Feuer über der Mosel - Moni Reinsch - E-Book

Feuer über der Mosel E-Book

Moni Reinsch

4,9

Beschreibung

Tage der Gewalt in der ältesten Stadt Deutschlands Trier hat in der Vergangenheit viel Schlimmes gesehen. Aber in der Gegenwart wüten erneut die Flammen der rechten Gewalt. Bei einer Demonstration vor der Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende in Trier wird der rechtspopulistische Politiker Michael Witzmann erschossen. Der Mörder kann unerkannt fliehen. Zeugenaussagen lassen zwar rasch Zweifel an einem Täter aus Flüchtlingskreisen aufkommen, aber dennoch kommt es bei der 1. Mai-Kundgebung am kommenden Tag zu Aufständen in der Innenstadt. Bürgerinitiativen pro Asyl, Wutbürger, Rechts- sowie Linksradikale und Flüchtlinge stoßen aufeinan¬der. Die Polizei ist von den spontanen Ausschreitungen überrascht. Beim Freitagsgebet in der Moschee ereignet sich ein Brandanschlag. Es gibt zahlreiche Tote und Verletzte. Kriminalkommissarin Vanessa Müller-Laskowski und ihr Team versuchen ebenso verzweifelt wie der Rest der Trierer Polizei, bei dem herrschenden Chaos zwischen Mahnwachen und Schweigemärschen, rechter Randale und Straßenschlachten voll blinder Gewalt, den Überblick zu behalten. Sie sind auf der Suche nach einem Mörder, und das schien nie so schwer zu sein, wie inmitten dieses Infernos an der Mosel.

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Moni & Simon ReinschFeuer über der Mosel

Moni Reinsch, geb. 1968, lebt mit ihrer Familie in Trier. Sie hat alles mal probiert (Bank, Marketing, Personalwesen, Psychologie), lebt aber eigentlich fürs Schreiben.

Ihr Sohn Simon Reinsch, geb. 1993, studiert zurzeit Medieninformatik in Birkenfeld.

Der gemeinsame Krimi »Moselruh« erschien im Sommer 2015 bei KBV.

Moni & Simon Reinsch

Feuerüber der Mosel

Originalausgabe

© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von: © Tobias Arhelger - www.fotolia.de

Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach

Print-ISBN 978-3-95441-314-0

E-Book-ISBN 978-3-95441-331-7

Danke Marcus,ohne Dichgäbe esweder Simonnoch unsere Krimis.

INHALT

Feuer über der Mosel

Anhang: Hei gitt Platt geschwoat:Trierische Mundart-Dialoge auf Hochdeutsch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Danksagung

Ich warte, bis der Applaus für meinen Vorredner verebbt. Er hat eine typische Rede gehalten, wie es Anfänger gerne tun, aber immerhin hat er gesprochen. Jetzt bin ich an der Reihe, und es ist Zeit für eine echte Rede.

»Liebe politisch interessierte Mitbürger. Ich danke euch, dass ihr an diesem Samstag so zahlreich erschienen seid, um Trier und ganz Deutschland zu zeigen, dass wir nicht eher ruhen werden, bis sich in diesem Land etwas verändert hat.«

Ein paar Danksagungen und Begrüßungen hier, ein paar Bauchpinseleien da, und schon kann ich wirklich beginnen.

»Wir sind heute hier, jeder Einzelne von uns, weil wir mit der politischen Lage in Deutschland nicht zufrieden sind. Aber Unzufriedenheit alleine bringt uns nicht weiter. Taten sind es, die etwas bewegen. Wir sind hier, weil wir daran glauben, etwas bewegen zu können. Wir sind die Chance auf eine politische Erneuerung in der Bundesrepublik.«

Ich lege eine kurze Pause für Applaus ein und betrachte meine Zuhörerschaft. Ein bunt gemischter Haufen, überwiegend jedoch aus dem Mittelstand. Man sieht, dass meine Position als Mitglied des Landtages zieht, im Gegensatz zu früher stehen mindestens sechzig Leute an unserem Sammelplatz, dem ehemaligen Romika-Parkplatz an der Metternichstraße. Also sechzig von uns, etwa doppelt so viele Polizisten und vielleicht dreihundert politische Gegner. Gleich an der Porta Nigra werden es wesentlich mehr sein, sowohl Polizisten als auch Gegendemonstranten, die es auf unsere Seite zu ziehen gilt.

»Wir wollen diese Chance nutzen und Deutschland zurück zur Demokratie führen. Schaut euch doch das gegenwärtige System an, liebe Freunde. Was ursprünglich als Demokratie gedacht war, hat mit selbiger kaum noch etwas gemein. Nehmen wir doch beispielsweise die Einteilung von Parteien in links und rechts. Es gibt kaum etwas, was das Thema mehr verfehlt als das. Richtungen sind nicht geeignet, eine Partei akkurat zu beschreiben. Es geht um Inhalte. Inhalte sind das, was uns stark macht!«

Eine weitere Pause für Applaus. War die Menge eben noch eher still gewesen, beginnen sich jetzt erste Emotionen zu regen.

»Inhalte alleine sind aber auch nicht alles. Wir müssen alle hinter unseren Inhalten stehen. Natürlich haben wir alle unterschiedliche Meinungen, wir sind schließlich eine Partei, die das Volk repräsentiert. So vielfältig wie das Volk sind auch wir. Dennoch müssen wir verschiedene Meinungen dem gemeinsamen Ziel unterordnen. Allerdings nicht so, wie es momentan in Deutschland passiert. Der Fraktionszwang ist ein Feind der Demokratie! Er zwingt Menschen dazu, für Dinge zu stimmen, die nicht ihrer eigenen Meinung entsprechen. Das kann doch nicht Sinn der Sache sein, anderen unsere Meinung aufzuzwingen. Vielmehr sollten wir uns austauschen und mit Argumenten überzeugen. Nur so lässt sich ein Volk wahrhaft einen und repräsentieren.«

Die Menge kommt langsam in Stimmung. Ich lasse den Blick während einer weiteren kurzen Pause schweifen und muss zufrieden lächeln. Trier hängt mir an den Lippen. Weiland hat mir eben die einzelnen Gruppierungen erläutert, denen wir uns jenseits des schützenden Bandes aus Polizeibussen und überwiegend jungen Polizeischülern gegenübersehen. Beim Stichwort ›Fraktionszwang‹ wurden die Trierer Stadtratsmitglieder besonders laut. Wenn ich Weiland richtig verstanden habe, sind alle Fraktionen vertreten: CDU, SPD, FDP, Grüne, Linke und die Freie Wählergemeinschaft. Der Oberbürgermeister wird zu der zentralen Kundgebung an der Porta Nigra erwartet. Die Gegendemonstration wurde quasi zeitgleich mit unserer angemeldet. Da mehr Gegner als Befürworter unserer Politik erwartet werden, müssen wir uns auf der stadtauswärts gelegenen Seite der Porta Nigra versammeln, was immerhin eine großräumige Sperrung des nördlichen Alleenrings nach sich zieht. Die Anhänger und Sympathisanten von Trier ist bunt bekommen dagegen den stadtseitigen Porta-Nigra-Vorplatz.

»Damit wir das Volk wirklich vertreten können, muss das Volk zunächst von uns wissen. Unser Erfolg ist geknüpft an das Ansehen in der Mitte der Gesellschaft. Und Erfolg kommt von folgen. Je mehr Menschen sich uns anschließen, desto mehr können wir bewegen. Ohne Masse keine Veränderung. Ohne Wirbel keine Veränderung. Also lasst uns die Menschen gleich aufwühlen. Lasst uns ihnen zeigen, wofür wir stehen. Für ein besseres Morgen, für ein demokratisches Morgen.«

Die Menge tobt. Tosender Applaus hält mich vom Reden ab. Das ist die Gelegenheit.

