Tod auf Gran Canaria - Mari Jungstedt - E-Book
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Tod auf Gran Canaria E-Book

Mari Jungstedt

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Beschreibung

Gran Canaria, die Insel mit den unendlich langen Stränden und der nie untergehenden Sonne, ein Urlaubsparadies! Doch eines Morgens wird die Leiche einer jungen Frau gefunden – einer Schwedin, die ihre Ferien in einem Yoga-Zentrum verbringen wollte. Ihr Körper ist drapiert wie auf Bottilcellis bekanntem Gemälde »Die Geburt der Venus«. Kurz darauf gibt es eine weitere Tote. Die Polizei sucht fieberhaft nach dem Mörder und bekommt unerwartete Hilfe von der Journalistin der schwedischen Zeitung der Insel, Sara Moberg, und dem ehemaligen Polizisten Kristian Wede. Die Spuren führen quer über die Urlaubsinsel, zur Norwegischen Seemannskirche, in ein Massage-Zentrum und schließlich in das Yoga-Paradies in den Bergen. Doch bald stellt sich heraus: Diese Idylle ist eine Illusion ...

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Gran Canaria, die Insel mit den unendlich langen Stränden und der nie untergehenden Sonne, ein Urlaubsparadies! Doch eines Morgens wird die Leiche einer jungen Frau gefunden – einer Schwedin, die ihre Ferien in einem Yogazentrum verbringen wollte. Ihr Körper ist drapiert wie auf Botticellis bekanntem Gemälde »Die Geburt der Venus«. Kurz darauf gibt es eine weitere Tote. Die Polizei sucht fieberhaft nach dem Mörder und bekommt unerwartete Hilfe von der Journalistin der schwedischen Zeitung der Insel, Sara Moberg, und dem ehemaligen Polizisten Kristian Wede. Die Spuren führen quer über die Urlaubsinsel, zur Norwegischen Seemannskirche, in ein Massagezentrum und schließlich in das Yoga-Paradies in den Bergen. Doch bald stellt sich heraus: Diese Idylle ist eine Illusion …

Zu den Autoren

MARI JUNGSTEDT wurde 1962 in Stockholm geboren und studierte an der Journalistenschule. Sie arbeitet als Radio- und TV-Journalistin sowie als Nachrichtensprecherin. Mari Jungstedt hat zwei Kinder. Ihre Bücher sind Grundlage der Fernsehserie »Der Kommissar und das Meer« mit Walter Sittler. »Tod auf Gran Canaria«, das sie gemeinsam mit dem Autor RUBEN ELIASSEN schrieb, war in Schweden ein Nummer-1-Bestseller, die Times bezeichnete sie als »eine der besten Krimi-Autorinnen Skandinaviens«.

Mari Jungstedt

Ruben Eliassen

TOD AUF GRAN CANARIA

Kriminalroman

Aus dem Schwedischenvon Gabriele Haefs

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »En mörkare himmel« bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2017

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Mari Jungstedt; Ruben Eliassen; published by arrangement with Partners in Stories Stockholm AB.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Frank Lukasseck/Getty Images;

© Shutterstock/olgatlt63

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mr · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-17930-4V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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Für Maya, die uns in ihrem kurzen Leben so viel Freude gemacht hat, und für unsere geliebten Kinder Leo Caspian, Rebecka, Sebastian, Joachim und Cedric

Prolog

Es duftete ein wenig nach Kräutern, und die Beleuchtung in dem kleinen Raum war gedämpft. Aus einem Lautsprecher unter der Decke strömte sanfte orientalische Musik. Die Wände waren dunkel, und in einer Ecke stand eine Grünpflanze. Er sagte, sie solle sich ausziehen und auf die Pritsche legen. Sie ging in die Ecke, die als Umkleide dienen sollte, fühlte sich nackt und ungeschützt. Ein Teil von ihr hätte am liebsten kehrtgemacht und den Raum wieder verlassen, aber etwas hielt sie zurück. Eine Neugier, eine Erwartung dessen, was kommen würde. Ein warmes Kitzeln überzog ihre Haut. Ihr Mund wurde trocken. Sie befeuchtete sich die Lippen. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, und im selben Moment dämmerte ihr, welchen Eindruck es erwecken könnte, wenn sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Sie lächelte unsicher, spürte, dass sie rot wurde. Sie machte sich an ihrem BH-Träger zu schaffen. Er war höflich und wandte sich ab, als sie ihr Kleid abstreifte. Sie zitterte, als sie ihre Sachen an einen Haken an der Wand hängte. Dann zögerte sie, unsicher, ob sie die Unterhose anbehalten sollte. Sie hatte das hier noch nie gemacht, wusste nicht, wie es ablief, was von ihr erwartet wurde.

Sie kletterte auf die mit Leder überzogene Liege und legte sich auf den Bauch. Versuchte, sich zu entspannen. Blinzelte, atmete durch die Nase ein und ließ die Luft langsam durch den Mund entweichen.

Der junge Mann wandte sich zu ihr um und legte ihr ein Handtuch über Beine und Po, bat sie dann, sich umzudrehen. Mechanisch gehorchte sie, legte sich auf den Rücken, die Brüste wippten ihm entgegen. Er breitete das Handtuch so aus, dass die Brustwarzen bedeckt waren, und stellte sich hinter sie, an das Kopfende der Liege. Sie blinzelte. Versuchte, sich auf nichts anderes zu konzentrieren als darauf, im Augenblick zu sein.

Er stand da, dicht hinter ihr. Sie wurde ganz weich, geschmeidig, willig, bereit, sich ihm voll und ganz auszuliefern. Er massierte ihr den Nacken und den Hals, ließ die Hände mit leichten Druckbewegungen zu den Schultern gleiten. Er fuhr am Handtuchrand entlang, neckend, nah bei den Brüsten. Sie atmete schwer, und bei ihm klang es ganz ähnlich. Sie wusste nicht, ob es von der Anstrengung kam oder ob er ebenfalls erregt war. Sie war vollständig auf seine Hände konzentriert, darauf, was deren nächstes Ziel sein würde. Wie sie über ihren Körper wanderten. Zielstrebige, liebkosende Berührungen, die in ihrem Unterleib Funken sprühen ließen. Sie war benommen, ihr war schwindlig. Seine Hände, warm und hart, auf ihrer weichen Haut.

Dann endlich zog er das Handtuch weg. Ließ die Hände über ihre Brüste gleiten. Sie war verloren.

1

Dienstag, 24. Juni

Erika Bergman stand vor dem Spiegel in dem spartanisch eingerichteten Zimmer und bürstete sich gewissenhaft die langen Haare. Sie zog die Bürste mit festen, rhythmischen Strichen hindurch, damit die Haare glatt und glänzend würden. Nicht, dass das eigentlich eine Rolle spielte, er zerzauste ihr die Haare ja doch, sowie sich eine Gelegenheit bot. Sie betrachtete zufrieden ihren durchtrainierten Körper. Über die Jahre hatte sich das regelmäßige Yogatraining bezahlt gemacht. Ihre Unterwäsche hatte sie sorgfältig ausgewählt. Sie spürte eine Wellenbewegung im Bauch, wenn sie daran dachte, was später an diesem Abend passieren würde.

Erika lächelte vor sich hin, mit dieser Art Training hatte sie nicht gerechnet, als sie die Yogareise nach Gran Canaria gebucht hatte. Das Yogazentrum Samsara Soul war einsam gelegen, weit entfernt von den Tourismuszentren mit Diskotheken, Bars und Nachtclubs.

Sie schaute aus dem Fenster und hinüber zu den über tausend Meter hohen Bergen, die sich vor ihr auftürmten, den Hängen mit den Obstgärten und weit hinten zu dem glitzernden Wasser des Atlantiks.

Dafür, dass sie sich südlich auf Gran Canaria befanden, war es ungewöhnlich grün. Bananen- und Papayaplantagen, Kürbis, Tomate, Apfelsine und Zitrone wuchsen bis zum Geröllstrand. Abgelegen, ein Stück vom nächsten Nachbarn entfernt, lag das Yogazentrum Samsara Soul, fast ganz hinter einer alten Mauer verborgen, die Schutz vor Einblick und ungebetenen Gästen bot.

Zwei Monate würde sie hier verbringen, weit weg von allem und jedem. Wollte sich nur dem Training widmen, den Massagebehandlungen, Spaziergängen, der Sonne und dem Baden. Wollte ihr Gleichgewicht finden, um mit ihrem Leben weitermachen zu können. Sie spürte bereits, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Als sie einige Wochen zuvor hergekommen war, war sie ein Wrack gewesen.

