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Die Hütten sind geschlossen bis März – doch der Tod geht ein und aus Raphael, von Verlusten in seiner Heimat Luxemburg gebeutelt, sucht in Südtirol einen Neuanfang. In der Abgeschiedenheit der Berge findet er in seinem Vermieter Luis einen echten Freund und kann endlich wieder durchatmen. Doch seine Suche nach Frieden wird zum Albtraum, als er beim Wandern auf mehrere Leichen stößt. Auch Luis' Erzfeind, mit dem dieser zuvor ein Handgemenge hatte, wird übel zugerichtet gefunden. So geraten Raphael und Luis immer mehr ins Visier der ermittelnden Einheiten, die ihrerseits mehr mit Zuständigkeitskämpfen als mit der Aufklärung beschäftigt sind. Da Luis die Berge kennt wie kein Zweiter, stellen Raphael und sein Vermieter selbst Nachforschungen an. Dabei kommen sie der Lösung des Falls nahe. Gefährlich nahe ... *** Nicht nur Wander-Begeisterte kommen in diesem extrem atmosphärischen Urlaubskrimi auf ihre Kosten.
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Tod am Berg
Moni Reinsch bringt ihre Lebenserfahrung als Bankkauffrau, Marketingkraft, Personalvermittlerin, Organisatorin eines Volksfestes, Psychologiestudentin, Praktikantin bei der Polizei, sozialpädagogische Familienhelferin sowie als Ehefrau, Mutter und Tochter in Regionalkrimis, Sachbücher, Kurzgeschichten und Romane ein. 2016 und 2017 absolvierte sie während der Wintermonate mehrwöchige Schreibstipendien in Meran, Südtirol, wo sie auch oft Urlaub macht. Sie lebt in Trier. Infos unter www.reinschrift.eu
Die Hütten sind geschlossen bis März – doch der Tod geht ein und aus
Raphael, von Verlusten in seiner Heimat Luxemburg gebeutelt, sucht in Südtirol einen Neuanfang. In der Abgeschiedenheit der Berge findet er in seinem Vermieter Luis einen echten Freund und kann endlich wieder durchatmen. Doch seine Suche nach Frieden wird zum Albtraum, als er beim Wandern auf mehrere Leichen stößt. Auch Luis‘ Erzfeind, mit dem dieser zuvor ein Handgemenge hatte, wird übel zugerichtet gefunden. So geraten Raphael und Luis immer mehr ins Visier der ermittelnden Einheiten, die ihrerseits mehr mit Zuständigkeitskämpfen als mit der Aufklärung beschäftigt sind. Da Luis die Berge kennt wie kein Zweiter, stellen Raphael und sein Vermieter selbst Nachforschungen an. Dabei kommen sie der Lösung des Falls nahe. Gefährlich nahe ...
Moni Reinsch
Ein Südtirol-Krimi
Ullstein
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Originalausgabe bei UllsteinUllstein ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin September 2023 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023
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Der Autor / Das Buch
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Danke
Leseprobe: Goldtransport und Stauseemord
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Titelseite
Inhalt
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Kursive Textstellen sind im angefügten Glossar erklärt.Die Brennerei Wezl und der Georgenhof existieren tatsächlich, die Nutzung der Orts- und Personennamen sind genehmigt. Sonstige Personen sowie Hütten und Almen sind frei erfunden.
»Rieslingspaschtéit und Crémant? Was ist denn mit dir los, Bruderherz?« Nadine zupfte ein langes, blondes Haar vom dunklen Kaschmirpullover ihres Bruders. »Von Lydie?«
»Ganz sicher nicht«, sagte Raphael barsch und knallte das Körbchen mit Baguette auf den Tisch. »Wenn dir das Essen nicht passt, kannst du ja gehen. Ich hatte nicht mit Besuch gerechnet.«
»Ich wundere mich nur wegen des Arme-Leute-Essens. Sonst gab es Foie gras und Champagner. Was hast du mit dem Geld aus der Erbschaft gemacht?« Sie schob den Vorhang beiseite, sodass Raphaels Blick zwangsläufig auf den Porsche-SUV vor der Tür fiel. »Also, ich habe mir den gegönnt. Chic, nicht wahr?«
»Ja, hübsch«, antwortete Raphael mechanisch.
»Keine Frage nach der Motorisierung, keine Frage nach dem Preis? Du reagierst ja wie eine Frau, die nur die Farbe, vielleicht noch die Marke wahrnimmt. So kenne ich dich gar nicht.«
Raphael arrangierte den Vorhang an seiner ursprünglichen Position und zeigte unwirsch auf den Tisch. »Essen oder nicht essen? Ich sehe, was es für ein Modell ist, ich sehe den Auspuff … Geht es dir besser, wenn du mir Details erzählen kannst?«
Nadine griff sich ein Stück Baguette und knabberte verächtlich daran. Die Krümel ließ sie ungeniert zu Boden fallen. »Das macht ja dein Staubsaugerroboter, nicht wahr?« Sie kippte das erste Glas Schaumwein hinunter und hielt ihrem Bruder die leere Sektflöte auffordernd hin.
»Das Stöffchen ist wohl doch nicht so schlecht?« Raphael goss das Glas seiner Schwester halb voll. »Dein Auto sieht gut aus, ich hatte das Vorgängermodell. Aber was soll ich sagen? Es ist auch nur ein Auto. Mir reicht der Smart völlig.«
Nadine schüttelte den Kopf, wobei ihre Frisur sich kaum bewegte. »Vorbei mit schneller, höher, weiter? Vorbei mit Lydie? Und wieso sehe ich um diese Zeit beim Vorbeifahren überhaupt dein Auto vor der Tür stehen? Noch dazu an einem Donnerstag?«
Raphael schnitt sich ein großes Stück Fleischpastete ab und kaute auf dem Teig herum, der die Füllung umhüllte. »Vom Supermarkt, wirklich lecker, du solltest sie probieren. Oder bist du jetzt auch Vegetarierin wie deine Tochter und möchtest lieber ein Stück Käse?«
Nadine warf ihre Serviette auf den Tisch. »Ich möchte Antworten, keine Ausflüchte«, rief sie verärgert.
»Ich wüsste nicht, dass ich meiner großen Schwester eine Rechtfertigung schulden würde«, sagte Raphael und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Mir schuldest du gar nichts, aber du kannst nicht weglaufen«, erwiderte Nadine aufgebracht und sprang auf. »Wir können beide nichts dafür, dass unsere Eltern diesen Unfall hatten. Wir können beide nichts dafür, dass wir ihr Haus verkaufen und den Haushalt auflösen mussten. Wir können beide nichts für Corona, für den Krieg, für die Wirtschaftskrise … Aber wir können uns verhalten wie erwachsene Menschen.« Sie holte tief Luft und sammelte sich. »Kommst du nun am Samstagabend zum Geburtstag deines Schwagers oder nicht?«
»Wie könnte ich Nein sagen, wenn du mich so lieb fragst?«, sagte Raphael mit einem charmanten Lächeln.
»Acht Uhr, sei pünktlich. Und falls du jemanden mitbringen möchtest, lass es mich rechtzeitig wissen.«
Die Tür flog hinter ihr ins Schloss, bevor Raphael sich mit den obligatorischen Wangenküsschen verabschieden konnte.