»Bevor wir gleich in Richtung Porta Nigra losziehen, lasst mich noch ein paar Worte zu einigen Themen loswerden, die mir sehr am Herzen liegen. Anfangen möchte ich bei der Zuwanderungspolitik der Bundesregierung und der EU. Wie kann es sein, dass ausgerechnet wir es immer sind, die sich damit rumschlagen müssen? Ich habe nun wirklich nichts gegen Zuwanderung, aber müssen wir wirklich jeden aufnehmen? Statt Kriterien, die gegen eine Aufnahme sprechen, aufzustellen, sollten wir uns eher fragen: ›Wen wollen wir bei uns haben?‹ Wir brauchen positive Kriterien! Und was humanitäre Hilfe angeht …«

Ein lauter Knall schneidet mir das Wort ab. Zeitgleich durchfährt mich ein stechender Schmerz in der Brust. Erschrocken will ich nach der Quelle des Lärms sehen, aber mir wird schwarz vor Augen. Entsetzt breche ich zusammen.

Einsatzleitung an alle Kräfte:

Schuss aus Richtung Metternichstraße/Einmündung Dasbachstraße. Verdächtiger flüchtig in Richtung Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende. Sofort Verfolgung aufnehmen. Erhöhte Sicherheit.

Krankenwagen zum Rednerpodium, ein Schwerstverletzter.

Sichtschutz um Opfer bilden.

Beide politischen Lager voneinander fernhalten.

Informationen nach außen verhindern.

Streckenschutz: alle Kräfte rund um das Romika-Gelände und die Asylaufnahmeeinrichtung bündeln. Kräfte an der Porta Nigra auf zwei von zehn Mannschaftswagen reduzieren, die Kräfte sofort zum Romika-Parkplatz verlegen, Schwerpunkt AfA.

Personen- und Fahrzeugkontrollen, Straßen abriegeln.

Täterbeschreibung folgt hoffentlich bald. Vorsicht Schusswaffe.«

»Soll ich die Kollegen von der Kripo anfordern?«, fragte sein Stellvertreter, als der Einsatzleiter seine Durchsage beendet hatte.

Werner Dietz nickte wortlos. Er war ein erfahrener Einsatzleiter, trotzdem hoffte er jedes Mal, dass es nicht zum Ernstfall käme. Die jungen Bereitschaftspolizisten hatten noch keine Routine – konnte man überhaupt von Routine sprechen, wenn es um Mord und Gewalt ging? Die Bürger waren nicht immer kooperativ, vor allem nicht, wenn das Opfer eher unbeliebt war. Er warf einen Blick in seine Mappe, die er in der Hand trug, um für Rückfragen gewappnet zu sein:

Michael Witzmann, achtundvierzig Jahre, wohnhaft in Kaiserslautern. Seit der kürzlich vergangenen Wahl für die Deutsche Alternative Liste DAL Mitglied im rheinland-pfälzischen Landtag. Vertrat den eher gemäßigten Flügel.

Der Rettungswagen war sowieso vor Ort gewesen, Witzmann wurde bereits versorgt.

»Haben die Kollegen den Schützen gefasst?«

Stille im Funkgerät. »Was ist mit dem Schützen?«, wiederholte Dietz nachdrücklich.

»Bislang flüchtig«, kam eine zögerliche Stimme aus dem Kopfhörer. »Zeugenaussagen, dass jemand in die AfA gelaufen sei, vermutlich männlich, vermutlich Jeanshose, möglicherweise Kapuzenpulli, eher dunkel. Nichts Verwertbares, das trifft auf mindestens ein Drittel der siebenhundert Bewohner zu, sofern es sich nicht doch um eine Frau oder einen Jugendlichen handelt.«

»Sofern es sich überhaupt um einen Bewohner des Asylbewerberheims handelt«, ermahnte der Einsatzleiter.

»Ist doch naheliegend bei einem politischen Redner, der sich gegen Ausländer und für ›Deutschland den Deutschen‹ ausspricht, oder?«

Dietz fragte nach Namen und Dienstgrad und ordnete an, dass der Polizist sich am nächsten Tag bei ihm zu melden habe. »Sie sollen den Flüchtigen verfolgen und keine Mutmaßungen anstellen und Schlüsse ziehen, die gut in ein Stammtisch-Weltbild passen«, befahl Dietz unmissverständlich. Der Polizist, dessen Erziehung vor mindestens zwanzig Jahren abgeschlossen sein sollte, schnappte nach Luft, enthielt sich aber eines Kommentars und verließ den Funkverkehr.

»Besser so«, murmelte der Einsatzleiter.

Das Martinshorn kam unerwartet früh näher, noch dazu vom Verteilerring her, nicht über die Metternichstraße. Das war kein Polizeiwagen und auch nicht der Notarzt, das war eindeutig die Berufsfeuerwehr. Eine Kakofonie mehrerer Fahrzeuge, die sich rasch über die Dasbachstraße näherten und zum Asylbewerberheim abbogen. Die erwarteten aus der Innenstadt kommenden Polizeisirenen mischten sich mit dem Klang der anderen Sirenen, ein ganzer Polizeikonvoi riegelte den Weg der Demonstranten in die Innenstadt ab.

»Was ist da los? Wer hat die Feuerwehr angefordert?«, bellte Dietz in sein Mikrofon.

»Brand im Asylbewerberheim. Berufsfeuerwehr mit einem Löschzug. Die Kollegen von der Ermittlungsgruppe Migration kümmern sich drum. Wir halten Sie auf dem Laufenden.«

Sicher wieder einer dieser fast täglichen Fehlalarme. Die AfA hatte vorübergehend die Taschengeldzahlungen eingefroren, danach hatte sich die Zahl der Fehlalarme deutlich reduziert.

Weitere Sirenen waren zu hören, die Freiwillige Feuerwehr Kürenz versuchte, sich mit ihrem Löschzug einen Weg durch die Demonstranten und die Polizeiabsperrungen zu bahnen. Noch immer standen die meisten Demonstranten auf dem durch Bauzäune eingegrenzten ehemaligen Gelände des Herstellers von Bequemschuhen. Als der Schuss gefallen war, war jedoch Panik aufgekommen, und einige Menschen waren nach hinten aus dem Parkplatz jenseits der Straße zurück auf die Metternichstraße gelaufen, wo die Polizei sie allerdings abfing.

Dietz war erfahren genug, um einschätzen zu können, dass der Schuss auf Witzmann kein allgemeiner Terroranschlag war, der sich gegen ganze Gruppierungen richtete. Da stand keine bewaffnete Bande, die in die Menge schießen würde, das war ein einzelner, sehr gezielter Schuss einer Einzelperson. Also war es wichtiger, die Massen ruhig zu halten und Zeugenaussagen aufzunehmen. Möglicherweise gab es Handyfilme oder Fotos, auf denen der Schütze zu erkennen war. Außerdem mussten die beiden Lager voneinander getrennt bleiben, denn vonseiten der Rechten waren aggressive Beschimpfungen bis hin zu Drohungen zu hören, da waren erkennungsdienstliche Behandlungen nötig. Ebenso auf der Seite der vermeintlich toleranten, gut bürgerlich bis linken Demonstranten, die völlig unangebracht sogar Beifall klatschten und skandierten, das sei das Schicksal, das den Rechten gebühre.

