schwitzten gestählte und wohlmodellierte Körper an einer Reihe von Crosstrainern.

Ob die bezahlt sind?, fragte sich Bergheim, als er das Studio betrat und einen der beiden Männer vom Foto hinter dem Tresen erkannte. Er zückte seinen Ausweis.

»Bergheim, Kripo Hannover, können wir uns kurz unterhalten?«

»Oh Mann, geht’s etwa um Verena?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ist die immer noch nicht wieder aufgetaucht?«

»Das wollte ich Sie gerade fragen«, gab Bergheim zurück.

»Äh, woher soll ich denn das wissen?«

»Wie heißen Sie?«

»Ich?«

Der Mann sah sich um, was Bergheim ziemlich albern fand, denn hinter ihm gab es nichts außer einem Regal mit einem üppigen Angebot an Eiweißdrinks verschiedenster Geschmacksrichtungen.

Bergheim wartete geduldig, bis der Mann sich gesammelt hatte. Entweder war er ein nervöser Typ, oder er hatte generell etwas gegen Gespräche mit der Kripo. Er hatte die Angewohnheit, sich über die raspelkurzen, etwas lichten Haare zu fahren.

»Also, ich heiße Andreas, Andreas Klimt. Wir duzen uns hier alle.«

»Okay.« Bergheim steckte seinen Ausweis weg. Das Studio war gut besucht, zum größten Teil von Männern jeglichen Alters. Er entdeckte nur zwei Frauen.

»Wann haben Sie Verena Becker zuletzt gesehen?« Bergheim widerstrebte das vertrauliche Du.

Klimt zuckte mit den ausladenden Schultern, die in einem engen roten T-Shirt mit gelbem »fit-&-power«-Logo steckten.

»Na, vorgestern Abend, auf dem Maschseefest. Wir haben alle an der Löwenbastion zusammen gefeiert. Und soweit ich weiß, ist Verena etwas früher gegangen. Aber wann genau, weiß ich auch nicht.« Klimt schluckte und fuhr sich über den Schädel. Bergheim fragte sich, wieso der Typ so nervös war.

»Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte?«

»Natürlich nicht, ich kenne sie ja kaum. Verena … redet nicht mit jedem.«

»Und mit Ihnen redet sie nicht?«

Wieder Schulterzucken. »Jedenfalls nichts Privates.«

»Seit wann arbeiten Sie hier?«

»Seit der Eröffnung vor zweieinhalb Jahren. Verena hat erst vor einem halben Jahr angefangen, nachdem Laura in den Mutterschutz gegangen ist. Laura hat immer Spinningkurse gegeben.« Klimt schaute wehmütig zu einem leeren Gruppenraum hinüber, in dem mehrere Spinningräder parkten.

Bergheim folgte seinem Blick. »Und jetzt macht das Verena?«

Klimt schnaubte abschätzig. »Nee, Verena doch nicht, die steht hinterm Tresen.« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Keine Ahnung, was sie hier sonst noch macht.«

Bergheim musterte Klimt neugierig. Er hatte offensichtlich keine besonders gute Meinung von der Verschwundenen. Wieso nicht?

»Mögen Sie Frau Becker?« Bergheim beobachtete Klimt genau.

Der riss die Augen auf. »Pf, was ist das denn für ’ne Frage? Natürlich mag ich sie, wie man eine Kollegin halt mag.«

»Sie ist ausgesprochen attraktiv. Hat sie keinen Freund?«

»Oh ja, gut aussehen tut sie«, antwortete Klimt verächtlich, »ob sie einen Freund hat, weiß ich nicht.«

Bergheim nickte und registrierte, dass Klimt seinem Blick auswich.