»Was heißt, du kommst nicht zu Yannicks Geburtstag? Vor drei Tagen hattest du doch noch zugesagt.« Nadine war aufgebracht. Der Tisch war bereits gedeckt, und sie hatte extra eine Freundin eingeladen, die wie ihr Bruder seit einigen Wochen solo war.
»Es tut mir aufrichtig leid, ich habe mir diese Krankheit nicht ausgesucht. Abgesehen davon bin ich gerade kein guter Gesellschafter. Ich habe kaum Appetit, mein Geschmackssinn …«
»Unabhängig davon bist du im Moment kein guter Gesellschafter. Melde dich, wenn es dir besser geht«, wimmelte Nadine ihren Bruder ab.
Ratlos sah Raphael zu, wie das Display seines Handys dunkel wurde. Er griff sich einen Reisekatalog, den er kürzlich im Vorbeigehen mitgenommen hatte, und ließ sich ein Schaumbad ein.
Raphael freute sich, Alain vor der Tür stehen zu sehen. Er hatte sich fast zwei Wochen zurückgezogen und sein Handy nur sporadisch eingeschaltet. Ihm war jeder Kontakt zu viel. Aber Alain war fünfundzwanzig Kilometer mit dem Fahrrad zu ihm gefahren, also konnte er ihn unmöglich vor der Tür stehen lassen.
»Du hast schon besser ausgesehen«, begrüßte ihn sein langjähriger Freund und knuffte ihn in die Seite. »Die Haare sind grauer geworden, das fehlende Gewicht hat ein paar Falten in dein Gesicht gemeißelt. Ich sehe schon, ich muss dich aufpäppeln. Zieh dir etwas Ordentliches an und schnapp dir dein Fahrrad, wir machen einen Abstecher ins nächste Weingut.«
Raphael zögerte. »Wer kommt noch mit?«
»Bin ich dir nicht genug?«
Raphael drehte sich um und ging in die Küche, sodass Alain eintreten und ihm durch den Wohnbereich hindurch zur Küchentheke folgen musste.
»Espresso?«
Alain blickte sich um, ging zum Fenster und betätigte den Schalter, um den halb herabgelassenen Rollladen heraufzufahren. Dann öffnete er das Fenster bis zum Anschlag. Er stapelte einige Zeitschriften aufeinander, die verstreut auf dem Küchentresen lagen, und nahm auf dem Sofa Platz. Mittlerweile erfüllte der Duft von Kaffee den Raum.
»Für mich bitte Cappuccino.«
»Ich habe keine Milch im Haus«, sagte Raphael bedauernd.
Alain runzelte die Stirn. »Bei deiner Maschine nehme ich auch schwarzen Kaffee. Ich sollte mir auch einen Vollautomaten zulegen. Aber sag, was ist los mit dir?«
Raphael reichte Alain den fertigen Espresso und brühte einen zweiten. Alain setzte sich nicht, blieb an die Schrankwand gelehnt stehen und schwieg.
»Was war deine Frage?«, versuchte Raphael sich zu erinnern.
»Ärger in der Bank?«
Raphaels rechter Mundwinkel zuckte. »Ich verkaufe dir den Kaffeevollautomaten, wenn du willst. Sie hat ein Vermögen gekostet, aber für schwarzen Kaffee ist sie völlig überdimensioniert. Mir reicht eine einfache Siebträgermaschine.«
Alain leerte seine Tasse und stellte sie auf dem Reisekatalog ab, der auf dem Couchtisch lag. »Wie bitte, du willst sie verkaufen? Damals musstest du diese Maschine doch unbedingt haben. Unbedingt.«
»Stimmt, ich dachte, ich müsste unbedingt die gleiche haben, die bei uns in der Bank steht. Ich musste so Vieles unbedingt haben. Aber diese Dinge machen nicht glücklich. Ich suche eine neue Wohnung. Und in denen, die ich mir bislang angesehen habe, sind die Küchen zu klein für die Maschine.«
Alain starrte seinen Freund ungläubig an. »Okay, wir fahren nicht ins Weingut. Hast du Wein da? Das musst du mir erklären.«
Raphael zog eine Flasche Chardonnay auf, füllte zwei Gläser und erklärte. Er holte etwas aus, erzählte seinem Freund zunächst, was dieser schon wusste. Dass er viel Geld mit geschickten Aktienspekulationen gemacht hatte, dass er viel Geld aus dem Hausverkauf seiner verunfallten Eltern erhalten hatte, dass er in den vergangenen Jahren viel Geld durch seine unermüdliche Arbeit angehäuft hatte.
»Schon in der Schule habe ich einen Sonderpreis für eine marktwirtschaftliche Analyse erhalten, einen Sonderpreis für den besten Schulabschluss. Meine Eltern waren beide keine Akademiker, sie sahen keinen Sinn in einem Studium.« Raphael erzählte, dass sie ihm gut zugeraten hatten, eine Banklehre zu machen. Er hatte sich seinen Ausbildungsbetrieb aussuchen können, auf jede Bewerbung war eine Einladung zum Vorstellungsgespräch als Antwort gekommen. Immer wieder hatten Headhunter angerufen und ihm einen noch besser bezahlten Job angeboten. Und er hatte die Angebote angenommen, war finanziell immer besser aufgestellt gewesen, hatte mehr Mitarbeiter bekommen, für die er die Verantwortung trug. Statt acht hatte er zehn Stunden am Tag gearbeitet, irgendwann waren es zwölf geworden. Dann hatte er auch mal das Wochenende hinzugenommen und selbst im Urlaub war er immer für die Bank erreichbar gewesen, außer in den zwei Wochen, die er gesetzlich zur Kontaktsperre verurteilt war. Seine Lektüre hatte aus Managermagazinen, Börsenblättern und Autobiografien von Topmanagern bestanden.
Dann erzählte er, dass er sein Geld fast gänzlich verloren hatte, weil er aufs falsche Pferd gesetzt hatte. Wirecard, wie so viele. Am Tag der Aktionärsversammlung hatte er seine Aktien verkaufen wollen, das Unternehmen hatte großartig dagestanden, die Zahlen waren der Traum eines jeden Anlegers gewesen. Aber plötzlich war der Wert rasant gefallen, als Nächstes waren die Aktien ausgesetzt worden. Von jetzt auf gleich war sein Vermögen zusammengeschrumpft, als habe man eine Vakuumpumpe angesetzt. Und auch bei Raphael war die Luft rausgewesen.
»Lydie hatte kein Verständnis dafür, dass das Geld bei mir nicht mehr so locker saß. Sie hat sich nahtlos an meinen Kollegen rangeschmissen, und ich habe endlich begriffen, dass es ihr nie um mich ging. Und jetzt nervt meine Schwester, weil ich ihr …« Raphael stockte.
»Ja?«
»Seit dieser verdammten Erkrankung fallen mir die Worte nicht immer ein.« Raphael strich sich mit der Hand über das Gesicht.
Er schwieg eine Weile, Alain starrte ihn wortlos an.