»Feuerwehr durchlassen und danach sofort wieder abriegeln. Sowohl stadtseitig als auch stadtauswärts. Was ist in der AfA los?«

Das Funkgerät knisterte. »Polizeihauptmeister Fusenig, ich bin im Asylbewerberheim. Kein Fehlalarm, Papier und Kleidung sowie sonstige Habseligkeiten der Asylbegehrenden stehen in Flammen. Bewohner weigern sich zum Teil, das Gebäude zu räumen, weil sie es wie immer für einen Fehlalarm halten. Wir müssen zwangsevakuieren.«

Einsatzleiter Werner Dietz runzelte die Stirn. »Der Täter ist ersten Berichten zufolge in das Asylbewerberheim gelaufen. Wir haben bislang keine Erkenntnisse, ob es sich um einen Bewohner oder eine andere Person handelt. Anders ausgedrückt: Wir haben keinerlei Angaben zur ethnischen Zugehörigkeit. Sie müssen die Leute in Sicherheit bringen, aber niemand darf das Gelände verlassen. Ziehen Sie die Kollegen von der Ermittlungsgruppe Migration hinzu, die kennen ihre Bewohner. Überstellen Sie Personen, die nicht bekannt sind, sich auffällig verhalten oder sich einer Personenkontrolle zu entziehen versuchen, sofort dem Gefangenentransportkommando. Vorsicht, der Täter ist bewaffnet, sofern er sich der Waffe nicht bereits entledigt hat.«

Fusenig versprach eine zeitnahe Berichterstattung und übernahm die Koordination innerhalb des Areals der Asyleinrichtung. Drei große mehrstöckige Gebäude standen hufeisenförmig um einen Innenhof. Sie mussten die Bewohner des brennenden Gebäudes an einen zentralen Sammelpunkt bringen, der eigentlich allen bekannt sein sollte. Es gab ein ständiges Kommen und Gehen der Bewohner, große Verständigungsprobleme. Da war es unwahrscheinlich, dass auch nur die Hälfte der Bewohner wusste, was jetzt zu tun sei. Außerdem war heute der Monatsletzte, neues Geld gab es erst morgen, die meisten dürften blank sein und den Tag lieber auf dem Gelände als mit leeren Taschen in der Stadt verbringen, es war also viel los in der AfA. Fusenig fühlte das Adrenalin förmlich durch seine Adern pumpen. Endlich etwas Anspruchsvolles zu tun, eine Herausforderung, wie er sie für seinen Geschmack viel zu selten hatte. Er plusterte sich vor dem Einsatzleiter der Berufsfeuerwehr ein wenig auf und bat um Auskunft, ob es reichte, die Bewohner an den Sammelpunkt zu bringen oder ob sie noch weiter weg evakuiert werden müssten.

»Seltsames Feuer. Viel zu hohe Rauchentwicklung für das Zeug, was da brennt. Da wurde mit Brandbeschleuniger nachgeholfen«, brummte der Feuerwehrmann, während er seine Leute beobachtete, die genau wussten, was sie zu tun hatten. Auch bei den Kollegen der Freiwilligen Feuerwehr saß jeder Handgriff. Alle hatten Helme mit herabgelassenem Visier auf, aber kein schweres Atemschutzgerät. Zwei Feuerwehrmänner trugen eine Frau, die in Panik auf der Treppe gestürzt war und sich am Fuß und im Gesicht verletzt hatte. Man hörte weitere Martinshörner, mehrere Krankenwagen trafen ein, ein zusätzlicher Löschzug der Berufsfeuerwehr wurde angefordert. Die Mitarbeiter des Heims versuchten, trotz Verständigungsschwierigkeiten und sichtlich großer Angst der Bewohner, die Menschen in sicherer Entfernung des Hauses zu sammeln. Es gab eine Polizeistation, die im Haus integriert war, um bei Schlägereien einzugreifen, Diebstähle unter Bewohnern aufzuklären, Papiere zu prüfen oder Schleuser aufzudecken. Sie war an diesem Tag mit drei Beamten besetzt, da am Vortag neue Bewohner angekommen waren. Die Polizisten kannten die Bewohner, die in der Regel vier bis sechs Wochen in der Einrichtung waren, und machten eine Sichtkontrolle, ob sich eine unbekannte Person in die Menschengruppe gemischt hatte. Eine hochschwangere Frau wurde zu einem Krankenwagen geführt, beide Hände auf ihren Bauch gepresst, ein Mann begleitete sie mit versteinertem Blick. Kinder liefen weinend und verstört durcheinander und suchten ihre Eltern. Der Rauch verzog sich nur langsam, immer wieder schienen kleinere Brandnester zu entflammen. Ein großer Stapel mit Schulranzen, die mit Mal- und Bastelpapier, Büchern und Spielsachen gefüllt waren, gab dem Feuer immer wieder neue Nahrung. Ein Polizist besah sich einen älteren Mann, der von zwei anderen zu einem Rettungswagen getragen wurde, wo die eben eingetroffenen Sanitäter den Mann sofort versorgten. Ein Feuerwehrmann der Freiwilligen Feuerwehr trug einen jungen Farbigen, der bewusstlos zu sein schien, zu einem weiteren Krankenwagen. Er hustete stark und entfernte sich sofort, nachdem er den Mann auf eine fahrbare Trage gelegt hatte.

Fusenig ging zum Sammelpunkt und ließ sich berichten, ob es irgendwelche Auffälligkeiten gab, unbekannte Personen oder Beobachtungen rund um eine Brandlegung. Er fragte nach Türen, die normalerweise verschlossen waren, jetzt aber vielleicht offen standen, eingeschlagenen Fenstern oder Ähnlichem. Niemand hatte etwas beobachtet. Drei Personen, die für Übersetzungen angefordert worden waren, trafen fast zeitgleich ein. Einigen Gesichtern war anzusehen, dass die lodernden Flammen sie an ihre Erlebnisse in ihren Heimatländern erinnerten. Manche Augen waren tränennass und schreckgeweitet, andere schienen leer, wie ausgebrannt. Die anfängliche Gleichgültigkeit gegenüber einem vermeintlichen Fehlalarm war umgeschlagen in Verzweiflung, möglicherweise wieder alles verlieren zu können, was man mühsam aus der Heimat gerettet hatte. Frauen wehklagten, Männer gingen wütend aufeinander los und mussten getrennt werden. Fusenig sah den Einsatzleiter der Feuerwehr auf sich zukommen.

»Wir haben den Brand so weit unter Kontrolle. Das war aber ganz sicher kein gewöhnlicher Brand, da brauchen wir Ihre Ermittler. Wir riegeln ab, damit keine weiteren Spuren zerstört werden, aber unsere Arbeit ist erst einmal getan. Die Freiwillige Feuerwehr Kürenz bleibt zur Brandwache hier. Wir ziehen uns dann langsam zurück und erstatten sobald als möglich Bericht.«

Fusenig bedankte sich und funkte Einsatzleiter Werner Dietz bei der Demo wieder an.

»Haben Sie einen Verdächtigen finden können?«

Fusenig bedauerte: »Im Moment herrscht ziemliches Chaos unter den Bewohnern, aber die Heimleitung und die Polizei haben alles im Griff.«

»Wir haben wie immer widersprüchliche Zeugenaussagen«, berichtete Dietz. »Augenzeugen wollen eine Person in den Nells Park laufen gesehen haben. Der Park hat drei weitere Ausgänge, außerdem könnte sich die Person noch immer im Park aufhalten und sich unter die Besucher gemischt haben. Solange wir keine Täterbeschreibung haben, sieht es nicht gut aus. Dieser Witzmann stand ja nicht alleine dort, aber die anderen vier Hauptpersonen dieser Demo an seiner Seite haben entweder gerade in andere Richtungen gesehen oder sind schlechte Beobachter. Sie hatten wohl eher ihre politischen Gegner im Blick, vorherige Drohungen sind bislang nicht bekannt. Danke, Fusenig, Sie haben gute Arbeit geleistet. Hier sind gerade die Kollegen vom K11 eingetroffen. Halten Sie mich auf dem Laufenden«, schloss er und wandte sich Kriminalhauptkommissar Gunter Hermesdorf zu, der gerade auf ihn zukam. Im Hintergrund sah er Kriminalhauptkommissarin Vanessa Müller-Laskowski aus ihrem unverwechselbaren babyblauen kleinen Fiat steigen.

»Hallo Werner, was steht an?«, fragte Gunter Hermesdorf den wenig älteren Einsatzleiter.

»Lass uns auf deine Kollegin warten. Ich hatte nicht gedacht, dass ich das Kommissariat für Kapitaldelikte bei einer Demo der Rechten brauchen würde, aber seit der Landtagswahl genießen sie mehr Aufmerksamkeit als gut für uns alle ist.«

Beide Männer hielten einen Moment inne, während Vanessa Müller-Laskowski auf sie zukam. Die junge, schlanke Hauptkommissarin steckte in hohen Pumps und einem dunkelgrünen, hautengen Etuikleid, über das ihre üppigen, roten Haare wallten.

