Tod im Arbeitsamt - Tom Weber - E-Book

Tod im Arbeitsamt E-Book

Tom Weber

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Beschreibung

Noch ist die Leiche des Arbeitsamtsleiters, ermordet im eigenen Büro, nicht kalt, schon sind mehrere Verdächtige zur Hand. Eine bunte Truppe findet den Toten, aber bevor sie mit der Polizei sprechen müssen, sind sie auf der Flucht und auf der Suche nach einem Mörder, der einen eigenen Plan hat.

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Die Toten von Bottrop

Erster Fall

Das Buch

Noch ist die Leiche des Arbeitsamtsleiters, ermordet im eigenen Büro, nicht kalt, schon sind mehrere Verdächtige zur Hand. Eine bunte Truppe findet den Toten, aber bevor sie mit der Polizei sprechen müssen, sind sie auf der Flucht und auf der Suche nach einem Mörder, der einen eigenen Plan hat.

Der Autor

Tom Weber, 1974 in Bottrop geboren, studierte Rechtswissenschaften und arbeitet heute im Bereich Medien-und Urheberrecht.

Inhaltsverzeichnis

Bottrop 2010

EINS

ZWEI

FÜNF

SECHS

NEUN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

Bottrop 2010:

Essen ist Kulturhauptstadt Europas, Hartz IV gibt es seit vier Jahren und das Jobwunder ist noch nicht eingetreten, dafür die Finanzkrise, die Eurokrise… In Bottrop heißt das Arbeitsamt Jobcenter und zieht bald in ein neues Gebäude. Fünf Jahre später große Aufregung: Die Bundeszentrale für Migration sind keine Fachkräfte, sondern gelernte Altenpfleger, Historiker, Archäologen, Gymnastiklehrer… Im Arbeitsamt ist das schon davor und danach weiterhin so. Aber 2023! Hartz IV heißt jetzt Bürgergeld! Vermutlich demnächst BüGel genannt – na, Hauptsache das Eisen zieht einen nicht hinunter.

Bottrop 2010...

EINS

Am Morgen des 22. Dezember saß auf den leeren Gängen des Arbeitsamtes nur ein nicht mehr ganz so junger Mann. Draußen war es diesig und kühl und auf dem Gang war es öde und leer. Das einzige Fenster am Ende des Ganges ließ nur wenig Licht herein.

Mit seinem Mantel und den Schuhen schien er so gar nicht auf diesen Flur zu passen. Einen Arbeitslosen stellte man sich anders vor. Aber wäre er ein Angestellter gewesen, dann hätte er nicht vor einer Tür gesessen und gewartet.

Versuchte man auf sein Alter zu kommen, verschätzte man sich schnell. Bei der sparsamen Beleuchtung war es schwer, irgendeinen Anflug von Grau in den Haaren zu erkennen. Er selbst achtete nicht darauf und andere kamen aber auch nicht auf den Gedanken, dass er bereits auf die sechzig zu ging. Ein gut geformtes Bärtchen, das sich unaufdringlich in das Gesicht einpasste, machte ihn eher jünger.

Selbst im Sitzen sah man, das er groß war und jede Bewegung wirkte unbeschwert.

Jetzt saß er so entspannt da, als hätte er mit allem um ihn herum nichts zu tun.

Allerdings tat sich gerade hier auch nicht viel.

Geduldig wartete er. Er sah rechts und links den Gang hinunter. Es war niemand zu sehen. Er stand auf und machte ein paar Schritte.

Zwei Tage vor Weihnachten schienen alle Angestellten in den Weihnachtsurlaub gegangen zu sein. Er überlegte, ob die Einladung des Arbeitsamtes nicht ein Irrtum war.

Mit der Zeit hatte er sich an die Arbeitsweise des Arbeitsamtes gewöhnt. Trotzdem sollte dieser Morgen auch für ihn Überraschungen bringen.

Jetzt war er hier und das Haus lag in vorweihnachtlicher Stille. Der Mann setzte sich, streckte seine langen Beine aus und lehnte den Kopf gegen die Wand. Er saß auf einem der vereinzelt zwischen den Türen aufgestellten Stühlen in einem Gang, der auch ohne Stühle bereits eng genug war.

Wie ein Schlauch reichte der Gang vom Fenster an der schmaleren Straßenseite des Gebäudes bis zu einer Bürotür an der anderen Seite. Ein Gang mit vielen Türen in ewig gleichen Abständen, wie Zellentüren auf einem Gefängnisflur.

Die Wände waren weiß gestrichen.

Er hatte sich nur kurz umgesehen und fand, was er erwartet hatte. Man brauchte nicht lange zu suchen, um die ersten Sohlenabdrücke von Wartenden an der Wand zu finden. Mittlerweile gab es einen Warteraum.

Nur saß der einzige Wartende lieber auf dem Gang, um nicht von einem Sachbearbeiter übersehen zu werden.

Alles schon passiert, dachte er. Wieder überlegte er, ob es nicht ein Irrtum sei. Fand heute vielleicht der diesjährige Amtsausflug statt und nur ihm hatte keiner gesagt, dass er nicht zu kommen brauchte?

Er sah wieder auf den Brief den er bekommen hatte.

Auf der ersten Seite war man noch höflich. Es war eine „Einladung“, mit der „Bitte“ den Termin wahrzunehmen. Auf der Rückseite folgten der „Einladung“ und der „Bitte“ Drohung um Drohung, was einem alles Böses widerfahren könne, wenn man der Einladung des Arbeitsamtes nicht Folge leisten würden. In Wirklichkeit war es eine Vorladung, fand er.

Der Mann stand auf und schlenderte zum Fenster.

Vom Fenster aus sah er auf die direkt vor ihm liegende Bankfiliale. Den Nebeneingang hatte er von hier aus im Auge, der Haupteingang lag weiter links an einem Platz, dessen Name an Bottroper Geschichte erinnerte.

Der Pferdemarkt war früher der Ort, an dem die Bauern aus Bottrop und der Umgebung ihre Tiere verkauften. Aus dem damaligen Handelsort war der Name für den Platz geblieben und viermal im Jahr wurde der Pferdemarkt als Jahrmarkt und Kirmes wiederbelebt.