Mit einer Romanze hatte sie nicht gerechnet, das war eine unerwartete Zugabe. Sie legte die Bürste beiseite und malte sich ein wenig Rot auf die Lippen. Wählte eines der wenigen Kleider aus, die sie mitgenommen hatte, und streifte es über. Zog die hochhackigen Schuhe an. Schaute auf die Uhr, bald war es soweit.

Eine plötzliche Bewegung am Fenster. Ein lautloser Schatten, der rasch vorüberglitt. So nah, dass er das Glas fast gestreift hätte. Sie erstarrte. Sah ihr Gesicht im Spiegel, erkannte den verängstigten Blick wieder. Sie hatte geglaubt, dem entkommen zu sein, ihn in Schweden zurückgelassen zu haben. Aber er war ihr gefolgt. Ein lähmendes Gefühl, dass jemand sie im Blick behielt. Dass sie sich umsehen musste, ehe sie hinausging, die Tür hinter sich abschließen.

Inzwischen brauchte es nur noch so wenig. Eine Weile stand sie ganz still und horchte auf Geräusche, aber nichts regte sich. Es war fast unbehaglich still. Sonst ging nie jemand an ihrem Zimmer vorbei, das ganz hinten im Haus lag, und dessen Fenster ebenfalls nach hinten hinausging, wo es nur einige Büsche gab.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine weitere Bewegung wahr, es war mehr ein Gefühl. Aber es war etwas da. Sie hatte es sich nicht eingebildet. Ein Schauder jagte ihr vom Nacken über das Rückgrat hinunter.

Vorsichtig schlich sie ans Fenster, schaute in beide Richtungen. Eine Eidechse huschte über den trockenen Boden und verschwand im Gebüsch.

Sie blieb noch eine Weile stehen und sah hinaus. Etwas versteckte sich zwischen den Bäumen, weiter hinten, wo die Mauer das Zentrum umgab. Ihr Herz hämmerte los.

Dann sah sie ihn. Einen Hund, der zwischen den Büschen hervorkam und eifrig am Boden herumschnupperte. Er war groß und hatte staubiges braunes Fell, sah ziemlich heruntergekommen aus. Erika seufzte erleichtert auf.

Es war nur ein Hund.

2

Die Muscheln klapperten leise in dem Aluminiumeimer in seiner Hand. Er war am Morgen bei den Felsen vor El Pajar nach ihnen getaucht. Sie waren nicht genau von der Sorte, die er brauchte, aber Jakobsmuscheln gab es auf Gran Canaria eben nicht. Und schließlich kam es vor allem auf die Symbolik an. Der halbe Eimer war voll, mehr als genug. Das mit den Rosen hatte sich schwieriger dargestellt als erwartet. Er hatte eine ganze Weile suchen müssen, ehe er ein Stück den Hang hinauf bei einem verlassenen Haus die richtige Farbe entdeckt hatte. Er war in den Garten gegangen und hatte so viele weiße Rosen abgeschnitten, wie er nur tragen konnte. Er wollte keine Rosen kaufen, wollte nicht, dass irgendetwas zu ihm führte.

Er war ihnen vom Yogazentrum aus gefolgt. Sie hatten sich gegen halb vier am Nachmittag ins Auto gesetzt und waren auf direktem Weg nach Arguineguín gefahren. Das hatte eine Stunde gedauert, und sie trafen dort ein, als die Siesta gerade endete und die Geschäfte wieder öffneten. Sie hielten vor dem Einkaufszentrum Ancora und brachten ihre Erledigungen hinter sich. Er hatte sich die Schirmmütze tief in die Stirn gezogen, um nicht erkannt zu werden, während er ihnen folgte. Nach zwei Stunden hatten sie in der Bar Piporro an der Strandpromenade einen Kaffee getrunken, dann war der Mann in der norwegischen Seemannskirche verschwunden, die dicht am Meer auf den Felsen thronte. Sie war allein durch die Geschäfte gebummelt, und er hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Sie war so schön mit ihrer großen, schlanken Gestalt, ihren reinen skandinavischen Zügen und ihren weizenblonden Haaren. Sie trug ein schlichtes blaues Baumwollkleid und hochhackige Sandalen. Er wäre gern zu ihr gegangen, um sich ihr vorzustellen, sie auf ein Glas einzuladen. Neben ihr zu sitzen und den Sonnenuntergang anzusehen. Sie hatte sich im Restaurant Apollo unten am Strand ein Glas Wein bestellt. Schon bald tauchte der Mann wieder auf. Er trug eine Sonnenbrille, offenbar wollte er nicht erkannt werden. Sie aßen, redeten und lachten auf vertrauliche Weise. Schon aus der Ferne war zu sehen, dass sie mehr waren als nur gute Freunde. Sie aßen, bestellten noch mehr Wein, und als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, steuerten sie dicht aneinandergedrängt ein Gebäude oberhalb der Seemannskirche an. Sie verschwanden durch ein Tor, und er konnte sich schon vorstellen, dass sie so bald nicht wieder zum Vorschein kommen würden. Es machte ihm nichts aus, dass er warten musste. Je später der Abend, desto besser.

Er setzte sich in eine Bar, von der aus er genau im Auge behalten konnte, wer durch das Tor ein und aus ging. Er bestellte sich ein Bier, steckte sich eine Zigarette an und versuchte, seine Nerven zu beruhigen. Der Abend brach an und hüllte den kleinen Hafenort in ein sanftes Dunkel. Das Licht der Laternen an der Strandpromenade war warm und gastfreundlich, so wie das ganze alte Fischerdorf Arguineguín. Es war ein angenehmes, aber ziemlich verschlafenes Nest an der Südküste von Gran Canaria, weit weg von dem hektischen Nachtleben, das die Touristenorte Puerto Rico und Playa del Inglés einige Kilometer weiter prägte. Hier in Arguineguín schlossen die meisten Bars und Restaurants gegen elf Uhr abends.

Als sich das Tor wieder öffnete, hatte er seine Rechnung schon bezahlt und war auf eine Parkbank umgezogen. Es war nach Mitternacht, die Bar geschlossen und die Straße menschenleer. Er stellte fest, dass die Frau allein hinauskam.

Sie ging energischen Schrittes zum Supermercado León, dem einzigen Laden in Arguineguín, der so spät noch geöffnet hatte. Drinnen bewegte sich nichts, grelles Licht fiel auf die Straße. Sie betrat den Laden, und er hatte sie genau im Blick, die Türen standen weit offen. Sie kaufte Bier und Zigaretten. Sein Herz hämmerte, und sein Mund war wie ausgedörrt. Als sie herauskam, sprach eine Frau sie an aus der Gruppe, die auf den Bänken vor dem Laden saß. Er sah, dass sie einige Worte wechselten und dass sie der Obdachlosen ein paar Zigaretten gab. Dann ging sie weiter die Straße entlang, zurück zu dem Haus, aus dem sie gekommen war. Nun galt es, jetzt oder nie.

3

Als sie die nachtschwarze Straße betrat, hörte sie, wie das Tor mit dumpfem Klicken hinter ihr einrastete. Ihr fiel ein, dass sie weder Code noch Schlüssel hatte, und eine Gegensprechanlage gab es nicht. Nervös suchte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Mobiltelefon. Atmete auf, als sie es fand. Sie könnte auf dem Rückweg einfach anrufen. Sie hatte keine Lust, zwischen den schlafenden Häusern zu stehen und zu ihm hoch zu brüllen. Aufmerksamkeit zu erregen, es durfte niemand erfahren, dass sie hier waren. Das hier war ihrer beider Geheimnis. Das hatte er ganz deutlich klargestellt.

Er hatte sie gebeten, Zigaretten und Bier zu kaufen. Zuerst hatte sie protestiert, wollte er sie denn mitten in der Nacht losschicken? Aber er hatte darauf bestanden, und eigentlich machte es ihr nichts aus. Es wäre doch schön, ein bisschen frische Luft zu schnappen.

Es war schon fast eins, und deshalb ging sie die Straße hinunter zum Supermercado. Der war nicht schwer zu finden, das Neonschild war von der Wohnung aus zu sehen, die sie sich geliehen hatten. Sie war allein, niemand hielt sich jetzt noch draußen auf, abgesehen von einer Clique, die an der Strandpromenade saß und trank. Ihr war das unangenehm, und sie hastete vorbei, ohne die Leute anzusehen.

Als sie zurückkam, löste sich eine Frau aus den dunklen Schatten an der Strandpromenade. Im ersten Moment fuhr sie zurück, es war eine Erinnerung an etwas, das sie zu vergessen suchte. Aber die Frau gehörte zu der Pennerbande. Sie wollte Zigaretten schnorren. Erika gab ihr welche und lief eilig weiter.