»Ich würde anerkennend pfeifen, wenn wir privat hier wären«, neckte Gunter seine wenige Jahre jüngere Kollegin.

»Danke, danach ist mir nicht zumute. Ich wollte gerade zum Sechzigsten meines Quasi-Schwiegervaters, aber daraus wird wohl nichts?«, murrte Vanessa eher enttäuscht als verärgert.

»Okay, fassen wir uns also kurz. Ein Schuss aus Richtung Kreuzung, leider keine unmittelbaren Zeugen. Wohin der Täter geflüchtet ist, ist noch unklar, aber wenige Augenblicke später gab es einen echten Feueralarm in der Asylbewerbereinrichtung, sodass hier einiges in Bewegung war. Anrückende Feuerwehren, Personenbewegungen …«

»Ein Ablenkungsfeuer?«, mutmaßte Vanessa.

»Das war auch mein erster Gedanke. Mir ist nur noch nicht klar, ob der Täter in die AfA gelaufen ist und selbst Feuer gelegt hat oder ob das andere für ihn erledigt haben, damit er unbemerkt entkommen konnte«, antwortete Dietz.

»Lebt das Opfer noch?«, erkundigte sich Gunter.

»Der Schuss war nicht tödlich. Ein Schuss, gezielt ins Herz auf große Distanz, das muss ein verdammt guter Schütze gewesen sein. Bundeswehr, ehemaliger Polizist …«

»Oder ein Soldat aus einem Krisengebiet«, ergänzte Gunter.

»Leider ist vieles möglich. Wir müssen von einem Profi ausgehen, aber davon gibt es möglicherweise mehr als wir ahnen in Trier. In den Aufnahmeeinrichtungen wird nach solchen Fertigkeiten normalerweise nicht gefragt, da geht es eher um Berufe, Sprachkenntnisse, Familienstand …«

Vanessa sah verstohlen auf die Uhr. »Also, warum lebt er noch?«

»Witzmann hat sich in dem Moment leicht zur Seite gedreht. Wendet euch ans Brüderkrankenhaus, ob der Mann noch zu retten ist. Personenschutz, sobald er aus dem OP kommt.«

»Was wissen Sie über das Opfer?« Vanessa hatte es eilig.

Dietz reichte ihr ein Dossier aus seiner Mappe. »Falls Sie die Zeit dazu haben, können Sie das gerne lesen. Michael Witzmann, achtundvierzig Jahre, verheiratet, zwei Kinder, Leiter eines Volkswagen-Autohauses in Kaiserslautern. Seit die Deutsche Alternative Liste bei der Landtagswahl gerade so die fünf Prozent bekommen hat, sitzt er im Landtag. Ein wenig feist und selbstverliebt, grundsätzlich aber Bürgertum. Deutsche Putzfrau … Die Presse bezeichnet ihn als ›wohlmeinend deutsch‹, was wohl so viel heißen soll wie: Er will, dass es den Deutschen besser geht, was bei ihm nicht automatisch zulasten der Ausländer gehen muss.«

»Ist seine Frau auch hier?«

»Nein, ist aber verständigt.«

»War er der einzige Redner? Lief die Veranstaltung nach Plan?«, wollte Gunter wissen.

Dietz schnaubte, was trotz seiner professionellen Haltung seine Einstellung zu dieser ganzen Veranstaltung erahnen ließ. »Die DAL hat für heute eine Demo an der Porta Nigra angemeldet. Ihr wisst schon, Hitlers Todestag, immer wieder gerne genommen. Samstag vor dem Feiertag, den übrigens auch die Nazis eingeführt haben, schön viele Leute in der Stadt …«

Vanessa fiel auf, dass der Einsatzleiter seine Sätze gerne unvollendet ließ. Das war ihr trotzdem lieber als zu viel Gerede.

Dietz fuhr fort: »Sie wollten sich in der Nähe versammeln, um von dort zur Porta zu marschieren. Die Stadt hat das aber nicht genehmigt, sonst hätte mit der Paulinstraße eine der Hauptzufahrtsstraßen in die Innenstadt gesperrt werden müssen. Sie hat stattdessen eine Versammlung auf dem Romika-Gelände erlaubt. Weit genug außerhalb, die Straße kann ohne allzu große Beeinträchtigungen gesperrt werden. Die Leute sollten dann über das Gelände des Moselbahndurchbruchs an der Bahn entlang zum Hauptbahnhof und von da über den Alleenring zur Porta geleitet werden. Der Weg ist so lang und unattraktiv, dass wir gehofft hatten, es kämen gar nicht erst viele Menschen. Aber das Interesse sowohl für die Demo als auch für die Gegendemo war größer als erwartet. Schon bei der Ankunft der DAL-Mitglieder kam es zu ersten Feststellungen der Personalien, weil ein paar Gegendemonstranten die Zufahrt blockiert hatten. Aber das waren vor allem alternative Studenten, die würde ich als harmlos einstufen, auch wenn ich das nicht so laut sagen darf.«

»Wie sieht es mit sogenannten Wutbürgern aus?«, wollte Gunter wissen.

Dietz lachte trocken. »Wir wissen doch inzwischen: ›Trier ist bunt‹. Was aber im Wesentlichen heißt, wir vereinigen hier verschiedene Nationalitäten und Religionen, Homosexualität ist nicht tabu, und ein Großteil der Einwohner arbeitet in Luxemburg und hat den halben Tag selbst die Rolle des Ausländers inne. Wir leben vom Tourismus und haben von hunderttausend Einwohnern rund ein Viertel Studenten. Aber Wutbürger? Stammtischparolen, Wut auf die Polizei, wenn wir bei Fußballspielen der Eintracht wildes Parken unterbinden, aber der durchschnittliche Trierer ist doch eher gemäßigt bis träge. Ihr seid ja für die Ermittlungen zuständig, nicht ich, aber …« Wieder eine seiner typischen Pausen.

»Aber du hast durchaus eine Meinung, also lass dich nicht so bitten«, nötigte ihn Gunter.

»Weil wir uns schon so lange kennen«, lenkte dieser ein und senkte die Stimme. »Jemand, der mit seiner Abschiebung rechnet und vielleicht darauf setzt, stattdessen in ein deutsches Gefängnis zu kommen. Oder ein bezahlter Killer. Aber dann stellt sich natürlich die Frage, warum sollte jemand …«

»Okay, ich danke dir, wir sehen uns dann mal um und sprechen mit den anderen von der DAL«, sagte Gunter.

Vanessa hakte ein: »Nur noch einmal kurz: Lief alles planmäßig?«

»Frau Kollegin, Sie kennen das Prozedere ja: Die Gegendemonstranten kommen eine Stunde vor dem angekündigten Termin, bauen ihre Plakate auf, ihre Stereoanlagen, packen ihre Seifenblasenfläschchen aus, ihre Rasseln und Tröten. Bei der Hitze heute hatten einige Eis dabei, manche Kühltaschen, Stoffbeutel mit Sektflaschen, Plastiktüten mit Bierdosen … Das ist ein echtes Happening, da fehlt nur noch, dass Bierzeltgarnituren ausgepackt und Kaffee und Kuchen auf komplett eingedeckten Tischen verzehrt werden. Das ist keine Wutbürger-Demo, das ist ein gesellschaftliches Event.«

»Wer ist euer Ansprechpartner bei den Gegendemonstranten?«, fragte Gunter und zog sein Smartphone aus der Tasche, um sich Notizen zu machen.

»Die Bürgerbewegung nennt sich K.R.A.F.T., steht für ›Keine rechte Alternative für Trier‹, ihr Sprecher ist Gerhard Kuhnen, den kennst du doch sicher auch.«

»Na klar, ein alter Trierer, ehemaliger Lehrer, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.«

»Genau, Hauptschule, wurde zusammengelegt mit der Realschule, und er ist irgendwie übrig geblieben. Jetzt verwirklicht er sich politisch. Ist aber ein guter Kerl, mit dem kann man gut reden. Der hält sich an die Absprachen, noch nie Probleme mit ihm gehabt.«

Vanessa wechselte auf ihren hohen Absätzen das Standbein und fluchte, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatte, sich umzuziehen.