Jetzt hing der Jahreszeit entsprechend weihnachtlicher Schmuck am Sparkassengebäude, auf dem Pferdemarkt stand ein Weihnachtsbaum. Daneben stand passenderweise, wie er fand, ein Weihnachtsbaumverkäufer.

Er hatte schon vieles in seinem Leben gemacht.

Matthias Fehmann, ehemaliger Laborant, ehemaliger Dozent für Physik, Mitinhaber einer Firma für Antriebstechnik, jetzt arbeitssuchend, jetzt gehörte er zum alten Eisen. Damit hatte er nicht gerechnet. Schon gar nicht, dass ihm seine Arbeitslust mal zum Verhängnis werden würde.

Er hatte schnell feststellen müssen, dass ihm, einem Über-Fünfzigjährigen, mit einer Karriere als Selbständigen, das Arbeitsamt keine Stelle verschaffen konnte.

Also hatte er wieder zur Eigeninitiative gegriffen... und hatte ein altes Hobby zum Broterwerb aufgenommen.

Brötchen wäre wohl die bessere Umschreibung, dachte er. Kleine Zeichnungen hatte er immer schon gerne gemalt und auf Parties waren sie immer gut angekommen.

Jetzt war er Autor von Gebrauchsanweisungen. Aber es reichte nicht, um davon leben zu können. Für eine handvoll Euro komplizierte und schwierige Dinge in ein paar Worte zusammenfassen war besser als nichts, fand er. Und es passte besser zu ihm, als im Call-Center zu arbeiten. Und für ein paar Euro mehr machte er zu dem Text auch die Zeichnungen noch dazu... oder nur die Bilder, ganz wie es gewünscht wurde.

Ihm selbst macht das Zeichnen der Bilder mehr Spaß, als die Texte zu schreiben. Kurze Geschichten hatte er schon im Studium gezeichnet: Eine Seite, drei Bilder und eine Pointe. Aber aus einer Laune heraus hatte er zuletzt mehr als eine Seite gezeichnet – und er hatte jemanden gefunden, der seine Geschichte drucken wollte.

Und das war auch der Grund, warum er heute nicht in gewöhnlicher Hose und Pulli ins Arbeitsamt gekommen war. Für die Sachbearbeiter brauchte er sich nicht schick zu machen.

In seiner Tasche, die ihn ein wenig wie ein Vertreter aussehen ließ, hatte er alles dabei. Es war ein Comic geworden, nicht mehr. Eine spannende Geschichte, nicht weniger, aber er hatte Spaß daran.

Eine späte Karriere, dachte er grinsend bei sich.

Bisher hatte er das als spaßiges Hobby gehalten, wovon er nie gerne erzählte. Wenn andere es sahen, tat er immer so, als würde er nur einzelne Bilder malen und nicht ganze Geschichten konstruieren.

Aber das Arbeitsamt war nur daran interessiert, Leute sozialversicherungspflichtig unterzubringen, auch wenn die Leute dadurch weniger verdienten. Also hatte er ihnen auch nicht erzählt, dass das Geld immer weniger vom Schreiben vom Gebrauchsanweisungen stammte.

Also warum war er hier?

Wenn er jetzt, statt auf den leeren Fluren des Arbeitsamtes, am Computer sitzen würde, dann könnte er noch ein bisschen weiter arbeiten.

Er trommelte träumend auf das Fensterbrett. Niemals hätte er nicht gedacht jemals hier zu landen. Aber er war nicht unzufrieden. Früher hatte die Arbeit ihn immer davon abgehalten, sich mit seinem Hobby zu beschäftigen. Und jetzt verdiente er tatsächlich etwas Geld damit. Nicht genug, um vom Arbeitsamt los zu kommen. Dabei würde er viel lieber den Laden hier auf Vordermann bringen. Die Defizite stachen geradezu ins Auge, fand er.

Der Mann drehte sich vom Fenster weg und sah in den langgestreckten Gang. Dann sah er wieder auf den Brief in seiner Hand.

In der Regel erfuhr man nicht, warum man sich einfinden sollte. Das Arbeitsamt verschickte Formbriefe, die mit Standartformulierungen auskamen.

Die Vorderseite bestand immer aus dem gleichen Text, den jeder zu lesen bekam, der sich im Arbeitsamt einfinden sollte. So viel Aufmerksamkeit widmeten die Arbeitsvermittler dem Bürger. Bestenfalls wurde eine zum Ausfüllen gedachte Zeile genutzt, in der man darum gebeten wurde, Unterlagen mitzubringen – welche, darüber schwieg sich der Brief aus.

Er fragte sich, was wohl passiert sei. Die würden ihn schließlich nicht so kurz vor Weihnachten hier antreten lassen, wenn es nicht wichtig wäre. Schließlich würden die sich in der Weihnachtswoche und vor dem Jahreswechsel nicht noch Arbeit machen.

Vielleicht würden sie ihm in diesem Jahr doch noch einen festen Job besorgen?

Aber nein, dachte er. Er wusste, dass die Behörde zwei Niederlassungen hatte. In der einen saßen die Arbeitsvermittler, die sich bemühten für die Leute Arbeit zu finden, und in der Anderen, die Angestellten, die das Geld verteilten, oder verweigerten.

Und jetzt stand er einsam auf den Gängen der Stelle, in der das Geld verteilt wurde. Hier musste er seine Einkünfte angeben: Seine noch kleinen Einkünfte, die dann von dem Geld abgezogen wurden, die er von der Behörde bekam.

Er setzte sich wieder. Hier war man chancenlos und hoffnungslos, wenn man über 50 war und wenn man sich auf das Arbeitsamt verließ. Dabei war es egal, wie gut die Ausbildung war, wenn man erst mal das gewisse Alter überschritten hatte.

Irgendwann kam ein Angestellter vorüber und der Mann dachte sich: Toll, also bin ich doch nicht der Einzige, der heute hier ist.

„Sie warten auf...?“, fragte er, die Frage offen im Raum stehen lassend.