Die Promenade oberhalb des Strandes lag im Dunkeln. Der Mond war hinter den Nachtwolken hervorgeglitten und warf ein bleiches Licht über das Meer, das sie in der Dunkelheit nur erahnte. Sie lauschte auf ihre Schritte, die vom trockenen Asphalt widerhallten. Die Straßen lagen leer und verlassen da. An der Mauer oberhalb der Bucht blieb sie stehen, sie schaute auf den lavaschwarzen Strand, den weiter entfernt gelegenen Hafen und das Wohnviertel auf der Landzunge, erleuchtet vom warmgelben Licht der Straßenlaternen. Sie hatte ganz offensichtlich einen Ort der Ruhe gefunden, von Nachtleben konnte eigentlich keine Rede sein. Sie nahm leichte Wellenbewegungen wahr, in der Ferne fuhr ein Auto an, ansonsten war kaum etwas anderes zu hören als ab und zu das laute Gelächter der Zecher auf der Bank.

Die warme Nachtluft streichelte ihr über die Haut. Sie genoss es, hier zu stehen, ganz allein. Einige Minuten für sich, in denen sie nur den eigenen Gedanken lauschte. Sie wollten es sich noch ein bisschen gemütlich machen, ehe sie nach Tasarte zurückkehrten, wo sie in ihr schmales Bett kriechen würde, als wäre nichts geschehen. Bei diesem Gedanken lächelte Erika. Wenn die anderen aus dem Yogakurs wüssten, was sie hier trieb! Sie hatte sich lange nicht mehr so leicht ums Herz gefühlt, fast als wäre sie hier von allem weit weg. Als ginge nichts sie etwas an. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt so entspannt gefühlt hatte.

Sie schlenderte weiter über die menschenleere Strandpromenade und erreichte die Kurve, wo es am dunkelsten war. Ein Tunnel führte zwischen einem düsteren Gebäude und einer hohen Felswand hindurch. Erst in dem schmalen Gang bemerkte sie, dass sie nicht mehr allein war. Jemand ging hinter ihr. Sie fuhr herum, um zu sehen, ob einer der Penner ihr gefolgt war, in der Hoffnung auf einige Münzen oder eine Handvoll Zigaretten. Sie machte eine Gestalt in schwarzer Kleidung und mit dunkler Schirmmütze aus, ein Penner war das nicht. Vor Unbehagen bekam sie eine Gänsehaut. Sie ging schneller. Verwünschte sich selbst, dass sie diesen Weg genommen hatte, weil sie die Aussicht über das Wasser so genoss. Sie hätte auch die Straße nehmen können, wo die Häuser um diese Zeit noch belebt waren und es mehr Verkehr gab. Sie hörte, wie der Fremde sich ihr näherte. Die Angst packte sie, und trotz der lauen Nacht durchfuhr es sie eiskalt.

Dann hörte sie dicht hinter sich eine leise Stimme, eine Stimme, die etwas sagte, das sie nicht verstand. Jemand flüsterte ihr etwas zu, aber sie wollte nicht stehen bleiben, wollte nicht hören, was da gesagt wurde. Sie erkannte, wie hilflos sie war, hier war sonst niemand, in dieser düsteren Ecke an der dunklen Felswand, in dem engen Durchgang zwischen den Gebäuden. Sie war in die Enge getrieben.

Sie keuchte auf, verspürte ein unwirkliches, drückendes Gefühl. Ihre Bewegungen wurden langsam, träge. Im Licht der Straßenlaterne ein Schatten an der Wand. Sie hielt den Atem an. Wollte die Tüte mit dem Bier und den Zigaretten fallen lassen. Wollte losrennen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus.

Und dann packte sie jemand von hinten, da war eine Stimme an ihrem Ohr, ihrem nackten Hals.

Und sie fiel.

4

Mittwoch, 25. Juni

Helena Eriksson saß zutiefst konzentriert im Lotussitz. Sie atmete ruhig, blinzelte und spürte die Wärme der Sonne auf dem Gesicht. Sie war nach fast anderthalb Stunden Yoga schweißnass. Sie spürte die Anwesenheit der anderen, obwohl alle ganz stillsaßen. Vorsichtig öffnete sie die Augen, sah den Leiter an, Samsara, der die Handflächen auf den Boden gelegt und die Beine hinter dem Nacken verschränkt hatte. Seine Muskeln waren angespannt, der geschmeidige Körper in totalem Gleichgewicht. Die komplizierte Haltung schien ihn vollständig unberührt zu lassen. Sein Blick war aufmerksam nach vorn gerichtet, über ihre Köpfe hinweg, auf einen Punkt irgendwo anders, in weiter Ferne. Sein Gesicht war neutral, ausdruckslos. Er sah gut aus, fand sie. Obwohl er sicher auf die sechzig zuging, war er noch immer attraktiv. Seine Haut war nach Jahren in der Sonne dunkelbraun, der Körper sehnig und muskulös, ohne ein Gramm überflüssiges Fett. Seine Gesichtszüge waren rein, er hatte hohe Wangenknochen und eine markante Kinnpartie, die sein männliches Aussehen betonte. Dass er ausgesprochen gut bestückt war, war nicht zu übersehen. Es war fast irritierend, dass er sich immer wieder auf diese Weise präsentierte, dachte Helena. Als ob alle genau wissen sollten, was er mit sich herumtrug, über welches Potenzial er verfügte.

Helena sah sich vorsichtig die anderen aus der Gruppe an. Es waren nur Frauen, die meisten um die vierzig. Alle waren gleich gekleidet, in weiche, knielange, enganliegende Hosen und weiße Hemden. Sie hatten diese Kleider beim Eintreffen im Yogazentrum erhalten, keine sollte aus der Gruppe hervorstechen. Das gehörte zu der Erfahrung dazu. Hier zu sein, ein Teil des Geistes, nach dem alle strebten. Ruhe in sich und zugleich Gemeinschaft mit den anderen zu finden. Sie hatten erfahren, dass die körperliche Zusammengehörigkeit es den Teilnehmenden erleichterte, die seelischen Ziele zu erreichen.

Samsara gab ihnen ein Zeichen, sich zur abschließenden Entspannungsübung hinzulegen. Helena hatte den Eindruck, dass er sie besonders lange ansah, und sie kam nicht umhin sich zu fragen, warum. Entweder flirtete er mit ihr, oder sie hatte irgendetwas falsch gemacht. Immer nahm er eine beiseite, um sie zu korrigieren oder ihr eine zusätzliche Lehre zu erteilen. Ab und an vergab er auch ein Lob, wenn eine etwas besonders gut gemacht hatte, aber das kam seltener vor. Er war streng und anspruchsvoll, aber zugleich war er der beste Yogalehrer, den sie je gehabt hatte.

Sie legte sich auf der dünnen Matte auf die Seite. Zog die Beine an, legte sie in einem Winkel von neunzig Grad auf einer Seite ab und drehte den Oberkörper zur anderen. Sie hatte Platz genug. Denn der Platz neben ihr war leer. Dort hätte Helenas Zimmergenossin Erika sitzen müssen, aber die war nicht da. Helena hatte sie seit dem Mittagessen am Vortag nicht mehr gesehen. Erika war gegen drei Uhr nachmittags losgegangen, ohne zu sagen, wohin sie wollte, und dann war sie nicht zurückgekommen. Nicht zu den abendlichen Übungen, nicht zum Essen und auch nicht zur Nachtruhe. Helena sorgte sich um ihre Zimmergenossin. Natürlich war sie auch früher schon ausgeblieben, aber niemals so lange. Und niemals über Nacht.

Eigentlich wusste sie nicht viel über Erika. Sie teilten seit fast zwei Wochen das Zimmer, und sie kamen gut miteinander aus, aber wenn Helena versucht hatte, über persönliche Themen zu sprechen, hatte Erika sich verschlossen wie eine Muschel. Sie hatte etwas Düsteres an sich. Sie war schön mit den großen Augen und den langen blonden Haaren. Es war etwas Elegantes an ihr, als wäre sie feiner als alle anderen, ohne dass sie jedoch versucht hätte, das zu betonen oder sich aufzuspielen. Sie war einfach so. Sie strahlte ein Licht aus, das fast zaubrisch wirkte, aber zugleich hatte sie eine Schwermut, über die sie offenbar nicht sprechen wollte. Doch die Dunkelheit in ihren Augen verflog, wenn sie über Yoga sprach. Erika liebte das Leben im Zentrum, und sie strahlte ganz besonders, wenn wieder eine Übungsrunde begann. Helena dachte daran, dass eine Veränderung in ihrer Zimmergenossin vorgegangen war, als Samsara, der Leiter des Zentrums, sie willkommen geheißen hatte. Der Ernst auf Erikas Gesicht war wie weggeblasen gewesen. Erika hatte fröhlich ausgesehen und fasziniert, neugierig darauf, was das Zentrum ihr geben würde. Sie hatte seit ihrem Eintreffen keine einzige Aktivität verpasst. Jeden Morgen stand sie um sechs Uhr auf, um in aller Ruhe vor der ersten Morgenschicht wach zu werden. Helena dagegen schaffte es immer erst im letzten Moment aus dem Bett und geriet in schrecklichen Stress, um noch rechtzeitig zu den Entspannungsübungen zu erscheinen.