»Ich soll meiner Schwester Rechenschaft über den Verbleib des Erbes ablegen. Sie hat keine Vorstellung davon, dass das Erbe lediglich ein Drittel dessen ist, was ich eingebüßt habe.«
Alain goss sich Wein nach und füllte auch das Glas seines Freundes wieder auf. Er deutete auf den Reisekatalog.
»Klingt nach einer guten Idee, Urlaub zu machen. Wann hast du frei?«
»Ich habe ab jetzt immer frei«, antwortete Raphael und trank das Glas in großen Schlucken leer.
»Will heißen?«
»Ich habe gekündigt. Bis zum Ende der Kündigungszeit bin ich krankgeschrieben, meinen Resturlaub und die Überstunden lasse ich mir auszahlen. Das kann ich gut brauchen. Und dann warte ich ab, was sich ergibt.«
Alain rieb sich mit beiden Händen über die muskulösen Oberschenkel, die in einer engen Radlerhose steckten.
»Eine kreative Pause, Abstand von allem bekommen und bei einer anderen Bank neu durchstarten?«
»Nein, den großen Reset-Knopf drücken, alle Systeme auf Werkseinstellung zurücksetzen und mal sehen, mit wie wenig ich wirklich über die Runden komme.«
»Du und arbeitslos melden? Mit sechsundvierzig Jahren hast du selbst in Luxemburg noch dreizehn Arbeitsjahre vor dir. Wie möchtest du die überbrücken?«
»Ich biete dir zum Beispiel meine Kaffeemaschine an. Ich habe außerdem begonnen, einen Teil meiner Habe im Internet zu verkaufen.«
Alains Augen wanderten durch die Wohnung. Er hatte noch nicht wahrgenommen, dass einige Dinge, die Raphael bislang wie Trophäen ausgestellt hatte, fehlten. In einer Vitrine, die zuvor mit hochpreisigen Kameras bestückt gewesen war, lagen nur noch eine alte Spiegelreflexkamera und ein einsames Teleobjektiv.
Raphael folgte Alains Blick. »Das Tele ist so gut wie verkauft.«
»Dann kommt es auf die letzte Kamera auch nicht mehr an. Vielleicht kannst du die Vitrine ebenfalls zu Geld machen«, sagte Alain bissiger als beabsichtigt.
»Die Kamera habe ich von meinem ersten Gehalt gekauft, die gebe ich nicht her. Das mit der Vitrine ist allerdings eine gute Idee, ich werde künftig ohnehin keinen Platz mehr für sie haben.«
Alain blickte auf seine Smartwatch, auf deren Display eine Nachricht aufleuchte.
»Wirst du erwartet? Geh ruhig.«
»Wir werden beide erwartet. Die anderen stehen am Weinstand und hatten sich darauf gefreut, dich endlich wiederzusehen. Mensch, Raphael, wir vermissen dich«, sagte Alain und legte ungelenk einen Arm um Raphaels Schultern. Der entwand sich ihm und schloss das Fenster.
»Sei ehrlich. Die warten nicht auf mich als Person. Sonst hätten sie sich einmal gemeldet, als ich krank war und jemanden gebraucht hätte, der für mich einkauft. Stattdessen bin ich inzwischen mit dem Lieferfahrer der Pizzeria per Du. Sie warten auf jemanden, der ihnen eine Flasche Wein spendiert und ein paar nette Anekdoten zum Besten gibt. Das war bislang meine Rolle in dieser Konstellation. Aber seit ich den Porsche verkauft habe, seit ich nicht mehr mit in die Clubs komme, seit ich T-Shirts statt Markenhemden trage, möchte man sich mit mir nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen. Sobald meine Adresse nicht mehr zu einem, einem …« Raphael suchte nach dem richtigen Wort. »Zu einem Penthouse in gehobener Lage gehört, sondern zu einer durchschnittlichen Wohnung in einer durchschnittlichen Straße, werden sie mich aus ihren Kontakten löschen.«
Eine weitere Nachricht erschien auf Alains Uhr. Er ignorierte sie.
»Ich verstehe noch immer nicht, warum du gekündigt hast. Oder hast du etwas Neues in Aussicht?«
»Bei Wirecard ist in allen Instanzen alles schiefgelaufen, wofür ich ein Leben lang gestanden habe. Meine Glaubenssätze sind erschüttert, mein Leben kommt mir nur noch absurd vor.«
»Ich glaube, du hast den Urlaub dringend nötig. Anschließend sieht die Welt wieder besser aus und wir können gemeinsam überlegen, wie es weitergehen könnte. Also, wohin geht die Reise? Thailand? Dominikanische Republik? Oder eine Fahrradwoche auf Mallorca?«
Wieder zuckte Raphaels Mundwinkel, diesmal eher geringschätzig als belustigt. »Das wirst du mir nicht glauben. Ist es überhaupt wichtig?«
»Ja, verdammt, du bist mir wichtig! Also sag schon.«
»Ich habe mir heute Morgen ein Zimmer in einer Pension in Südtirol gebucht. Ich war noch nie in den Bergen, und die Gegend sah im Katalog verlockend aus.«
Alain zog die Stirn kraus. »Hast du einen Fahrradträger für deinen Smart und nimmst das Mountainbike mit?«
»Ich möchte einfach nur wandern.«
»Wann geht es los? Wir könnten nächste Woche beim Outdoorausstatter shoppen gehen.«
Raphael schüttelte den Kopf. »Du kannst den letzten Joghurt aus meinem Kühlschrank mitnehmen, und falls du Zeit hast, mal nach der Post sehen. Ich fahre heute Nacht mit dem Fernbus los.«
Alain lachte laut auf. »Du fährst mit dem Bus? Gibt es dort keinen Flughafen?«
»Nein, gibt es nicht. Außerdem ist der Bus ungeschlagen günstig. Ich habe ja nicht viel Gepäck, das passt alles in einen Koffer und den Wanderrucksack, den ich mir heute gekauft habe. Die Pension hat sogar angeboten, mich vom Bahnhof abzuholen.«
Alain blickte Raphael ungläubig an. »Wann hättest du mir das erzählen wollen?«
»Sobald du dich das nächste Mal bei mir meldest, von dir aus. Also jetzt.« Raphael goss Alains Glas noch einmal voll und griff in die Hosentasche, aus der er einen Schlüsselring mit einem Haustürschlüssel und einem Briefkastenschlüssel hervorzog. »Ich lege dir den Autoschlüssel auf die Kommode im Flur, falls deine Tochter das Auto in der Zeit nutzen möchte.«
Raphael genoss die Busfahrt über die Alpen, die er bislang nur aus der Vogelperspektive gekannt hatte. Auf deutscher und österreichischer Seite hatte es geregnet, doch sobald sie den Brenner passiert hatten, schien die Sonne. Raphael hatte das Gefühl, in eine neue Welt einzutauchen, und wurde allmählich unruhig auf seinem zu engen Sitz. Der Bus war nicht voll besetzt, sodass Raphael seinen Rucksack auf dem Sitz neben sich stehen hatte. Als der Bus auf den Bahnhof von Meran zurollte, checkte Raphael die eingehende Nachricht auf seinem Handy.