„Herrn Stegens.“

„Ja, dann kommt der auch gleich. Bestimmt“, sagte der Angestellte.

Es sollte wohl aufmunternd klingen und wirkte dabei doch etwas verunsichert. Aber es war ja auch nicht verwunderlich, dass er irritiert war, wenn jemand in der Weihnachtswoche einsam und verlassen auf den Fluren des Arbeitsamtes wartete.

„Ich habe Zeit“, sagte der Mann entspannt.

Und der fremde Sachbearbeiter ging weiter.

Vielleicht war er auch nur hier, damit man ihm frohe Weihnachten wünschen konnte. Er sah sich nochmal um. Allerdings schien es eher die Ausnahme zu sein, zwei Tage vor Weihnachten Bürger einzuladen, um ihnen frohe Weihnachten zu wünschen.

Oder er war hier, um kontrolliert zu werden, ob er sich auch ganz bestimmt nicht vor den Weihnachtstagen ohne Erlaubnis aus dem Handlungsbereich des Arbeitsamtes entfernt hatte. Schließlich durfte man in anderen Städten nur nach Genehmigung des Arbeitsamtes übernachten.

Er stand auf und ging wieder zum Fenster. Er sah wieder auf den Seitenflügel der Sparkasse und ließ den Blick über den Pferdemarkt schweifen. Von dem Fenster konnte man den Zugang zur Fußgängerzone mehr erahnen als sehen. Über den Dächern der recht niedrigen Häuser ragte die Kirchturmspitze der Cyriakuskirche in den Himmel und verschwand im winterlichen Dunst wie ein Finger im Pudding.

Plötzlich ging eine der Türen hinter ihm auf und sein Sachbearbeiter sah auf den Flur.

„Herr Fehmann?“ vergewisserte er sich.

„Ja“, sagte der ältere Mann.

„Kommen Sie bitte herein“, lud er freundlich ein, aber man konnte ihm ansehen, dass er nicht ganz bei der Sache war.

Sein Sachbearbeiter war noch ein junger Mann, wie die meisten Angestellten hier so jung waren, wie es eine Verwaltungsausbildung so eben möglich machte. Als Matthias Fehmann das erste Mal in dem Büro seines Sachbearbeiters war, saß an dem anderen Schreibtisch ein jüngerer Mann und Matthias Fehmann hatte sich gefragt, warum ihm der Praktikant nicht vorgestellt wurde, und warum er nicht gefragt wurde, ob der Praktikant überhaupt dabei sein durfte.

Er hatte nichts gesagt. Irgendwann kam im Laufe des Gesprächs eine Frage auf, die der Sachbearbeiter nicht klären konnte und da fragte er den „Praktikanten“ mit den Worten „Du hast doch die Fortbildung schon gemacht“. Da wurde Matthias klar: Am Alter konnte man die Chefs nicht mehr von den Praktikanten unterscheiden.

Heute morgen war sein Sachbearbeiter allein im Büro.

Er war wie immer freundlich, aber er wirkte etwas verunsichert. Seit dem sie sich gesetzt hatten kramte er auf seinem Schreibtisch herum, den er in voller Breite ausnutzte, nachdem er ihn um je einen Quertisch an beiden Seiten verlängert hatte.

„Ich weiß gar nicht warum sie hier sind.“, sagte sein Sachbearbeiter jetzt.

Eigentlich sollte ihn das nicht wundern. Trotz aller Freundlichkeit und der Mühe, die sich der Sachbearbeiter machte, wirkte er doch häufig überfordert.

„Haben Sie den Brief dabei?“ fragte Herr Stegens.

Matthias Fehmann war gut vorbereitet.

Aber der Brief des Arbeitsamtes konnte dem Angestellten auch keinen Aufschluss geben. Die Anschreiben der Behörde waren meist alles andere als präzise. „Seien Sie am 22.12. um 9.30 in der Agentur für Arbeit, Leistungsstelle und bringen Sie folgende Unterlagen mit: ...“, stand in dem Brief und dann folgte eine leere Zeile.

Das man ihm nicht schrieb, was er mitbringen sollte, verwunderte Matthias nicht. Im Briefkopf war nicht einmal angegeben, welcher Sachbearbeiter den Brief verschickt hatte. Er hatte es auch schon erlebt, dass gleich zwei Namen dort standen und er nicht wusste, wer nun sein Ansprechpartner war.

Für Verwaltungsangestellte war das wahrscheinlich nichts ungewöhnliches. Schließlich wurde überall gespart, am Personal und vor allem an der Zeit, die sie hatten, dachte Matthias.

Wenigstens, dachte er bei sich, verkürzten sie nicht meinen Vornamen. Evangelisten-Name hin oder her, es gab Leute die davor nicht zurück schreckten ihn Mattes zu nennen. Er mochte das nicht. Schon gar nicht, wenn sich unbekannte Leute betont kumpelhaft gaben.

Sein Sachbearbeiter sah auf.

„Ich weiß auch nicht, warum sie hier sind, Ihre Akte ist bei dem Kollegen“, sagte er und kramte wieder in seinen Unterlagen herum.

Dann hielt er inne und sah wieder auf.

„Jetzt weiß ich wieder. Kann es sein, dass sie häufig bei ihrer Freundin sind, die in einer Nachbarstadt wohnt?“ Erst war Matthias überrascht. Dann wunderte er sich.

Schließlich traute man niemanden über vierzig ein nennenswertes Sexualleben zu. Schon gar nicht junge Burschen wie sein Sachbearbeiter. Dann musste Matthias innerlich grinsen. Schlecht recherchiert, mein Junge, dachte er.

Sofort wusste er, dass das nicht fair war, aber dieses mal konnte er leise ironische Gedanken nicht unterdrücken.

Das Arbeitsamt holte eben nur das Schlechteste aus dem Menschen heraus, dachte er. Ähnlich wie das Finanzamt.