Aber an diesem Morgen war Erika nicht aufgetaucht. Sie hatte auch in der Nacht nicht in ihrem gemeinsamen Zimmer geschlafen. Helena war mehrmals aufgewacht, immer um festzustellen, dass Erikas Bett leer war.

Die Übungsstunde war zu Ende und alle erhoben sich langsam, eine nach der anderen. Samsara bedankte sich für ihre Anwesenheit, indem er die Handflächen aneinanderpresste und sich vor den Anwesenden tief verbeugte. Helena verließ die Terrasse und ging die weißgekalkte Treppe hinunter, die zu dem Gebäude führte, in dem sie und Erika wohnten. Da Erika die Nacht also nicht in ihrem Zimmer verbracht hatte, wo konnte sie sonst gewesen sein? Die Teilnehmerinnen hier im Zentrum waren fast alle Frauen mittleren Alters, die sich nach Ruhe, Frieden und Ausgeglichenheit sehnten. Außerdem nahmen noch ein paar Männer und die eine oder andere jüngere Frau an dem Retreat teil. Wie sie und Erika. Sie alle blieben meistens auf dem Gelände, ihr Stundenplan war ziemlich voll, für anderes blieb kaum Zeit. Die Tage waren streng getaktet, es gab mehrere Yogastunden, Körperbehandlungen und auch allerlei Arbeiten wie Putzen, Kochen und Obstpflücken in den umliegenden Gärten. Helena wollte zwei Wochen hier verbringen. Die meisten blieben ebenso lange. Anders als Erika, die den ganzen Sommer gebucht hatte. Helena beneidete sie nicht. Sie hatte die streng verplanten Tage und das nichtssagende Essen bereits satt. Das fade zerkochte Gemüse und den grünen Tee. Wenn sie erst wieder zu Hause in Stockholm wäre, wollte sie als Erstes zu McDonald’s gehen.

Sie überlegte, wo Erika stecken könnte. Es gab hier draußen sonst keinen Zeitvertreib, außer einer Bar in Tasarte, doch die schien fast niemals geöffnet zu haben. Und unten am Meer gab es ein Familienrestaurant, vielleicht sollte sie hingehen und fragen, ob Erika dort gewesen war. Sie hatte sich schon im Zentrum nach ihr umgehört, aber niemand hatte Erika gesehen oder wusste, wo sie sein könnte. Helena verspürte eine wachsende Unruhe. Soweit ihr bekannt war, hatte Erika keine Freunde auf der Insel, die sie vielleicht hätte besuchen können.

Helena war vor ihrer Zimmertür angekommen, hielt dann aber inne. Es widerstrebte ihr hineinzugehen. Sie wurde von einem jähen Unbehagen erfasst, als läge im Zimmer etwas Gefährliches auf der Lauer. Sie schüttelte den Kopf über ihre Phantasie und versuchte, sich von dem Gefühl zu befreien, öffnete die Tür und ging hinein. Das Zimmer war spartanisch eingerichtet. Die weiß verputzten Mauern waren kahl, ohne Bilder oder andere Dekorationen. Zwei schmale, schlichte Betten in den Ecken. Ein kleines Waschbecken an der Querwand, dazu ein Spiegel, ein dünnes Handtuch an einem Haken. Alles war einfach, karg. Um innere Harmonie zu erreichen, müsse man sich mit Schlichtheit umgeben, hatte Samsara erklärt. Er selbst wohnte in gebührender Entfernung vom Zentrum mit seiner Frau und zwei Kindern in einer großen steinernen Villa. Helena war nicht in dem Haus gewesen, aber von außen sah es reichlich luxuriös aus.

Das Zimmer war noch genauso, wie sie es am Morgen verlassen hatte. Sie setzte sich auf ihr Bett. Das war hart, was gut für den Blutkreislauf sein sollte. Erikas Rucksack stand halb geöffnet auf dem Boden, auf ihrem Nachttisch lagen ein Buch und einige Zeitungen. Helena fragte sich, welches Geheimnis Erika verbergen mochte. Eines Abends hatten sie darüber gesprochen, warum sie hergekommen waren. Erika war ziemlich vage geblieben, hatte aber etwas darüber fallen gelassen, dass sie geflohen war. Dass sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe. Bei Helena war der Eindruck entstanden, dass sie vor etwas oder jemandem davonlief. Viele kamen her, um sich von ihrem mehr oder weniger stressigen Leben zu erholen, um sich selbst näherzukommen, allein und doch zusammen mit anderen. Aber Erika schien zu denen zu gehören, die eine echte Atempause von der Wirklichkeit brauchten.

Jetzt wurde sie endgültig von Sorge erfasst. Erika ging nicht an ihr Mobiltelefon und hatte auch keine Nachricht für Helena hinterlassen. Etwas musste passiert sein. Etwas ganz Schreckliches.

5

Ein einsamer Fischkutter tuckerte auf den Hafen von Arguineguín zu. Ein zögerliches Morgenlicht hatte sich am Himmel ausgebreitet. Manuel war müde vom Fischzug der vergangenen Nacht. Seine Beine schmerzten und der Rücken war steif. Er war kein junger Mann mehr, und die Arbeit zehrte an seinen Kräften. Er hatte jedoch einen guten Fang gemacht. Mehrere hundert Kilo Fisch hatten sie eingeholt, Thunfisch und Sardinen. Das würde einen willkommenen Gewinn in die Kasse spülen. Die Zeiten waren hart, die Finanzkrise hinterließ überall in Spanien ihre Spuren.

Er ging an Deck, reckte sich und gähnte, zog eine Dose Tropical aus der Kühlbox und steckte sich eine Zigarette an. Das Meer war ruhig und glatt.

Er sehnte sich danach, nach Hause zu kommen und den Enkelkindern einen Kuss zu geben, ehe sie zur Schule aufbrachen. Er würde ein warmes Frühstück zu sich nehmen, das seine Frau ihm immer an den Küchentisch brachte. Eine Tortilla mit Kartoffeln und gofio, gerösteten Maiskernen, zermahlen und mit Olivenöl, Wasser, Zucker und Salz zu einem Teig gemischt, den sie dann wie Brot in Scheiben schnitt. Das gofio war reich an Kohlenhydraten und die rechte Kost nach einem anstrengenden Einsatz auf dem Meer. Er war durchgefroren und müde und wollte nur noch nach Hause zum Essen und in sein warmes Bett.

Sie näherten sich Hafen und Strand. Die schwarzen Felsen unterhalb der norwegischen Seemannskirche tauchten im Blickfeld auf. Zuerst konnte er sie im Dämmerlicht nur erahnen. Sie glänzten nass von Meerwasser, das sich jetzt zurückzog. Die Wellen schlugen sacht an das Ufer. Manuel zog noch einmal an seiner Zigarette und trank einen Schluck Bier, als er auf den Felsen einen Menschen entdeckte. Er erstarrte und trat instinktiv einen Schritt vor, als ob das ihm zu besserer Sicht verhelfen könnte. Dort lag eine Frau, und sie war nackt. Sie lag ganz still da, wie schlafend.

Die Sonne ging auf, und die Morgenluft war feucht und kühl. Manuel lief zur Kajüte und holte sein Fernglas. Sein Partner Jaime stand am Ruder und wollte wissen, was passiert sei, aber Manuel machte nur eine abwehrende Handbewegung und stürzte wieder hinaus. Er hob das Fernglas an die Augen und suchte die Klippen ab. Er erstarrte, als er begriff, dass er richtig gesehen hatte. Sie lag auf einem Felsplateau, unterhalb der Kirche, auf dem Rücken, leblos, den Blick zum Himmel gerichtet. Sie hatte blonde Haare, die an den Seiten nach unten fielen. Manuel schrie seinem Freund im Steuerhaus etwas zu und bedeutete ihm, den Kurs zu ändern.

»Da liegt eine Tote auf den Felsen!«, schrie er.