»Sitzt Johannes eigentlich im Auto?«, fragte Gunter.

»Nein, wir waren gerade im Treppenhaus, als mein Handy klingelte. Er ist schon nach Hellersberg zu seinem Vater gefahren, ich hatte noch gehofft, dass ich bald nachkommen kann. Die Meldung war zunächst: Schießerei, Opfer lebt noch. Da hatte ich noch Hoffnung, dass du das alleine machen könntest«, gestand Vanessa. »Also weiter bitte.«

»Klar doch. Wir bauen eine Linie mit unseren Polizeifahrzeugen auf, sperren mit Band zusätzlich ab, richten sozusagen eine Freizone ein, in der niemand sein darf außer uns, und schicken die andere Seite so weit weg wie möglich. Die Braunen tun zwar immer sehr furchtlos und schimpfen über uns, sind aber eigentlich ganz froh, dass wir da sind und ihnen den Rücken frei halten.«

»Na ja, die Brust leider nicht«, stöhnte Vanessa genervt. Sie trug keine Strümpfe und schlüpfte mit dem rechten Fuß aus dem Schuh. Gunter grinste, Dietz tat so, als habe er weder Vanessas Bemerkung gehört noch zugesehen, wie sie aus dem Schuh geschlüpft war.

»Die Braunen kommen mit einiger Verspätung, damit es so aussieht, als seien sie wichtig, oder schlichtweg weil sie behindert wurden. Die Gegendemonstranten versperren den Weg, wir sorgen dafür, dass das Versammlungsrecht auf beiden Seiten gewährleistet ist.«

»Will heißen?«

»Meistens sind das nur ein paar Hanseln, heute waren es ja mal richtig viele. Wir sprechen mit dem Verantwortlichen, der also die Versammlung angemeldet hat. Klären wie bei der anderen Seite auch ab, bis zu welchem Moment wir beide Seiten gewähren lassen und wann der Punkt erreicht ist, an dem wir gegebenenfalls die Versammlung auflösen werden. Damit die wissen, wann die letzte Möglichkeit ist, um ihre eigenen Leute in die Schranken zu weisen.«

Vanessa schlüpfte auch aus dem anderen Schuh und entspannte sich ein wenig. »Wer ist der Verantwortliche der DAL?«

Dietz reichte ihr auch hierzu einen Hefter mit einigen Blättern. »René Siegfried Weiland, fünfunddreißig. Wohnhaft in Trier, kommt aber gebürtig aus der Eifel. Arbeitet bei der Allgemeinen Krankenversicherung AKV in Trier, verheiratet, ein Kind …«

Vanessa warf einen Blick in die Papiere und nickte. »Den kenne ich vom Sehen, der hatte sich doch für den Stadtrat aufstellen lassen, ist aber nicht reingekommen, oder?«

Dietz wandte sich ab, um einen Funkspruch zu beantworten. »Brand im Asylbewerberheim ist so gut wie gelöscht, drei Verletzte, bei einer Frau haben die Wehen eingesetzt. Aber erst einmal hier weiter.«

»Danke, Werner, ich glaube, wir kommen erst einmal zurecht. Wir sprechen mit diesem Weiland. Was habt ihr bei den Bürgern bezüglich der Demonstranten angeordnet?«

Dietz wartete noch einen Funkspruch ab, ehe er antwortete. »Die Kollegen an der Porta haben durchgegeben, dass die Demo abgesagt wurde. Der eine oder andere steht noch da rum und hält es für eine falsche Information, aber die meisten haben sich in Richtung Innenstadt zurückgezogen, ich vermute im Wesentlichen Eisdielen, Palastgarten … Wir haben noch ein paar Mann vor Ort, aber die werden nicht mehr viel zu tun bekommen. Der Oberbürgermeister wollte erst um drei Uhr kommen, der ist informiert, alles läuft so weit.«

Gunter legte dem Einsatzleiter eine Hand auf den Unterarm. »Danke, Werner, dass du uns auf den Stand gebracht hast. Hab ich die Antwort versäumt, ob alles nach Plan gelaufen ist?«

Vanessa verkniff sich ein Grinsen.

»Wie abgesprochen hat erst dieser Weiland ein paar Worte gesagt, dann sollte Witzmann als Zugpferd der Menge einheizen, wie sie es formuliert hatten. Nur eine kurze Rede, danach sollte sich der Zug zur Porta in Bewegung setzen. Das ist zwar nicht weit, aber bei so einem Tross dauert es ja immer, bis der sich mal sortiert hat.«

»Wer kannte den Plan?«, wollte Vanessa wissen.

Dietz schüttelte bedauernd den Kopf. »Meine Leute kannten den, aber wer auf der anderen Seite …«

»Wir müssen also sowohl die DAL als auch die Bürgerbewegung danach fragen. Aber stellt euch mal vor, ihr kommt als Asylbewerber nach Deutschland. Keine Waffe, kein Geld, keine Ahnung von deutscher Politik, keine Tageszeitung. Für Fernsehnachrichten ist die Demo zu unbedeutend, da bekommt man das nicht mit. Da stellt sich nicht nur die Frage, wieso sollte ein Asylbewerber auf diesen Witzmann schießen, sondern auch, wie sollte er an eine geeignete Waffe kommen?«, sprach Gunter seine Gedanken laut aus.

»Fakten, keine Mutmaßungen, wenn wir damit nicht weiterkommen, Schlüsse ziehen und Hypothesen aufstellen, hieß es nicht so im Lehrgang? Also beginnen wir mit unseren Befragungen«, schlug Vanessa vor.

»Na, Aschenputtel, möchtest du deine Schuhe selbst nehmen oder sollen wir auf den Prinzen warten, der aber schon nach Hellersberg zu seinem Vater gefahren ist?«, zog Gunter seine Kollegin auf.

Die stöhnte, zwängte ihre Füße, die bei der Wärme und dem langen Stehen angeschwollen waren, in die Schuhe und fluchte leise. Die Kommissare ließen ihre Blicke über die Demonstranten schweifen. Gunter als gebürtiger Trierer kannte viele der Anwesenden und nannte Vanessa, die erst vor rund fünf Jahren nach Trier gekommen war, Namen und Funktionen.

»Die großen Namen in unserem kleinen Trier werden erst an der Porta erwartet: Oberbürgermeister, Uni-Präsident, Leiter des Stadtmarketings, Intendant des Stadttheaters. Fotos vor einer kleinen Schuhfabrik im Industriegebiet sind viel weniger wirksam als vor unserem römischen Stadttor.«

»Warum erhält dieser rechtspopulistische Aufmarsch überhaupt so viel Aufmerksamkeit?«

Gunter zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, das hat auch viel mit sozialen Netzwerken zu tun. Die jungen Leute lesen Zeitung höchstens online, aber über Facebook oder Twitter sind alle gut vernetzt und schnell erreichbar. Da sieht man im Nu, wie viele ›Gefällt mir‹- und ›Ich bin dabei‹-Klicks so eine Veranstaltung hat – und da will man nicht außen vor sein. Eine persönlich empfundene Einladung, die an halb Trier verschickt wurde, aber die Leute fühlen sich angesprochen und in der Pflicht. Man verabredet sich, klärt, wer was mitbringt … Öffentliches Leben heute. Da ist der Anlass gar nicht so wichtig. Die laufen genauso zum Altstadtfest und zum Weihnachtsmarkt.«

Vanessa verfluchte ihre Schuhe, während sie zusammen mit Gunter, der freundlicherweise langsam machte, unter Vorweisen ihrer Ausweise die Polizeisperre passierten und sich dem VW-Bus zuwandten, in dem Weiland sich verschanzt hatte. Sie errötete heftig, als sie über die freie Fläche zwischen den beiden Lagern liefen und anerkennende Pfiffe ertönten. »Wieso sind die überhaupt noch hier?«, fragte sie verärgert.