Der Sachbearbeiter wurde mit fortschreitender Zeit immer unruhiger. Schließlich hatte er jemanden vor sich sitzen, der nun erfuhr, dass er völlig umsonst heute morgen im Amt angetreten war. Matthias aber blieb geduldig sitzen und wartete. Vielleicht fiel seinem Sachbearbeiter ja noch ein, warum man ihn nun wirklich einbestellt hatte.

Vielleicht hatten Sie ihn auch nur mit jemanden verwechselt. Schließlich bekam er auch Post vom Amt, ohne dass sie für ihn gedacht war. Seine Adresse stand dann darauf, aber in dem Brief fanden sich dann Unterlagen für Leute, die er nicht kannte.

„Das macht nichts“, sagte Matthias geduldig. „Ich habe sowieso noch meine Einkommensbelege für Sie mitgebracht.“

Und damit reichte er einige Blätter über den Schreibtisch. Er sah zu, wie der andere die Unterlagen durchsah.

Wenigstens etwas Einkommen, dachte Matthias, auch wenn es nicht reichte, um auf das Arbeitsamt zu verzichten.

Herr Stegens sah auf. „Dann gehe ich das mal kopieren für die Kollegen und bin gleich zurück.“

Matthias lehnte sich zurück und wartete.

Er fragte sich mal wieder, warum die Leute ihm so blind vertrauten. Vielleicht hätte er Heizdeckenverkäufer werden sollen, dachte er bitter, und überlegte, wie viele Besucher wohl alleine in so einem Büro blieben. Er kam zu dem Schluss, das sein Sachbearbeiter entweder keine Wertsachen im Büro hatte oder heute nicht ganz bei der Sache war.

Dabei war gerade die Zeit der Diebe angebrochen: Es gab keinen Zeitpunkt, zu dem die Zahl der Diebstähle mehr Anstieg als zur Weihnachtszeit.

Schließlich konnte jeder hereinkommen und sagen, er wäre der Hausmeister und sonst was mitnehmen, dachte er und lauschte auf weitere Geräusche.

Matthias dachte noch darüber nach, als es im Nebenraum rumpelte.

Er sah zur Verbindungstür. Es blieb still.

Ein ärgerlicher Ausruf wäre für ihn beruhigender gewesen als diese Stille.

Matthias zögerte einen Augenblick, dann stand er auf und öffnete die Verbindungstür zum Nachbarbüro.

Und da lag er.

Herr Bitterling.

Unverkennbar. Wohl vom Stuhl gefallen, dachte Matthias. Er biss sich auf die Lippe. Bitterling kniete neben seinem Schreibtisch, als würde er sich daran anlehnen.

„Kann ich ihnen helfen?“ fragte Matthias sofort ohne nachzudenken.

In diesem Augenblick rutschte Bitterling an dem Schreibtisch entlang und lag ausgestreckt auf dem Boden. Er brauchte offenbar keine Hilfe mehr. Herr Bitterling war tot.

Aber mehr noch fiel Matthias der monströse Weihnachtsbaum auf, als der Tote auf dem Boden. Er war nicht besonders groß, aber von einer unglaublichen Hässlichkeit, wie Matthias nie zuvor einen Weihnachtsbaum gesehen hatte.

Wahrscheinlich, dachte er weiter, würde der Tote noch Tage hier liegen bleiben und jeder, der einen Blick in das Büro warf, würde nur Augen für den infernalischen Weihnachtsbaum auf dem Schreibtisch haben.

Sein Blick glitt wieder zu dem Toten. Er musste die Polizei rufen. Aber dazu musste er ein anderes Telefon finden. Schließlich wollte er weder seine Fingerabdrücke auf dem Telefon hinterlassen, und andere auch nicht verwischen.

Er drehte sich um und war schon auf dem Weg raus aus dem Büro, als er plötzlich zurück fuhr. Die Tür ging auf.

ZWEI

Die Tür öffnete sich mit einem Schwung und in ihr stand eine Frau mittleren Alters. Sie sah nicht wie der klassische Besucher dieser Behörde aus, dachte Matthias. Sie schien das Gleiche von ihm zu denken, denn sie musterte ihn kritisch.

Die Frau, in Jacke und scheinbar vom frischen Wetter gerötetem Gesicht, war allerdings auch augenscheinlich niemand, der zum Amt gehörte und hier arbeitete. Sie schien gerade von draußen hereingekommen zu sein und zielstrebig diese Tür geöffnet zu haben. Sie sah nur kurz auf Bitterling und

dann Matthias an.

„Was haben Sie denn da gemacht?“ fragte sie ihn.

„Der lag schon hier, als ich die Tür aufgemacht habe.“

„Das sieht aber gar nicht gut aus“, sagte sie und Matthias wusste nicht, ob sie die Situation mit dem Toten meinte, oder den Weihnachtsbaum auf den sie jetzt sah.

„Und was wollen Sie hier?“ fragte Matthias, um aus der Position des Befragten zu kommen und nicht mehr so vorwurfsvoll von der jüngeren Frau angesehen zu werden.

Sie riss sich von dem Weihnachtsbaum los und sagte:

„Eigentlich suche ich meinen Neffen.“

„Ach, der ist vor Ihnen angekommen?“

„Das sollte er. Aber ich finde ihn nicht. Und die meisten Büros sind eh abgeschlossen.“

„Es ist kurz vor Weihnachten. Da werden alle Angestellten die Brückentage zwischen den Wochenenden und den Feiertagen nutzen um möglichst lange frei zu haben.“

„Mich wundert es aber schon, dass so wenig Leute hier sind.“

Gemeinsam standen sie neben der Leiche und sahen still auf Bitterling hinab. Auch im Tod machte er keinen liebenswerteren Eindruck, fand Matthias. Dabei hieß es immer, Tote würden einen so friedvollen Eindruck machen. Aber Matthias hatte sich schon zu Bitterlings Lebzeiten nicht täuschen lassen. Er sah aus, fand Matthias, als wolle er noch im Tod Schwierigkeiten machen.

Bitterling selbst hätte das bestimmt anders gesehen. Er macht keine Schwierigkeiten, nur seinen Job. Und das auch nach dem Tode.