Als sie sich dem Strand näherten, sahen sie es viel deutlicher. Manuel würde diesen Augenblick nie vergessen. Das Geräusch, als das Boot an den schwarzen Felsblöcken vorbeischrammte, eine Möwe, die aufs Meer hinausjagte, das Lärmen eines Radios, irgendwo oben in einem Café weiter hinten am Strand, das gerade für den Tag geöffnet wurde. Das Scharren von Tischen, die für frühstückslustige Passanten auf dem Bürgersteig zurechtgeschoben wurden. Ein Reinigungsarbeiter in einem grünen Overall fegte die Straße oberhalb des Strandes, ein anderer leerte Papierkörbe. Zwei Jogger liefen vorüber. Irgendwer stieg zu dem noch menschenleeren Strand hinunter, ein Hund tollte im Sand herum. Das Morgenlicht breitete sich aus und verpasste der Strandpromenade einen frischen Anstrich, eine Fassade nach der anderen erstrahlte in einem wärmeren Farbton, während die Sonne am Himmel höherstieg.

Manuel sprang vom Boot und lief zu der Frau. Sie lag im Schutz der hohen Mauer da, war vom Gehweg weiter oben sicher nicht zu sehen. Der Anblick war nur schwer zu ertragen und er wich zurück. Nervös suchte er in seiner Jackentasche nach seinem Mobiltelefon. Am Hals der Toten klaffte eine tiefe Wunde. Ein schönes Gesicht mit hohen Wangenknochen und schmalen Lippen. Tiefblaue Augen, die glasig zum Himmel hochstarrten. Um den Leichnam herum lagen weiße Rosen verstreut. Manuel hörte, dass sein Partner hinter ihn trat.

»Por Dios«, keuchte Jaime. »Was ist passiert? Ist sie wirklich tot?«

Manuel nickte langsam.

Seine Hände zitterten, als er die Nummer der Polizei wählte.

6

Früher

Ein kalter Luftzug weckte Adriana. Im Traum hatte die Jungfrau Maria neben ihr gesessen und ihr über die Stirn gestreichelt wie früher, als sie noch ein Kind gewesen war. Aber plötzlich hatte sich das Gesicht der Jungfrau verzerrt, sie runzelte die Stirn, und die Augen wurden schwarz. Sie öffnete den Mund und schrie, und nun verkohlten ihre Zähne und einer nach dem anderen fiel heraus.

Vielleicht hatte Adriana sich auch selbst durch ihr verängstigtes Geschrei geweckt. Sie zog die Decke dichter um sich zusammen, blieb liegen und starrte in die Dunkelheit. Die Fensterläden standen einen Spaltbreit offen, und das kalte Licht des Mondes bahnte sich einen Weg über den Boden und das Bett, kroch als Silberstreif die Wand hoch. Um Christi Haupt am Kruzifix über dem Bett warf er einen Heiligenschein. Sie fühlte ein Unbehagen, das nicht verfliegen wollte, nicht einmal, nachdem sie aufgewacht war, eine Unruhe in der Magengegend, von der sie nicht wusste, woher sie stammte. Die Wände schienen sich um sie herum zu verengen.

Dann hörte sie ihn, seine vertrauten Schritte. Er versuchte, sich vorsichtig zu bewegen. Die Tür öffnete sich langsam, ein leichtes Quietschen. Das Bett ächzte unter seinem Gewicht, als er sich auf den Rand setzte und sich über sie beugte. Er küsste sie behutsam auf die Stirn. Er war unrasiert und seine Bartstoppeln kratzten an ihrer Wange.

»Mi amor«, flüsterte sie zärtlich.

Er streichelte ihr über die Haare, berührte vorsichtig ihre nackte Schulter. Sie griff nach seiner Hand, zog sie zu sich, legte sie an die Lippen.

»Bleib bei mir«, bat sie.

»Meine Geliebte«, sagte er und schloss seine Hände um ihre. »Ich kann nicht, sie warten auf mich. Wir fahren mit mehreren Booten aus, und ich bin bei José an Bord. Ich kann ihn nicht im Stich lassen.«

»Das kann doch jemand anderes übernehmen. Dieses eine Mal kommen sie ja wohl ohne dich zurecht. Ruf doch an und sag, dass du krank bist. Komm lieber hier unter die Decke.«

Das Gefühl des Unbehagens breitete sich weiter aus. Sie verspürte eine Kälte, wollte von ihm gewärmt werden. Die Jungfrau Maria warf noch immer ihren kalten Schatten auf sie.

»Bleib bei mir, bitte. Ich will nicht, dass du heute Nacht hinausfährst.« Sie schaute besorgt zum Fenster hinüber. »Es kommt doch ein Sturm.«

Wie zur Bestätigung ihrer Ängste klapperten die Fensterläden, und der Wind rauschte in den Bäumen. Ein Zeichen der Jungfrau Maria.

Er legte ihr die schwieligen Hände um den Kopf und drückte sie an seinen Brustkorb, er roch nach Fisch, Meer und Salz. Dieser Geruch ließ sich niemals ganz abwaschen. Es war, als hätten sich die harten Jahre draußen auf See in seiner Haut festgesetzt.

»Ich kann nicht, das weißt du doch«, sagte er leise. »Nur Gott und das Meer können Essen auf unseren Tisch bringen und uns warm halten. Bete lieber für mich, wenn ich heute Nacht dort draußen bin«, sagte er und ließ sie los. »Bete, dass Gott mich Gold aus dem Meer holen lässt.«

»Du machst Witze über Fragen von Leben und Tod.«

»Ja«, sagte er und streichelte ihr über die Wange. »Anders geht es nicht. Wer den Tod fürchtet, freut sich nicht über das Leben.«

»Du und deine Sprüche«, schnaubte sie und spielte die Verärgerte, weil er ihre Ängste wegscherzte.

»Eine anstrengende Frau macht aus ihrem Mann einen Philosophen«, sagte er und lächelte sie an.

Seine dunklen Augen leuchteten im Mondlicht.

Adriana setzte sich im Bett auf, packte seine Jacke und zog ihn an sich.

»Küss mich«, bat sie.

Und er küsste sie, lange und leidenschaftlich.

Sie war noch keine achtzehn Jahre alt gewesen, als sie sich in ihn verliebt hatte. Er war so anders gewesen als alle anderen Männer, die damals versucht hatten, sie zu beeindrucken. Er hatte nie einen Versuch unternommen, sich ihr zu nähern. Seine Zurückhaltung und das vorsichtige Interesse, das er zeigte, machten ihn für sie attraktiv. Er stand nicht an den Straßenecken und pfiff den Mädchen hinterher, wie die anderen Jungen aus dem Ort. Er sah sie nur an und lächelte schüchtern, wenn ihre Blicke einander begegneten. Eines Tages, als sie auf dem Markt eingekauft hatte, fragte er, ob er sie nach Hause bringen dürfe, und sie sagte ja.

Er hatte ihre Einkaufstasche getragen und ihr Geschichten erzählt. Anekdoten aus dem Dorf, über seinen Großvater, der Ziegen aus den Bergen hergetrieben hatte. Über seinen Vater, der fischte, seine Mutter, die auf den Feldern arbeitete. Und es lag eine besondere Wärme in seiner Stimme, wenn er über seine Mama sprach, ihren Fleiß und ihre Güte.

Adriana ließ sich im Bett zurücksinken. Sie hörte den Wind rauschen.

»Dann geh«, sagte sie. »Und viel Glück heute Nacht. Ich warte auf dich.«

Er nickte und warf ihr eine Kusshand zu, schloss die Tür hinter sich. Kaum war er verschwunden, kehrten ihre bösen Vorahnungen zurück.

Adriana faltete die Hände zum Gebet. Sie schloss die Augen und flüsterte in der Dunkelheit:

»Dios mio …«

Als der Wind die Fensterläden aufschlug, fuhr sie zusammen. Das Kruzifix fiel von der Wand und zerbrach auf dem Nachttisch. Der Sohn Gottes lag mit ausgestreckten Armen da, und das braune Holzkreuz fiel in Stücken zu Boden. Sie griff nach der geschundenen Gestalt und drückte sie sich an die Brust.

»Dios mio«, flüsterte sie. »Gütiger Gott, mach, dass nichts passiert …«

7

Der Polizeifunk rauschte in dem stillen Zimmer. Zuerst klang es wie aus weiter Ferne an ihr Ohr, dann wurde es immer lauter. Das Radio stand auf dem Nachttisch. Als Redakteurin der skandinavischen Zeitung Dag & Natt hielt sie sich über alle Ereignisse auf dem Laufenden. Das gehörte zum Job dazu. Sara Moberg lag allein in dem großen Doppelbett. Lasse war mit dem gemeinsamen Sohn in Las Palmas. Sie hatten ein spätes Fußballspiel besucht und übernachteten im Hotel. Ihr Mann konnte das, ab und zu unternahm er etwas mit einem der Kinder, nur die beiden. Manchmal hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie es nicht auch so machte.