»Steah mitn Auto an dor Station, a gelbe Panda, Targa AZ548GKBZ.«
Raphael nahm seinen grünen Rollkoffer und hielt über die Schultern der Umstehenden hinweg Ausschau nach einem gelben Fiat Panda. Er erblickte ihn halb auf der Straße geparkt. Neben dem Kofferraum stand ein Mann von beachtlichen Körpermaßen und zeigte auf sein Nummernschild. Jetzt erschloss sich Raphael die Kombination von Buchstaben und Zahlen in der SMS.
»Guaten Nommitog«, brummte der Alte und musterte Raphaels Koffer und seinen Wanderrucksack.
»Gudden Nomëtteg«, grüßte Raphael erfreut, denn bislang hatte er nur in Großbritannien erlebt, dass man sich einen guten Nachmittag wünschte.
Mehr verstand er allerdings nicht von dem, was der Mann sagte. Das merkte dieser wohl, denn er fragte in bemühtem Hochdeutsch, ob Raphael zum ersten Mal in Südtirol sei. Er schob eine Kiste mit Pilzen im Kofferraum beiseite und versuchte, Raphaels Gepäck hinein zu hieven. Wenigstens der Rucksack fand dort Platz. Auf der Rücksitzbank saß ein großer, zottiger Hund und wackelte aufgeregt mit den Ohren. Raphael schob den Beifahrersitz in die hinterste Sitzposition und versuchte, den Koffer so auf dem Schoß zu halten, dass der Fahrer noch an den Schaltknüppel kam, sie sich aber nicht mehr sehen konnten. Damit erübrigte sich jedes weitere Gespräch. Raphael starrte fasziniert durch das Seitenfenster auf die Vielzahl an Autos, die sich durch die Kreisverkehre schoben, mehrheitlich mit deutschen Kennzeichen. Das Auto schraubte sich den Berg hinauf und Raphael fragte sich nicht länger, warum es die einzige Unterkunft gewesen war, die er kurzfristig hatte buchen können. Die meisten Hotels und Pensionen waren ihm als belegt angezeigt worden oder waren nur für wenige Tage, nicht jedoch für zwei Wochen verfügbar gewesen. Je größer die Steigung wurde, desto erstaunlicher fand Raphael es, dass der Alte einen Kleinwagen fuhr. Nur die zuweilen schmalen Durchfahrten erklärten die gewählte Größe des Autos.
»Allrad«, brummte der Alte, als könnte er Raphaels Gedanken lesen, und fuhr, ohne anzuhalten, um eine spitze Kehre und eine gefühlte Steilwand hinauf.
»Mir sain do.« Das Auto hielt vor einem einsam stehenden großen Hof, dessen Holzbalkone das Meer an Geranienblüten kaum tragen zu können schienen. Der Alte knurrte etwas, aus dem Raphael schloss, dass die Frau seines Gastgebers in der Küche sei. Er sollte einfach schon durchgehen, da der Alte in den Stall müsste. Raphael wuchtete den Koffer auf den Boden und friemelte seinen Rucksack aus dem Kofferraum. Der Alte hatte im Vorbeigehen die Tür zur Rückbank geöffnet und nun schnupperte der Hund, ohne dass er den Hals recken musste, an Raphaels Händen und leckte sie neugierig ab.
»Der isch brav, kimm lai innor, griaß di!«, bat eine Frau undefinierbaren Alters. »Es Madl kimp glai. I zoag enk es Zimmer.«
Wie jeder Luxemburger sprach Raphael fließend Luxemburgisch, Deutsch und Französisch. Außerdem Englisch wie fast jeder seines Alters. Aber hier stieß er an seine Grenzen.
Ein Auto fuhr vor und eine stämmige Frau mittleren Alters stieg aus. Die Gesichtszüge und der Körperbau wiesen sie unzweifelhaft als die Tochter des Hauses aus.
»Ah, schön, dass Sie da sind. Hatten Sie eine gute Anreise? Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«
Sofort fühlte sich Raphael sicherer und folgte der Frau in den zweiten Stock. Er musste auf der Treppe den Kopf einziehen, und auch in seinem Dachzimmer konnte er nur mit Mühe aufrecht stehen. Dafür belohnte ihn ein traumhafter Blick vom Balkon über die Stadt Meran, einige Dörfer, Täler und Berge und entfernt stehende Hütten. Raphael hielt sich am Geländer fest und sog die frische Luft tief in seine Lungen.
»Wie sind Sie ausgerechnet auf uns gekommen?«
Raphael wägte ab, wie viel Wahrheit sie vertrug.
»Ich seh’ es Ihnen an, wir waren das einzige Haus, das noch freie Zimmer hatte.«
Raphael lächelte entwaffnet.
»Die Lage ist nicht gerade verlockend. Die Mama hat gesagt, Sie haben gleich für zwei Wochen gebucht. Aber wir nehmen es Ihnen nicht übel, wenn Sie sich nach ein paar Tagen etwas anderes suchen. Frühstück gibt es von acht bis halb zehn, vorher haben wir noch keine Vinschger. Danach muss der Tata arbeiten und die Mama fährt meist mit. Richten Sie sich erst einmal ein.«
Raphael kehrte hinter ihr in sein Zimmer zurück und fragte sich, was es hier einzurichten gäbe. Es gab ein Bett, das für ihn nur dann lang genug zu sein schien, wenn er diagonal schlief. Daneben ein kleines Holztischchen mit einer Lampe. Ein Kleiderschrank stand an der einzigen Wand ohne Dachschrägen. Daneben gab eine geöffnete Tür den Blick frei in ein winziges Badezimmer mit einer Dusche, die durch einen geblümten Duschvorhang abgetrennt war. Raphael sah auf die Uhr.
»Gibt es hier auch Abendessen? Oder ein Restaurant in der Nähe?«
Die Frau lachte laut auf. »Sie sind zum ersten Mal auf einer Alm, oder? Sie können heute Abend ein paar Bratkartoffeln mit Spiegelei bekommen oder eine Kaminwurz, sonst gibt es hier nichts mehr, wir haben ja keine Gaststube. Dazu gibt es Wein, Bier oder Buttermilch. Kommen Sie einfach gleich hinunter in die Stube. Ich muss jetzt der Mutter zur Hand gehen.«
Damit ließ sie ihn stehen. Raphael starrte ratlos auf seinen großen Koffer und den modernen Wanderrucksack. Sollte er die überhaupt auspacken? Er setzte sich auf das Bett und freute sich, dass die Matratze hart, jedoch nicht zu hart war. Er streifte die Schuhe von den Füßen, streckte sich aus, ärgerte sich noch, dass die Bettdecke wie so oft zu kurz für ihn war, dann schlief er ein.
Ob Raphael von dem Geräusch seines knurrenden Magens oder der Übelkeit aufgewacht war, konnte er nicht unterscheiden, er wusste nur, dass er fürchterlichen Hunger hatte. Vor den Sprossenfenstern war es stockfinster. Raphael setzte sich auf die Bettkante und versuchte, sich im Dunkeln zu orientieren. Er griff dorthin, wo er sich an die Tischleuchte erinnerte, und ihren Schalter vermutete, doch sie blieb dunkel. Er stand auf, um sich zum Lichtschalter neben der Tür voranzutasten, und stolperte über etwas Großes am Boden. Bevor er darüber nachdenken konnte, ob er seinen Rucksack oder seinen Koffer dort stehen gelassen hatte, ertönte ein dumpfes Knurren. Nun wusste Raphael auch, warum seine Augen und seine Nase zugeschwollen waren. Kurze Zeit konnte er einen Hund ertragen, aber eine ganze Nacht war wohl zu viel gewesen. Während sich der Hund aufrappelte, stieß Raphael vornüber gegen den Kleiderschrank. Im Hausflur ging das Licht an. Endlich konnte Raphael sich orientieren und das Deckenlicht einschalten.