Die Frau sah wieder auf den Weihnachtsbaum und fragte: „Haben Sie diese Scheußlichkeit mitgebracht?“

„Nein“, sagte Matthias, und als sie die Hand ausstreckte ergänzte er. „Man sollte nichts berühren, in so einem Fall.“

„In was für einem Fall?“

„Die Wunde am Hinterkopf ist wohl nicht entstanden, weil der Mann vom Stuhl gefallen ist.“

„Am Hinterkopf? Der ist eindeutig an der Schläfe getroffen worden“, meinte die Frau.

Und jetzt sah Matthias es auch. So wie der Tote lag war die eingedrückte Stelle am Kopf kaum zu erkennen gewesen. Das Licht und das Haar verbargen die Wunde auf den ersten Blick.

Deswegen war hier auch so wenig Blut, dachte Matthias. So eine Kopfwunde musste doch enorm bluten. Aber nur auf dem Schreibtisch waren wenige kleine Spritzer zu sehen.

Er unterdrückte den Impuls auf die Knie zu gehen und auf dem Boden herum zu rutschen um die Wunde genauer betrachten zu können.

Also hatte er zwei Schläge bekommen. Aber womit, fragte sich Matthias Fehmann und ließ die Blicke durch den Raum gleiten, aber er sah nichts Verdächtiges, was griffig genug war und solche Wunden hervorrufen könnte. „Wir sollten die Polizei rufen“, sagte er schließlich.

„Ja, die Polizei“, sagte sie, während sie nachdenklich auf den Toten sah.

Matthias sah sich die Frau ein zweites Mal an. Diesmal genauer. Auch wenn sie den Eindruck machte, gerade erst hereingekommen zu sein, hatte er doch angesichts einer Leiche ein etwas anderes Verhalten erwartet.

„Je eher desto besser“, sagte er.

„Mm, wahrscheinlich. Sagen Sie, Sie haben die Leiche doch gefunden... also... wie wäre es, ich meine, na ja, eigentlich bin ich hier doch völlig überflüssig.“

„Mm“, sagte jetzt Matthias Fehmann. „Ich verstehe.“

„Also wissen Sie, das ist jetzt eine blöde Situation.“

„Glaube ich. Nicht zuletzt für Herrn Bitterling.“

„Ja, sicher.“

„Sie kannten Herrn Bitterling?“

„Sicher. Deswegen“, sie stockte kurz, um ihn ein zweites Mal zu mustern, und fuhr dann fort:

„Deswegen wäre es vielleicht besser, Sie würden...“

Matthias ging darauf nicht ein. Vielmehr überlegte er, in wie weit diese Frau Bitterling kannte. Er beschloss, etwas direkter zu sein.

„Sie waren heute schon mal hier, oder?“

Sie sah ihn kurz abschätzend an, seufzte dann und sagte: „Ihnen werde ich wohl nichts vormachen können, oder?“

„Sie haben sich mit Herrn Bitterling gestritten?“

„Nicht direkt. Also, es war wirklich nicht der Rede wert. Nur eine Kleinigkeit. Ich weiß selbst nicht, warum ich so wütend auf ihn war. Ich meine, es war nicht die Sache, sondern wie er mit allem umgegangen ist, hat mich so wütend gemacht.“

„Als Sie das erste mal hier waren, haben Sie da etwas gesehen oder gehört?“

„Nein.“

„War der Weihnachtsbaum schon da?“

„Diese Scheußlichkeit? Auf keinen Fall. Der wäre mir aufgefallen.“

„Aber warum sind sie wieder gegangen?“

„Ich weiß, ich hätte ihn nicht so liegen lassen sollen. Ich wusste nicht, wo mein Neffe war und dachte, es ist vielleicht besser, wenn jemand anders ihn findet, als ich.“

Wenn er recht überlegte, dann wollte Matthias auch nicht gerade derjenige sein, der ihn findet.

„Und dann sind sie wieder gegangen?“

„Na ja, ich wusste ja nicht. Ob der Mörder noch im Haus ist.“

Matthias schwieg und die Frau deutete sein Schweigen als Unglauben. Schnell fuhr sie fort: „Ich bin nicht weggelaufen, falls sie das meinen. Ich habe meinen Neffen gesucht.“

„Das dachte ich mir fast.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Das, was wir schon vor längerer Zeit hätten tun müssen und was sie von Anfang an hätten tun müssen:

Wir werden die Polizei rufen.“

„Tja“, sagte die Frau. „Ich meine, ich habe nichts dagegen, dass sie mich ausfragen, aber das ist alles nicht so einfach.“

„Vielleicht erzählen Sie mir doch einfach was passiert ist.“

Die Frau musterte Matthias wieder unauffällig, wie sie glaubte. Eigentlich, dachte sie, sah er nicht wie einer der Angestellten aus. Andererseits stellte man sich einen Arbeitslosen auch anders vor..

„Sie gehören nicht zum Haus?“ fragte sie dann.

„Nein“, sagte er und wartete darauf, was sie zu erzählen hatte. „Meine Name ist Margret“, sagte die Frau und machte eine Pause, als würde das reichen und wartete auf einen Kommentar von Matthias. Doch als der nichts sagte, fuhr sie fort:

„Wissen Sie, das ist schon komisch. Oder eigentlich auch schon wieder nicht. Herr Bitterling und ich – wir sind immer wieder aneinander geraten. Häufig weil seine Angestellten die Bürger nicht richtig beraten.

Seine Behörde hat zu wenig Leute und meistens sind die zu unerfahren und nicht mit den gesetzlichen Bestimmungen vertraut. Also, wer hier landet, kriegt nicht das was ihm zusteht. Ich habe immer wieder mit Herrn Bitterling darüber gesprochen, aber letzten Endes war er völlig ungeeignet für den Job. Und sein Stellvertreter ist ein genauso großer Held. Und das hab ich ihm auch gesagt. Wobei sich die Angestellten noch

Mühe geben und das führt dann zu aberwitzigen Situationen. Aber Herr Bitterling war hier fehl am Platz.“

„Aber deswegen muss man sich doch nicht vor der Polizei fürchten.“

Für eine Augenblick sagte sie nichts.