In schlaftrunkenem Zustand nahm sie einzelne Fetzen der Nachricht wahr. Tote Frau unterhalb der norwegischen Seemannskirche in Arguineguín gefunden. Die Polizei ging von Mord aus. Sara warf einen Blick auf den Wecker, der zeigte halb acht an. Hellwach streckte sie die Hand nach ihrem Smartphone aus und wählte die Nummer von Kommissar Diego Quintana von der Guardia Civil in Las Palmas. Zugleich tastete sie nach ihrer Lesebrille und nach Papier und Stift, die sie immer in Reichweite hatte, wenn sie schlafen ging. In case of emergency. Oder falls ihr plötzlich, ehe sie einschlief, eine Idee für einen Artikel oder wenn sie mitten in der Nacht wach läge, was im Moment viel zu häufig vorkam. Vielleicht war es das Alter, oder es waren die herannahenden Wechseljahre oder einfach eine allgemeine Unruhe.

Sie wählte mehrfach Quintanas Nummer, musste etliche Versuche machen, ehe der Kommissar sich endlich meldete.

»Hola, hier ist Sara. Entschuldige den frühen Anruf, aber ich nehme mal an, du bist im Dienst.«

»Zumindest auf dem Weg dorthin«, knurrte Quintana.

»Ich habe eben etwas über einen Mord in Arguineguín gehört. Über eine Tote, die bei der norwegischen Seemannskirche gefunden worden ist …«

»Mordverdacht«, korrigierte Quintana. »Wir wissen noch nichts. Bin auch gerade erst informiert worden, verdammt noch mal.«

»Okay. Wisst ihr, wer das Opfer ist?«

»Nein.«

»Ist schon jemand verhaftet worden?«

»Nein.«

»Kannst du mir etwas mehr sagen? Stimmt es, dass sie an Ort und Stelle umgekommen ist?«

»Jetzt hör aber auf, ich habe zu arbeiten. Adios.«

Sara Moberg sprang aus dem Bett und lief ins Badezimmer. Sie musste so schnell wie möglich nach Arguineguín. Eine ermordete Frau. Unwahrscheinlich, dass so etwas in dem kleinen friedlichen Ferienort passiert war. Viele ihrer Leser wohnten dort. Ein Großteil der lokalen Bevölkerung stammte aus Norwegen.

Sie ließ das Frühstück ausfallen, schnappte sich aber eine Banane, eine Flasche Wasser und ein Stück von dem Brot, das sie am Vortag gebacken hatte. Steckte den Kopf durch die Zimmertür ihrer Tochter und rief, dass sie los müsse.

»Ja, ja«, klang Olivias Stimme gedämpft unter der Decke hervor. »Mach’s gut, Mama.«

»Sieh zu, dass du auf die Beine kommst«, schob Sara noch hinterher, ehe sie sich eine Jacke überzog und die Füße in ein Paar robuster Laufschuhe steckte. Wenn sie draußen am Meer auf Felsen und im Sand herumkraxeln müsste, wäre es besser, entsprechend gekleidet zu sein.

Sobald sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte, merkte sie, dass sie zu dick angezogen war. Die Luft war schon warm, obwohl die Sonne gerade erst am Himmel stand. Die Vögel zwitscherten hinten am Pool. Sara zog die Jacke aus und warf sie auf die Rückbank, legte eine CD von Ted Gärdestad ein, ehe sie aus der Garage fuhr und das eiserne Tor mit der Fernbedienung öffnete. Das Auto war erfüllt von »Der Himmel ist unschuldig blau« und Sara sang mit. Laut und falsch. Sie war schon als Teenager ein großer Fan von Ted Gärdestad gewesen und sie wurde seiner Musik niemals überdrüssig. Er war damals ihr Idol gewesen, war aber schon seit vielen Jahren tot. Sara würde ihn niemals vergessen. Sie hatte alle seine LPs zu Hause und in ihrem Arbeitszimmer hing ein altes Poster von ihm.

Ihr Haus stand hoch oben auf einem Berg mit phantastischem Blick auf das Meer. Ganz San Agustín breitete sich unter ihr aus. Hier wohnte sie seit zwanzig Jahren mit ihrer Familie, fast so lange, wie sie schon auf Gran Canaria lebte. Sie waren hergezogen, als bei Lasse zu ihrem Schrecken Parkinson diagnostiziert worden war. Sie hatten beschlossen, das kalte Schweden zu verlassen. Sie waren damals frisch verheiratet, und das erste Kind, Viktor, war unterwegs. Sie ließen sich in San Agustín im Süden von Gran Canaria nieder, wo schon damals eine kleine schwedische Kolonie existierte. Lasse übernahm ein heruntergekommenes Hotel am Meer, renovierte es und konzentrierte sich in erster Linie auf skandinavische Gäste. Das Hotel wurde bald immer beliebter, und die Wärme in Kombination mit den richtigen Medikamenten sorgte für einen Stillstand der Krankheit. Sara gründete die Zeitung und nach einigen mühsamen Jahren schrieb sie schwarze Zahlen. Die Auflage stieg und die Anzeigenkunden standen Schlange. Sie und Lasse lernten rasch Spanisch und hatten inzwischen viele Freunde, kanarische und skandinavische. Inzwischen hatten sie den größeren Teil ihres Erwachsenenlebens hier verbracht, die Kinder waren eher kanarisch als schwedisch, und das Heimatland lag in weiter Ferne. Sie begnügten sich damit, jedes Jahr für einige Wochen nach Schweden zu fahren. Das war mehr als genug.

Arguineguín war nur fünfzehn Minuten entfernt, und Sara fuhr sofort zur norwegischen Seemannskirche. Die lag mitten im Ort, hoch und schön auf einer Landzunge mit Blick über den Hafen, die Strandpromenade und das Meer, dort, wo die Felsen bei Puerto Rico und Mogán steil in die Tiefe abfielen. Schon aus der Ferne sah man, dass etwas passiert war. Etwa ein Dutzend Streifenwagen standen vor der Kirche, uniformierte Polizisten liefen umher und Absperrbänder flatterten in der Morgenbrise. Sara schnappte sich Kameratasche und Notizblock und stieg aus dem Auto. Eine Gruppe von Menschen stand vor der Absperrung und überall waren erregte Stimmen zu hören. Sie fing einzelne Kommentare auf. Jemand fragte, was denn passiert sei, ein anderer schüttelte den Kopf, mehrere schossen mit ihren Mobiltelefonen Fotos. Von beiden Seiten der Strandpromenade strömten weitere Schaulustige herbei.

Arguineguín lag zwischen den großen Touristenorten Playa del Inglés und Puerto Rico an der Südküste der Insel. Nur selten geschah hier etwas so Aufsehenerregendes wie ein Mord.

Im Näherkommen entdeckte Sara Kommissar Diego Quintana, der zusammen mit einem Mann, den Sara für den Rechtsmediziner hielt, neben dem Opfer hockte. Der Leichnam war hinter einem provisorisch aufgestellten Wandschirm nur notdürftig verborgen. Sara ging zur Absperrung und rief Quintanas Namen, sie ignorierte den Versuch eines Polizisten, sie zu verscheuchen. Diego schaute auf und ihre Blicke begegneten sich. Er winkte ihr, wechselte noch ein paar Worte mit dem Rechtsmediziner, stand auf und ging auf sie zu. Er versuchte sich an einem Lächeln, als er sie begrüßte, offensichtlich machte ihm die Situation zu schaffen. Diego Quintana war ein gutgebauter und für einen Kanaren ungewöhnlich großer Mann, er maß wohl an die eins neunzig, hatte dunkle, nach hinten gekämmte Haare, einen kräftigen Schnurrbart und gepflegte Koteletten.

»Ich hätte mir denken können, dass du schneller als der Wind hier sein würdest«, sagte er.

»Was ist denn passiert?«, fragte Sara.

»Einige Fischer haben heute Morgen hier auf den Felsen eine Tote gefunden. Und es steht fest, dass wir es mit einem Mord zu tun haben.«

»Noch keine Festnahme?«

»Nein.«

»Darf ich reinkommen?«, fragte sie.

»Das hier ist ein Tatort, die Techniker sammeln Spuren und der Rechtsmediziner ist hier. Du musst so lange draußen warten.«

»Und wenn ich im Hintergrund bleibe? Ich werde niemanden stören.«

»Du weißt, ich tue alles für dich, aber es gibt Grenzen.«

Quintana zwinkerte ihr zu und ging zurück zu dem Wandschirm, wo der Rechtsmediziner eine erste Untersuchung vornahm. Es hatte wie ein Scherz geklungen, aber sie wusste, dass es sein Ernst war. Diego Quintana war seit ihrer ersten Begegnung vor zehn Jahren in sie verliebt. Aber die Tatsache, dass sie beide verheiratet waren und sie seine Gefühle nicht teilte, zwang Sara dazu, sich nichts anmerken zu lassen.