»Alles in Ordnung! Bitte entschuldigen Sie, ich bin über den Hund gestolpert«, rief Raphael verhalten.
»Sandler, kimm!«, erschallte die knappe Ansage des Alten und der Hund trottete die knarzenden Holzstufen hinab. Raphael warf einen verschwommenen Blick auf seine Armbanduhr, es war kurz nach vier in der Früh.
»Oan Kaffee?«, klang es von unten. Raphael fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, zog seinen Pullover zurecht, schlüpfte in seine Schuhe und schlich die Treppe hinunter, was nicht lautlos möglich war. In der Küche hantierte der Alte mit einem metallenen Espressokocher. Raphael dämmerte es langsam, dass er die Tiere im Stall versorgen musste und auch ohne den Lärm aufgestanden wäre. Dankbar nahm Raphael den Kaffee an und schielte zu einem Apfel in der Obstschale.
»Nimm«, kam eine knurrige Aufforderung und Raphael war dankbar für die Einsilbigkeit des Bauern. Herzhaft biss er in den Apfel und erfreute sich am aromatischen Geschmack. Der Alte goss ihm einen Kaffee ein, der stark und heiß war. Raphael hätte sich viel Zucker gewünscht, aber er wagte nicht, den Mann darum zu bitten. Dieser kippte seinen Kaffee hinunter und verließ wortlos die Küche, den Hund an seiner Seite.
Raphael folgte den beiden und erschauderte, als er in die kühle Nachtluft trat. Die feuchte Wiese roch frisch und würzig, nur das Muhen einer Kuh und das Rascheln einer Maus im Gras waren zu hören. Er war hellwach und voller Tatendrang. Raphael schaute in den Stall, wusste jedoch gleich, dass er sich dort mit seinen bequemen Businessslippern an den Füßen nicht würde nützlich machen können. Er schlich die Treppe wieder hinauf, zog die neuen Wanderschuhe aus dem Koffer und kehrte mit ihnen an den Füßen in den Stall zurück. Der Bauer blickte ihn wortlos an und drückte ihm eine Mistgabel in die Hand. Raphael schaufelte das stinkende Stroh in Schubkarren, die er zum Misthaufen fuhr, bis die Sonne das erste Licht hinter den Bergen aufleuchten ließ.
Raphael wusste nicht, was ihn mehr erschreckte: Der Hund, der ihm die Schnauze in die Kniekehlen stieß, oder die Tochter des Alten, die ihn von hinten ansprach und ihm ein Brot und einen Kaffeebecher entgegenhielt.
»Das ist aber nett, dass Sie mir meine Arbeit abgenommen haben. Sind Sie immer so früh auf den Beinen?«
Raphael erklärte, dass er am Vorabend einfach eingeschlafen und dadurch früh erwacht sei, eigentlich sei er ein Langschläfer.
»Ich fahre gleich wieder in die Stadt hinunter. Falls Sie lieber bergauf wandern, kann ich Sie mit hinunternehmen und Sie können zur Alm zurücklaufen.«
Das klang nach einem verlockenden Angebot. Raphael versprach, sich mit dem Umziehen zu beeilen. »Möchten’ S den Hund mitnehmen? Er findet immer nach Hause«, schlug die Bäuerin vor und wie zur Bestätigung leckte der Hund Raphaels Hand ab, die nach Wurstbrot schmeckte.
»Warum nicht, wir beide sind uns ja schon nähergekommen. Wir sollten uns nur auf Dauer nicht allzu nah kommen, wegen meiner Allergie.« Raphael ging ins Haus, um sich eine Wanderhose, warme Strümpfe und vor allem ein frisches T-Shirt anzuziehen.
Im Hof hupte die junge Frau, als Raphael noch dabei war, seine Frisur zu richten. Aufs Rasieren würde er verzichten müssen. Das hatte er seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr ausfallen lassen. War das der Ruf der Wildnis? Er musste schmunzeln. Den Inhalt seines Rucksacks schüttete er aufs Bett, füllte rasch seine Flasche mit Wasser und wühlte im Koffer nach der dicken Jacke.
»Kemmen‘S, der Sandler ist schon im Auto. Ich habe eine Wanderkarte für Sie eingepackt und eine Semmel, ich zeig Ihnen den Weg.«
Raphael sah sofort, dass es sich auch bei dem Geländewagen um einen Allradantrieb handelte. Ihm fiel das grobe Profil der Winterreifen direkt ins Auge.
»Ich hoffe, wir bekommen in den nächsten Tagen noch keinen Schnee«, ging die junge Frau auf seinen Blick ein. »Sobald es hier oben ungemütlich wird, ziehen wir normalerweise ins Tal. Ich habe da eine Wohnung und pendle zwischen dieser und dem Haus meiner Eltern hin und her. Sie brauchen immer mehr Hilfe, darum geben wir die Tiere in den nächsten Tagen ab. Künftig gibt es keinen Grund mehr, am Berg zu bleiben. Außer natürlich dem Fremdenzimmer.«
»Um Gottes willen, wegen mir müssten Sie nicht bleiben. Ich finde sicher etwas im Tal für ein paar Tage.«
Raphael krallte sich am Türgriff fest, als der Geländewagen um die Kurve sauste.
»Wie weit möchten Sie denn laufen? Ich kann Sie überall herauslassen.«
Raphael war ob des Fahrstils der Frau versucht, sofort auszusteigen, bat aber darum, ein Stück weiter ins Tal mitgenommen zu werden. An einer Straßengabelung stoppte der Geländewagen.
»Sie sollten sich eher links halten, sonst landen Sie auf dem falschen Berg und müssen alles wieder zurückgehen. Folgen Sie einfach dem Sandler und den Schildern zu unserem Hof. Rot-weiße Markierungen mit der Nummer neunzehn weisen Ihnen den Weg. Von den gelb-schwarzen würde ich abraten. Ich habe Ihnen meine Handynummer aufgeschrieben. Falls Sie es bis heute Abend nicht geschafft haben, rufen Sie mich an.«
Sie drückte Raphael die Hundeleine, eine Wanderkarte sowie einen Zettel in die Hand. Raphael stieg aus, ließ den Hund herausspringen und schulterte seinen Rucksack.
»So, Hund, dann suchen wir mal den Heimweg«, sagte Raphael und blickte sich nach den passenden Hinweisschildern um.
Raphael erwartete, dass seine Füße zischen würden, als er sie in den plätschernden Bach neben dem Weg hielt. Der Hund schlabberte gierig das kühle Wasser, sprang schließlich ganz hinein und folgte dem Bachlauf bergauf.
»Hey, Sandler, hierher«, rief Raphael, als er einen Mann um die Wegbiegung kommen sah. Der stutzte und blickte ihn finster an.