„Manchmal“, gestand sie, „bin ich etwas impulsiv. So ruhig wie jetzt habe ich ihm das nicht gesagt.“

Bevor er weiter fragen konnte, sagte sie:

„Pst, da kommt jemand.“

„Das wird ihr Neffe sein.“

„Oder der Mörder“, meinte sie pessimistisch.

„Mm. Daran habe ich nicht gedacht. Warum sollte der zurückkommen?“

„Lassen Sie uns die Tür ins Nachbarbüro nehmen“, flüsterte Margret und sofort schob sie ihn zu der Tür, die in ein Nachbarbüro führte. Er hatte gar keine Gelegenheit mehr, darauf hinzuweisen, dass sich vielleicht jemand dort an seinem Schreibtisch befinden könnte. Aber die Sorge war umsonst. Das Büro war leer.

„Machen Sie die Tür nicht ganz zu, dann können wir noch was sehen“, flüsterte sie.

„Vergessen sie das“, entgegnete er ebenso flüsternd.

„Unglücklicherweise geht die Tür in Richtung Fenster auf und nicht in Richtung Tür. Wenn also, wer auch immer durch diese Tür kommt, uns nicht den Gefallen tut, ans Fenster zu gehen, sehen wir nichts.“

Die Tür wurde geöffnet und dann tat sich erst mal nichts.

Plötzlich sagte eine junge Männerstimme: „Der Arsch ist immer noch nicht da. Lass uns gehen. Das bringt doch alles nichts.“

„Ach, und wie glaubst du, soll das alles weiter gehen?“ antwortete ihm eine junge Frauenstimme.

„Beim nächsten Mal hau ich ihm eins auf die Rübe, dass er nicht wieder aufsteht“, sagte der junge Mann.

„Klar, klasse Lösung“, kam es spöttisch von der jungen Frau.

„Stella, ich finde, du machst eine viel zu große Nummer daraus.“

„So. Findest du.“

„Ja, schon“, antwortete die Männerstimme etwas kleinlauter. Und dann, dankbar etwas gefunden zu haben, mit dem man vielleicht ablenken kann: „Sag mal, was ist das denn?“

„Ein Weihnachtsbaum.“

„Aber Weihnachtsbäume sind größer. Das ist ja eher eine Weihnachtsbaumpuppe.“

„Ach herrje“, meinte die junge Frauenstimme darauf.

„Der ist wohl da. Guck doch. Da liegt er.“

„Wohl vom Stuhl gefallen.“

„Hat der vorhin auch schon da gelegen?“

„Ich glaube nicht. Dann hätten wir ihn doch gesehen.“

„Ja, aber jetzt haben wir ihn auch nicht sofort gesehen.“

„Lass uns gehen, sonst denkt noch einer, wir waren das.“

Trotzdem schien sich keiner von ihnen zu bewegen.

Dann hörten sie die junge Frau fragen: „Marcel, sag mal, du hast nichts damit zu tun?“

„Ich? Siehste, du kennst mich und fragst mich das. Was glaubst du machen die Bullen, wenn die hier auftauchen?“

Margret stieß Matthias verschwörerisch in die Rippen und flüsterte: „Die lassen wir nicht gehen, bevor wir nicht wissen, wer die sind und warum die so warme und freundliche Gefühle für Herrn Bitterling haben“, sagte Margret entschlossen. Bevor Matthias sie zurückhalten konnte stand sie auch schon in dem Büro, wie ein fleischgewordener Vorwurf die Fäuste in die Taille gestemmt. Also gab sich Matthias damit zufrieden, was sie erfahren hatten.

„Was suchen Sie hier?“ fragte Margret als erstes.

Währenddessen hatte Matthias Gelegenheit, die Neuankömmlinge zu beobachten.

Die waren vom plötzlichen Auftreten von Margret und Matthias zu überrascht.

„Wir waren das nicht“, sagte die junge Frau nur.

„Aber sie sind nicht zum ersten Mal hier“, stellte Margret fest.

„Also, wir wissen nichts.“

„Unsinn, raus mit der Sprache“, übernahm Margret schon mal das Verhör, wie ein Polizist in amerikanischen schwarzweiß Gangsterfilmen. Gleich würde sie den Schlagstock zücken.

„Wir waren das nicht.“

„Na, dann werden sie ja der Polizei erklären können,

wo sie zwischendurch gewesen sind.“

„Wir waren rauchen, unten in der Durchfahrt.“

Matthias dachte nach, während Frau Winterfeldt fortfuhr: „Die Einfahrt auf der Rückseite?“

„Ja, welche denn sonst?“ wollte der junge Mann wissen.

„Wer soll das denn Ihrer Meinung nach bestätigen? Die Einfahrt kann man von der Straße aus nicht sehen.“

„Aber vom Parkplatz aus. Die Einfahrt führt an einem Parkplatz vorbei.“

„Und jemand, der da sein Auto abgestellt hat, soll auf sie geachtet haben? Und das so lang, dass er Sie auch noch wiedererkennt?“

„Ich wusste es. Ich wusste es“, sagte der junge Mann nur. „Und was werden die Bullen erst daraus machen.“

„Was denken Sie, was die daraus machen werden?“

„Die brauchen sich keine große Mühe zu geben“, mischte sich die junge Frau mit einem vorwurfsvollen Blick auf Marcel ein.

„Ich hab ihm eins auf die Rübe gegeben, und das mit Recht“, erwiderte der etwas trotzig.

Margret war etwas fassungslos: „Ach so, und das sagen

Sie einfach so.“

„Klar“, sagte er nur.

„Sie haben ihm eins auf die Rübe gegeben“, wiederholte Margret, als würde sie die gesamte Tat zusammenzufassen. „Und warum kommen Sie dann zurück?“

„Na, ich soll mich doch entschuldigen.“

„Und wie soll das gehen?“ fragte Margret.

„Na, ich sage Entschuldigung und wir haben keine Schwierigkeiten mehr. Konnte ich denn ahnen, dass der Lappen hier Chef ist?“

„Wann haben Sie ihm... mmm, eine verpasst?“ fragte Matthias.