»Es geht um Zeugenbefragungen, Euer Hoheit. Aber um ehrlich zu sein, ich habe den Eindruck, viele haben gar nicht mitbekommen, was hier passiert ist. Der Lärm, den die Bürgerlichen machen, damit die Parolen der Rechten nicht zu verstehen sind, könnte auch einen Schuss übertönt haben.«

Sie waren bei dem VW-Bus angekommen und klopften an die Seitenscheibe. Im Inneren rührte sich nichts. Gunter hielt seinen Dienstausweis gegen die getönte Scheibe und bat die Kollegen zu öffnen. Die Tür glitt zurück, drei Männer und eine Frau saßen in dem Bus und forderten sie auf, hereinzukommen und die Tür sofort wieder zu schließen. Die Luft in dem kleinen Innenraum war heiß und abgestanden. Gunter stellte sich und Vanessa vor und bat um die Namen und Funktionen der Anwesenden.

»Ihre Kollegen haben unsere Personalien bereits festgestellt. Wir würden jetzt gerne unseren Parteifreund im Krankenhaus besuchen«, erklärte der verhinderte Stadtrat, ein schlanker Mittdreißiger mit Seitenscheitel im arisch-blonden Haar.

»Sind Sie ein Angehöriger?«, fragte Vanessa.

»Ein guter Freund.«

Vanessa schüttelte bedauernd den Kopf. »Herr Witzmann wird derzeit noch operiert, auch danach wird nur seine Frau zu ihm gelassen. Herr Witzmann hat Kinder?«

»Zwölf und fünfzehn Jahre«, murmelte die Frau. »Wie geht es ihm?«

»Tut uns leid, die Ärzte twittern nicht aus dem OP, warten wir also ab und nutzen die Zeit sinnvoll«, schlug Gunter vor.

Die Frau war eine Parteifreundin aus Kaiserslautern, ein schweigsamer, junger Mann stellte sich als Dennis A. Lellinger aus Trier vor, der dritte kam aus Zweibrücken.

»Wofür steht das A?«, wollte Gunter wissen.

»Für Andreas«, sagte der junge Mann tonlos.

»Ihnen wäre wohl ein anderer Zweitname lieber?«

Lellinger schwieg.

»Und Sie, Herr Weiland, sind also unser Ansprechpartner«, stellte Vanessa fest. »Gab es im Vorfeld Drohungen, Warnungen, es würde etwas passieren, wenn Herr Witzmann auftritt oder Ähnliches?«

Weiland schüttelte den Kopf. Er schwitzte stark und öffnete den obersten Hemdknopf. »Nein, wenn wir so etwas geahnt hätten, also ich meine, viele Bürger verstehen unsere Ziele nicht richtig und haben daher andere Meinungen, aber genau darum haben wir uns ja hier in Trier getroffen. Wir sind der Überzeugung, wenn wir den Leuten erst einmal erklären, worum es eigentlich geht, dass sie das dann auch verstehen werden und sich …«

Gunter unterbrach ihn. »Herr Weiland, wir sind hier weder bei den Zeugen Jehovas noch bei einer Wahlkampfveranstaltung. Beantworten Sie bitte einfach und sachlich die Frage meiner Kollegin.«

Weiland starrte ihn irritiert an, als könne er sich an die Frage nicht mehr erinnern.

»Siegfried hat Ihnen doch schon gesagt, wir haben so etwas nicht geahnt«, unterstützte die Frau ihren Parteifreund.

»Sie kommen auch aus Kaiserslautern, kennen Sie Herrn Witzmann näher?«

Sie strich sich die akkurat geschnittenen Haare aus dem Gesicht und antwortete wie auswendig gelernt: »Michael Witzmann und ich haben uns vor acht Jahren im Rahmen einer Veranstaltung kennengelernt. Wir haben gleiche politische Interessen und Ziele. Für die Landtagswahl hat er sich aufstellen lassen, weil er durch sein gut florierendes Autohaus zahlreiche Menschen kennt, die ihm vertrauen …«

»Wie man einem Autohändler eben vertraut«, unterbrach Gunter sie. »Für wen haben Sie diese Rede geübt? Für den Fall, dass die Ehefrau hinter Ihr Verhältnis kommt? Weiß Frau Witzmann von Ihnen?«

Vanessa war sich sicher, dass das nur ein Schuss ins Blaue war, aber die Frau war in Gedanken wohl bei ihrem Geliebten. »Michael und ich … Claudia ist ja so gar nicht an seinen politischen Aktivitäten interessiert. Sie denkt immer nur ans Geschäft und daran, ihren Wohlstand zu mehren, den Michael mühevoll anhäuft. Sie hetzt die Kinder immer wieder gegen ihn auf. Neulich kam Jonas mit einem blauen Auge nach Hause, weil Klassenkameraden ihn einen Hitlerjungen genannt haben. Als er seinen Vater verteidigen wollte, haben sie ihn übel zugerichtet. Und statt dass Claudia sich bei der Schulleitung beschwert und die Kinder der Schule verweisen lässt, wirft sie ihrem Mann nur vor, er habe das mit seiner nationalsozialistischen Politik provoziert.«

Vanessa zwinkerte Gunter anerkennend zu, eins zu null für ihn. »Ein Schulverweis würde ja auch in keinem Verhältnis stehen«, sagte sie beschwichtigend zu der Frau. »Ist Frau Witzmann heute hier?«

Die Frau lachte auf. »Sie unterstützt ihn doch nicht, habe ich doch eben schon gesagt. Sie gluckt sicher auf ihren Kindern und versucht, sie von der wahren Welt abzuschirmen. Die sollten besser mal sehen, wie sich die Ausländer hier breitmachen, dass sich der gute Deutsche nicht mehr auf die Straße trauen kann. Dann würden die Kinder verstehen, warum ihr Vater sich für eine bessere Zukunft stark macht.«

»Entsprach der Ablauf der Veranstaltung bislang der genauen Planung?«, wollte Vanessa wissen.

»Wir wollten etwas früher hier sein, aber wir wurden unterwegs aufgehalten. Ihre Kollegen hatten dieses pöbelnde Volk nicht im Griff, aber als das aus dem Weg geräumt worden war, konnten wir ungehindert die Lautsprecher aufbauen und wie geplant beginnen«, erläuterte Weiland.

»Gab es vielleicht im Vorfeld Probleme mit Ihren politischen Gegnern? Da draußen sind Aktive jeder Couleur vertreten, sowohl politisch als auch sozial und kirchlich. Da sind Homosexuellenverbände, kirchliche Studentengemeinden, Arbeitsgemeinschaft Frieden, alle politischen Parteien, gab es da in der Vergangenheit Querelen?«

Gunter fiel auf, dass der junge Mann kein Wort sagte und nur zu Boden starrte. »Herr Lellinger, ist Ihnen irgendetwas bekannt?«

Der Angesprochene blickte erschrocken auf, schüttelte vehement den Kopf und erklärte, nichts dazu sagen zu können, da er nichts involviert sei.

»Warum gehören Sie dann gewissermaßen zum ganz engen Kreis?«, hakte Vanessa nach.

»Dennis ist noch nicht so lange dabei, und wir wollten ihm die Gelegenheit geben, eine solche Veranstaltung einmal ganz nah mitzuerleben. Außerdem hatten wir ihn dann dicht bei uns und konnten ihn vor dem Mob schützen«, erklärte Weiland.

Vanessa hätte beinah laut gelacht. »Und warum konnten Sie Ihren großen Chef nicht schützen?«

»Hätte ich das kommen sehen, hätte ich mich schützend vor ihn geworfen, da können Sie sicher sein«, fuhr Lellinger auf und straffte seine schmalen Schultern.

»Das nenne ich wahren Einsatz«, lobte Gunter ironisch, was Lellinger aber nicht zu verstehen schien. Er wirkte nach einem eher einfachen Gemüt, wahrscheinlich wusste er wirklich nichts.

Es klopfte an der Scheibe des Busses. Gunter schob die Tür auf und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sich Lellinger ängstlich in seinen Sitz presste.

Der Einsatzleiter Dietz stand vor dem Auto und bat die beiden Polizisten zu sich.