»Na, komm her, Sandler.«
Der Mann trug ein blaukariertes Hemd, Jeans und derbes Schuhwerk. Er baute sich vor dem am Boden sitzenden Raphael auf.
»Was sagen Sie?«, fragte er in drohendem Tonfall.
»Das ist nicht mein Hund, leider hört er nicht auf mich. Sandler, komm schon!«
Der Alte lachte, bis ihm die Tränen die Wangen hinunterliefen. Raphael sah ihn verständnislos an. Der Mann zog ein großes Stofftaschentuch hervor und wischte sich das Gesicht.
»Ihnen hat wohl niemand verraten, was ein Sandler ist?« Er reichte Raphael die Hand. Dieser fühlte sich im Schatten des Mannes unwohl und versuchte, auf den nassen Steinen aufzustehen. Raphael zögerte, dann ergriff er die dargebotene Hand des Mannes und ließ sich von ihm hochhelfen.
»Ein Sandler ist ein Stadtstreicher. Und es klang nicht gerade wohlmeinend, von Ihnen so gerufen zu werden«, erklärte der Einheimische.
Jetzt musste auch Raphael lachen. »Oh, ein Clochard. Das tut mir leid, das muss ja wie eine Beleidigung gewirkt haben.«
Unterdessen trottete der Hund heran und schüttelte das lange Fell, das triefend an seinem Körper klebte, sodass beide Männer nass wurden. Er stupste Raphael an, als wollte er weitergehen.
Der Mann sah auf Raphaels Füße, die nicht nur wegen des kalten Wassers gerötet waren. Sein Blick schweifte zu den Schuhen in Raphaels Hand. »Die erste Tour mit neuen Wanderschuhen? Und wie weit laufen Sie?«
Raphael schaute den Mann zerknirscht an. »Die erste richtige Wanderung meines Lebens. Mit neuen Schuhen, mit einem unbekannten Hund, in unbekanntem Gelände, ohne eine Vorstellung davon, wie lange ich für die Strecke brauchen werde. Kein guter Einstieg in den Ausstieg.«
Die Falten um die Augen des Mannes zuckten. Raphael hielt es für eine Mischung aus Belustigung und Mitgefühl, konnte jedoch in den wettergegerbten Zügen des Unbekannten nicht wirklich lesen. Er verzog das Gesicht, als er seine geschundenen Füße wieder in die Schuhe zwängte, und erzählte, wie es dazu gekommen war, dass er mit dem Hund den Aufstieg auf den Berg versuchte.
»Bis zum Jochrhof? Das ist noch ein ordentliches Stück. Wohnen Sie etwa da?« Der Alte reichte Raphael einen Apfel, den dieser mit Appetit aß. »Sie brauchen ordentliche Wanderstrümpfe. Außerdem binden Sie die Schuhe zu locker. Darf ich?« Er beugte sich hinab und band Raphaels Schuhe neu. »Haben Sie wenigstens genug zu trinken dabei?«
Raphael zog die leere Wasserflasche aus dem Rucksack. »Die wollte ich mir eben im Bach füllen, gut, dass Sie mich daran erinnern.«
»Das ist kein Bach, das ist ein Waal.« Der Alte erklärte, dass diese künstlichen Bachläufe ganz Südtirol durchzogen und schon seit dem dreizehnten Jahrhundert der Bewässerung der Apfelplantagen und inzwischen auch der Weinberge dienten. »Mein Hof ist um die Ecke. Eine Kaminwurz hätte ich für Sie, ein Stück Speck und ein Paarl. Und natürlich einen Apfelsaft oder eine Flasche Wein.«
Dankbar ging Raphael mit und lernte, dass ein Paarl ein mit Brotklee, Fenchel und Kümmel gewürzter kleiner Brotfladen war, der paarweise gebacken wurde. Er probierte einen Käse und für den Sandler gab es ein Stück Wurst. Dazu trank Raphael eine halbe Flasche Rotwein, einen Vernatsch, von dem er bislang nie gehört hatte, und anschließend noch einen Espresso, der hier einfach nur Kaffee hieß.
»Schade, dass Sie keine Fremdenzimmer haben.«
»Doch, habe ich, allerdings nur Wohnungen, keine Zimmer, das ist mir zu aufwändig. Doch im Oktober ist alles auf lange Sicht ausgebucht, da hätten Sie früher anfragen müssen.«
Raphael fragte nach einer Visitenkarte und der Alte lachte. »Für meinen Hof brauche ich so einen neumodischen Kram nicht. Hier, nehmen Sie die halbleere Weinflasche mit, da steht alles drauf, was Sie wissen müssen.«
Raphael wollte stattdessen eine neue Flasche kaufen, aber der Mann machte ihn darauf aufmerksam, dass er das alles tragen müsse.
»Dann komme ich in den nächsten Tagen noch einmal vorbei.« Er steckte die Flasche in den Rucksack, aus dem er seinen Geldbeutel herauszog.
»Fünfzehn Euro und ein Vergelt’s Gott«, wollte der Alte für die Marende, wie er die Brotmahlzeit nannte. Raphael legte ihm einen Zwanzigeuroschein hin und rief den Sandler, dann ließ er sich den Weg zeigen und begab sich gestärkt an den weiteren Aufstieg.
Der Hund lief meist still neben Raphael her, mal ein wenig vor ihm, mal ließ er sich zurückfallen. Als sie an einem einsam gelegenen Holzhaus vorbeikamen, schlug der Hund plötzlich an. Raphael hakte die Leine im Halsband ein und sah sich aufmerksam um.
Auf dem Hof stand ein Range Rover ohne Kennzeichen, vermutlich über den Winter abgemeldet. Alle Klappläden des Hauses waren geschlossen, es war kein Laut zu hören. Der Sandler knurrte alarmierend.
»Hast du ein Reh gewittert?« Raphael streichelte dem Hund den Rücken und zog an der Leine, um die letzten einhundert Höhenmeter zu erklimmen. Doch der Hund stemmte die Beine in den Boden. Raphael gab ihm ein wenig Wasser und ein letztes Stück Wurst und zerrte ihn schließlich hinter sich her.
Das kommende Stück des Weges führte über eine gewundene Straße. Raphael hatte den Eindruck, diese gestern bereits aus dem Autofenster heraus gesehen zu haben. Als er Motorengeräusche von hinten hörte, trat er zur Seite. Er freute sich, als er in der Fahrerin des Autos die Tochter des Hauses erkannte, die ihn und den Hund einsammelte und ihm somit das letzte steile Stück ersparte.
Raphael war so erschöpft von seiner ersten Wanderung, dass er wieder früh einschlief. Dabei half die zweite Hälfte der Weinflasche, aber auch die fehlende Möglichkeit, sich mit seiner Beherbergungsfamilie zu unterhalten, nachdem die Tochter in ihre Stadtwohnung gefahren war.
Am nächsten Morgen erwachte er abermals sehr früh, sein Buch lag noch aufgeschlagen auf seinem Kopfkissen. Er musste lange warten, bis es endlich Frühstück gab. Unterdessen versuchte er, ein paar Nachrichten vom Vortag auf seinem Handy zu beantworten, merkte jedoch, dass er kein Netz hatte. Die Nachrichten würden also erst gesendet werden, wenn er wieder im Tal war.