„Letztes Wochenende. Aber das war er verdammt noch mal selbst Schuld. Wenn er nicht meine Freundin begrabscht hätte, wäre alles in Ordnung gewesen.“

Seine Freundin verdrehte die Augen und sagt: „Marcel ist manchmal etwas impulsiv.“

„Herr Bitterling ist ein Grabscher?“ fragte Margret Winterfeld.

„Ja, deswegen hat er von mir eins auf die Rübe bekommen.“

„Herr Bitterling mit dem jovialen Benehmen. Ich fasse das nicht. Aber letzten Endes geht es doch immer um das eine.“

„Und deswegen sind wir hier. Er sollte sich entschuldigen“, sagte seine Freundin.

„Aber dazu gab es doch gar keinen Grund. Schließlich hat er mich nicht angezeigt.“

Stella schnaubte.

„Das“, sagte Margret, „ist auch eine Einstellung.“

„Ich finde, es wird Zeit die Polizei zu rufen“, meinte Matthias Fehmann. „Stella? Was meinen Sie?“

Sie war offenbar irritiert, dass er ihren Namen kannte und zögerte kurz. „Ich meine, Sie haben ihn doch zuerst gefunden, dann brauchen sie uns ja nicht.“

„Gut“, sagte Marcel. „Wir gehen dann.“

Matthias lächelte innerlich. So ganz blöd ist der nicht, dachte er mit Sympathie.

„Na, wer von uns zuerst hier war, das müssen wir noch herausfinden“, meinte Margret.

„Die Polizei wird sich schon dafür interessieren, wer alles hier war“, sagte Matthias.

Marcel winkte ab. „Wir sind doch die Ersten, die verdächtig sind. Kein Bedarf.“

„Also bei allem Verständnis, und wenn er noch so unsympathisch war, aber deswegen können wir ihn hier nicht einfach so liegen lassen.“

„Aber wir können nichts mehr für ihn tun.“

„Hätten sie sich auch vom Acker gemacht, wenn er noch atmen würde und eine klaffende Wunde hätte, aber bewusstlos wäre?“

„Nein, dann könnte er ja allen sagen, dass wir es nicht waren. Aber jetzt...“

„Mnja, jetzt kann er nichts mehr sagen, in der Tat.“

„Tja“, sagte der junge Mann verschmitzt, „zwei Tage vor Weihnachten, sollten wir nicht alle unterwegs sein

um Weihnachtsgeschenke zu kaufen?“

„Zwei Tage vor Weihnachten? Junger Mann, das ist doch viel zu früh, sowas macht man am Vierundzwanzigsten“, sagte Margret.

„Moment“, sagte Stella.

„Ist Ihnen noch was eingefallen?“

„Still.“

„Wieso?“

„Ich höre etwas.“

DREI

Sie lauschten angestrengt.

„Es ist alles ruhig“, meinte Margret.

„Nein, da ist was“, sagte Stella jetzt aufgeregter.

„Was denn?“

Wieder waren sie still und lauschten bis Matthias schließlich nachsehen wollte und einen Schritt auf das Büro zuging.

„Hallo?“ rief er durch die offene Verbindungstür in die Stille des Büros hinein, in dem Margret und er sich vorhin versteckt hatten.

Es kam keine Antwort. Stattdessen hörte er jetzt auch, dass da jemand war. Es war, als würde jemand etwas durchsuchen und immer wenn sie ein Geräusch machten, wurde es wieder still.

Aber die Geräusche kamen nicht aus dem nächsten Büro, sondern aus dem Raum dahinter. Durch die geöffnete Tür konnte man eine weitere Tür sehen, die auch etwas offen stand.

„War die Tür da vorhin auch schon offen?“ fragte Margret. Matthias hatte sich die Frage auch schon gestellt.

„Hallo?“ fragte Matthias noch einmal. Ein gewöhnlicher Angestellter des Arbeitsamtes hätte sich schon längst gezeigt. Aber es gab keinen Zweifel.

Jemand war in dem Büro.

„Das ist unser Mörder“, sagte Stella.

„Den schnapp’ ich mir“, sagte Marcel und stürmte voran.

Das Grüppchen folgte ihm durch das Büro hindurch, in dem Margret und Matthias gewartet hatten, auf die Tür zu, hinter der noch ein Büro lag.

Als könne ihm kein Mörder etwas anhaben betrat Marcel das Büro. Als die anderen zu ihm aufschlossen, stand er an einem Schreibtisch und sah sich das Schlachtfeld auf dem Boden an. Dass kein Gegner da war, hatte er schon herausgefunden.

Sie standen in einem Raum, der in einem furchtbaren Zustand war. So ziemlich alles, was in Schränke gehörte, lag auf dem Boden. Akten lagen verstreut neben Akten. Nur ein schmaler Streifen war frei gelassen worden, auf den man zwischen der Unordnung durchgehen konnte.

„Wo ist er?“ fragte Marcel.

Matthias hatte kaum Zeit, sich im Raum um gesehen, der offenbar ein Aktenlager war. Regale und Schränke an den Wänden waren nur durch zwei Türen unterbrochen: Eine zum Flur und die, durch die sie gekommen waren.

Eine perfekte Falle, dachte er und drehte sich zu den anderen um, die noch die Unordnung bewunderten als auch schon die Tür zu ging.

Jetzt, dachte Matthias, fehlte nur noch das hinterhältige, raue Lachen und schon war es wie in einer Folge der Drei Fragezeichen.

Aber es drehte sich nur der Schlüssel im Schloss.

„Heh!“ rief Marcel, stürzte sich jetzt auf die Tür und bollerte dagegen, nachdem die Türklinge seinen Versuchen widerstanden hatte, den Weg auf gewöhnliche Weise freizugeben. Margret und die junge Frau traten hinzu und riefen mit ihm durch die geschlossene Tür, während sich Matthias im Raum umsah.

Bei dem zweiten Blick auf die Akten, die auf dem Boden lagen, fiel ihm auf, dass kein Blatt aus den Ordnern herauslugte.