»Sag mir wenigstens, wie sie gestorben ist«, rief Sara hinter ihm her.

Quintana blieb für eine Sekunde stehen, drehte sich um und fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Hals.

Sara bekam eine Gänsehaut. Sie kletterte auf ein Stück Mauer vor dem Absperrband, wo sie einen besseren Blick auf die Felsen unterhalb der Strandpromenade hatte. Als der Rechtsmediziner sich bewegte, sah sie den Leichnam.

Die Tote war vielleicht Mitte dreißig. Sie lag nackt und ausgestreckt auf einem Felsplateau. Die eine Hand ruhte auf der Brust, die andere verdeckte den Schoß. Quer über den Hals zog sich eine scheußliche Schnittwunde, die jedoch seltsam sauber wirkte. Ihre bleiche Haut hob sich krass von den schwarzblanken Felsen um sie herum ab, fast schien es, als leuchte sie. Sara blieb an etwas hängen, das neben dem Leichnam lag. Sie stellte das Teleobjektiv ihrer Kamera ein. Und nun sah sie es. Auf dem Boden lagen weiße Rosen. Die Haltung der Toten wirkte arrangiert, als wollte der Täter etwas illustrieren.

Um den Tatort herum sammelten sich weitere Schaulustige. Neugierige Dorfbewohner und Touristen strömten aus allen Richtungen herbei und vor den Absperrbändern bildete sich eine kleine Menschenmenge. Sara registrierte mehrere Journalisten und Fotografen.

Sie warf noch einen Blick auf die Frau. Wer bist du?, fragte sie sich. Und wem um alles in der Welt bist du in die Hände gefallen?

8

Der Himmel an diesem Morgen war hell und die Luft war warm, als Kristian Wede aus der Wohnung taumelte, noch immer nicht ganz wach. Er war verkatert und müde und hätte alles darum gegeben, im Bett bleiben zu dürfen, als das Telefon geklingelt hatte. Es war seine Chefin im schwedisch-norwegischen Konsulat gewesen, Grete Jensen. Ihre Stimme klang gehetzt.

»In Arguineguín ist etwas Schlimmes passiert. Eine Frau, vermutlich eine Skandinavierin, ist soeben unterhalb der norwegischen Seemannskirche tot aufgefunden worden. Alles deutet auf einen Mord hin. Du musst hinfahren und herausfinden, wer sie ist. Wir haben schon das Außenministerium am Hals. Frag nach Kommissar Diego Quintana. Er weiß, dass du kommst.«

Auf dem Weg zum Auto, das in einer engen Seitenstraße stand, zog er die Lutschtabakdose aus der Innentasche seines Jacketts und drückte sich einen Priem unter die Oberlippe. Sein kleiner knallgelber Morris war zwischen zwei anderen Wagen eingeklemmt, und nur mit sehr viel Glück gelang es Kristian, ihn aus der Parklücke zu manövrieren.

Er hatte den Wagen gekauft, als er vor drei Monaten auf der Insel gelandet war. Das schwedisch-norwegische Konsulat hatte ihn in San Cristóbal untergebracht, einem Vorort von Las Palmas. Das Haus lag am Meer mit Aussicht auf die Strandpromenade, die Silhouette der Großstadt im Hintergrund.

Der Tabak verscheuchte seinen Kater nicht, aber Kristian brauchte etwas, um wach zu werden. Er fuhr sich durch die dunklen Locken, die, wie so oft, in verschiedene Richtungen abstanden, und setzte sich ins Auto. Öffnete eine Dose Cola, die er auf dem Weg zur Tür aus dem Kühlschrank gerissen hatte, trank ein paar Schluck und legte eine CD seiner dänischen Lieblingssängerin Agnes Obel ein. Er trat das Gaspedal zu fest durch und der Motor heulte auf. Schon bald bog er auf die Schnellstraße nach Süden ab, unterdrückte ein Gähnen und drehte die Musik lauter. Er dachte daran, wie spät es in der vergangenen Nacht geworden war und wie viel er getrunken hatte. Es war zu früh, viel zu früh. Ein Blick auf die Uhr: halb neun.

Er fuhr schneller, das Auto fraß einen Kilometer nach dem anderen. Er passierte den Flughafen, den Ort Vecindario, dann San Agustín, die Lieblingsstadt der Schweden, und die gewaltigen Touristenkomplexe von Playa del Inglés und Maspalomas.

Er hatte in der Nacht nicht viel geschlafen, war in der Bar an der Ecke der Strandpromenade hängengeblieben, nur einen Steinwurf von seiner Wohnung und nur einige Meter von der Kaimauer entfernt. Zuweilen schlugen die Wellen so kräftig herein, dass die Barbesitzerin die Tische von draußen weiter die Straße hochtragen musste, damit die Gäste nicht durchnässt wurden. Die Bar mit Namen Mar Cantábrico war rasch zu seinem Stammlokal geworden, und oft beendete er seinen Arbeitstag mit einem Bier oder auch mehr, während er zum Horizont hinausschaute und über die Ereignisse des vergangenen Jahres nachdachte, in dem sich sein Leben so drastisch verändert hatte. Am gestrigen Abend war sein neuer Freund dazugestoßen, der Künstler Jorge, und sie hatten die großen Fragen des Lebens diskutiert und dabei zu tief in ihr Tropical geschaut. Er war gegen zwei Uhr morgens nach Hause getorkelt und in voller Montur auf dem Sofa vor dem Fernseher eingeschlafen.

Kristian Wede passierte das Willkommensschild von Arguineguín. Er fuhr rasch weiter zum ersten Kreisverkehr, am Spar vorbei, bog beim nächsten Kreisverkehr nach links ab und hielt vor dem dänischen Friseur in einer der Straßen oberhalb des Strandes.

Er stieg aus, entledigte sich seines Jacketts und legte es ins Auto, hinten auf die Rückbank. Hier war es um einiges wärmer als in Las Palmas. Da es auf der Insel vier Klimazonen gab, konnte das Wetter stark variieren. Es kam nicht selten vor, dass es im südlichen Teil der Insel zehn Grad wärmer war als im nördlichen. Viele Touristen waren enttäuscht, wenn sie in Las Palmas von Wolken und läppischen zwanzig Grad empfangen wurden. Aber je länger der Charterbus nach Süden fuhr, desto klarer wurde der Himmel. Das allerbeste Wetter gab es an dem Küstenstreifen zwischen Maspalomas und Puerto de Mogán. Dort war es auch weniger windig. Während in Playa del Inglés, nur wenige Kilometer weiter, von Zeit zu Zeit Winde von nahezu Sturmstärke tobten, stand die Luft in Arguineguín nicht selten still. Der seltsame Ortsname stammte von der Urbevölkerung und bedeutete Stilles Wasser.

Kristian krempelte die Hemdsärmel auf und ging zur Seemannskirche, wo die Tote gefunden worden war. Als er am Taucherzentrum vorbeikam, sah er die Absperrungen und einen Menschenauflauf. Die Polizei hatte die Treppe zu den Felsen und zur Strandpromenade abgesperrt. Unter den Neugierigen stand auch ein älteres Paar und versuchte zu begreifen, was geschehen war.

»Wissen Sie, was hier los ist?«, fragte der Mann, als Kristian das Plastikband erreichte. Das Ehepaar trug schreiend grüne Trainingsanzüge im Partnerlook.

»Das werden Sie sicher nachher in den Nachrichten erfahren«, antwortete Kristian und suchte nach jemandem, der ihn durchlassen könnte. Als niemand auf seine diskreten Zeichen reagierte, hob er das Band an und ging weiter.

»Ich glaube, das ist nicht erlaubt«, protestierte die Frau.

»Da haben Sie ganz recht«, erwiderte Kristian und stieg die Treppe zu den Felsen hoch.

Ein Polizist kam auf ihn zugelaufen.

»Stehen bleiben«, rief er und bedeutete ihm energisch zu warten.

»Es tut mir leid«, sagte Kristian. »Aber ich muss zu …«

Er zog sein Notizbuch aus der Hemdtasche, er konnte sich nicht an den Namen erinnern, den seine Chefin ihm genannt hatte.

»Bedaure«, sagte der Polizist und packte ihn am Arm.

»Diego Quintana«, las Kristian vor. »Kann ich mit ihm sprechen?«

»Sie dürfen hier nicht rein, das ist ein Tatort, der für die Allgemeinheit gesperrt ist.«

»Ich komme vom schwedisch-norwegischen Konsulat in Las Palmas und bin von der Konsulin hergeschickt worden. Ich bin für den Kontakt zur Familie des Opfers zuständig.«

Der Polizist führte ihn mit festem Griff zurück vor die Absperrung.