Zum Frühstück gab es einen der leckeren schwarzen Kaffees, dazu ein Spiegelei, ein wenig rohen Schinken, der hier Speck hieß, und dazu ein getrocknetes, gewürztes Brot, das ihn an Knäckebrot erinnerte und Schüttelbrot genannt wurde.
Als er zurück in sein Zimmer kam, war das Bett gemacht, und auch sein Koffer war ausgepackt und seine Kleidung in den Schrank geräumt worden. Raphael glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Sein Buch lag mit einem Lesezeichen auf dem wackligen Tisch neben dem Bett, die Glühbirne brannte jedoch noch immer nicht. Einem ersten Impuls folgend hätte er der Bauersfrau gern erklärt, dass er ihr Gast, nicht ihr pubertierender Sohn war. Aber er wusste, dass sie weder seine Sprache noch seine Aussage verstehen würde. Er suchte seinen Zimmerschlüssel – auch wenn ihm bewusst war, dass die Wirtin einen Zweitschlüssel hatte – doch er fand keinen. Und auch die Weinflasche vom Vortag war verschwunden, sodass Raphael nun weder den Namen, noch die Anschrift des zuvorkommenden Mannes wusste, den er ja heute noch einmal hatte besuchen wollen. Er schnürte seine Wanderschuhe, wie der Mann es ihm gezeigt hatte, und rief den Sandler. Sollten die Bauersleute sich wenigstens ein paar Sorgen um den Hund machen, wenn er ihnen schon nicht die Meinung sagen konnte.
Die Wolken hingen so tief, dass der Hof in einem tristen Nebel eingefroren zu sein schien. Die Feuchtigkeit legte sich auf die Wiesen, die Kleidung, das Gemüt. Mit ausgreifenden Schritten stieg Raphael den Weg von gestern hinab, der im Nebel und in der Gegenrichtung neu auf ihn wirkte. Der Sandler scharwenzelte um seine Beine und Raphael kam aufgrund der Steigung zweimal fast zu Fall. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Wanderstöcke zu kaufen. Jedes Mal, wenn ihm Wanderer begegneten, nahm Raphael den Hund an die Leine. Sonst lief der Sandler frei durchs niedrige Gesträuch und unter den Lärchen und Laubbäumen hindurch.
Als sie sich der Holzhütte näherten, fing er wie schon am Vortag an zu bellen. Raphael wollte ihn an die Leine legen, doch der Hund wich ihm aus und hielt direkt auf die Hütte zu. Das Auto war fort, die Läden weiterhin verschlossen. Der Hof wirkte noch verlassener als am Vortag. Raphael rief den Sandler, aber er reagierte nicht und verschwand aus Raphaels Blickfeld. Raphael folgte dem Winseln des Hundes. Als er den Sandler und dessen Fund endlich entdeckt hatte, erstarrte er.
»Bin im Weinberg«war auf einem Schild neben der Tür des freundlichen Bauern von gestern zu lesen, außerdem eine Nummer, die Raphael anrief. Er erklärte, dass er der Wanderanfänger mit den neuen Schuhen und dem Hund sei.
»Der Sandler«, sagte der andere lachend und fragte, ob er Wein-Nachschub brauche.
»Später, erst brauche ich einen Rat. Der Hund hat etwas aufgespürt und ich wollte die Polizei rufen, aber es gibt so viele verschiedene Einheiten, ich verstehe nicht, welche davon ich anrufen muss.«
Der Alte sagte, er sei nur drei Reihen unterhalb des Hofes und käme gleich zu ihm. Dann legte er auf. Der Hund versteckte sich winselnd unter einem Tisch und Raphael konnte ihn nicht hervorlocken. Also setzte er sich zu ihm und kraulte ihm das Fell, bis der Alte zu ihnen stieß. Mühsam kletterte Raphael unter dem Tisch hervor.
»Was macht einem Stadtmenschen solche Angst, dass er gleich die Polizei rufen möchte?«, fragte der Alte mit einem vergnügten Schmunzeln im Gesicht.
»Ein toter Hund.«
»Der Sandler?«
Dieser kam mit eingezogenem Schwanz unter dem Tisch hervorgekrochen, als er seinen Namen hörte, und robbte auf den Alten zu.
»Du lebst, da bin ich ja froh«, sagte der Alte augenzwinkernd und umfasste den Kopf des Hundes liebevoll mit beiden Händen.
»Auf dem Weg von hier zum Jochrhof ist eine Holzhütte im Wald, bergauf eine knappe Stunde von hier.«
»Ja, ich weiß. Der Hof ist heuer unbewohnt, der Besitzer sucht für das kommende Jahr einen neuen Pächter.«
»Hinter dem Haus liegt ein toter Hund. Ein Jagdhund, würde ich sagen.«
»Dem Jagdaufseher ist einer abgängig, erzählt man sich«, hakte der Alte ein.
»Er ist erschossen worden, aber er scheint da nicht ganz frisch zu liegen, er ist ziemlich angenagt«, erzählte Raphael und schüttelte sich bei dem Gedanken.
»Besser, ich ruf den Jagdaufseher und nicht die Polizei. Soll er sich selbst darum kümmern. Und dir hole ich erst mal einen Schnaps«, erklärte der Alte und zog sein Handy aus der Hosentasche.
»Der Johann fährt gleich zur Hütte rauf. Bleib sitzen, dich braucht er nicht. Aber er kann dich anschließend zurück zum Jochrhof bringen.« Der Alte war nahtlos vom Sie zum Du übergegangen.
»Ich heiße Raphael, Raphael Schleck.«
»Freut mich, Raphael, ich bin der Luis, der Walcher Luis. Da du wieder den Hund vom Jochrhof dabeihast, nehme ich mal an, du wohnst noch immer droben?«
Raphael war dankbar für den Themenwechsel. Er erzählte, dass die Bäuerin am Morgen ungefragt seine Sachen durchwühlt hätte und er einen Grund suchen würde, das Mietverhältnis ohne finanziellen Verlust aufzuheben.
»Ich glaube, die Zmailer Anna hat ein Einzelzimmer frei, was sie normalerweise nicht mehr vergeben tät. Die vermietet nur mehr Doppelzimmer mit Talblick, aber sofern sie nicht eine Rumpelkammer aus dem Zimmer gemacht hat, ist es sicher frei. Für ein paar Tage wirst du dort gewiss unterkommen können. Morgen wird es droben beim Jochrhof eh schnei’n, dann gibt es kein Frühstück und die Alten wissen kaum, wie sie das Haus g’scheit heizen sollen. Wenn du noch eine weitere Nacht droben schläfst und morgen erst abreist, warst du länger da als die Gäschte es üblicherweise aushalten.«
Raphael lachte erleichtert auf. »Den Sandler werde ich vermissen, sonst bin ich froh, wenn das vorbei ist. Nicht meine beste erste Erfahrung mit Südtirol. Schließlich noch dieser angenagte Hund …«
»Trink noch einen«, sagte Luis und goss nach.