Margret drehte sich von der Tür weg und auch die anderen beiden schienen eingesehen zu haben, dass das Rufen nicht nützte. Sie setzte sich auf die Steighilfe, mit der man auch an das oberste Regalbrett herankam und sagte: „Wie schön. Ein Raum ohne Fenster.“

Sie sah sich kurz schweigend im Raum um und sagte dann: „Eingesperrt und bestimmt bald von der Polizei entdeckt. Mit einer Leiche im Nebenzimmer. Und der, der uns eingesperrt hat, wird uns des Mordes bezichtigen. Damit ist alles gelaufen.“

Sie sagte es ohne jede Emotion. Es war eine einfache Feststellung.

„Gucken Sie mal, was auf dem Boden liegt“, sagte Matthias, als wolle er sie aufmuntern.

„Sieht wie ein wahllos verstreuter Haufen aus.“

„Mmm, das dachte ich auch.“

„Sie meinen, dass ist für uns arrangiert worden?“ Marcel meldete sich zu Wort. „Aber wozu haben die so ein Durcheinander arrangiert?“ Matthias sah ihn an.

„Um uns abzulenken. Erst die Geräusche, die uns anlocken sollten und dann das Durcheinander, das unsere Aufmerksamkeit fesseln sollte.“

Margret stemmte die Hände in die Hüfte. „Und wie einfältige Neandertaler fallen wir darauf herein.“

Der junge Mann trat gegen die Tür. Sie öffnete sich nicht.

„Was unser Vorteil ist“, meinte Matthias.

„Was?“ fragte Marcel. Aber er wartete nicht lange auf eine Antwort, sondern trat noch mal gegen die Tür.

„Es erzählt uns mehr über den Täter.“

„Ja, wer auf so was kommt, ist selbst ein einfältiger Neandertaler“, meinte Margret von ihrem Hocker aus. „Aber das wussten wir schon vorher. Wer einen anderen mit einem Knochen erschlägt, kann ja wohl nichts anderes als ein Neandertaler sein.“

Marcel hörte auf gegen die Tür zu treten und sah sie verwirrt an. „Wieso Knochen?“ fragte er.

„Das war bildlich gemeint“, klärte ihn seine Freundin auf.

„Aha“, machte Marcel. „Aber wieso Knochen?“

„Weil Bitterling nicht grade auf raffinierte Weise umgebracht worden ist.“

„Wozu auch?“ fragte Marcel und begann an der Türklinke zu rütteln.

Matthias lehnte sich gegen eines der Regale. „Sagen Sie das nicht so einfach. Immerhin hält uns der Neandertaler für genauso einfältig. Das sollten wir nicht vergessen.“

„Was wir ja auch sind. Oder warum sitzen wir in diesem Kasten? Ich warte nur darauf, dass die Polizei uns aufschließt und uns direkt wegen des Mordes an Bitterling ins Kittchen wirft.“

„Na ja, diesmal hat er uns mit der Bauernfängerei hereinlegen können. Beim nächsten Mal sind wir vorbereitet.“

„Beim nächsten Mal?“ fragte Margret.

Der junge Mann rüttelte noch einmal an der Tür, drehte sich dann zu seiner Freundin um und sagte zu ihr: „Und warum bist du nicht in dem Büro geblieben?“

„Wenn du glaubst, ich bleibe allein in einem Raum mit diesem... diesem... Toten, dann hast du dich aber geschnitten.“

„Viel interessanter ist doch, wie wir aus diesem Büro wieder rauskommen.“

„Büro ist etwas viel gesagt“, meinte Margret. „Das sieht eher aus wie das hauseigene Archiv.“

„Wir wüssten es, wenn wir in die Akten gucken würden“, meinte Marcel.

„Irgendwie interessieren mich die Papiere anderer Leute gerade wenig“, meinte Margret. „Eher, warum wir heute als Einzige hier sind.“

„Was, wenn wir auf dem Boden herum stampfen?“ fragte der junge Mann.

„Damit sich eine Tür nach unten hin auftut?“ entgegnete seine Freundin.

„Nein, damit die in den Büros unter uns hören.“

„Eine gute Idee. Wieso sind Sie nicht darauf gekommen?“ fragte sie Matthias.

„Sie vergessen, dass unter uns nur eine Anwaltskanzlei ist und dass dort auch zwei Tage vor Weihnachten ist: Alle haben frei.“

„Oh.“

„Versuchen können wir es“, sagte Marcel eher trotzig.

„Klar, wer nicht wagt... und so weiter. Aber erwarten Sie nicht zu viel.“ Matthias setzte sich und dachte nach, während die anderen auf dem Boden herum stampften, hüpften und gelegentlich um Hilfe riefen.

Irgendwann ging ihnen die Luft aus. Matthias sah auf seine Uhr.

„Und jetzt?“ fragte Marcel.

Matthias sah Frau Winterfeldt an. „Also, ich finde, ihr Neffe könnte langsam auftauchen.“

„Ach ja. Den habe ich fast vergessen.“

„Und vielleicht haben Sie auch gesehen, dass zumindest zwei Leute hier sind. Mein Sachbearbeiter und noch einer vom Arbeitsamt. Und wo auch immer die hin sind, irgendwann werden die wieder kommen.“

Der junge Mann schlug sich mit der Hand vor die Stirn und rief: „Die Thekendamen! Die sollten doch da sein, wenn die heute auch offen haben.“

„Wenn die nicht früher Feierabend machen“, meinte seine Freundin pessimistisch. „Aber wie erklären wir das alles?“

„Meine Liebe“, sagte Margret. „Darüber können wir uns später Gedanken machen. Wenn es so weit ist.“

„Und ganz gleich was passiert“, sagte Matthias entschlossen, „wenn wir hier raus sind, rufen wir die Polizei. Die Situation ist schon unmöglich genug.“

„Das wird was werden“, meinte Margret nur.

„Ich darf sie daran erinnern, dass wir nicht hier sitzen würden, wenn wir das sofort gemacht hätten.“

„Hätte, wäre, könnte... Aber was machen wir jetzt?“

„Der einzige Ausgang ist die eine oder andere Tür.“