»Kennen Sie jemanden, der etwas über ihren Verbleib wissen könnte?«

Klimt schüttelte den Kopf. »Nee, wirklich nicht. Ich sag ja, ich kenn Verena kaum. Fragen Sie doch den Chef, der kommt gegen Abend wieder.«

Klimt trat von einem Fuß auf den anderen. Bergheim war kurz davor, ihn zu fragen, ob er mal Pipi musste. Doch in diesem Moment eilte Klimt ein Krieger zu Hilfe. Der Mann trat aus einer Tür neben dem Spinningrad-Parkhaus und glich einem römischen Gladiator, fehlten nur Schild und Speer. Bergheim musste zu ihm aufsehen und reckte unwillkürlich das Kinn. Der Kerl maß mindestens zwei Meter. So viel Mann auf einem Haufen war Bergheim selten begegnet.

Klimt stieß erleichtert die Luft aus.

»Ah, Boris, gut, dass du kommst.« Klimts Selbstvertrauen stieg rapide in der Gegenwart seines Kollegen, denn er hörte auf zu tänzeln, steckte die linke Hand in die Jeanstasche und wies mit der anderen auf den Gladiator.

»Das ist Boris«, wiederholte er überflüssigerweise, und der ergriff mit heiserer, dunkler Stimme das Wort.

»Gibt’s Probleme?« Dabei warf er Klimt aus zusammengekniffenen Augen einen Blick zu, den Bergheim nur als warnend interpretieren konnte. Klimts freie Hand wies auf Bergheims Brust.

»Die Kripo«, sagte Bergheim nur und gab einen vielsagenden Blick zurück.

Der Gladiator musterte ihn daraufhin, als wäre er ein übel riechender französischer Käse. Bergheim hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase.

»Bergheim«, sagte er und räusperte sich, weil er in Gegenwart dieses Kolosses seine Stimme irgendwie piepsig fand. Aber das bildete er sich wohl nur ein. »Und Sie heißen?«

»Boris«, antwortete der Koloss, »Boris Tofall. Worum geht’s?«

»Um Verena Becker.«

Tofall reagierte zunächst nicht. Bergheim hatte den Eindruck, sein Gegenüber wollte die Lage sondieren.

»Was ist mit Verena?«, fragte er dann in neutralem Ton, während sich Klimt davonschlich.

»Sie ist verschwunden.«

»Ach.«

»Ist Ihnen das neu?«

»Ich dachte, sie wäre wieder aufgetaucht.«

»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«

»Ich?« Tofall sah sich ebenfalls um.

Das schien hier irgendwie zum guten Ton zu gehören, dachte Bergheim. Sich umzusehen, während man mit jemandem sprach. Hier hielt niemand gern Blickkontakt. Das war auffällig.

»Na, am Freitag, als wir auf dem Maschseefest waren. Und gestern ist sie nicht gekommen, wir hatten hier echt ’nen Engpass.« Tofalls dunkle Stimme klang ungnädig.

»Haben Sie eine Ahnung, wo sie sich aufhalten könnte?«

Tofall stieß einen Laut aus, der sich anhörte wie das Meckern einer Ziege, nur eine Oktave tiefer.

»Nein«, antwortete er dann wieder neutral, »hab ich nicht.«

Bergheim verabschiedete sich und ging mit dem sicheren Gefühl, dass mit diesem Fitness-Studio irgendetwas ganz und gar nicht stimmte, hinaus. Er würde jeden einzelnen Angestellten überprüfen. Und er würde wiederkommen.

Als Bergheim wieder auf der Straße stand, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz vor vier. Vielleicht erwischte er Thorsten noch im ZK. Er hatte Glück.

»Was willst du?«, meldete sich Bremers müde Stimme.

»Dir auch einen schönen Nachmittag«, sagte Bergheim. »Ich hätte ein paar Namen, könntest du die überprüfen?«

»Ich hab gleich Feierabend«, antwortete Bremer mürrisch.

»Weiß ich, aber wir wissen doch beide, dass du am Computer der Schnellere bist«, schmeichelte Bergheim, »also …«

»Wenn’s sein muss«, murmelte Bremer schon halb besänftigt.

Bergheim grinste über die Eitelkeit seines Kollegen und gab ihm die betreffenden Namen durch.

»Haben die was mit deiner vermissten Schönheit zu tun?«