Zum ersten Mal hatte Raphael gut geschlafen. Der Sandler lag vor seinem Bett, aber die Allergie störte ihn inzwischen weniger, und die Anwesenheit des Hundes tröstete ihn. Sobald er die Hand aus dem Bett hielt, war der Hund auf den Beinen und leckte seine Finger. Ansonsten verhielt der Sandler sich seit seinem gestrigen Fund, als hätte er einen Freund verloren.
Raphael hatte seine Habseligkeiten bereits gestern Abend in Koffer und Rucksack gepackt. Er hatte mit Luis vereinbart, dass dieser ihn abholte, falls Raphael nicht bis zum frühen Nachmittag auf seinem Hof wäre. Raphael hoffte, dass die Tochter des Hauses auch heute vorbeikommen würde, aber als er die Klappläden zurückschlug, blickte er auf eine große, weiße Fläche. Vom Haus zum Stall sah man Fußspuren im Schnee, sonst lag der Hof unberührt und still. Es war kalt in Raphaels Zimmer, fast hatte er das Gefühl, kleine Wölkchen beim Ausatmen sehen zu können.
Raphael ging unter die Dusche, wartete jedoch vergeblich auf warmes Wasser und rieb sich die kalten Beine ungeduscht mit einem Handtuch ab. Er zog ein T-Shirt, ein Hemd und zwei Pullover übereinander, rasierte und frisierte sich. Sobald er die Zimmertür öffnete, schlich der Hund an ihm vorbei die Stiege hinab in die Stube.
»Dor Schnea kimp fria huier«, murmelte die Bäuerin und versuchte vergebens, den Kachelofen anzufeuern. »Es Holz isch noss. I hon an Kaiserschmorrn in Rèarl. Die Goggelen miesen weg.« Dabei zeigte sie auf eine Handvoll brauner Eierschalen.
Den Rest verstand Raphael zwar noch weniger, schloss aber aus den Gesten der Alten, dass heute die Tiere abgeholt würden und die Bauersleute ins Tal zu ihrer Tochter ziehen wollten. Raphael könne bis abends warten, wenn die Tochter käme, oder er würde mit dem Traktor ins Tal mitfahren. Raphael tat erbost, weil er schließlich zwei Wochen gebucht hätte.
»Dann zohlts nocher firs Essen und fertig.«
Raphael freute sich insgeheim, dem Hof so gut entrinnen zu können. Er ging auf sein Zimmer und polterte ein wenig, als müsse er packen, dann schleppte er das Gepäck in die Diele und wartete auf seine Mitfahrgelegenheit.
»Typisch, du weißt genau, dass ich das Einzelzimmer nicht mehr vermiete. Aber wie könnte ich dir eine Bitte abschlagen, Luis?«, sagte die flotte Mittsechzigerin, die sich Raphael als »Zmailer Anna« vorgestellt hatte, und stupste Luis in die Seite.
»Das sind mir ja ganz neue Töne. Wenn du mir keine Bitte abschlagen kannst, heißt das also, wir beide gehen heute Abend zusammen essen?«
»Ach, Luis! Nein, wir gehen nicht essen. Du weißt, dass Silvio sich nicht wohlfühlt, wenn wir den ganzen Abend Deutsch miteinander sprechen.«
»Er muss ja nicht mitkommen«, sagte Luis trotzig.
»Find dich endlich damit ab, dass er zu mir gehört.«
»Ein Italiener!«, rief Luis geringschätzig. »Weißt du noch, als wir jung waren und nach Schenna in die Disco gegangen sind? Da hat dein Vater gesagt, du sollst ihm bloß keinen Italiener mitbringen, der käme ihm nicht über die Schwelle. Damals hatten wir noch Chancen bei den Madln, heute machen sich die Italiener hier breit.«
»Es kommt nicht darauf an, wo jemand herkommt, sondern wie jemand ist. Und der Silvio ist charmant, er ist fleißig …«
»Ein fleißiger Süditaliener, das wäre ja mal ganz etwas Neues«, unterbrach Luis sie. »Irgendwann ist er weg, spätestens, wenn seine Mama ihn ruft. Und mit ihm wahrscheinlich all deine Ersparnisse.«
Raphael folgte dem Schlagabtausch interessiert, sah aber zugleich seine Felle davonschwimmen und fürchtete, dass er bald ohne Bleibe dastehen würde. Er räusperte sich in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit auf sich lenken zu können.
Anna Zmailer sah ihn lächelnd an. »Natürlich lasse ich Sie nicht auf der Straße stehen, ich habe mein Bettenkontingent noch nicht reduziert und darf das Zimmer also vermieten. Aber ich sag Ihnen gleich, es ist wirklich klein und spartanisch. Und Sie schauen auf den Berg, nicht hinunter ins Tal. Aber es ist frei, was ja Mitte Oktober eher selten ist. Fahren Sie mir einfach hinterher.«
Raphael hob bedauernd die Schultern und zeigte auf sein Gepäck. »Ich bin ohne Auto da, könnten Sie mich mitnehmen?«
»Na, soll der Silvio eben auch kommen. Ihr könnt ja Italienisch miteinander sprechen, wenn es sein muss«, lenkte Luis ein. »Der Raphael weiß doch nicht, wo man hier essen gehen kann, wir gehen alle zusammen.«
Anna Zmailer legte Luis die Hand auf den Arm. »Ich habe Gäste, die bei mir Abendessen bestellt haben. Geht ihr beide mal.«
»Ich hole dich um halbe achte ab«, sagte Luis ergeben zu Raphael und übergab diesen in Annas Obhut.
»Er hat es mir nie verziehen, dass ich ihn habe abblitzen lassen. Ich war damals gerade mal achtzehn und dachte, wir hätten eine Zukunft miteinander. Aber er wollte sich lieber ein geiles Motorrad kaufen und ist darum weggegangen, zu den Carabinieri in Süditalien, und hat dort seine Militärzeit abgeleistet. Er hatte da wohl auch das eine oder andere Techtelmechtel. Man kann sich nicht aussuchen, wo man hinkommt. Er hätte sich etwas anderes suchen können, etwas in der Nähe, aber als Carabiniere gab es das meiste Geld. Als ich verstanden habe, dass Motorräder für ihn immer wichtiger sein würden, habe ich jemand anderen geheiratet. Wir haben zwei prächtige Buben bekommen. Das hat er nie verwunden, vor allem, weil er keine Kinder hat. Und seit seine Frau nicht mehr da ist, hegt er wieder Hoffnungen.«
Raphael hörte neben der Entschlossenheit auch Enttäuschung in ihrer Stimme.
»Er bewirtschaftet den Hof also allein?«
»Ja, mit gutem Erfolg«, gab Anna Zmailer zu und hielt vor einer hübschen, mehrgeschossigen Pension mit zahlreichen Balkonen. »Wenn Sie die Kette öffnen, kann ich auf meinen eigenen Parkplatz fahren. Sobald ich den nicht absperre, fahren mir die Wanderer bis ins Haus, um keinen Meter zu viel gehen zu müssen.«
Raphael öffnete die Absperrung und hob sein Gepäck aus dem Kofferraum. Er sah bewundernd zu, wie die Mittsechzigerin gekonnt ihr Auto an den schlecht geparkten Fahrzeugen mit ausnahmslos deutschen Kennzeichen vorbei lavierte und in einer steilen Auffahrt zum Stehen brachte.
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