»Sie wissen, dass das Freiheitsberaubung ist, was Sie hier mit uns machen?«, erboste sich Weiland, als er Dietz erkannte. »Ich habe unseren Anwalt informiert, der ist auf dem Weg hierher.«

»Gut, dass Sie das sagen, vielen Dank, dann wissen wir ja, dass wir ihn durchlassen können, wenn er sich bei uns meldet. Herr von Laue, nehme ich an?«

Weiland hob erstaunt eine Augenbraue.

»Ein echter Rechts-Anwalt, der Einzige, der freiwillig die Rechte der Rechten vertritt«, erklärte Dietz. »Kann ich euch bitte sprechen?«

Gunter stieg kommentarlos aus dem Auto, Vanessa stöhnte, als sie mit den hohen Absätzen aus dem Bus klettern musste. Sie hinterließ vier Visitenkarten im Bus mit der Aufforderung, sich bei ihr zu melden, wenn ihnen noch etwas einfallen sollte, sonst würde die Polizei auch noch einmal auf sie zukommen.

»Don‘t call me, we will call you«, murmelte Gunter und grinste. »Werner, was gibt es denn?«

»Die Kollegen aus dem Krankenhaus haben angerufen.«

»Lebt Witzmann noch?«

»Ich glaube, der ist noch im OP, um den geht es nicht. Der verletzte junge Mann, der aus dem Asylbewerberheim ins Krankenhaus gebracht wurde, ist kurz wach geworden. Er spricht keine Sprache, die gemeinhin verständlich ist, aber er wirkt so, als wollte er uns unbedingt etwas sagen. Er war sehr aufgebracht, möglicherweise hat er etwas beobachtet. Der junge Mann ist immer wieder ohnmächtig geworden, die Ärzte haben ihn jetzt ruhiggestellt, aber es scheint so, dass ihr unbedingt mit ihm sprechen müsst. Sucht euch einen geeigneten Dolmetscher und nehmt die Polizeipsychologin mit. Vielleicht kann er sich ja an mehr erinnern, wenn ihm die richtigen Fragen gestellt werden. Bis dahin …«

»Danke, wir werden uns darum kümmern. Wie geht es hier weiter?«

»Die Straßensperren konnten wir erst einmal aufheben. Wir wissen ja nichts über den Täter, wonach sollen wir also fahnden? Er hat ja nicht einmal Blut an der Kleidung. Entweder ist der noch in der AfA oder er ist auf und davon. Wir haben angefangen, die Bürger langsam in Richtung Innenstadt abfließen zu lassen. Bislang hat sich niemand auf unseren Aufruf gemeldet, ob jemand den Täter bewusst oder unbewusst fotografiert oder gefilmt hat. Wobei wir natürlich nicht einmal wissen, ob es sich um einen Einzeltäter handelt.«

»Danke, Werner, sonst etwas Neues?«

Dietz zögerte einen Moment, schüttelte dann aber langsam den Kopf. »Die Versammlung an der Porta hat sich quasi aufgelöst, im Asylbewerberheim haben die Befragungen angefangen, hier können wir die Befragungen dagegen beenden. Die Kollegen sichern die Strecke in Richtung Stadt und zu den Bushaltestellen am Nells Park, damit die Gruppierungen nicht aufeinandertreffen. Einige hämische Rufer haben wir erkennungsdienstlich behandelt, die könnt ihr euch also gegebenenfalls noch einmal vornehmen.«

»Gunter, wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne kurz nach Hause fahren und mich umziehen, ich komme dann gleich zurück«, bat Vanessa.

»Und Hajos sechzigster Geburtstag?«

»Der findet wohl zwangsläufig ohne mich statt. Ich fürchte fast, die öffentliche Ordnung geht vor.«

»Ich sag meiner Frau auch Bescheid und sehe mir dann einmal die Situation in der AfA an. Ist die Spurensicherung vor Ort?«

Dietz nickte wieder. »Bernadette Schubert ist da mit ihrem Team. Sie suchen die Stelle, an der der Schütze gestanden haben muss, um dort gegebenenfalls Schuhabdrücke, Zigarettenstummel oder Ähnliches zu finden. Wendet euch im Heim an PHM Fusenig, der hat den Überblick.«

»Wir sehen uns dann gleich in der AfA«, schlug Vanessa vor.

»Frau Kollegin?«, sagte Dietz.

»Ja?«

»Die neue Uniform gefällt mir übrigens ausnehmend gut.« Dietz zeigte eines seiner offensichtlich sehr seltenen Lächeln.

Vanessa öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, sparte sich den Kommentar aber und ging zu ihrem Auto.

Bring mich auf den neuesten Stand«, bat Vanessa, jetzt in Jeans und flachen Schuhen, ihren Kollegen im Innenhof der Asylbewerbereinrichtung.

Gunter zeigte auf die Menschenmenge, die noch immer an dem Sammelpunkt stand.

»Je zwei Besatzungen eines Mannschaftsbusses haben die drei Gebäude auf versteckte Personen durchsucht. Sie haben aber nur eine verängstigte Mutter mit ihren drei Kindern unter einem Bett gefunden und einen schlafenden, gehörlosen Afghanen, der von der Person her bekannt ist. Die Heimleitung ist sehr kooperativ, die Mitarbeiter checken gemeinsam mit unseren Kollegen der hier ansässigen Ermittlergruppe und der Bereitschaftspolizei jeden Einzelnen, der dort auf dem Hof steht. Sie schicken alle, deren Identität bekannt ist, in ihre Häuser. Du darfst nicht vergessen, dass hier im Moment jeden Tag zweihundert neue Flüchtlinge ankommen, die auf die beiden Einrichtungen verteilt werden, da kennen die Mitarbeiter nicht jeden Einzelnen. Zumal die Leute ja nicht lange hier sind und es ein tägliches Kommen und Gehen gibt.«

»Ist das Haus, in dem es gebrannt hat, stark beschädigt?«

»Wir sammeln die Bewohner außerhalb, weil es noch Glutnester gibt und die Spurensicherung zugange ist. Bei dem heutigen Wetter ist das ja auch kein Problem. Die Schäden selbst dürften nicht substanziell sein. Wir nutzen die Personenkontrolle vor allem, um die Bewohner nach fremden Personen oder sonstigen Beobachtungen befragen zu können.«

»Wer leitet die Aktion, dieser Polizeihauptmeister Fusenig?«

Gunter nickte und zeigte in Richtung Sammelpunkt, wo jeder Einzelne fotografiert und zu einem zweiten Sammelpunkt geschickt wurde, auf den die beiden nun zugingen. »Wir werden von einigen Dolmetschern unterstützt. Zum Glück sprechen auch einige der Flüchtlinge wenigstens ein paar Brocken Englisch oder Französisch.«

Vanessa griff in ihre Handtasche, holte eine Handvoll Bonbons hervor, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, und ging in die Hocke. Rasch sammelte sich eine kleine Kinderschar um sie. »Habt ihr gesehen, wer das Feuer gemacht hat?«

Sie sah, wie Gunter den Kopf schüttelte. »Woher sollen die Deutsch …?«

»Mann«, sagte ein kleines, vielleicht achtjähriges Mädchen mit einer Schniefnase und einem viel zu großen Pullover. Vanessa krempelte ihr die Ärmel so, dass ihre schmutzigen Hände zu sehen waren, und reichte ihr dann ein Bonbon, das sie nun aus dem Papier wickeln konnte. Gunter deutete an, dass er den Hut vor ihr zog.

»Kennst du den Mann?«

Das Mädchen sprach schnell auf zwei Jungen ein, vermutlich ihre größeren Brüder. Der eine griff sich drei Bonbons aus Vanessas Hand, und beide liefen zu einer Gruppe Erwachsener, die noch an dem ersten Sammelpunkt stand.

»Ist der Mann da?«, fragte Vanessa und zeigte dorthin, wohin die Brüder gelaufen waren. Das Mädchen schüttelte energisch den Kopf. Zwei Männer wollten sich aus der Gruppe lösen, wurden aber von den Polizisten zurückgehalten. Gunter pfiff kurz und zog damit die Aufmerksamkeit der Kollegen auf sich. Er signalisierte, dass er die Männer in Empfang nehmen würde. Die beiden liefen zusammen mit den Jungen zu Vanessa. Der eine nahm das Mädchen schützend auf den Arm.