»Brauchen Sie Hilfe?«

Kristian fuhr herum, überrascht von der freundlichen Stimme. Die Frau, die dicht vor dem Plastikband stand, sprach Schwedisch, sie war viel kleiner als er und hatte schulterlange dunkle Haare. Sie wirkte selbstsicher und gefasst und sah ihn offen an. Er schätzte sie auf vielleicht Mitte vierzig.

»Sie sehen aus wie ein Polizist«, sagte sie unverblümt.

»Eine alte Gewohnheit«, sagte er mit einer gewissen Ironie und reichte ihr die Hand. »Kristian Wede. Ich komme vom Konsulat in Las Palmas und muss mit Kommissar Diego Quintana sprechen.«

»Sara Moberg, ich bin Redakteurin der skandinavischen Zeitung Dag & Natt.« Sie runzelte die Stirn. »Wir sind uns noch nie begegnet. Sind Sie neu auf der Insel?«

»Ja, das kann man wohl sagen. Ich bin seit drei Monaten hier. Aber ich kenne Ihre Zeitung.«

»Kommen Sie mit«, sagte Sara und führte ihn zu dem Teil der Mauer, auf dem sie zuvor gestanden hatte.

Ein kleiner Schwarm Möwen segelte friedlich über ihren Köpfen. Ein paar Fischkutter hielten auf das Land zu, und hinten am Strand breiteten Touristen Badetücher aus und klappten die Sonnenschirme auf. Als ob nichts geschehen wäre.

Unter der Leinenplane hinter der Absperrung konnte Kristian die Tote ausmachen. Er erahnte die Konturen des Körpers, sie lag auf dem Rücken, das Gesicht nach oben gewandt. Kristian hob eine Hand zum Schutz vor der Sonne. Hatte sie noch gelebt, als sie dort lag, in dem Wissen, dass sie sterben müsste? Ein Schauer durchfuhr ihn.

Sara bat ihn zu warten, während sie Diego Quintana holte, einen großen kräftigen Mann mit einem noch kräftigeren Schnurrbart. Er maß Kristian mit Blicken, als sie die beiden einander vorstellte.

»Haben Sie die Tote schon identifizieren können?«, fragte Kristian.

»Nein«, antwortete der Kommissar. »Keine Papiere. Sie war nackt, als sie gefunden wurde, keine Tasche oder Bekleidung, aber wir nehmen an, dass sie aus Skandinavien kommt.«

»Warum nehmen Sie das an?«

»Die blasse Haut, die Größe, die blonden Haare. Die Augenfarbe. Gebräunt ist sie auch, auf eine Weise, die zeigt, dass sie an Sonne nicht gewöhnt ist. Und fünfundneunzig Prozent aller Touristen hier in Arguineguín sind aus Norwegen oder Schweden. Habt ihr Norweger nicht sogar einen Namen für Arguineguín? Nennt ihr es nicht Klein-Norwegen oder so?«

»Stimmt, das habe ich auch gehört«, sagte Kristian. »Aber ich bin neu hier, ich kenne mich noch nicht so gut aus.«

Er hatte bereits Zuneigung zu dem hochgewachsenen Polizisten gefasst. Dessen leicht ruppiges Auftreten hatte etwas Sympathisches.

»Und wieso vermuten Sie einen Mord?«, fragte Kristian.

Quintana warf Sara einen schnellen Blick zu.

»Darüber darfst du nicht schreiben. Es ist noch zu früh.«

Sara hob eine Hand.

»Versprochen.«

»Ihr ist der Hals durchgeschnitten worden.«

»Haben Sie die Mordwaffe gefunden?«

»Noch nicht.«

»Wie lange ist sie schon tot?«

»Das wissen wir nicht genau, aber der Mord ist heute Nacht geschehen.«

»Darf ich sie sehen?«

Quintana schüttelte den Kopf.

»Wir dürfen hier niemanden reinlassen, das ist ein Tatort. Und jetzt entschuldigen Sie mich, wir reden später weiter.«

Quintana nickte kurz und kehrte hinter die Absperrung zurück.

Kristian bat um Saras Kamera und sah hindurch.

»Sehen Sie sie? Scheußlich, oder?«, fragte Sara.

»Wirklich«, murmelte Kristian und musterte die Tote mit trauriger Miene. Es war beängstigend, die Frau leblos dort liegen zu sehen, zugleich verwirrte ihn die Art, wie sie dort lag. Er sah Sara fragend an.

»Wirkt das hier nicht arrangiert?«

»Doch, unbedingt. Der Täter ist sehr sorgfältig vorgegangen. So, wie sie daliegt. Und die Rosen. Sie sehen, wie sauber sie ist, obwohl das Blut doch aufgespritzt sein muss, als er ihr die Kehle aufgeschlitzt hat. Der Tatort ist ein Stück weit entfernt, bei der Mauer. Da sehen Sie eine Menge Blut.«

Kristian stutzte. Diese Journalistin kam ihm ganz schön abgebrüht vor, sie musterte den Leichnam, als ob es sich um Schmutz unter ihren Nägeln handelte, wirkte gänzlich unberührt. Sie nahm ihm die Kamera ab und zoomte näher heran. Plötzlich schnappte sie nach Luft.

»Sehen Sie mal da«, rief sie und reichte ihm die Kamera. »Sehen Sie das Armband? Das ist eine schwedische Marke, Sahara. Da bin ich mir ganz sicher.«

Kristian sah durch die Kamera. Das Armband war aus Silber und bestand aus zwei doppelreihigen Ketten, großen, ineinander verschränkten Ringen.

»Ich liebe diesen Schmuck, ich habe zu Hause auch einige Stücke«, sagte Sara. »Sie haben einen ganz besonderen Stil, man erkennt ihn sofort, und ich bin fast sicher, dass diese Sachen nur in Schweden verkauft werden.«

Ihre Stimme schallte durch den abgesperrten Bereich.

»Quintana! Komm her!«

Der Kommissar, der sich in einiger Entfernung mit ein paar Polizisten unterhielt, schaute überrascht auf. Ihm schien klar zu sein, dass die Sache wichtig war, denn er rannte los und kam zu der Mauer, wo die beiden standen.

»Was ist denn los?«

»Das Armband der Frau stammt von einem schwedischen Designer«, sagte Sara. »Ich besitze Schmuck aus der Serie. Schau doch mal nach, ob es von Sahara ist.«

Quintana hob die Augenbrauen.

»Ach so. Ja, ich meine natürlich, dass das vielleicht bedeutet, dass sie Schwedin ist, aber sicher bin ich nicht. Schließlich kann sie den Schmuck von jemandem aus Schweden geschenkt bekommen haben.«

Quintana wandte sich ohne ein weiteres Wort um und ging zusammen mit einem Kriminaltechniker zurück zum Opfer. Sara sah durch die Kamera, dass der Techniker Plastikhandschuhe überstreifte und vorsichtig den Schmuck an sich nahm.

Quintana zog eine Brille aus der Brusttasche seines Jacketts. Sorgfältig musterte er das Armband. Dann nickte er Sara bestätigend zu. Sie hatte recht gehabt.

Sara drehte sich zu Kristian um.

»Ich muss los. Nett, Sie kennengelernt zu haben, auch wenn angenehmere Umstände natürlich schöner gewesen wären.«

Sie hielt ihm die Hand hin, und er nahm sie.

»Wenn Sie Hilfe brauchen, dann wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«

Kristians Gedanken kreisten schon darum, wie sie die Tote identifizieren könnten. Hoffentlich würde jemand sie vermissen und sich bei der Polizei melden. Für ihn gab es hier vorerst nichts mehr zu tun, die Polizei war in die Arbeit vertieft. Er musste die Identifizierung abwarten und danach mit Quintana sprechen.

Als er gerade von der Mauer springen wollte, entdeckte er etwas. Eine braune, fächerförmige Muschel. Das kam ihm seltsam vor, wie war die hierhergekommen?

Ohne so richtig zu wissen, warum, beugte er sich vor, hob die Muschel auf und steckte sie in die Tasche.

9

Erst als er in seine Straße abbog, beruhigte sich sein Atem und sein Herz schlug nicht mehr so heftig. Auf dem Heimweg hatte er angespannt hinter dem Lenkrad gesessen. Er hatte sich für die neue Schnellstraße entschieden, aber als er dann von Arguineguín losgefahren und in Richtung Puerto Rico abgebogen war, ging ihm auf, welches Risiko er auf sich nahm. Es war viel wahrscheinlicher, dass er dort von einer Polizeistreife angehalten würde als auf der alten Küstenstraße. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause, sich im Bett verkriechen, spüren, dass er entkommen war. Die Tür hinter sich schließen, allein sein. Aber er hatte vergessen, dass die Polizei auf der Schnellstraße viel aktiver war.