»Papa«, sagte das Mädchen und redete auf den Vater ein. Die Polizisten verstanden nicht einmal andeutungsweise, worum es ging.

Der Vater stellte seine Tochter auf den Boden, die blickte zu ihm hoch, streckte ihre Arme aus und ließ sich wieder hochheben. Sie zeigte zehn Zentimeter über den Kopf ihres Vaters. »Mann so.« Dabei lächelte sie Vanessa schüchtern an und schielte auf die Bonbons in deren Hand. Vanessa reichte ihr eins, und das Mädchen hauchte: »Danke.« Es redete wieder auf den Vater ein, strich ihm über den Vollbart und schüttelte den Kopf. Dann winkte sie Gunter heran, strich ihm über das glatt rasierte Kinn und nickte.

»Ein Mann, etwa einen Meter fünfundachtzig groß, kein Bart. Das ist ein Anfang«, meinte Gunter.

»Wie alt?«, fragte Vanessa. Das Mädchen sprach mit den beiden Brüdern, aber die schüttelten den Kopf.

»Woher kommst du?«, fragte Vanessa und erfuhr, dass die Familie aus Syrien kam.

»Da muss es doch einen Dolmetscher geben, ich hör mich um«, schlug Gunter vor und trennte sich von der Gruppe.

»Gunter, erwähne, dass es Christen sind«, sagte Vanessa und zeigte auf die kleinen, goldenen Kreuze, die sie alle an einer Kette um den Hals trugen. »Meines Wissens sprechen die kein Arabisch!«

Eine Frau trat dazu, und das Mädchen plapperte schnell und aufgeregt. Die Frau wies auf ihren Rücken und deutete eine schwere Last an.

»Schule«, sagte die Kleine.

Vanessa und Gunter sahen sich ratlos an. Die Mutter zeigte auf Vanessas Handtasche und dann auf ihren Rücken.

»Meinst du Schulranzen?« Schulterzucken. Eine immer größere Schar drängte sich um Vanessa, ihr Bonbonvorrat ging zur Neige, aber die Informationen mehrten sich. Sie ließ einige Kollegen kommen, die unterschiedlichen Alters waren und verschiedene Haarfarben hatten. Das Mädchen zeigte auf einen Polizisten von vierunddreißig Jahren, ihr Bruder auf einen von einundvierzig und die Mutter auf einen Fünfundvierzigjährigen.

Gunter kam zurück und machte eine bedauernde Geste. »Syrische Christen sprechen tatsächlich Syrisch, wofür sie im Moment keinen Dolmetscher hier haben, ist aber angefordert.« Vanessa erklärte ihm, dass sie versuchte, das Alter des Unbekannten zu bestimmen.

»Klar, Erwachsene kommen einem Kind immer alt vor. Je älter der Beobachter, desto realistischer könnte die Einschätzung sein«, mutmaßte Gunter. »Und andere ethnische Gruppen sind sowieso schwer zu schätzen. Oder könntest du sagen, wie alt jeder Einzelne in dieser Familie ist?«

»Aber bei den Haaren sind sich alle ziemlich einig: kurz geschnittene, mittelbraune Haare«, fasste Vanessa zusammen.

»Brille?«

»Keine Brille, was wiederum den Verdacht nahelegt, dass der Mann eher jünger ist als vierzig.«

Gunter lachte auf. »Oder er trägt Kontaktlinsen. Warum können die Leute ihn so gut beschreiben? War er häufig hier? Arbeitet er hier?«, überlegte er, aber ohne Dolmetscher waren diese Fragen nicht zu klären. Vanessa wählte gezielt ein paar Männer aus und bat sie zu sich: einen typisch deutschen Kollegen mit mittelbraunen Haaren, einen Kollegen polnischer Abstammung, einen Polizisten mit georgischen Wurzeln und zur Kontrolle einen italienischen Kollegen mit schwarzen Haaren, außerdem drei Asylbewerber, die vermutlich aus dem Kosovo, aus Mazedonien oder Bosnien-Herzegowina kamen und braune Haare hatten. Die Syrer beratschlagten sich wortreich, schienen aber keine Ahnung zu haben, worauf Vanessa hinauswollte. Für sie sahen vermutlich alle Europäer gleich aus. Das Mädchen schob seine kleine Hand in Vanessas Hand und zog sie mit sich. Gunter schloss sich an, und gemeinsam gingen sie in das Haus, in dem der Brand ausgebrochen war, gefolgt von den Eltern und dem anderen Mann, vermutlich einem Onkel.

»Sie können hier nicht rein«, erklärte ein Feuerwehrmann und versperrte den Eingang.

»Sehr gut, danke, lassen Sie sonst niemanden durch«, lobte Gunter und zeigte seinen Polizeiausweis. Sie gingen zu dem inzwischen gelöschten Brandherd, wo sie auf Bernadette Schubert vom Erkennungsdienst stießen, die mit ihrem Team den Brandhergang untersuchte.

»Ihr bekommt später unseren Bericht über den vermutlichen Standort des Schützen, aber wir haben den Bereich absperren lassen und wollten uns erst hierum kümmern, bevor die Feuerwehr und die Bewohner auch noch die letzten Spuren vernichten«, erklärte die Erkennungsdienstlerin. »Aus kriminaltechnischer Sicht sollte Löschwasser polizeilich verboten werden.«

Gunter winkte ab. »Nur kein Stress, alles der Reihe nach.«

Das Mädchen wollte zu einem Stapel mit angesengten Schulranzen laufen, aber Vanessa hielt die Kleine zurück. Bernadette trug einen weißen Schutzanzug und Überschuhe und streckte die Arme nach dem Mädchen aus.

»Freund«, sagte Vanessa aufmunternd, »Kollege.«

Das Mädchen zögerte einen Moment, ließ sich dann aber hochheben und dirigierte Bernadette zu den alten Schulranzen. Ehrenamtliche sammelten gut erhaltene Schultaschen, um den Kindern, die aus dem Asylbewerberheim in normale Wohnungen zogen, eine Starthilfe in ihr neues Leben zu geben. Im Heim hatten sie Papier und Stifte sowie einige Spielsachen zur Verfügung; wenn sie das Heim aber verließen, um in einer Wohnung untergebracht zu werden, fingen sie wiederum mit nichts an. Darum versuchten die Ehrenamtlichen, jedem Kind eine Schultasche mit Heften und Stiften, je nach Alter mit einem Malbuch, einem Bilderbuch oder einem Spiel mit auf den Weg zu geben.

Die Mutter rief das Mädchen und schickte sie auf Bernadettes Arm zu einem Stoß von acht identischen Schulranzen, die vor dem Brand vermutlich noch neu gewesen waren. Bernadette holte zwei Kollegen dazu und setzte das Mädchen außerhalb der Polizeiabsperrung auf den Boden, von wo es sofort zu seiner Mutter lief. Ein Fotograf hielt die genaue Anordnung der Taschen fest, bevor Bernadettes Kollege sie einzeln nahm und Bernadette anreichte.

»Die Ranzen sind alle leer, wogegen die anderen, eindeutig benutzten Ranzen Lineale, Papier, teilweise Taschenrechner und Stifte enthalten, beziehungsweise das, was noch davon übrig ist«, sagte Bernadette nach einem Blick in mehrere Taschen, deren Schließen nicht verschmort waren, weil sie etwas abseits gelegen hatten.

»Warum sind die neu und leer, ein großzügiger Spender?«, überlegte Gunter laut.

Bernadettes Mitarbeiter hatten die Ranzen nebeneinander aufgereiht und nahmen sie genauer in Augenschein.

»Benzingeruch«, vermeldete ein Kriminaltechniker.

»Irgendeine Chemikalie«, sagte ein Kollege, ohne sich spontan festlegen zu wollen.

»Dieser Ranzen ist ausgebeult, da war irgendetwas Großes drin«, meldete Bernadette. »Alle eintüten und mitnehmen«, wies sie einen Kollegen an.